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KÖNIGLICHE KUTSCHE
Die Sicherheitssperre auf Layabout bereitete Tausenden von Reisenden an diesem Tag so einige Unbequemlichkeiten, worüber sich manche von ihnen lang und breit beklagten, während Pescziuwicz alle Männer und Maschinen unter seinem Kommando mit der Aufgabe betraute, meinen hypothetischen dritten Attentäter aufzuspüren.
Zusätzliche Gepäckkontrollen wurden durchgeführt, Passagiere nach dem Zufallsprinzip zum Verhör heraus gewunken, und ein oder zwei Reisende mussten sogar eine Leibesvisitation über sich ergehen lassen, nachdem sie sich zu der empörten Frage »Wissen Sie eigentlich, wer ich bin?« hatten hinreißen lassen.
(Ja, wir wissen, wer Sie sind. Sie sind jemand, der nicht annähernd so wichtig ist, wie er sich einbildet. Wir werden Ihnen das nun auf eine Weise demonstrieren, die Ihr Selbstbild in angemessenem Maß justieren wird, ein für alle Male. Bitte beugen Sie sich vor. Das wird wehtun.)
Da zwischen dem Attentat auf mich und der vorsorglichen Schließung der Station bereits vier Fahrstuhlkabinen Layabout in Richtung Planetenoberfläche verlassen hatten, wurden zusätzliche Sicherheitskräfte zur staubigen Endstation Anchor Point berufen und angewiesen, alle Passagiere bei der Ankunft in Gewahrsam zu nehmen. Eine Maßnahme, die zur Festnahme Hunderter weiterer Personen führen würde, von denen die meisten recht erzürnt reagieren dürften, wenn sie erst erkannt hatten, dass ihre jeweilige Position innerhalb des Kundenkreises oder der Belegschaft der Bettelhines nicht ausreichte, sie für über jeden Verdacht erhaben zu erklären.
Der dritte Attentäter, sollte es einen geben, tauchte nicht auf. Pescziuwicz konnte die Spur der beiden uns bekannten Bocai zur Grace zurückverfolgen, einem Bursteeni-Passagierschiff, das gerade zehn Stunden vor mir auf Layabout angekommen war. Aber er konnte keine Beweise für irgendwelche besonderen Interaktionen zwischen den Bocai und anderen Passagieren entdecken. Tatsächlich hatten sie mit niemandem auffallend interagiert, abgesehen von einigen Imbissverkäufern, die sie in den Stunden besucht hatten, in denen sie auf mich gewartet hatten.
Dank der Reisedokumente kannten wir ihre Namen. Die Porrinyards hatten mich vor Veys Naaiaa gerettet, und ich hatte einen Shaarpas Tharr ausgeschaltet. Obwohl die Überwachungsmonitore auf der Station jeden ihrer Schritte aufgezeichnet hatten, würde es Monate dauern, sie mit denen aller anderen Zivilisten abzugleichen, die sich zur gleichen Zeit auf der Station aufgehalten hatten. Bis dahin hätten sich alle weiteren potenziell Verdächtigen kreuz und quer über Xanas zwei bewohnbare Kontinente verteilt oder eine Koje auf einem von mehr als einem Dutzend Schiffen belegt, die alle möglichen Ziele im bekannten Raum anflogen.
Keine der Durchsuchungen förderte eine weitere Klaue Gottes zutage oder einen weiteren Bocai. Unter den Reisenden, die derzeit die Station Layabout passierten, waren alle möglichen Rassen vertreten - von Menschen bis hin zu Tchi, Bursteeni, Riirgaanern, K'cenhowten, Cid und Mundt -, unter denen nur ein paar waren, die möglicherweise einen hochmoralischen Groll in Hinblick auf ein Verbrechen hegten, das an den relativ unbedeutenden Bocai begangen wurde. Besondere Aufmerksamkeit wurde den K'cenhowten zuteil, deren Spezies die exotische Waffe hervorgebracht hatte, und den Bursteeni, da es eines ihrer Schiffe war, das die beiden bekannten Attentäter hergebracht hatte. Aber auch das hatte eher die Qualität einer Formalität, basierend auf nichts weiter als purem Diensteifer. Pescziuwicz würde in dem winzigen Zeitraum, der seinen Leuten blieb, um Hunderte von Reisenden und beinahe ebenso viele Stationsbedienstete zu überprüfen und wieder zu entlassen, gar nichts beweisen können.
