|335|ACHTUNDZWANZIG

Es war das letzte Abendessen – oder, wie Dutch es weniger taktvoll bezeichnete, das letzte Abendmahl – im Marco’s. Sie saßen am Tisch mit dem rotweißkarierten Tischtuch und der altmodischen Petroleumlampe in ihrer Nische und versuchten, nicht alles zu düster zu sehen. Morgen sollte der letzte Tag der Anhörung sein. Die Aussicht, dass sie zu Dannys Gunsten verlief, war gering. Nachmittags hatte Brian McKnight Tom gewarnt, dass Gina und Dutch mit dem Schlimmsten rechnen sollten. Er sagte, in Anbetracht der Beweislage hätte Colonel Scrase gar keine andere Wahl, als Danny vor ein Militärgericht zu stellen.

McKnight hatte versprochen, sich zum Abendessen zu ihnen zu gesellen. Aber sein Platz blieb leer. Sie waren im Begriff, zu zahlen, als er auftauchte. Er war ein wenig außer Atem. Eines war sofort klar: Es war etwas Wichtiges vorgefallen. Dutch schenkte ihm ein Glas Chianti ein.

McKnight sagte, er habe einen Anruf von einem jungen Marinesoldaten namens Travis Wilson erhalten, einem Private aus Dannys Kompanie, der vor sechs Monaten die Heeresabteilung verlassen hatte. Danny nickte. Er kannte den Mann, wenn auch nicht sehr gut. Wilson habe gestern in den Nachrichten gesehen, dass Harker und Delgado behaupteten, sie hätten sich nicht abgesprochen, fuhr McKnight fort.

»Das sei nicht wahr, behauptet dieser Wilson. Er hat sie zusammen in einer Bar in Coronado gesehen, nachdem alle nach Haus geflogen worden waren.«

»Hat er gehört, worüber sie gesprochen haben?«, fragte Dutch.

|336|»Genug, denke ich. Wilson fliegt heute noch von Omaha her. Kevin holt ihn um zehn vom Flughafen ab. Wenn sich das alles als plausibel herausstellt, rufen wir ihn morgen in den Zeugenstand.«

Colonel Scrase hatte am nächsten Morgen kaum Platz genommen, als McKnight auch schon aufsprang und um Erlaubnis bat, einen letzten Zeugen aufrufen zu dürfen. Wendell Richards, der für das Schlussplädoyer in den Startlöchern stand, blickte irritiert. Private First Class Travis Wilson war nicht gerade das, was man eine perfekte Besetzung nennen konnte. Er war klein und hatte ein mausartiges, mit Pickeln übersätes Gesicht. Er schwor den Eid und wirkte nervös.

McKnight absolvierte zunächst das Auftaktspiel: Rang und Laufbahn in der Armee, dann kam er zum Wesentlichen.

»Travis, könnten Sie uns sagen, wo Sie am Abend des 23. Juli vergangenen Jahres waren?«

»In einer Bar. Dee’s Place in Coronado.«

»Was haben Sie dort gemacht?«

»Da habe ich Cindy getroffen – das ist meine Freundin. Na ja, damals war sie noch meine Freundin. Wir haben uns getrennt. Jedenfalls hatten wir uns für halb acht verabredet, ich kam ungefähr zwanzig Minuten früher – so bin ich nun mal, immer überpünktlich – und saß in einer Nische.«

»War noch jemand dort, den Sie kannten?«

»Ja, Sir. Sergeant Delgado und Eldon Harker. Sie saßen am Nebentisch in einer anderen Nische.«

»Sie haben die beiden erkannt?«

»Ja, Sir.«

»Sind Sie mit ihnen befreundet?«

»Nein, Sir. Ich kenne sie aus dem Irak.«

»Und Sie haben sie begrüßt?«

»Nein, Sir. Ich wollte erst, aber dann hörte ich, worüber sie redeten, und dachte, ich lasse es lieber.«

|337|»Und die beiden haben Sie nicht bemerkt?«

»Ich glaube nicht, Sir, nein. Dee’s ist ein ziemlich schummriges Restaurant.«

»Wie deutlich konnten Sie die beiden verstehen?«

»Ziemlich deutlich.«

»Und was haben Sie gehört?«

»Ich hörte, dass Harker von Sergeant Delgado instruiert wurde, was er sagen müsse, damit die Mordanklage gegen ihn fallengelassen wird.«

