20
DAS FAMILIENUNTERNEHMEN
DER BETTELHINES
Ich überspringe die Hysterie der nächsten zehn Minuten. Ich war erschöpft, gefangen in dem Gefühl des Verlusts, trauerte um eine Familie, die mir entrissen worden war, eine Familie, an die mich mit Liebe zu erinnern ich mich seit mehr Jahren geweigert hatte, als ich zählen mochte. Eine Idylle war in einer einzigen, schrecklichen Nacht voller Blut und Wahn zu einer Hölle geworden, einer Hölle der sterilen Einkerkerung und institutionalisierten Vergewaltigung, die mich nicht hart hatte werden lassen, sondern spröde, bereit, bei einer jener seltenen Gelegenheiten, zu denen etwas die Kruste über meinen Wunden abzukratzen imstande war, in Einzelteile zu zerbrechen.
Die Porrinyards hatten sich wunderbar darauf verstanden, in solchen Momenten mit mir umzugehen. Nun erwies sich, dass die gemeinsame Persönlichkeit von Jason-und-Jelaine dazu ebenfalls fähig war. Ihr Jelaine-Avatar umarmte mich, sagte mir, sie wisse, was ich durchgemacht habe, es sei in Ordnung, ich hätte nun ein echtes Zuhause, wenn ich es wolle. Ich hätte gelogen, hätte ich behauptet, dass ich die Umarmung nicht erwidert habe oder dass nicht eine der vielen Tränen, die ich in diesen zehn Minuten vergossen habe, Ausdruck der Dankbarkeit gewesen ist.
Aber ich bin auch Andrea Cort, und ich bin nicht blind.
Und noch während ich heulte, nahm ein Teil meiner selbst die ganze Geschichte schon auseinander.
Irgendwann, vielleicht zehn oder zwanzig Minuten später, kam es alles zu mir zurück. Wir waren zu dem Steintisch zurückgekehrt, und ich saß ihr erneut gegenüber. Meine Augen brannten, aber mein Verstand arbeitete wieder auf höchster Leistungsstufe. Das pelzige weiße Ding, das auf dem Balkon lebte, hatte offenbar beschlossen, dass ich sein Freund sei oder doch zumindest sein Lustsklave und lag nun vor Wonne vibrierend wohlig zusammengerollt auf meinem Schoß; meine normale Reaktion hätte darin bestanden, es zu treten, aber nun streichelte ich es, während ich an dem süßen Saft nippte, den Jelaine mir hatte bringen lassen. »Und ich soll jetzt glauben, dass es hier nur um die Familie geht? Um nichts anderes?«
Sie breitete die Hände aus. »Es kann so viel und so wenig sein, wie Sie wünschen.«
»Warum hat Ihre Familie nie zuvor versucht, mich zurückzuholen?«
»Weil das nicht die Art und Weise ist, in der die Dinge früher geregelt wurden. Weil Bettelhines, die den Konzern verlassen oder dazu beigetragen haben, dass sie aus wichtigem Grund von der Familie verbannt wurden, in der Geschichte unserer Familie nie wieder Vertrauen entgegengebracht wurde. Nachfahren verbannter Verwandter wurden bisweilen wieder aufgenommen, wenn es gute Gründe dafür gab, aber der Status eines Angehörigen des Inneren Kreises blieb ihnen vorbehalten, selbst wenn sie entsprechend heirateten. Das Risiko der Subversion wurde stets als zu hoch bewertet.«
Ich nippte erneut an meinem Saft. »Und was bedeutet das für meine Situation?«
»Ihre Situation? Nun, Sie waren von Beginn an ein besonderer Fall. Sie waren berüchtigt. Ihr geliebtes Corps ...«Sie sprach das Wort ganz besonders verächtlich aus. »... wusste, wer Sie waren und hat alles dafür getan, Ihren schlechten Ruf zu unterstützen, nur um zu Lebzeiten meines Vaters und meines Großvaters die Macht über Sie zu behalten.«
»Mehr war ich nicht? Nur ein Werkzeug zur Erpressung Ihrer Familie?«
»Fast schon eine Massenvernichtungswaffe. Unsere Familie ist es gewohnt, verabscheut zu werden, und hätte es verkraftet, wenn Ihre Identität je aufgedeckt worden wäre. Aber die Drohung, Ihre Herkunft zu offenbaren, konnte die Waagschale im Wettstreit mit dem Dip Corps in einigen bedeutenden Punkten immer noch in dessen Richtung kippen lassen. Und dieser Faktor hat noch an Bedeutung gewonnen, als Sie Ihre diplomatische Karriere aufgenommen haben und so das Potenzial erhielten, noch mehr Uneinigkeit unter den bedeutenden Mächten im Universum hervorzurufen. Aber alles in allem wurde es für die kleine Gruppe der führenden Persönlichkeiten des Inneren Kreises in jenen letzten beiden Generationen, die wussten, wer Sie sind, leichter, Sie in Ruhe und den Dingen ihren Lauf zu lassen.«
Ich war nach wie vor überzeugt, dass da noch ein anderes Motiv lauerte. »Und darum versuchen Sie jetzt, mich zurückzuholen? Um mein Gewicht als politischer Hebelarm zu neutralisieren?«
»Nein, Andrea, so hätte vielleicht mein Großvater die Dinge gesehen. Bis vor einer Weile auch mein Vater. Aber ein wirkungsvoller politischer Hebel sind Sie schon seit einiger Zeit nicht mehr. Der größere Teil der jüngeren Generation hat bisher keine Ahnung, wer Sie sind. Philip beispielsweise wusste es nicht, bis wir alle zurück auf Xana waren und Jason ihn zur Seite genommen und es ihm erzählt hat. Ich wünschte, Sie hätten seinen Gesichtsausdruck sehen können.«
»Sagen Sie bloß nicht, das alles hätte nur sentimentale Gründe.«
»Wenn Sie denken, Sentimentalität wäre kein Faktor, irren Sie. Tante Lillian wurde verbannt, ehe eines der Individuen Jason und Jelaine geboren wurde, aber ich habe ihren Fall studiert und glaube, bei ihr hat die Rechtsprechung der Familie versagt. Es hat nie irgendeinen Grund gegeben, ihr das Geburtsrecht abzuerkennen. Oder im weiteren Sinne Ihnen.«
Verdammt, sie wirkte wirklich aufrichtig. Trotzdem konnte ich mir keine weiteren Tränen leisten. »Aber das ist nicht alles. Das kann nicht alles sein. So wichtig bin ich nicht.«
»Eigentlich schon, aber Sie haben recht. Das ist nicht alles. Ich denke, wenn Sie das alles begreifen wollen, müssen Sie mit Jasons Erfahrungen auf Deriflys anfangen.«
»Was ist passiert?«
Der Schmerz aus Jasons frühen Jahren zeigte sich nun auf dem wunderschönen Gesicht seiner Schwester, nicht als Ausdruck eines Geschehens, von dem sie nur aus der Distanz erfahren hatte, sondern als der einer Erfahrung, an die sie selbst sich nun erinnern konnte, gepaart mit einem Schmerz, der imstande schien, sie zu verbrennen. »Ich habe Ihnen schon eine vage Ahnung davon geliefert, wie schlimm es dort war. Nun multiplizieren Sie Ihre schlimmsten Vorstellungen von der Brutalität der ganzen Welt mit zehn. Jason hat gelebt wie ein Tier. Es hat Zeiten gegeben, in denen er sich hat verkaufen müssen, Zeiten, in denen er töten musste, wollte er nicht getötet werden, Zeiten, in denen er nicht mehr als ein Sklave war, und Zeiten, in denen er jeden Fetzen seiner Würde aufgeben musste, um nicht zu verhungern. Als die KIquellen ihn dort herausgeholt haben ...«
Ich setzte mich etwas gerader auf. »Die KIquellen?«
»Ja«, sagte sie mit herausfordernder Gelassenheit. »Sie haben Truppen nach Deriflys geschickt, um jemanden anderen herauszuholen, an dem sie interessiert waren, ein tapferes, ganz besonderes Mädchen namens Harille. Sie hatten große Pläne mit ihr, aber Harille hat sich geweigert, mit ihnen zu gehen, es sei denn, sie retteten auch den Jungen, der sie geliebt und sie beschützt und sie am Leben gehalten hat, als es für beide so aussah, als wäre es sinnvoller, sie legten sich einfach nieder und starben.« Ein sehnsüchtiger Ausdruck zeigte sich in Jelaines Augen. »Es ist erstaunlich, wie viel Liebe ein Junge wie das Individuum Jason empfinden kann, wenn er alles verloren hat und ihm nur noch die Fähigkeit geblieben ist, für eine andere Person zu fühlen, oder wie sehr ein Mädchen wie Harille, die seine Liebe nie so recht erwidern konnte, dennoch imstande ist zu schätzen, was er für sie getan hat. Sie hat ihnen keine Wahl gelassen.«
»Was ist aus ihr geworden?«, fragte ich.