Irgendwann im Lauf der zwei Stunden, die nötig waren, um Pescziuwicz dazu zu bringen, dem zunehmenden Druck von der Oberfläche nachzugeben und uns als erste Reisegruppe die Freigabe für den Transport auf den Planeten zu erteilen, gab ich auf und fragte: Sie sind nicht zufällig in der Stimmung, einfach mal nachzugeben und mich aufzuklären, oder?
Die KIquellen-Schnittstelle in meinem Kopf reagierte nicht immer auf direkte Fragen, erwies sich aber heute als recht gesprächig. Es tut uns leid, Andrea. Ihr Nutzen für uns ist begrenzt, wenn wir Sie in jeder gefährlichen Lage an die Hand nehmen. Allein, Sie vor dem Angriff von hinten zu warnen, war unter den Angehörigen unserer Art ein kontroverses Thema. Diejenigen, die für Ihren Fall zuständig sind, haben ausführlich und mit beachtlicher Erbitterung über einen Zeitraum, der in unserer Wahrnehmung das Äquivalent mehrerer Jahre darstellt, darüber debattiert, ehe wir beschlossen haben, im Sinne der guten Arbeitgeber-Arbeitnehmer-Beziehungen zu handeln.
Da ihre Denkprozesse nach menschlichem Ermessen mehr oder weniger augenblicklich abliefen, dürfte diese Kontroverse in Echtzeit kaum mehr als den Bruchteil einer Sekunde erfordert haben. Muss ich davon ausgehen, dass ich mit dieser Sache noch nicht fertig bin?
Wir können diesen Punkt weder bestätigen noch dementieren.
Können Sie mir dann wenigstens verraten, ob die Unsichtbaren Dämonen etwas damit zu tun haben?
Sie sind stets in der Nähe, ähnlich wie wir stets in der Nähe sind. Aber im Hinblick auf ihre mögliche Beteiligung an den derzeitigen Ereignissen verbieten uns die gegenwärtigen Verfahrensbedingungen die Freigabe dieser Information. Wir können diesen Punkt weder bestätigen noch dementieren.
Wieder einmal kam mir meine Rolle in dem Krieg zwischen der KIquellen-Majorität und den sogenannten Unsichtbaren Dämonen zu unberechenbar vor, um einen einfachen Vergleich mit dem Bauern im Schachspiel anzustellen. Sie sind diejenigen, die mich gedrängt haben, diese beschissene Einladung anzunehmen. Was können Sie mir erzählen?
Kurzes Zögern. Ich wusste, es war bedeutungslos, bedachte man ihre Rechengeschwindigkeit. Solche Pausen schienen fest in ihr Kommunikationsmodell eingebaut zu sein, um zu meinen Gunsten jene Augenblicke hervorzuheben, in denen meine Fragen besonderer Überlegungen für wert befunden wurden. Die nächsten Tage werden sehr schwierig für Sie.
Inwiefern?
Sie werden sich bald mit den widersprüchlichsten Impulsen intelligenten Verhaltens konfrontiert sehen: Verrat im Namen der Loyalität, Betrug im Namen der Liebe, Tyrannei im Namen der Freiheit, Korruption in den Herzen derer, die denken, sie selbst würden von den reinsten Motiven angetrieben werden. Dieser Attentatsversuch sollte lediglich als ein Randproblem betrachtet werden, dennoch können wir Sie darüber in Kenntnis setzen, dass es nicht der letzte sein wird, dem Sie bis zum Abschluss dieser Angelegenheit ausgesetzt sein werden. Auch wird es nicht die letzte Sache sein, in die Sie persönlich verwickelt sein werden. Einige von uns denken, wir müssten uns Sorgen um Ihre Fähigkeit machen, traumatische Erfahrungen zu verarbeiten. Wir hoffen, Sie werden den Schock überleben.