Wendell Richards war sofort auf den Beinen, erhob Einspruch. In der nächsten halben Stunde sprang er immer wieder von seinem Stuhl auf. Nach und nach bekam McKnight das aus Travis heraus, was er hören wollte. Wie Delgado mit Harker gewissermaßen seinen Auftritt eingeübt hatte, um alle Schuld auf Danny abzuwälzen. Er hatte sogar die magischen Worte Nimm deine verfluchte Waffe gehört.

Als McKnight fertig war, sah er aus, als wäre er während der Befragung gewachsen.

Richards nahm Travis ins Kreuzverhör. Er wollte Zweifel säen, ob der junge Soldat auch richtig gehört hatte, deutete an, er habe vielleicht etwas gegen die beiden Männer, die er belauscht hatte. Aber Tom sah es an Richards ganzem Gebaren, dass der entscheidende Schlag ausgeteilt worden war. KcKnight erhob sich bedeutungsschwer, als Richards das Kreuzverhör beendet hatte, und bat darum, Sergeant Delgado und Eldon Harker erneut in den Zeugenstand zu rufen, damit ihnen nun als Verdächtigen ihre Rechte nach Artikel 31 vorgelesen werden konnten.

 

Sie mussten fast einen Monat auf die Ergebnisse der Ermittlungsbeamten warten. In der Zwischenzeit gebar Kelly einen gesunden Jungen. Er wurde auf den Namen Thomas David getauft, nach seinen beiden Großvätern.

|338|An einem warmen, wolkenlosen Morgen fuhr Tom zum Krankenhaus in Great Falls und hielt sein erstes Enkelkind im Arm. Von Kellys Zimmerfenster aus waren die noch mit Schnee bedeckten Berge der Front Range zu sehen. Tom zeigte dem Kind auf seinem Arm die verschiedenen Bergspitzen und Pässe und zählte deren Namen auf: Sawtooth, Ear Mountain, Steamboat. Gina, Dutch und Danny waren auch gekommen. und die Sonne schien durchs Fenster, und nicht ein Auge blieb trocken. Gina bat Tom, mit zu ihnen zum Essen zu kommen, aber er dachte sich eine Entschuldigung aus, warum er nach Missoula zurückmüsse. Vielleicht sähe er sich eines Tages in der Lage zu dieser Art von Nähe. Jetzt jedenfalls noch nicht.

Brian McKnight rief am selben Abend an. Der Bericht war angekommen. Auf zweihundert komplizierten Seiten hatte Colonel Robert Scrase das Beweismaterial geprüft und war zu dem Schluss gelangt, dass Danny aus Notwehr gehandelt hatte. Er empfahl, alle Anklagepunkte fallenzulassen. Alle atmeten auf. Trotzdem war keinem nach Feiern zumute. Sieben unschuldige Leben waren ausgelöscht worden – gegen eines, das gerettet worden war. Danny würde aus der Armee ausscheiden und sich etwas anderes suchen.

Ende Juni meldete Danny sich bei Tom und fragte, ob sie sich treffen und über seine Pläne reden könnten. Er wolle aufs College gehen und brauche den Rat seines Vaters. Aus einer Laune heraus schlug Tom vor, dass sie angeln gehen könnten. Das hatten sie schon seit Dannys Kindheit nicht mehr gemacht. Tom schleppte die Campingausrüstung vom Dachboden. Er prüfte die Schnüre und die Spulen, fuhr anschließend in die Stadt und gab ein kleines Vermögen im Grizzly Hackle auf der Front Street aus.

