16
JASON UND JELAINE
Demzufolge, was Skye mir darüber berichtete, was sie durch Oscins Augen gesehen hatte, waren die drei Bettelhines ziemlich verwundert, als ich sie alle heraufschicken ließ.
Außerdem waren sie beunruhigt, als Oscin ihnen erklärte, sie sollten ohne Monday Brown und Vernon Wethers erscheinen, damit ich ihre Antworten prüfen und zugleich ihre Interessen schützen könne.
Brown und Wethers erhoben eindringlich Widerspruch gegen diese Bedingung, doch dann fragte Oscin - in Reaktion auf einen Vorschlag, den ich ihm durch Skye übermittelt hatte: »Sind drei Bettelhines nicht in der Lage, auf sich selbst aufzupassen?«
Dies war wohl einer der durchschaubarsten Versuche einer psychologischen Manipulation in meiner ganzen Karriere. Die Bettelhines mussten es merken. Dennoch funktionierte es. Die Bettelhines wiesen Brown und Wethers an, zurückzubleiben, und kamen allein, ohne Eskorte, die Treppe herauf. Jeder Schritt muss sich für sie angefühlt haben wie die letzte Etappe einer Reise, ohne dass ein Ziel in Sicht gewesen wäre.
Als die Geschwister die Suite betreten hatten, wählten sie ihre Plätze in einer Weise, in der die unbehagliche Rivalität der beiden Parteien klar zum Ausdruck kam. Philip und Jason saßen einander gegenüber - Philip skeptisch und Jason mit einer Maske der Trauer, die entweder schlicht falsch sein konnte oder eine Reflektion seines Bedauerns darüber, dass die Lage zwischen ihnen so angespannt war. Auf sich allein gestellt, wählte Jelaine einen Platz außerhalb des Kreises, gleich an der Wand, eine Geste, die keineswegs besagte, dass sie sich aus der bevorstehenden Konfrontation der Brüder heraushalten wollte, sondern ihr eine strategische Kontrolle über das Schlachtfeld ermöglichte. Ich sah Tränen in ihren Augenwinkeln, konnte aber nicht erkennen, ob sie Ausdruck der Hoffnung oder der Trauer waren oder schlicht dem Stress und der Erschöpfung zu verdanken waren. Nichts an ihr deutete darauf hin, dass sie selbst das Gefühl hatte, sie hätte die Kontrolle über die Situation verloren, nicht einmal, als sie fragte: »Ist alles in Ordnung, Counselor? So erbittert wie jetzt habe ich Sie noch nie gesehen, und das besagt einiges.«
Skye mochte mich nicht ansehen.
»Sie sind sehr aufmerksam, Jelaine«, sagte ich. »Ich bin erbitterter als zuvor. Sie haben mir gesagt, Sie wollen Freundschaft schließen, aber einige der Dinge, die ich in den letzten paar Stunden über Ihre stinkende, verachtenswerte Familie herausgefunden habe, haben dazu geführt, dass ich eine noch größere Abscheu empfinde als zu der Zeit, in der Sie für mich nur ein Abstraktum waren.«
Das wissende Lächeln auf ihren Lippen verschwand nicht, so wenig wie die stille Zuversicht in Jasons Zügen. Sie bildeten nach wie vor eine geschlossene Front - eine Haltung, die schon lange keinen Eindruck mehr auf mich machen konnte.