»Als Jason sie an Bord des KIquellen-Transporters, der sie von Deriflys fortgebracht hat, zum letzten Mal gesehen hat, lag sie im Sterben. Und das, Counselor, ist der eigentliche Grund, warum er so gebrochen war, als er nach Xana zurückkehrte. Harille hat ihn bei Sinnen gehalten, und nun würde er nicht einmal erfahren, ob sie tot war oder doch überlebt hat.«
»Und darum ist das Individuum Jelaine mit ihm fortgegangen?«
»Ja. Offiziell war es nur eine Promotionreise. Aber die Wahrheit lautete, dass all die anderen Welten, die die Individuen Jason und Jelaine im Zuge dieser Reise besucht haben, nicht von Bedeutung waren. Es ging nur darum, herauszufinden, ob Harille lebte oder ob sie tot war.«
»Was ist dabei herausgekommen?«
»Weder das eine noch das andere. Sie war nicht mehr Harille.« Wieder flackerte die Traurigkeit auf, vermischt mit etwas anderem, das ich nicht einordnen konnte - Zorn? Amüsement? Ehrfurcht? »Sagen wir einfach, sie war außerhalb von Jasons Reichweite.«
Wieder trat ein Moment des Schweigens ein.
»Und das alles ...?«
»Das alles«, setzte sie meinen Satz fort, »hat dazu geführt, dass die Individuen Jason und Jelaine nicht wussten, was sie nun tun sollten. Jason hatte keinen Frieden gefunden. Jelaine hatte Monate damit zugebracht, sich seine Geschichten anzuhören, und allmählich neigte auch sie dazu, das Bettelhine-System abzulehnen. Beide konzentrierten sich wieder auf Deriflys, dachten darüber nach, an wie vielen Orten dieser Art Leid herrschte, aber nicht allein, weil die Dinge einfach auseinanderfielen, sondern weil die Familie Bettelhine den Bewohnern die Mittel lieferte, um sich selbst zu zerstören. Die Individuen erkannten, dass sie nicht nach Xana zurückkehren konnten wie zwei kleine, glückliche Aristokraten, die voll und ganz damit zufrieden waren, weiterhin vom Elend derer zu profitieren, die den Weg der Bettelhines von jeher gesäumt hatten.
Und sie wussten auch, dass sie keine Möglichkeit hatten, eine Veränderung herbeizuführen, nicht, solange Jason als labil galt und Jelaine weniger als bedeutende Figur im Konzern denn als Familienprinzessin, während ihr konservativer Halbbruder Philip bereits auf die Nachfolge als Leiter des Konzerns vorbereitet wurde. Aber sie konnten Xana auch nicht einfach verlassen und ins Exil gehen, nicht, solange Jason in Gefahr war, von dem Gefühl der Hilflosigkeit erneut überwältigt und gebrochen zu werden. Also beschlossen sie, zu extremen Mitteln zu greifen. Sie beschlossen, sich für einen stillen Putsch zu rüsten.«
Das brachte mich zu einem Punkt, der mir schon seit dem Moment zu schaffen machte, in dem ich erkannt hatte, was sie waren. »Als ich mich mit den Porrinyards zusammengetan habe, habe ich erfahren, dass alle verbundenen Paare auch KIquellen-Agenten sind.«
»Das hätte ich auch werden können«, sagte sie. »Aber unser Vorhaben war so dreist, dass die KIquellen vollends zufrieden damit waren, sich zurückzulehnen und abzuwarten, wie ich mich schlagen würde. Und wie Sie wissen, habe ich mich recht gut geschlagen. Jason kehrte als neuer Mann zurück, erwachsen und zielstrebig, willens, jede untergeordnete Position zu übernehmen, die die Familie noch bereit war, ihm zu überlassen. Jelaine kehrte als ernsthafteres Mädchen zurück, begierig, sich dem oberen Management anzuschließen. Es gab keine offenkundigen Anzeichen für irgendeine geheime Absprache zwischen beiden. Aber tatsächlich taten die beiden angeblichen Individuen alles, was sie konnten, um das Vertrauen meines Vaters zurückzugewinnen, damit sie ihn in ihre Pläne einbeziehen und wieder mit ihm zusammenarbeiten konnten. Das erforderte weniger Zeit, als ich einkalkuliert hatte. Binnen eines Jahres stieg mein Stern bereits auf.«
Ich rotierte in Gedanken, wusste, dass etwas furchtbar falsch war, jedoch nicht, was das sein könnte, also konzentrierte ich mich auf die exakte, chronologische Abfolge der Ereignisse. »Wie passt der Khaajiir in dieses Bild?«
»Unsere Nachforschungen haben uns zu ihm und zu einem seiner Bücher über die friedliche Machtübernahme nach dem Untergang des Terrorregimes der K'cenhowten geführt. Er schrieb: Veränderungen, die radikal genug seien, um die ganze Struktur einer Gesellschaft zu verändern, könnten nur dann friedlich herbeigeführt werden, wenn die Verantwortlichen, im Fall der K'cenhowten die Khaajiirel, die gleichen Mittel, die die Tyrannen zur Massenunterdrückung benutzt haben, als Instrumente zur Herbeiführung begrenzter und subtilerer Zwänge einsetzten. Er sagte, ein Meißel könne am richtigen Ort in der richtigen Hand großartige Artefakte von dauerhafter Schönheit schaffen, während eine große Bombe, die irgendwo in der Luft abgeworfen werde, nur nutzlosen Schutt produzieren könne. Er hatte ein paar Vorstellungen davon, wie die Khaajiirel es geschafft haben -vorwiegend durch sorgfältige Planung und die längerfristige Manipulation einiger Personen in Schlüsselpositionen -, darum war er für uns von unschätzbarem Wert, als es darum ging, die diversen feinsinnigen Strategien auszuarbeiten, die wir brauchten, um unseren friedlichen Wandel über das Terrain der Bettelhines zu bringen. Mit unserer Unterstützung wurde er zu Vaters wichtigstem Berater und einem unverzichtbaren Strategen, dessen Beitrag entscheidend dafür war, sicherzustellen, dass die Machtübernahme friedvoll verlief.«
Mir war immer noch nicht wohl zumute. Der Grund, der, den ich schon vorher gespürt hatte, entzog sich immer noch meinem Zugriff, aber das Gefühl war stärker geworden, wie ein Tsunami, der sich erst in den letzten Sekunden zu wahrer Größe aufbaut, ehe er auf die Küste trifft. »Sehr erfolgreich war er offenbar nicht.«
Mehr Trauer. »Ja. Ich weiß, so sieht es aus. Aber ich wusste auch, dass ich in eine kritische Phase eintrat, die riskanteste, um genau zu sein. Der Khaajiir hatte uns gewarnt, wir sollten mit Widerstand rechnen, und mich haben nur der Zeitpunkt und die tödliche Gewalt erstaunt. Wir werden ihn vermissen, nicht nur als Verbündeten, sondern auch als Freund. Ich hoffe, Sie können dazu beitragen, seinen Platz wieder auszufüllen.«