Danny kam zwei Tage später in Missoula an. Sie fuhren eine Stunde in Toms Lieblingsgegend in den Blackfoot Mountains. Das Auto ließen sie am Beginn des Wanderwegs stehen und liefen |339|mit der Ausrüstung durch den Wald, bis sie das Rauschen des Flusses vernahmen. Sie fanden eine schöne Stelle am Waldrand, wo sie das Zelt aufstellten und Holz für ein Feuer zusammentrugen. Die Dämmerung setzte ein, Schwärme von Fliegen tanzten über dem Wasser. Sie machten ihre Angeln fertig und zogen Watstiefel an.

Danny fing den ersten Fisch, eine schöne, braune Forelle, etwa vierzig Zentimeter lang. Er grinste über das ganze Gesicht. Tom hatte eine größere Forelle am Haken, verlor sie aber wieder, bevor er erneut eine fing, die zwölf Zentimeter kleiner war als Dannys. Der Fisch musste Mitleid mit ihm gehabt haben.

Sie machten Feuer und brieten die Forellen. Dazu aßen sie Tomaten und Kartoffelsalat. Das Fleisch der Forelle war rosa und süß, und sie stöhnten genussvoll beim Essen und mussten dann so lachen, dass sie kaum noch schlucken konnten. Tom kochte Kaffee, den sie aus Blechbechern tranken, und dabei sahen sie zu, wie das Licht über dem Fluss sich erst silbern, dann bronzefarben und schließlich schwarz färbte. Eine Eule rief unermüdlich in den Kiefern auf der anderen Seite des Flusses.

Danny sprach von seinen Plänen. Er wollte an der Montana State in Bozeman seinen BA in Agrarwissenschaften machen. Allerdings war die Immatrikulationsfrist für das Herbstsemester verstrichen, und er wollte nun erst einmal praktische Erfahrungen sammeln. Dutch hatte einen Freund, der ein Geschäft für Agrargerät betrieb und Danny einstellen wollte. Tom sagte, das höre sich alles phantastisch an.

Eine Weile schwiegen sie. Nur das gedämpfte Rauschen des Wassers und die Eule vom anderen Ufer waren zu hören. Tom legte Holz ins Feuer, die Funken stoben zwischen ihnen auf. Danny starrte lange in die Flammen. Im Schein des Feuers sah er plötzlich viel älter aus. Als er endlich zu sprechen anfing, sah er Tom nicht an.

»Dad, ich muss dir etwas sagen.« Der Junge atmete tief durch.

|340|»Ich war schuldig.«

»Wie meinst du das?«

»Na ja, all das, was sie über mich in der Anhörung gesagt haben, dass ich die Frauen angeschrien und hajji-Huren genannt habe …«

Danny legte den Kopf zurück und blickte in den Sternenhimmel. Er atmete schwer, als müsse er Kraft sammeln, um fortzufahren.

»Ich habe nie gedacht, dass der Mann eine Waffe hatte.«

Er versank wieder in Schweigen.

Tom wartete.

»Die Wahrheit ist, es war mir egal. Ich habe sie … einfach nur gehasst. Ich hasste sie für das, was passiert war. Was Ricky zugestoßen war. Als der Mann nach unten griff, war es … Grund genug. Vielleicht hatte er ein Gewehr. Ich wusste es nicht. Ich wusste nur … ich wollte diese Schweine umbringen. Sie einfach verdammt niedermähen …« Tränen flossen ihm übers Gesicht.

»Und dann war es vorbei. Ich sah, was ich getan hatte. Es war, als sähe ich sie zum ersten Mal. Frauen und Kinder. Säuglinge, um Gottes willen … Und ich war es, der das getan hatte.«

Tom legte den Arm um Danny.

»Ja, ich war es.«

»Danny, hör zu –«

»Ich habe es getan, Dad. Ich hatte es darauf angelegt.«

Irgendetwas hätte er wahrscheinlich sagen müssen, aber Tom wusste nicht, was. Er zog Danny, der schluchzte, an sich und strich ihm übers Haar. Er hatte keine Ahnung, wie lange sie so saßen. Ein bleicher Halbmond stieg über die Berggipfel an der Biegung des Flusses, und das Feuer verglühte.

»Ich werde dir jetzt etwas verraten«, sagte Tom sanft.

»Was?«

»Etwas über deine Großmutter und was wirklich mit ihr passiert ist.«