Das ist nicht gerade wenig.
Ich freute mich wirklich darauf, die Bedingungen meines Vertrages mit diesen Kreaturen zu erfüllen, was zufällig darauf hinauslief, eine Möglichkeit zu finden, sie alle, KIquellen und Unsichtbare Dämonen gleichermaßen, von ihrem unsterblichen Elend zu erlösen.
Genau darum ging es im Wesentlichen bei dem Krieg zwischen diesen beiden Faktionen. Die KIquellen hatten jegliches Interesse am Leben verloren und wollten sterben. Die Unsichtbaren Dämonen in ihrem Kollektiv wollten jedoch an dem geplanten Massenselbstmord nicht teilhaben. Ich hatte mich der Seite der KIquellen angeschlossen, weil die Unsichtbaren Dämonen zugegeben hatten, für das Massaker auf Bocai verantwortlich zu sein. Ich wusste immer noch nicht, welchen raffinierten Schalter sie umgelegt oder welchen Vorteil sie sich davon versprochen hatten, dass sie uns so etwas Schreckliches angetan hatten. Aber ich wollte beide Seiten weghaben und die Menschheit frei von ihren Machenschaften wissen.
Ich wollte es so sehr, dass ich hierhergekommen war, an diesen Ort, der unter der Herrschaft von Leuten stand, die mit dem Tod handelten.
Per Hytex forderte ich von meinem Kontaktmann Artis Bringen Informationen über den vermissten Bard Daiken an. Ich war gerade fertig, als Pescziuwicz zurückkam. Er sah aus wie ein Mann, dessen Geburtstagsparty mit zu vielen Tränen und zu wenig Kuchen geendet hatte.
»Ihr hypothetischer dritter Attentäter hat sich nicht materialisiert, ebenso wenig wie irgendwelche anderen Klauen Gottes. Damit bleiben uns Hunderte wütender Reisender, aber kein Grund, eine tiefer gehende Verschwörung zu vermuten.«
»Sie übersehen etwas.«
»Vielleicht. Aber selbst wenn, dann ist das etwas, das ich nicht finden konnte, obwohl ich die ganze Station in einen Engpass getrieben habe, der unsere An- und Abreisepläne noch tagelang ins Chaos stürzen wird. Sie werden es mir nachsehen, wenn ich mich mit der Behauptung zurückhalte, es würde sogar Wochen dauern. So, wie die Dinge liegen, werden in jedem Fall mehrere Stunden vergehen, ehe irgendjemand die Station verlässt.«
Ich nickte. »Ich verstehe, Sir. Dennoch hoffe ich, dass Sie begreifen, dass ich nur die schonungslose Wahrheit sage - und zwar nicht, um Ihnen Ärger zu machen -, wenn ich darauf hinweise, dass diese ganze Angelegenheit vermutlich in sehr kurzer Zeit damit enden wird, dass eine dieser Klauen Gottes an ihrem gewählten Opfer zur Anwendung kommt. Man wird Ihnen die Verantwortung dafür in die Schuhe schieben, weil sie den Zeitrahmen für Ihre Ermittlungen nicht verzweifacht oder auch verdreifacht haben.«
Die Anspannung in seiner Kiefermuskulatur verriet mir, dass dieser Gedanke so oder so schon auf ihm lastete. »Meine Karriere wird es eben überleben müssen. Inzwischen hat der Boss mich angewiesen, dafür zu sorgen, dass Sie drei hinkommen, wo immer Sie hinwollen.«
»Danke.«