Ich ließ mich nicht ablenken. »Wie passe ich da rein?«
»Nun, wie Sie wissen, hatte der Khaajiir schon früher Interesse an Ihnen gezeigt. Er hat den Lebenslauf jedes einzelnen Bewohners ihrer verlorenen Gemeinschaft recherchiert und angenommen, er wisse, wer Ihre Mutter wirklich war, und es war ihm möglich, mich auf Ihre missliche Lage aufmerksam zu machen. Eine Rücksprache mit meinem Vater, der von Ihnen wusste, hat bestätigt, dass der Khaajiir mit seiner Vermutung richtig lag.« Sie lächelte und trank noch einen Schluck von ihrem Saft. »Ich war überaus erfreut, und nicht nur, weil ich Tante Lillian bewundert und ihre Verbannung zu den unrechtmäßigen Vorgängen gezählt habe, die ich abzuschaffen hoffte. Überlegen Sie: Sie sind brillant. Sie sind charakterfest. Sie sind bereits an die Arbeit mit verbundenen Paaren gewöhnt. Sie sind ungebunden. Sie arbeiten nur für das Dip Corps, weil Sie sonst nirgendwohin können - nicht weil Sie Grund hätten, dankbar für die beschissene Art zu sein, in der die all die Jahre mit Ihnen umgesprungen sind. Die Wahrscheinlichkeit, dass Sie dem Corps den Rücken kehren, wäre noch größer, wenn ich nur dafür sorgte, dass Sie von deren wohl begründetem Interesse erfahren, dass Sie auch weiterhin in Ihrem Elend gefangen bleiben. All das war schon offensichtlich, bevor ich die KIquellen nach ihrer Meinung über Sie gefragt und herausgefunden habe, dass Sie bereits zu ihnen übergelaufen waren. Das ist wie eine Hochzeit, die im Himmel geschlossen wird, Andrea. Würden Sie nur zu Ihrer Familie, zu uns, zurückkehren, so wären Sie die beste Verbündete, die wir uns wünschen können. Und das Großartige ist, dass Sie das bereits bewiesen haben mit all dem, was Sie auf der Königlichen Kutsche getan haben!«
Darum also waren sie über meine Handlungsweise so entzückt gewesen, als ich das Recht eingefordert hatte, die Ermittlungen aufzunehmen, und die Untersuchung bis zur Aufklärung des Verbrechens geführt hatte. Meine Untersuchung war, wenn auch nur zufällig, zugleich eine Art Vorstellungsgespräch gewesen. Ich fuhr hoch. »Ich habe nicht gesagt, dass ich daran interessiert bin, mich an Ihrem Umsturz zu beteiligen.«
»Da haben Sie recht, und ich gebe zu, schon allein die Annahme ist eine erhebliche Dreistigkeit meinerseits.« Sie winkte ab. »Unrealistische Hoffnung. Aber ich denke, Sie werden es wollen, wenn Sie genauer darüber nachdenken, bedenkt man, wie sehr Sie alles missbilligen, wofür unsere Familie bis heute steht, und dass Sie genau wissen, wie sehr die Menschheit davon profitieren könnte, sollten wir Erfolg haben. Aber das Maß Ihrer Beteiligung an unserem Vorhaben hat keine Auswirkung auf die andere wichtige Entscheidung, die zu treffen man Sie bitten wird. Wie ich bereits sagte, war die Anwerbung eines potenziell wertvollen Verbündeten nur ein Teil meiner Motivation. Auch wenn Sie absolut nichts mit meinen Plänen zu tun haben wollen, was ich von Anfang an für möglich gehalten habe, würde ich mich nicht weniger für Sie freuen, sollten Sie sich entscheiden, sich hier niederzulassen und alles zu beanspruchen, was das Leben als Bettelhine zu bieten hat. Denken Sie darüber nach. Die Summe der Bezüge, die schon jetzt auf ihrem persönlichen Konto gutgeschrieben wurden, nachdem Sie gerade etwas länger als eine Woche als Ehrengast eingestuft worden sind, ist um Etliches höher als das, was Sie verdienen können, wenn Sie sich Ihr ganzes Leben lang für das Corps abrackern. Wenn Sie bleiben, können Sie hier mein Gast sein oder der von Jason auf seinem Anwesen. Sie können auch eines der diversen freien Anwesen in jedem Ihnen genehmen Klima beanspruchen und dazu so viele Bedienstete bekommen, wie Sie wollen. Haben Sie sich dann mit allem vertraut gemacht, können Sie die Macht und den Reichtum und den Einfluss, der Ihnen nach Ihrer Abstammung rechtmäßig zusteht, nutzen, um jedes philantrope Ziel zu verfolgen, an dem Ihnen liegt. Sie können überallhin reisen, wo immer Sie hin wollen, auf Xana oder irgendwo im All. Und das Wichtigste ist, Sie können all diese Möglichkeiten im Kreis von Leuten sondieren, die praktisch um die Chance betteln, Sie zur Familie zählen zu dürfen, Leuten, die Sie lieben - statt nach New London und zu einem Corps zurückzukehren, das Sie so oder so schon verraten hat und in dem Leute arbeiten, die ein begründetes Interesse daran haben, Sie weiterhin als Hassobjekt für die Massen zu missbrauchen. Verstehen Sie nicht, Andrea? Wir bieten Ihnen Freiheit und Glück.«
»Bezahlt«, sagte ich, »mit Elend und Krieg und Hass und Gedankenkontrolle. Was exakt die Dinge sind, die meine Mutter seinerzeit vertrieben haben.«
Sie ließ sich nicht abschrecken. »Jason auch. Und noch einmal: Da das auch die Dinge sind, die ich an der Art, wie unsere Familie ihr Geschäft betreibt, zu ändern entschlossen bin, haben Sie umso mehr Grund zu bleiben und uns zu helfen, wenn Sie können. Kommen Sie, Andrea. In zehn Jahren wird die Ethik unseres Familienkonzerns nicht mehr wiederzuerkennen sein, und Sie werden einen absolut positiven Beitrag zur menschlichen Zivilisation geleistet haben. Wie können Sie das abschlagen?«
Ich hatte keine Zweifel. Ich glaubte ihr. Ihnen. Ich glaubte, dass Jason und Jelaine aufrichtige Idealisten waren, die es gut meinten, und zwar nicht nur mit mir, sondern auch mit der Welt, die diese Familie geschaffen hatte. Ich glaubte, dass sie unterwegs ein paar Fehler gemacht haben mochten, dass sie aber auch eine legitime Hoffnung für ein besseres Morgen darstellten. Ich glaubte auch, dass ich, nähme ich nur ihren Vorschlag an und bliebe, das Leben haben könnte, das sie mir anboten, Verwandtschaft eingeschlossen - ein Gut, nach dem ich mich, nun, da ich sie gefunden hatte, mehr sehnte als nach irgendetwas anderem.
Dagegen sprach Dejahs Warnung und mein eigenes, bohrendes Gefühl, irgendetwas übersehen zu haben, und der mysteriöse Rückzug der Porrinyards, die mich entgegen aller bisherigen Erfahrung mit dieser Entscheidung allein gelassen hatten.
Denke daran, wer du bist.