Philip, der mir in einer unserer jüngsten Unterhaltungen zumindest andeutungsweise so etwas wie einen widerwilligen Respekt entgegengebracht hatte, brodelte erneut vor Zorn. »Passen Sie auf, was Sie tun, Counselor. Bisher haben wir Ihnen einen Freibrief erteilt, aber der gilt nicht unbegrenzt.«
Ich stürzte mich so plötzlich auf ihn, dass er zurückzuckte. Erst, als gerade noch einige Zentimeter unsere Gesichter voneinander trennten, hielt ich inne. »Das sollten Sie tun. Wäre es nach mir gegangen, hätte man Sie alle am Straßenrand aufgestellt und nacheinander mit einer endlosen Parade all der Leute konfrontiert, denen Sie Leid zugefügt haben. Jede Stunde hätten Sie eine fünfzehnminütige Pause bekommen, in der sie sich die Spucke aus dem Gesicht hätten wischen dürfen, aber nur, damit die nächsten Hundert Leute in der Schlange sich an einem unbesudelten Ziel erfreuen können. Sehen Sie den Ausdruck in meinen Augen, Philip? Das ist das, was ich über Ihren gottverdammt irrelevanten Freibrief denke.«
So sehr ihn mein Zorn überrumpelt hatte, so schnell erholte er sich wieder. »Und selbst, Counselor? Wie lang wäre Ihre Parade? Und haben Sie in all den Stunden, die wir Ihnen gegeben haben, verdammt noch mal irgendetwas zustande gebracht, oder rennen Sie immer noch im Kreis herum?«
Ich erwiderte seinen herausfordernden Blick einige Sekunden lang und gab nur nach, weil ich eine unerträgliche Müdigkeit empfand. Das war keine einfache, körperliche Ermüdung und auch kein Stoffwechselproblem, wie es mich ungefähr einen Tag nach einer langen Interschlafreise üblicherweise befällt, sondern eine tiefe, die Seele peinigende Müdigkeit - die Art, die sich einstellt, wenn man dem menschlichen Talent zur Korruption gar zu lange ausgesetzt ist. »Ich habe mehr zustandegebracht, als Sie denken, Sir. Wenn wir hier fertig sind, werde ich sogar alle zusammenrufen und Ihnen sagen, wer den Khaajiir umgebracht hat.«
Die Ankündigung erzielte die erwartete Wirkung. Jason und Jelaine gaben sich weiterhin teilnahmslos freundlich. Philip erschrak, sah seine Geschwister an und drehte sich dann wieder zu mir um. »Warum erzählen Sie es uns nicht gleich jetzt?«
Ich rieb mir den Nasenrücken. »Weil ich das, wenn es nur darum ginge, mit dem Finger auf den Mörder zu zeigen, schon längst getan hätte. Aber Sie haben viel mehr als nur das angerichtet. Ich hege sogar den Verdacht, dass wir, habe ich den Namen erst genannt, um unser Leben kämpfen werden.«
Er suchte in meinem Gesichtsausdruck nach Anzeichen dafür, dass ich ihn hinters Licht führen wollte, fand aber keine und sagte: »Aber wenn Sie den Mörder schnappen ...«
Ich verdrehte die Augen. »Diesen einen Mörder. Das Individuum, das die Klaue Gottes im Rücken des Khaajiir hinterlassen hat. Diesen einen Namen kann ich mit annähernder Sicherheit benennen. Aber ist Ihnen nicht längst klar geworden, Sir, dass diese Sache weit größer und komplizierter ist? Immerhin haben wir es mit Verschwörern zu tun, die in der Lage sind, exotische Waffen zu beschaffen und zu schmuggeln, Attentäter aus fremden Welten anzuheuern, diesen Fahrstuhl zu sabotieren und in die Prioritäten derer einzugreifen, die uns anderenfalls hätten retten müssen. Wenn sie alle mitzählen, könnten sie auf Hunderte, womöglich sogar Tausende von Mitwirkenden kommen, und jede Möglichkeit, die ich haben mag, Ihnen diesen einen Namen unter so vielen anderen zu nennen, versagt bei wer weiß wie vielen anderen an Bord, die zumindest teilweise für unsere missliche Lage verantwortlich sein mögen.«
Philip schüttelte den Kopf, als könnte er die Fakten durch pure Ablehnung tilgen. »Aber keine dieser Personen ...«
»Bitte, Sir. Ersparen Sie es uns, die Leute zu benennen, von denen Sie wissen, dass sie loyal sind, oder mir zu erklären, warum Sie eine Verschwörung auf dieser Ebene für unmöglich halten. Ich weiß, warum Sie das für unmöglich halten, und ich gedenke, Ihnen in wenigen Minuten zu beweisen, dass Loyalität die Basis Ihres Problems darstellt. Sie glauben vielleicht, Sie würden diese Leute beherrschen, aber Sie haben jemand anderem gestattet, die Zügel zu übernehmen.«
Es dauerte eine Sekunde, bis er meine Worte verarbeitet hatte, doch als das geschehen war, erhob er sich, das Gesicht gerötet, die Augen klein und rund. »Sie wissen von ...«
»Seit Sie diese Technik in die Finger bekommen haben, haben Sie die Leute, die Schlüsselpositionen in Ihrem Imperium besetzen, genauso behandelt wie Magrison die unschuldige junge Frau, die zu Dina Pearlman geworden ist. Es ist nicht exakt dieselbe Technik - wäre sie es, so würde jedes betroffene Individuum den gleichen Chip tragen wie Mrs Pearlman -, aber die Wirkung ist die gleiche. Sie haben Ihnen Regler ins Bewusstsein eingebaut und dafür gesorgt, dass sie Zufriedenheit als Loyalität und Gehorsam Ihnen gegenüber definieren.«
Für einen Moment trat beschämtes Schweigen ein.