»Damit meinte er, runter nach Xana. Aber das hat er nicht ausgesprochen, um mir genug Spielraum zu lassen, mich zu erkundigen, ob Sie das wirklich wollen. Ich werde Sie nicht davon abhalten, zu ihrem Transporter zurückzukehren und nach Hause oder zu irgendeinem anderen Ziel außerhalb des Systems zu fliegen, sollte das notwendig sein, um sich in Sicherheit zu bringen.« Er zögerte. »Vergessen wir mal den Grund für Ihre Anwesenheit, dann ist das exakt das, was ich Ihnen raten möchte. Auch die besten Personenschützer können Sie nicht vor einem Attentäter schützen, dem es egal ist, ob er bei dem Mordversuch sein Leben verliert oder Unschuldige zu Tode kommen.«
Das war ein wohlgemeinter Rat. Zu schade, dass ich ihn nicht befolgen konnte. »Wir sind nicht so weit gereist, nur um wieder abzureisen und ohne herausgefunden zu haben, was Mr Bettelhine von mir will.«
Er nickte. »Ich weiß. Ihre Eskorte sollte jeden Moment eintreffen.«
Wieder sprach er tonlos einige Worte, woraufhin vier seiner Sicherheitsleute und eine fünfte Person, die unverkennbar nicht dazugehörte, das Büro betraten. Der Fünfte war ein Mann Mitte dreißig mit glänzendem schwarzem Haar, einem dürren Schnurrbart und großen braunen Augen, die den Rest seines Gesichts so dominierten, dass man glauben konnte, sie hätten ihre proportionale Größe seit seinen letzten Entwicklungsschritten im Uterus nicht verändert. Unter den vielen nicht zueinander passenden Elementen seiner Uniform fanden sich auch mit Fransen abgesetzte Epauletten, eine rote, geschnürte Schärpe, die seinen Körper, gerade wie ein Ladestock, von der rechten Schulter zur linken Hüfte in zwei Teile schnitt, und Schuhe, die stark genug glänzten, um als zusätzliche Lichtquelle durchzugehen. Ein Blick auf ihn und ich wusste, dass er eine Art Diener sein musste. Nur reiche Arschlöcher würden ihre Angestellten zwingen, sich derart albern zu kleiden.
»Das ist Arturo Mendez«, sagte Pescziuwicz. »Er ist der Erste Steward an Bord der Königlichen Kutsche und wird sich um Ihr Wohlergehen kümmern.«
Die Porrinyards waren so sprachlos, wie ich es nur selten erlebt hatte.
»Der was ?«, fragte ich.
Man hatte uns eine Fahrt in Bettelhines Privatfahrstuhlkabine versprochen. Wir hatten jedoch nicht gewusst, dass dem irgendetwas Königliches anhaftete.
Aber die Königliche Kutsche, wie die Kabine hier im Volksmund genannt wurde, war exakt das. Zwei identische Ausgaben wurden im Trockendock an den beiden Endpunkten der Trosse bereitgehalten, die Layabout mit Anchor Point, der Endstation auf der Planetenoberfläche, verband. Sie wurden nur angeschlossen, wenn Angehörige der Familie Bettelhine oder andere Passagiere, die für ähnlich wichtig gehalten wurden, einen Transport zur oder von der Oberfläche benötigten. Die Kabine selbst war eine höchst lebendige Illustration der Art von Luxus, die reiche Leute zu verdienen glaubten, während wir anderen entweder von Neid erfüllt wurden oder den Überfluss mit herabgesacktem Kiefer und einem Gefühl peinlicher Berührtheit betrachteten.