Und ich dachte auch daran, was ein sehr weiser Mann mir vor vielen Jahren einmal gesagt hatte: »Der Teufel führt dich nie mit einem schlechten Angebot in Versuchung.«
Ich schob die inzwischen dösende Kreatur von meinem Schoß, damit ich mich vorbeugen konnte, und sagte: »Ich bin noch nicht bereit, ja oder nein zu sagen. Aber ich habe, für den Moment, noch eine letzte Frage. Auf der Königlichen Kutsche haben Sie sich beharrlich geweigert, mir irgendetwas zu erklären, weil ich es aus dem Mund Ihres Vaters hören sollte. Gerade haben Sie sich aber recht wacker dabei geschlagen, mir das alles selbst zu erzählen. Warum war es so wichtig, damit zu warten?«
Sie lächelte ein wenig, als die meiner Zuwendung beraubte Kreatur vor ihr auf den Tisch hüpfte, um ihren Tribut einzufordern. Während sie das Tier unter dem Kinn kraulte, sagte sie: »Mein Vater hat immer bedauert, was mit seiner Schwester passiert ist. Als er die Einladung ausgesprochen hat, hat er uns gesagt, dass er Ihnen das von Angesicht zu Angesicht sagen will. Diese Gelegenheit hat er vor ein paar Tagen erhalten, als wir Sie ihm zum ersten Mal vorgestellt haben. Bei demselben Gespräch, bei dem er Sie auch gefragt hat, ob er Sie einmal mit langem Haar sehen dürfe. Es tut mir leid, dass Sie sich nicht erinnern können, aber er hat geweint. Er hat so sehr geweint wie an jenem Tag, an dem Jason von Deriflys zurückgekehrt ist.«
Verdammt, schon wieder füllten sich die Tränenkanäle.
Sie erhob sich, entlockte dem pelzigen Ding einen kläglichen Protest und nahm sich einen Moment Zeit, um einen weiteren Dekarsi zu beobachten, der gerade an dem Balkon vorüberflatterte. Das Licht der Sonne, nunmehr nur noch ein blutroter Streifen, der jenseits der Berge am Horizont versank, verlieh ihrem Antlitz einen warmen Schimmer, und ich erkannte etwas, das ich schon hätte sehen müssen, als ich sie das erste Mal eingehender betrachtet hatte. Ihr Profil sah aus wie meines. »Alles andere läuft inzwischen gut. Meine Leute schaffen die Gegenmaßnahmen aus der Welt, die Vernon Wethers vorbereitet hat. Ich habe die Kontrolle über seine Projekte übernommen und sie in die Hände einer Person gegeben, der ich vertraue. Monday Brown ist an Bord. Jason ist bei Philip, den wir bisher unbehelligt gelassen hatten, den wir aber jetzt, da er weiß, wer ich bin, ebenfalls einweihen mussten. Es sieht ganz so aus, als könnte er Vernunft annehmen. Die Ärzte sagen, Sie seien gesund genug, um zu reisen, was, wie ich hoffe, in Ihrer Zustimmung mündet, Vater, Philip und mir - ›mir‹ steht in diesem Fall für meine beiden Körper - bei einem freundschaftlichen Dinner auf dem Hauptanwesen Gesellschaft zu leisten. Wir haben eine Menge nachzuholen.«
Ehe Jelaine mich allein ließ, damit ich duschen konnte, beharrte ich darauf, dass sie mich zu meiner Tasche führte, die man in einem anderen Raum isoliert hatte, als fürchtete man, dass die zwielichtigen Überbleibsel meines Prä-Bettelhine-Lebens irgendwie den Glanz meiner Existenz unter den Erhabenen kontaminieren könnten.
Ich wollte dieses eine Mal auf die übliche, strenge schwarze Gewandung verzichten und mich wie die Einheimischen kleiden, aber ich wollte verdammt sein, würde ich ohne meine bescheidenen Dip-Corps-Rangabzeichen irgendwohin gehen, solange ich nicht entschied, dass sie nicht länger Teil meines Leben waren.
Nach der Dusche - dampfend heiß, luxuriös, duftend und nass, einfach alles, was die trockenen, pulsierenden Schallduschen zu Hause nicht waren - hätte mich der Albtraum erwartet, etwas zum Anziehen auszusuchen. Ich war es so gewohnt, Tag um Tag in eine der verschiedenen Variationen des gleichen schwarzen Anzugs zu schlüpfen, dass ich eben diese Notwendigkeit längst aus meinem Leben gestrichen hatte. Aber Jelaine hatte mich darauf aufmerksam gemacht, dass dergleichen bei einem familiären Zusammentreffen dieser Art wenig Anklang fände, also hatte ich es schließlich ihr überlassen, mir die passenden Kleidungsstücke unter all den anderen herauszusuchen, die nun zu mir gehören sollten: ein lächerliches, asymmetrisches, aber bedeutend aussehendes Ding mit ausgestellten Schultern und nur einem wulstigen Ärmel, der bis zum Handgelenk reichte. Ich erachtete mich als glücklich, dass diese Strategie nicht auch auf die Hose Anwendung gefunden hatte, die so locker saß, dass sie meine Beine nur berührte, wenn ich es so wollte, sie aber zumindest beide auf gleicher Länge bedeckte. Die ganze Aufmachung war mit goldenen Knöpfen bewehrt, die rein gar nichts zu halten hatten, und mit falschen Taschen, die offenbar nicht dazu gedacht waren, in irgendeiner Weise gefüllt zu werden. Von den Schuhen fange ich besser gar nicht erst an. Ich habe nie begriffen, warum irgendeine Frau sich der Unbequemlichkeit hoher Absätze unterwerfen sollte, so sie sich nicht ihrer Größe schämte oder gefoltert wurde, auf dass sie Staatsgeheimnisse preisgäbe, aber Jelaine versicherte mir, das Paar, das sie für mich ausgesucht habe, passe zu allem anderen, und ich nahm es aus purer sensorischer Überlastung einfach hin.
Der Gleiterflug zum etwa achthundert Kilometer entfernten Hauptanwesen, ein Dreißig-Minuten-Trip, war noch so ein Punkt. Ich hatte Höhen oder Planeten im Allgemeinen nie sonderlich gemocht, aber Jelaine wurde es unterwegs nicht müde, mir allerlei interessante Ausblicke zu zeigen: von der schneebedeckten Gebirgskette, die sie als Xanas höchste und tückischste bezeichnete, bis hin zu dem grünen Regenwald, der das Terrain beherrschte, als es nach gerade zwanzig Sekunden Flugzeit in eine ausgedehnte Ebene überging. Sie zeigte mir ein halbes Dutzend kleinerer Anwesen, von denen einige ganz unmöglich gelegen waren und wie eine unverzeihlich schlechte Wahl einer Familie erschienen, deren Angehörige die Freiheit hatten, selbst zu entscheiden, was sie zu sehen bekamen, wenn sie des Morgens aus dem Fenster blickten; da war beispielsweise eine Wüste, topografisch etwa so interessant wie ein Stiefelabdruck, bewohnt von einem verwirrten Bettelhine, der darauf bestand, sich selbst und seine fünfzig Bediensteten einem Leben in Segeltuchzelten auszusetzen. Dennoch verstand ich langsam, was Jelaine gemeint hatte, als sie sagte, ich könne ein Anwesen in jedem mir genehmen Ökosystem beanspruchen. Ich ertappte mich bei der Überlegung, ob Xana wohl über eine orbitale Radwelt oder eine unterseeische Einrichtung gebot, und dachte, wie gern ich mich mit den Korridoren samt der Dosenluft zufriedengäbe, könnte ich das alles nur haben.