Dann meldete Jason sich zu Wort: »Sie haben natürlich recht. Und es ist exakt so schändlich, wie Sie sagen. Mrs Pearlman hat das System schon zu meines Großvaters Zeiten perfektioniert und eine Nanomaschinen-Manipulation des Lustzentrums eingeführt. Aber wie haben Sie das herausgefunden?«
Ich antwortete ihm, ohne Philip aus den Augen zu lassen. »Das war ziemlich einfach, verglichen mit einigen anderen Punkten dieser unschönen Angelegenheit. Ich war bereit zu glauben, dass Leute wie Monday Brown und Vernon Wethers im Austausch gegen die Nähe zur Macht auf ihr Privatleben verzichten; solche Leute finden sich überall und in jeder Generation. Aber Arturo hat mir Kopfzerbrechen bereitet; er hat seine Wertvorstellungen und seine Ambitionen woanders erworben, und trotzdem ist er sofort gesprungen, als er die Chance erhielt, Sie jahrelang ununterbrochen in dieser Blechbüchse zu bedienen, obwohl seine ganze Lebensgeschichte auf seine leidenschaftliche Sehnsucht hindeutet, an der See zu leben. Außerdem schien mir verdächtig, dass Ihre Familie sich jemanden wie Dina Pearlman schnappt, ohne Nachforschungen anzustellen und bei Bedarf die Technologie nachzubauen, durch die die Bestie Magrison sich ihre bedingungslose Loyalität gesichert hat. Umso mehr, da sie auf nicht näher erklärte ›andere Methoden‹ hingedeutet hat, mit denen Farleys abscheuliche Triebe unter Kontrolle gebracht werden konnten.« Während ich immer noch in drohender Haltung vor Philip stand, drehte ich den Kopf und konzentrierte meinen Zorn auf Jason. »Aber all das fügte sich zu einem Ganzen zusammen, als Arturo sich auf seinen Ausflug nach draußen vorbereitete und Sie ihm sagten, ich zitiere: ›Arturo, Sie mögen denken, Sie wären uns zu Treue verpflichtet, aber das sind Sie nicht. Wir haben diese Verpflichtung geformt. Haben Sie verstanden? Das waren allein wir. Sie müssen das nicht tun.‹ Das war der Moment, in dem ich erkannt habe, was Sie Mistvolk ihm angetan haben und auch all diesen anderen armen Seelen, die für Sie arbeiten. Sie haben sie an die Leine gelegt.«
»Gehen Sie mir aus den Augen«, sagte Philip.
Ich musterte ihn, als erinnerte ich mich erst jetzt seiner Existenz. Dann wich ich zurück, um allen dreien die Gelegenheit zu geben zu entscheiden, wer zuerst mit einer Rechtfertigung aufwarten sollte.
Jelaine strich sich eine Strähne goldenen Haars aus den Augen, die trotz des feindseligen Austausches während der letzten paar Minuten keinen Deut Wärme oder Anteilnahme eingebüßt hatten. Als sie sprach, klang ihre Stimme mild, und ihr Ton war vollkommen frei von jeder Spur einfacher Rechtfertigung. »Wir sind nicht alle mit diesen Reglern einverstanden, Counselor. Ein paar von uns verabscheuen schon den bloßen Gedanken. Das ist der Hauptgrund, warum mein Bruder und ich auf persönliche Assistenten verzichten, wie wir Ihnen schon gesagt haben. Wir ziehen es vor, die Loyalität derer zu verdienen, die für uns arbeiten.«
»Das entlastet Sie nicht von der Schuld, die sie sich damit aufladen, von einem System zu profitieren, das Menschen versklavt.«
»Nein«, stimmte sie zu. »Das tut es nicht.«
Damit hatte sie mich vorübergehend kaltgestellt.
Und sie fuhr fort: »Dieses System hat schon vor unserer Geburt existiert. Es hat mir und Jason keine große Wahl bezüglich eines Status quo gelassen, den zu ändern wir zu jung und zu machtlos waren. Ich bin nie fortgegangen, also können Sie mich hassen, wenn Sie müssen. Aber Jason ist gegangen. Er ist gegangen, als er noch zu jung war, seinen eigenen Weg zu finden, und er hat einen schrecklichen Preis dafür bezahlt. Und dass er zurückgekommen ist, bedeutet nicht, dass er seine Meinung geändert hat. Es ist so, wie ich es Ihnen gesagt habe: Wir beide wollen ändern, wofür unsere Familie steht.«
Ich zitierte den Rest dessen, was Jelaine mir in diesem Zusammenhang gesagt hatte: »›Und wie weit sich das Netz der Familie ausdehnt.‹«
Sie lächelte geheimnisvoll. »Das stimmt!«
Philip drehte sich auf seinem Platz um, offenbar nicht ganz imstande zu begreifen, was er gehört hatte, oder nicht fähig zu akzeptieren, dass es ihre Worte waren. Sie zog die Brauen hoch, als sie ihn anblickte, doch war das keine Geste des Trotzes, sondern eine stumme Abbitte. Ich glaube allerdings nicht, dass er verstanden hat, welche unausgesprochene Botschaft sie ihm vermitteln wollte. Auch empfing er die benötigte Antwort von Jason nicht, der ihm den gleichen, traurigen, bedauernden Ausdruck darbot, vielmehr liebend als streitlustig und gerade deshalb umso ärgerlicher für Philip.