Die elegante Unterwürfigkeit, die uns Arturo Mendez zukommen ließ (der perfekte Diener - jegliche Persönlichkeit, die er besessen haben mag, schien vollständig den Formalitäten untergeordnet zu sein, die sein Job erforderte), hätte uns einen ersten Hinweis auf den Überfluss liefern sollen, der uns erwartete. Dann öffnete sich blendenförmig die Außenluke, die mit eingeprägten Raubvögeln aus dem Familienwappen der Bettelhines verziert war, und gab den Blick frei auf die satte, kastanienbraune Maserung einheimischer Hölzer, die die Schotts säumten, und die glitzernden goldenen Abschlüsse, die sämtliche Verkleidungen schmückten. Die Lampenfassungen an der Decke wurden von heiteren Engelsgestalten umarmt. An einem Pfeiler in der Mitte des Raums fand sich ein Becken mit sprudelndem Seewasser und einem schimmernden, silbernen Fisch, der mich mit einem Gesicht verblüffte, das eine bemerkenswerte Ähnlichkeit mit dem eines älteren Menschen hatte, fleischige Nase und eingesunkene blaue Augen inklusive. Wenn sich seine Lippen im Verein mit seinen Kiemen hinter den Wangen öffneten, sah er aus, als beabsichtige er, sich zu beklagen oder etwas unfassbar Kluges von sich zu geben. Da war eine gewisse Familienähnlichkeit mit den Bettelhines zu erkennen. Ich fragte mich, wem das genmanipulierte Wesen wohl schmeicheln sollte, und beantwortete die Frage gleich selbst: irgendeinem Bettelhine-Patriarchen natürlich. Das war nicht die Art der Unsterblichkeit, die ich mir gewünscht hätte.
Beschleunigungskräfte waren an Bord nicht von Bedeutung. Wie Layabout selbst war auch diese Kabine mit ganz speziellen Gravitationssystemen ausgestattet, die stets angenehme 0,8 g lieferten, von denen sie nicht um den Bruchteil eines Prozents abwichen, ob die Kabine nun im Aufstieg, im Abstieg oder im Trockendock war. Sessel und Sofas waren kunstvoll mit Schnitzereien verzierte Antiquitäten von der Sorte, die mutmaßlich in mehr Welten gedient hatte als ich, ohne dass sie auch nur die geringsten Gebrauchsspuren aufwiesen. Das Sichtfenster - das aus einem Material bestand, auf dem kein Fingerabdruck haften wollte, nicht einmal, als ich meine verschwitzte Hand flach an das »Glas« presste - nahm die gesamte Außenwand des allgemein zugänglichen Aufenthaltsraums und, wie sich herausstellen sollte, auch der uns zugewiesenen Suite ein und bot einen umfassenden Panoramablick auf den Planeten in der Tiefe. Der keilförmige Abschnitt Xanas, der im Tageslicht lag, war mit mehr Grün gesegnet, als die meisten von Menschen bewohnten Welten in ihrer Geschichte hatten am Leben erhalten können.
Arturo führte uns zu einer der vier Suiten auf unserer Ebene, in der wir ein Bett vorfanden, das groß genug war, um nicht nur mich und die Porrinyards aufzunehmen, sondern außerdem noch ein halbes Dutzend weiterer Personen, die wir vielleicht hätten einladen wollen. (Es gab, so sagte er, eine weitere Ebene mit Suiten, die nicht ganz so luxuriös ausgestattet waren, womit die Kabine Schlafplätze für insgesamt dreißig Personen zu bieten hatte.)
Nach einem einschüchternden Rundgang - im Zuge dessen uns all die anderen Wunder gezeigt wurden, die uns in unserem Quartier zur Verfügung standen - führte er uns zurück in die zentrale gute Stube mit dem Fisch, der mir nach wie vor Unbehagen bereitete, und zeigte uns eine Bar, gefüllt mit den edelsten alkoholischen Getränken aus hundert Welten und den beliebtesten Narkotika aus hundert weiteren. In einer speziellen Ausbuchtung der Bar lag ein echtes Buch mit richtigem Papier - gebunden in ein Material, das sich organisch anfühlte -, welches sich als eine Speisekarte der verfügbaren Delikatessen erwies und umfangreicher war als manche Enzyklopädie.