Zwei Minuten vor Flugende - über einem Gebiet, beherrscht von grünen Hügeln, hier und da weiß gefleckt von einem nicht lange zurückliegenden Schneefall - sahen wir die ersten kleineren Ansiedlungen, die Jelaine als Heimstätten der Arbeiter identifizierte, die zwar auf dem Hauptanwesen beschäftigt, aber von zu niedrigem Rang waren, um auch auf dem Gelände selbst zu wohnen. Sie senkte die Geschwindigkeit und ging tiefer, sodass wir gerade noch oberhalb der Baumwipfel flogen, um mir noch weitere interessante Details zu zeigen: einen Hügel, der größer war als die meisten anderen, von ihr als getarntes Dienstbotenquartier bezeichnet, Gärten, einen Privatzoo, Ställe für Pferde, zu denen, wie sie sagte, nicht ausschließlich Tiere terrestrischer Herkunft zählten, sondern auch außerirdische und gentechnisch erzeugte Varianten von riesengroß bis geflügelt. Ich entdeckte eine schwerfällige, graue Kreatur mit einer Nase, die an eine Art Schlange gemahnte. Sie wanderte gänzlich ohne menschliche Aufsicht umher. Wir hatten sie längst hinter uns gelassen und waren in Sichtweite des Herrenhauses, als mir aufging, dass ich gerade meinen ersten Elefanten gesehen hatte.
Nichts als Angeberei, sagte ich mir. Und das war es auch. Angeben war genau das, was Jelaine tat.
Und es funktionierte. Von Zeit zu Zeit ertappte ich mich dabei zu strahlen. Ich lachte sogar ein- oder zweimal über ihre Scherze. Ich glaube, ich könnte sogar selbst einen Scherz gemacht haben, wenngleich das ein echtes Elend gewesen sein musste und jedes Gelächter ihrerseits nur Ausdruck der Höflichkeit.
Aber das war nicht wichtig.
Wichtig war, was ich empfand.
Ich gehörte hierher.
Ich werde meinen ersten Eindruck des Herrenhauses mit seinen zehn Flügeln, seinen Hunderten von Fenstern und seinen zwei Reihen hoch aufragender, speerförmiger Bäume, die eine Art von Baumehrengarde für jeden Besucher darstellten, der die Absicht hatte, sich den kolossalen Vordertüren zu Fuß zu nähern, nicht weiter beschreiben. Es war ein Schloss, schlicht und einfach, und jeder einzelne Mauerstein in dem ganzen Gebäude war ein Tribut an die Herrlichkeit eines jeden, der in seinem Inneren weilte. Auch werde ich nicht näher auf das Verbeugen und Füßescharren des Dutzends Bediensteter eingehen, die herausgeeilt waren, um uns zu begrüßen - ich meine wirklich uns, denn ihre Ehrerbietung galt nicht nur Jelaine, sondern ebenso mir, ein Erlebnis, das mir das bisher größte Unbehagen des Tages bereitete -, als wir uns jenem Portal näherten. Und als die Dienerschaft die Türen weit öffnete, kam eine marmorgeschmückte Halle zum Vorschein, die drei winzige Figuren ausspie, in denen ich Hans, Philip und Jason Bettelhine erkannte. Alle drei grinsten uns an, als wären wir seit Jahren verschollen und für tot gehalten worden.
Hans schritt voran, gefolgt von den beiden Brüdern, und er verbeugte sich, als er meine Hand mit seinen beiden Händen umfasste. »Andrea. Dies ist ein historischer Augenblick. Ihr erster Besuch in diesem großen Haus.«
»Groß ist das Haus auf jeden Fall.«
Er lachte leise. »Man hat mich vor Ihrer brutalen Offenheit gewarnt. Ich muss gestehen, ich habe mich schon darauf gefreut, diese zu erleben.«
Philip rieb sich das Kinn. »Es ist gewöhnungsbedürftig, Vater ... Hallo Andrea. Ich nehme an, jetzt darf ich Sie so nennen und muss nicht mehr Counselor zu Ihnen sagen.«
Ich war in diesem Moment nicht sicher, ob mich je wieder irgendjemand Counselor nennen würde. »Das ist...« Was war es? Mir recht? Mag sein, dass Jelaine Bettelhines Charme mich ein wenig erweicht hatte, aber hieß das, dass ich Philip auch mögen musste? »Das ist in Ordnung.«
Hans Bettelhine interpretierte den Augenblick des Zögerns als Zurückhaltung. »Ich weiß, wie überwältigend das alles war, Andrea. Und ich verstehe, dass Sie Ihrer Abstammung mit gemischten Gefühlen begegnen, wenn ich an Ihre klaren Ansichten hinsichtlich unserer Familiengeschichte denke. Ich kann Ihnen nur versichern, dass ich die Absicht habe, ganz von vorn anzufangen und überzeugt davon bin, es noch zu erleben, dass Sie mir erzählen, Sie hätten es nicht bereut, unvoreingenommen über diese Schwelle zu treten.« Er bot mir seinen Arm. »Möchten Sie an meiner Seite Platz nehmen? Ich freue mich darauf, Ihnen alles zu erzählen, was mir aus der Jugend Ihrer Mutter in Erinnerung geblieben ist.«
Ich überrumpelte mich selbst, indem ich sein Angebot annahm. »Gern.«
Und so wäre es wohl den Rest des Tages weitergegangen. Noch ein paar Minuten, und man hätte mich in einen luxuriösen Speisesaal gebracht und mit dem besten Mahl verwöhnt, das die besten Köche von Xana zuzubereiten imstande waren. Man hätte mir wieder erzählt, wie bedeutend ich war und wie sehr ich mich geliebt fühlen könne und welch umfassende Möglichkeiten mir ein Leben als Bettelhine bieten würde. Ich wäre wieder in Versuchung geraten, und ich hätte mich ergeben.
Es wäre so einfach gewesen.
Juje, hilf. Ich wollte es.
Aber als wir beide, Hans Bettelhine und seine verlorene Nichte, Arm in Arm durch diese Tür schritten, vor uns die lachenden Gestalten von Jason und seinem nun nicht mehr entfremdeten Halbbruder Philip ... als wir die gewaltige Eingangshalle, größer als manche der Apartmenthäuser, in denen ich gewohnt hatte, ausgestattet mit einem riesigen Kronleuchter und Wandteppichen, so gewaltig, dass die historischen Landschaften, die sie darstellten, gut und gern überlebensgroß geraten sein mochten, betraten ... als die Diener, die zu beiden Seiten an den Wänden Aufstellung bezogen hatten, um uns, ihre Herrschaften, davor zu bewahren, mehr als fünf Schritte zu tun, ohne dabei die Gewissheit zu haben, dass sie stets verfügbar waren, um jedem unserer Bedürfnisse nachzukommen ...
... als wir an all dem vorübergingen, auf eine weitere, opulente Doppeltür zutraten, die zwei mit weißen Handschuhen angetane Diener bereits öffneten, um den Blick auf einen formellen Speisesaal freizugeben, an dessen anderem Ende ein stürmisches Feuer in einem Kamin loderte ...
... als Hans Bettelhine sich besorgt nach meiner Genesung erkundigte und ich sagte, es ginge mir gut, und Jelaine, die direkt hinter uns ging, keck lachend erklärte, was für eine schlimme Patientin ich gewesen sei...
... stellte ich plötzlich fest, dass ich so klar dachte wie seit meinen letzten Momenten auf der Königlichen Kutsche nicht mehr.
Die Warnung der KIquellen und die Warnung von Dejah Shapiro und die letzte Nachricht der Porrinyards vereinten sich mit meiner fortdauernden Gewissheit, dass meine Wiederaufnahme in den Schoß der Familie viel zu einfach, zu bequem, zu sollte-nicht-sein verlaufen war, nachdem Jason und Jelaine ihren Vater gebeten hatten, eine Verwandte meiner kontroversen Reputation zurückzuholen.