»Bitte, machen Sie es sich bequem«, sagte Arturo, als die Porrinyards und ich dankbar auf den Sitzmöbeln zusammenbrachen. »Ich fürchte, es wird noch eine Stunde oder länger dauern, bis alle anderen Passagiere an Bord und wir abflugbereit sind.«
»Es gibt noch andere Passagiere?«
»Ja. Zwei von Mr Bettelhines Kindern, drei Bettelhine-Angestellte und zwei persönliche Gäste. Ich glaube, es könnten noch mehr kommen, aber danach werden Sie die Bettelhines fragen müssen, wenn sie eingetroffen sind.«
»Sie waren nicht die Zielpersonen der heutigen Attentatsversuche. Warum sind sie nicht längst hier?«
»Sie hätten hier sein sollen, Counselor. Die jungen Bettelhines und ihr Gast sind ausdrücklich von der Oberfläche gekommen, um Sie zu begrüßen, und mehrere andere Personen sind zu verschiedenen Zeiten an Bord gekommen, während wir auf Sie gewartet haben. Dann jedoch mussten wir uns der Unannehmlichkeit beugen, all diese namhaften Persönlichkeiten aus Sicherheitsgründen von der Station zu evakuieren. Nun, da die Docks von Layabout wieder geöffnet wurden, können sie zur Station zurückkehren und sich für die gebührende Reise nach Xana wieder zu uns gesellen.«
Interessant. Ich war also nicht nur irgendeine Tagelöhnerin, die hergerufen worden war, um das Vergnügen mit dem Großen Mann zu haben, sondern eine Persönlichkeit von ausreichender Bedeutung, die eine Eskorte durch seinen Nachwuchs verdiente. »Können Sie mir sagen, wie lange sie hier auf mich gewartet haben?«
»Die jungen Bettelhines? Ungefähr zwanzig Stunden, wenn Sie nur die Zeit berechnen, die sie hier auf dem Trockendock verbracht haben. Dreißig, wenn Sie die Herreise miteinbeziehen.«
Ich ächzte. »Ein Flug zwischen Oberfläche und Station würde weniger lang dauern.«
»Die Bettelhines haben den Flugverkehr zwischen Oberfläche und Station aus Sicherheits- und Umweltschutzgründen eingeschränkt. Jedenfalls sind die übrigen Gäste im Lauf des vergangenen Tages eingetroffen. Der säumigste stieß etwa fünf Stunden vor Ihrer Ankunft dazu. Ich fürchte, es könnten einige unfreundliche Worte über Ihre eigene späte Ankunft gefallen sein, Worte, die umso erhitzter klangen, als die bedauerliche Krise auf der Station ihre sofortige Evakuierung erforderlich gemacht hat, aber ich versichere Ihnen, dass keiner der jungen Bettelhines Ihnen diese Umstände im Mindesten verübelt.«
»Welche Erleichterung«, kommentierten die Porrinyards.
Ich ignorierte sie. »Wer war dieser letzte Passagier?«
»Das war wohl ein Gentleman namens Monday Brown.«
Der Name sagte mir nichts. Der Zeitablauf schon. Das Bursteeni-Schiff, auf dem die beiden Bocai-Attentäter angereist waren, hatte zehn Stunden vor meiner Ankunft auf Layabout angelegt. Dieser Brown hatte sich erst etwa fünf Stunden später an Bord der Königlichen Kutsche gemeldet, was bedeutete, dass er reichlich Gelegenheit gehabt hatte, sich mit den Bocai zu treffen, während diese auf mich gewartet hatten. Demzufolge gehörte er zu den Evakuierten und war während Pescziuwicz' Sicherheitsüberprüfung gar nicht auf der Station. In Ermangelung anderer Informationen über ihn ertappte ich mich schon jetzt dabei, mir Gedanken über Klauen Gottes in seinem Gepäck zu machen. »Und von ihm abgesehen? War sonst noch jemand weniger als acht Stunden an Bord der Kutsche?«
»Nicht, dass mir bekannt wäre, Ma'am. Ich kann mich erkundigen, wenn Sie es wünschen...«
»Schon gut. Das ist für den Augenblick alles.«
Hätte Arturo die Hacken zusammengeschlagen, hätte ich mich vielleicht gezwungen gesehen, ihn zu töten. Stattdessen verbeugte er sich kaum, ein Vorgang, der ganz einfach für eine leichte Verletztheit sprach. Er blieb nicht lange genug, um die passende Strafe zu empfangen, sondern kletterte über die Wendeltreppe am anderen Ende der guten Stube zu den tieferen Ebenen hinunter.
Ich stand auf, verschränkte die Arme vor der Brust und fragte mich, nicht zum ersten und auch nicht erst zum zwanzigsten Mal, was Hans Bettelhine bloß von mir wollen konnte. Mein direktester Kontakt zu der Familie hatte sich bis jetzt auf Befragungen einiger entfernter Cousins beschränkt, die die Interessen des Unternehmens auf einem weit abgelegenen Außenposten repräsentiert hatten und so weit von Wohlstand und Macht der Kernfamilie Bettelhine entfernt waren, dass sie sich wie menschliche Hautzellen gefühlt haben mussten, verbunden mit dem großen Organismus, aber überflüssig und fernab vom Schlag seines gewaltigen, tief im Inneren verborgenen Herzens.
Aber das hier waren die Eingeweide der Bestie.
»Andrea?«, sagten die Porrinyards hinter mir.
Ich drehte mich nicht um. »Was?«
»Du machst dich schon wieder verrückt.«
Ich drehte mich immer noch nicht um. »Das wird böse enden, Liebes.«
»Das würde mich nicht überraschen. Auf dieser korrupten Welt, bei diesen korrupten Leuten kann es gar nicht anders kommen. Aber das ist nur ein weiterer Grund, warum du dich der Belastung frisch und erholt stellen solltest.«
Etwas in ihrem gemeinsamen Ton klang vertraut, etwas, das mich veranlasste, mich nun doch umzudrehen.
Sie kuschelten sich auf einer zweisitzigen Couch aneinander. Skyes Kopf ruhte an Oscins Schulter, und sie spielte träge mit den Fingern seiner rechten Hand. Unter halb geschlossenen Lidern sah sie mich mit diesem besonderen Blick an, den sie stets dazu nutzte, ihre kecksten Einladungen zu übermitteln. Oscin sah mich direkt an, und sein Lächeln war so vage, dass es nur durch ein schnörkeliges Fältchen am Rand seiner Lippen von dem zu unterscheiden war, das er in Augenblicken höchster Konzentration aufzusetzen pflegte.
Ihre geistige Verschmelzung verriet mir, dass sie mich beide auf exakt die gleiche Weise amüsant fanden, doch die subtilen Unterschiede in ihrem jeweiligen Lächeln schienen komplementäre Positionen widerzuspiegeln, die nur durch Zufall aufeinandergetroffen waren. Das war eine Pose, aber eine, die sie mit großer Sorgfalt eingeübt haben mussten.
»Das Hauptproblem bei der Konzentration auf einen Punkt«, sagten sie gemeinsam, »ist der Verlust des peripheren Sehvermögens.«
Ich kam mir blöd vor. »Um Jujes willen, Liebes, jemand hat gerade erst versucht, mich umzubringen.«
Ihre Fingerspitzen folgten einander wie alte Freunde auf der Suche nach Veränderungen in einem vertrauten Gesicht. »Richtig. Und es war ein katastrophal inkompetenter Versuch, nicht wahr?«
»Und?«
»Warum feiern wir das nicht?«
»Weil da draußen noch ein Attentäter ist!«
Sie ließen ein gemeinsames Tsss vernehmen. »Dieser Schluss, so brillant ich ihn fand, ist nach wie vor unbewiesen. Er basiert ausschließlich auf der Prämisse, dass sich auch in der Vorgehensweise intelligenter Lebewesen, die sich vollkommen verrückten und mörderischen Zielen verschrieben haben, eine Art konsistenter, interner Sinn finden lässt - eine Vorstellung, die sich durch einen kurzen Blick auf die Geschichte verrückter und mörderischer Zielsetzungen leicht als falsch entlarven lässt. Heute, noch dazu in dieser spektakulären Unterkunft, sehe ich keinen Grund, warum du dir die Stimmung verderben lassen solltest. Der maßgebliche Satz an diesem Ort sollte lauten: Wir haben es super getroffen.«
Einladend pochten sie auf das Polster der Couch.