Vielleicht, wenn er ein anderer Mann gewesen wäre, wenn er einer anderen Familie vorgestanden hätte. Aber nicht einer Familie, in deren Geschichte die Verbannung von Angehörigen einen festen Platz hatte. Nicht dieser Familie. Es sei denn ...
Und dann hatte ich keine Zeit mehr für es sei denn, denn noch während meine Denkvorgänge an Geschwindigkeit zulegten, sah ich, wie Philip, der etwa fünf Schritte vor uns zusammen mit Jason direkt an der Schwelle zum Speisesaal war, sich plötzlich nach rechts umdrehte, aber nicht, um seinen Bruder anzusehen, sondern um über seines Bruders Kopf hinwegzuschauen; ich sah, wie das gehorsame Lächeln auf seinem Gesicht von einem Ausdruck ersetzt wurde, halb entschlossen, halb resigniert.
Zu einem anderen Zeitpunkt wäre es mir vielleicht nicht aufgefallen. Aber jetzt sah ich es.
Und ich sah, was er anblickte: den einen Diener, der aus der Reihe vorgetreten war und sich auf einem Kurs und mit einer Geschwindigkeit näherte, die offensichtlich darauf ausgelegt war, Jason Bettelhine abzufangen.
Der Diener trug den teilnahmslosen Gesichtsausdruck eines jeden Bediensteten zur Schau, der darauf abgerichtet worden war, seine eigene Persönlichkeit hinter einer Fassade aus Ja-Sir-nein-Sir zu verbergen. Und er stellte Augenkontakt zu Philip her und nickte ihm im Stil eines Mannes zu, der soeben die Bestätigung erhalten hatte, dass die Zeit gekommen war.
Er griff hinter diese lächerliche rote Schärpe und förderte eine schwarze Scheibe der Machart zutage, die ich bereits zuvor zu sehen bekommen hatte.
Ich wich zurück, rammte Hans einen Ellbogen in die Seite und brüllte: »Achtung!«
Der alte Mann klappte mit einem Stöhnen zusammen, das sowohl Schmerz als auch Enttäuschung verriet, ließ meinen Arm los und gab mir damit die Freiheit, Jason in den Rücken zu springen.
Jason, der meine plötzliche Regung durch Jelaines Augen gesehen haben musste, wirbelte gerade rechtzeitig um die eigene Achse, um zu sehen, wie sein Vater zu Boden prallte. Er sah nicht den weiß gekleideten Diener, der mit einer Klaue Gottes auf seinen Rücken zukam, nicht sofort, aber auch da kam ihm Jelaines Perspektive zu Hilfe. Einen Moment, bevor die Waffe mit ihm in Kontakt geraten konnte, bückte er sich, wirbelte herum und rammte dem Diener eine Faust in die Rippen. Der Möchtegern-Attentäter stolperte einen Schritt zurück und gegen die Wand - eine Verbündete, die ihn davor bewahrte, zu Boden zu gehen. Und wieder griff er mit der Klaue Gottes an, angetrieben von Panik und dem Reflex, sie wie einen Dolch einzusetzen statt sie als eine Waffe zu nutzen, die lediglich mit der Zielperson in Kontakt gebracht werden musste. Jason wich dem Schwinger aus, doch nur, um über Philips ausgestrecktes Bein zu stolpern und hart zu Boden zu stürzen.
Ich hätte Jason gern geholfen, aber mein Instinkt sagte mir, dass, wenn es einen Attentäter gab, dessen Zielperson Jason war, es auch einen geben musste, dessen Zielperson Jelaine war, und vermutlich einen weiteren, der auf mich angesetzt war. Also wirbelte ich herum, gerade rechtzeitig, um eine Szenerie zu erfassen, zu der ein ganzes Bataillon Bediensteter gehörte, die voranstürmten, um uns zu Hilfe zu kommen, während Jelaine sie anschrie, sie sollten zurückbleiben. Ihre Hilfe wäre schlimmer als nur nutzlos gewesen, sollte diese Masse, die ihrem Arbeitgeber zu Hilfe kommen wollte, zugleich den Vorstoß weiterer Attentäter verschleiern, die vorhatten, sich das Chaos zunutze zu machen, um ihre eigenen Klauen Gottes zum Einsatz zu bringen.
In diesem Moment wurde ich von einem anderen Diener überwältigt.
Der Angriff war höchst professionell, traf mich in der Leibesmitte und hob mich von den Füßen, ehe er mich um mehrere Schritte nach hinten trieb. Ich dachte, ich wäre tot, ehe ich einen Blick in die verzweifelten Augen des jungen Mannes erhaschte, der versuchte, mich in Schach zu halten, und sogleich erkannte, dass dies kein Attentäter war, sondern lediglich ein Diener, der gesehen hatte, wie ich Hans Bettelhine den Ellbogen in die Rippen gerammt hatte, und folglich dachte, ich müsse an was immer hier geschah beteiligt sein.
Ich nutzte ein gut platziertes Knie, um ihn für sein Engagement zu loben, und rollte mich weg, kam erst wieder hoch, als ich glaubte, sicher vor den wohlmeinenden Verteidigern der Bettelhine-Familie zu sein. Ein kurzer Blick auf das Chaos um mich herum förderte die Erkenntnis zutage, dass der Attentäter, der Jason angegriffen hatte, nun auf ihm thronte und versuchte, ihm die Klaue Gottes auf den Brustkorb zu pressen.
Philip packte das Handgelenk des Attentäters und legte seine eigene Kraft mit in den Kampf hinein.
Diese Darbietung familiärer Entschlossenheit hätte mich vielleicht beeindruckt, hätte mein Blickwinkel mir nicht verraten, dass er mehr dazu tat, die Klaue auf die Brust seines Bruders zu drücken, als dazu, seinem Bruder dabei zu helfen, sie von sich fernzuhalten.
Ein anderer Diener, der entweder sah, was da geschah, oder es für seine Pflicht hielt, den älteren Bettelhine-Bruder außer Gefahr zu bringen, ergriff Philip an beiden Armen und schleuderte ihn fort, ein Vorgang, der zugleich den Attentäter aus dem Gleichgewicht brachte und dem umkämpften Jason ein paar weitere Sekunden schenkte.
Ich wirbelte erneut herum und sah ein Quartett von Sicherheitsleuten, die versuchten, Jelaine aus dem Getümmel herauszuzerren. Ein weiterer Bediensteter, der noch eine Klaue Gottes zum Vorschein brachte, näherte sich, während sie festgehalten wurde. Sie versetzte seinen Kopf in Drehung, indem sie ihm einen hochangesetzten Tritt unter das Kinn verpasste. Ich nahm an, der könnte ihn umgebracht haben, aber ich hatte nicht genug Zeit, um sicherzugehen, weil ich aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm und wusste, dass ich nun wirklich an der Reihe war.
Ich fegte mit einem Tritt durch die Luft, der nicht ganz so elegant ausfiel wie der von Jelaine und mit nichts in Berührung kam, der aber gleichwohl meine eigene Angreiferin einen Schritt zurücktrieb und mir Gelegenheit bot, sie anzusehen. Sie war eine stupsnasige, pausbäckige, strubbelhaarige Kreatur mit sommersprossiger Haut und keinerlei Mimik, die nun mit ihrer Klaue Gottes ausholte und voranstürmte, offenbar in der Hoffnung, dass sie mit bloßer Entschlossenheit erreichen würde, was sie mit Verstohlenheit nicht erreicht hatte.
Als sie mit ihrem Vorstoß fertig war, war ich bereits neben ihr, packte ihre beiden Handgelenke und ihren Hals und setzte ihren eigenen Schwung gegen sie ein. Es war die gleiche Vorgehens weise, zu der ich schon bei dem vorangegangenen Attentat auf Layabout gegriffen hatte, nur dass der Attentäter, der mich dort angegriffen hatte, unbewaffnet und weitgehend harmlos gewesen war, und die Attentäterin, deren Angriff ich nun umleitete, eine tödliche Waffe schwang, die uns beiden vorauseilte, als ich uns vorwärtstrieb.