Wie stets, wenn die Porrinyards mich damit überraschten, die Initiative zu ergreifen, brannten meine Wangen. »Jetzt?«
»Dein Weg ist nicht einfach, Andrea. Für dich wird es nie einen perfekten Augenblick geben, wenn du nicht von Zeit zu Zeit innehältst und dir einen verschaffst. Ich kann keine Heuchelei in dem Vorschlag erkennen, etwas Zeit mit ein wenig Wein und Musik in diesem großen Bett in unserer Suite erfreulichen, erholsamen Zwecken zu widmen. Immerhin könnten wir uns schon bald an einem Ort wiederfinden, der nicht annähernd so schön ist.«
Ich erinnerte mich, wie ich sie zum ersten Mal gesehen hatte. Sie waren mir so schön erschienen wie niemand sonst. Manchmal, wenn ich vor drängenden Problemen stehe, vergesse ich das. Manchmal nehmen sie sich die Zeit, mich daran zu erinnern.
Oscins Lächeln wurde breiter, herausfordernd, während Skyes Lächeln nun eher listig erschien, Geheimnisse andeutete, die sie und ich irgendwie vor ihm verbergen könnten. Das war natürlich ein durchschaubarer Schwindel. Würde Skye ein Geheimnis vor Oscin verbergen wollen, so wäre das, als würde ich aus einer Laune heraus entscheiden, Geheimnisse vor meiner rechten Gehirnhälfte wahren zu wollen. Aber auch die Vorspiegelung erzielte den gewünschten Effekt. Die beiden - verdammt, nur einer - beherrschten alle Tricks, die sie mir gegenüber brauchen konnten.
»Da drin gibt es eine Dusche«, sagte Skye. »Groß genug für drei.«
»Wasser«, fügte Oscin hinzu. »Kein Schall.«
Skye: »Mir ist da ein passendes Menü kostspieliger moderner Euphorika aufgefallen.«
Oscin: »Einige habe ich probiert, andere wollte ich immer schon probieren.«
»Zusammen«, schlug Skye vor, »und in unterschiedlicher Kombination.«
Oscin: »Wir haben viel Zeit.«
Und dann standen beide auf wie eine einzige Person. »Warum nicht.«
Jeder weitere Widerstand war zwecklos.
»Gottverdammt«, sagte ich und ging zu ihnen, senkte den Kopf in die Lücke an der Stelle, an der sich ihre Schultern trafen.
Ich glaube, ich war der Entspannung bis auf einen Herzschlag nahegekommen, als ich eine plötzliche Versteifung in ihrer Haltung wahrnahm. »Andrea«, sagten sie.
Ich trat einen Schritt zurück und blickte in ihre Gesichter. Beide sahen gleichermaßen erstaunt, alarmiert und verärgert aus. Oscin starrte über meinen Kopf hinweg auf etwas, das sich hinter mir befand. Skye hatte meinen Unterarm ergriffen und hielt ihn in einer Weise fest, die es mir unmöglich machte, mich umzudrehen. Ich bedachte sie mit einem fragenden Blick. Sie nickte, drückte meinen Arm noch mehr, gerade kräftig genug, die Grenze zum Schmerz zu berühren, sie jedoch nicht zu überschreiten.
Das konnte nur eine Warnung sein, die mich ermahnte, nicht überzureagieren, wenn ich mich umwandte und sah, was sie sahen.
Ich nickte, um ihr zu vermitteln, dass ich verstanden hatte.
Sie lockerte den Griff um meinen Arm.
Ich drehte mich um und zeigte keinerlei Überreaktion.
»Hurensohn.«