Philip Bettelhine drehte sich gerade rechtzeitig zu uns um, um zu erkennen, dass eine Klaue Gottes direkt auf ihn zukam, und er schrie wie ein kleines Mädchen.
Hätte er nicht, dann hätte ich vielleicht zugelassen, dass sie ihn traf.
Meine Zeit mit den Porrinyards hatte mich am Ende doch weich gemacht.
Also ließ ich die inzwischen aus dem Gleichgewicht geratene Angreiferin los, woraufhin sie zu Boden fiel, und benutzte den Absatz meines Schuhs, um die Hand zu zertrümmern, die die Klaue hielt. Von ihrem Aufschrei ließ ich mich nicht beeindrucken. Auch machte ich mir keine Sorgen mehr um Jelaine, die sich von ihren Möchtegern-Beschützern befreit hatte, ihnen befahl, sich zurückzuziehen, und die Klaue ihres eigenen, regungslosen Angreifers sicherstellte.
Jason, die Kleidung zerrissen, die Nase blutig, stand lebend und wohlauf da, während einige Bedienstete den einsamen Verräter wegschleppten, der auf ihn losgegangen war. Er sah, dass ich ihn anschaute, und nickte mir mit einem Ausdruck grimmiger Befriedigung zu. Von irgendwoher, nicht weit entfernt, hörte ich das Geräusch donnernder Schritte: Sicherheitsleute, die mit gewohnter Tüchtigkeit eintrafen, nun, da alles vorbei war.
Jelaine rief mich. »Andrea? Alles in Ordnung?«
»Mir geht es gut!«, brüllte ich.
Ich fragte nicht, wie es ihr oder Jason ging, denn ich wusste jetzt schon mehr, als ich je hatte wissen wollen.
Ich hatte das fehlende Element jenes Plans entdeckt, der Jason und Jelaine an die Macht gebracht hatte.
Hans Bettelhine hockte noch immer an der Stelle am Boden, an der ich ihn umgestoßen hatte, nicht imstande, die Kraft aufzuwenden, die er brauchte, um zu begreifen, dass die Notsituation beendet war. Es mochte daran liegen, dass ich ihn zu hart getroffen hatte, oder daran, dass er ein alter Mann war und die Gewalttätigkeit in seinem eigenen Haus ihm einen Schock versetzt hatte. Aber schon erschien Jelaine an seiner Seite, kniete sich zu ihm, und in ihren Zügen leuchtete jene besondere Art der Liebe auf, die bei einer loyal ergebenen Tochter vorzufinden nur natürlich war. Ich sah, wie sie anfing, ihm etwas zuzuflüstern.
Philip sah die Gefühle, die sich in meinen Zügen abzeichneten, griff auf, was mir aufgegangen war, und spürte den inneren Kampf, den ich mit mir selbst darob auszufechten hatte. Die Verzweiflung, die sich seiner Züge in den letzten paar Sekunden bemächtigt hatte, wich einem garstigen Ausdruck, als er mit einer leisen, nur für meine Ohren bestimmten Stimme sagte: »Das Schlimmste daran haben Sie bisher wirklich nicht begriffen, nicht wahr, Andrea?«
»Nein«, sagte ich und sah mich zu Jason und Jelaine um. »Nicht bis kurz vor dem Angriff.«
»Diesen Punkt habe ich falsch eingeschätzt. Ich dachte, Sie gehörten dazu, genau wie dieser salbadernde heilige Mann dazugehört hat. Zumindest aber dachte ich, dass jemand, dem unser Familiengeschäft so verhasst ist, wie Sie von sich behauptet haben, seinen Segen gäbe, sobald er Bescheid wüsste.«
Ich wandte den Blick ab. »Halten Sie die Klappe.«
»Nur für den Fall, dass Sie sich das fragen: Da oben war es wirklich nur Vernon Wethers. Ich war nicht eingeweiht. Aber dann sind wir alle nach Xana zurückgekehrt, und die beiden Irren, die einmal mein Bruder und meine Schwester waren und wussten, wie erfolgreich Vernon bei dem Versuch gewesen war, sie vor mir zu kompromittieren, haben versucht, mich anzuwerben. Sie haben sich tatsächlich eingebildet, ich würde billigen, was sie getan haben, um so weit zu kommen. Sie haben nicht begriffen, dass mir der bloße Gedanke den Magen umgedreht hat, dass ich in dem, was sie mit Vater gemacht haben, die seelische Vergewaltigung eines Familienangehörigen durch andere Familienangehörige gesehen habe. Sie haben nicht erkannt, dass ich etwas tun musste, ganz gleich wie dilettantisch, wie kurzfristig oder verzweifelt, um sie aufzuhalten.«
»Und die Klauen Gottes?«
»Mein eigener unbeholfener Versuch, diese Sache wie eine von Vernons Machenschaften aussehen zu lassen. Ich dachte, wenn ich es so einfädele, dass es vor etlichen Zeugen passiert, würden die Leute schon die richtigen Schlüsse ziehen. Aber das hätte ich nicht tun sollen. Ich hätte den einfachen Weg nehmen und einen Bombenangriff befehlen sollen. Oder jemanden losschicken, auf dass er meine lieben, verräterischen Geschwister im Schlaf erdrosselt. Aber nein«, schloss er mit spürbarer Selbstverachtung, »ich musste es raffiniert machen.«
Nur wenige Meter entfernt blitzte auf Hans Bettelhines Gesicht die Erleichterung auf, die jeder Sklave empfinden würde, der froh war, seine Instruktionen erhalten zu haben. Er nickte seiner liebenden Tochter zu, der weiblichen Hälfte des verbundenen Geistes, der ihn beherrschte und seinen Sinneswandel in so vielerlei Hinsicht gesteuert hatte, und erhob sich mit ihrer Hilfe, um damit fortzufahren, ihren Plänen für das Familiengeschäft seinen begeisterten Segen zu erteilen. Ein Blick reichte mir, und ich wusste, er hätte allem zugestimmt, was sie vorschlugen, wusste, dass ihre Ansichten für alle Zeiten auch die seinen sein würden.
Das war die einzige Möglichkeit, wie Jason und Jelaine ihren Putsch hatten durchziehen können. Kein Wunder, dass sie so erfolgreich waren. Sie hatten sich nach den Thesen des Khaajiir gerichtet und sich unter Hinzuziehung von Dina Pearlman oder einem der Techniker, die ihr zuarbeiteten, des einzigen Geistes bemächtigt, der imstande war, dabei zu helfen, die Veränderungen in Kraft zu setzen, die sie anstrebten.
Ich wusste nicht, wie sie es angestellt hatten, welche Risiken sie auf sich genommen hatten, um ihren Vater allein zu erwischen.
Ich konnte nicht einmal etwas gegen die Ergebnisse einwenden. Die Bettelhine-Familie änderte den Kurs.
Aber war das den Preis wert?
Noch eine geflüsterte Anregung von Jelaine, und Hans Bettelhine winkte mir zu, machte sich in meine Richtung auf, in Richtung der verlorenen Nichte, deren fixes Denken ihn aus der Schusslinie gebracht hatte.
Philip blieben nur ein paar Sekunden, aber er brachte alles darin unter. »Ich werde ins interne Exil gehen. Der sinnvolle Teil meines Lebens ist vorbei. Aber was ist mit Ihnen, Andrea? Wie weit sind Sie bereit zu gehen? Wenn Sie bleiben, tun Sie das dann, weil Sie denken, der Zweck heilige die Mittel, oder weil all Ihre überdrehten Prinzipien durch ein bisschen Geld und Macht aufgewogen werden können?«
Nun näherte sich auch Jason mit argwöhnischer Miene, während sein Blick sich abwechselnd auf Philip und mich konzentrierte.
Die Stimme der KIqu ellen grollte in meinem Kopf: Es ist Ihre Entscheidung, Andrea.
Für mich war es, als wäre jedes einzelne Atom im Universum zum Stillstand gekommen und ich das einzige lebendige Objekt in einer Szene voller Statuen.
Darum geht es?
Darum geht es. Dies ist der Moment, der über die Zukunft entscheidet, über die wir gesprochen haben. Dies ist der Moment, der darüber entscheidet, welche Spezies lebt und welche stirbt und ob die Menschheit einen Preis für den Genozid wird entrichten müssen.
Aber Sie haben mir nichts gegeben.
Wir haben Ihnen alles gegeben, was die Verfahrensbedingungen uns gestatten. Wir haben Ihnen zwei klare, alternative Zukunftsperspektiven geboten: eine, in der sie auf Xana bleiben und ihre beträchtlichen Fähigkeiten für das einsetzen, was Jason und Jelaine tun, und eine, in der Sie für sich bleiben, unabhängig und frei anderenorts tätig zu sein, auch wenn das bedeutet, dass Sie sich gegen sie stellen müssen. In der einen Zukunft wird Ihre aktive Mitwirkung dazu beitragen, die neue Vision des Bettelhine-Konzerns schneller umzusetzen; in der anderen werden sie ohne Ihren Rat weitermachen müssen und zusätzliche Zeit benötigen, um ihre Macht zu festigen. In der einen Zukunft sterben Milliarden, eine wichtige intelligente Rasse wird ausgelöscht, und die Menschheit zahlt einen verheerenden Preis. In der anderen werden Milliarden sterben, aber die Spezies überlebt, die Hoffnung bleibt gewahrt, und obgleich die Menschheit Schaden nehmen wird, wartet eine bessere Zukunft, sobald die letzten Schüsse abgefeuert sind. Eine dieser Möglichkeiten nützt uns, die andere unseren Feinden. Eine wird uns die Erleichterung bieten, nach der wir uns verzehren, und so zugleich die organischen Intelligenzen von unserer Beeinflussung befreien; die andere wird uns unser Ende verwehren. Sie werden binnen sehr weniger Monate Grund haben, Mutmaßungen darüber anzustellen, ob Sie die richtige Entscheidung getroffen haben. Sie werden im Zentrum dieser Ereignisse stehen. Aber zuerst müssen Sie die Zukunft mit der Entscheidung vorherbestimmen, die Sie jetzt zu treffen haben.
D-das ist verrückt! Wie zum Teufel soll ich denn wissen, was richtig ist, solange beide Seiten auf mich einflüstern?
Das wissen Sie nicht. Sie sind nicht hellsichtig. Wir können Ihnen nur den Hinweis geben, dass in diesem besonderen Fall die Entscheidung, die der Menschheit die besseren Chancen lässt, auch die ist, die richtig für Sie ist.
Und woher soll ich wissen, welche das ist?
Das ist die einzige Richtschnur, an die Sie sich halten können. Viel Glück, Counselor.
Schweigen.
Ich wollte sie anschreien. Sollte es je einen Moment gegeben haben, in dem ich ihre Hardware mit bloßen Händen hätte in Stücke reißen können, dann war es dieser. Ich hasste sie so sehr, wie ich noch nie etwas gehasst hatte, und ich bin gottverdammt talentiert im Hassen.
Aber das Universum bewegte sich wieder, und mir lief die Zeit davon.
Also schob ich all meine Wut auf meine geheimen Herren beiseite und dachte darüber nach, inwieweit die Kursänderung des Bettelhine-Konzerns der Menschheit zugutekommen mochte.
Ich dachte über die Gedankenkontrolle nach, die dazu benutzt wurde, die Kursänderung herbeizuführen.
Ich dachte über all die Argumente nach, auf deren Basis der Zweck die Mittel heiligen sollte.
Ich dachte über Zeiten nach, in denen ich diese Argumente geschluckt hatte, und über Zeiten, in denen ich sie als Mist betrachtet hatte.
Ich dachte über all das nach, was ich haben könnte, täte ich mich mit Jason und Jelaine zusammen.
Ich dachte darüber nach, was es mich kosten würde.
Ich dachte über das Dip Corps nach, das mich seit meiner Kindheit in jedem einzelnen Moment meines Lebens hintergangen hatte. Ich dachte über eine Existenz nach, in der ich mit einer Milliarde Messer im Rücken gelebt hatte, und über die Alternative: ein Leben an einem warmen, angenehmen Ort unter Menschen, die bereit waren, mir Liebe entgegenzubringen.
Ich dachte über die ersten Regungen gegenseitiger Liebe nach, die ich im Hinblick auf Jason und Jelaine wahrgenommmen hatte, über die instinktive Zuneigung, die ich dem grauhaarigen alten Monster entgegenbringen wollte, seit ich wusste, dass er der Bruder meiner Mutter war.
Ich dachte über die Tatsache nach, dass er keinen verdammten Finger für meine Mutter gerührt hatte, als er noch einen eigenen Willen besessen hatte.
Ich dachte darüber nach, alles zu bekommen, was ich mir nur wünschte, und mich zu allem Überfluss darauf hinausreden zu können, dass ich nicht nur mir selbst eine Zukunft aufbaute, sondern jedem, dem der neue Bettelhine-Konzern helfen konnte.
Ich dachte über meine Mission im Auftrag der KIquellen nach, über mein Versprechen, einen Weg zu finden, um sie umzubringen - eine weltfremde, idealistische Bestimmung, deren Erfüllung wahrscheinlich weit außerhalb menschlicher Reichweite lag. Ich dachte über die Verbrechen nach, die die abtrünnigen Intelligenzen, die Unsichtbaren Dämonen, begangen hatten, und darüber, dass ich vielleicht nie imstande wäre, sie zur Rechenschaft zu ziehen; darüber, dass ich, selbst wenn ich dies in zehn oder zwanzig oder dreißig Jahren oder zu irgendeinem Zeitpunkt in meinem Leben schaffen sollte, weder meine Familie zurückbekäme noch die Schuld mindern könnte, die ich angesichts meiner eigenen Rolle bei dem Massaker auf Bocai empfand.
Ich dachte über die Porrinyards nach, die immer noch da oben in meinem persönlichen Transporter hockten und darauf warteten, dass ich meine Entscheidung traf, und ja, ich liebte sie so sehr, wie sie mich liebten, aber war es richtig, dass sie mich nötigten zu entscheiden, ob ich mit meiner Familie oder mit ihnen leben wollte? Ginge ich zu ihnen und erklärte, ich hätte mich entschlossen zu bleiben, könnte ich sie überzeugen, bei mir zu bleiben, wenn ich die Belange von Jason-und-Jelaine als Beweggründe anführte? Würden sie helfen wollen? Oder würden sie erkennen, wie sehr diese Entscheidung auf dem einfacheren Weg beruhte, dem Weg zu einem Zuhause, zu Behaglichkeit und Familie? Was, wenn ich ihnen sagte, jemand müsse Jason und Jelaine von nun an im Auge behalten, um sicherzustellen, dass die moralischen Kompromisse, die die beiden schon jetzt eingegangen waren, nicht zu weiteren führten und irgendwann womöglich ein System hervorbrachten, das nicht minder destruktiv war als das, was sie zu ändern suchten?
Jason, Jelaine und ihr Vater hatten mich nun beinahe erreicht. Aber nun verblasste ihr Lächeln, als sie erkannten, wie sehr ich kämpfte.
Es wäre so einfach zu bleiben.
Aber was hatten die Porrinyards gesagt?
Am Ende lief alles nur darauf hinaus:
Denke daran, wer du bist.