Skye weigerte sich immer noch, mich eines Blickes zu würdigen. Sie hörte zu, aber sie teilte mir nicht mit, was sie dachte, sei es über die derzeitige Situation oder über mich. Ich wünschte verzweifelt, ich wüsste, ob der Schaden dauerhaft war, konnte mir aber nicht leisten, sie zu fragen, nicht jetzt, nicht, während uns das Schlimmste noch bevorstand.
Philip tat mir den Gefallen, mir einen weiteren Grund zu liefern, ihn zu verabscheuen. Er strich seinen Kragen zurecht und fixierte mich voller Verachtung. »Sie sind wirklich sehr schlau, Counselor. Und Sie genießen Ihre unverdiente moralische Überlegenheit. Aber Sie haben nicht einmal darüber nachgedacht, dass Leute, die auf unserer Ebene agieren, gute Gründe für die Entscheidungen haben, die sie treffen.«
Ich musterte ihn finster. »Die wären?«
Er sah müde aus. »Ist Ihnen gar nicht in den Sinn gekommen, dass unser Geschäftsmodell von uns verlangt, dass wir die menschliche Rasse davon abhalten, sich selbst zu vernichten?«
»Weiter.«
»Ich kann nicht behaupten, wir hätten nicht profitiert, aber wir handeln mit einem Rüstzeug, das nicht in die Hände von Monstern wie Magrison oder noch schlimmeren Personen fallen darf. Wenn wir danach streben, gefährliche Technik zuerst zu entwickeln, tun wir das, damit wir sie kontrollieren und die Anzahl der Leute, die Zugriff darauf erhalten, begrenzen oder die Technik vollständig vom Markt fernhalten können, weil wir sie für zu riskant halten, ihren Einsatz auch nur im Kontext primitiver kriegerischer Auseinandersetzungen zu gestatten. Sie haben keine Ahnung, wie viel wir im Lauf der Jahre weggesperrt oder einfach verworfen haben. Aber wenn unsere besten Leute je auch nur darüber nachdenken könnten, selbst in das Geschäft einzusteigen, entweder, indem sie die Macht auf Xana an sich reißen oder indem sie von System zu System ziehen und unsere Geheimnisse nach Gutdünken verbreiten ...«
»Also haben Sie ihnen Fesseln ins Hirn gepflanzt.«
»Nicht im Hinblick auf ihre Kreativität«, sagte er. »Nicht im Hinblick auf ihre kognitiven Fähigkeiten. Nicht einmal im Hinblick auf ihre Fähigkeit, die Freuden des Lebens zu genießen. Nur ihre Möglichkeit, Verrat zu üben, wurde gelähmt. Wir haben also keine Fesseln installiert, sondern Regler: interne Schutzzäune, wenn Sie so wollen, die dafür sorgen, dass alles, was sie für die Bettelhines entwickeln, auch allein von den Bettelhines kontrolliert wird.«
»Auch wenn das ihr Leben bis zur Unkenntlichkeit verzerrt? Ich habe nicht lange gebraucht, um festzustellen, wie viele Ihrer Leute offenbar keine Prioritäten haben, die über ihre Arbeit für Sie hinausgehen. Eines der ersten Dinge, die ich über Brown und Wethers gelernt habe, ist, dass sie so auf ihre Arbeit fixiert sind, dass sie weiter nichts haben.«
»Bei den meisten Betroffenen ist das nicht so offenkundig. Die meisten gehen einfach zur Arbeit, tun, was sie zu tun haben, und gehen wieder zurück nach Hause und leben ihr ganz normales Leben. Was Sie an Brown und Wethers beobachtet haben, ist keineswegs ungewöhnlich bei Angestellten im gehobenen Management. Ich kenne Offiziere Ihres Diplomatischen Corps, die sich genauso verhalten, ganz ohne interne Regler, auf die sie sich herausreden könnten.«
»Also stehen Brown und Wethers nicht unter Ihrer Kontrolle?«
»Kontrolle ist das falsche Wort. Sie haben nach wie vor einen freien Willen. Innerhalb gewisser Parameter. Wenn sie sich ein Privatleben wünschen, werden wir sie nicht aufhalten. Aber Sie müssen verstehen, dass das Potenzial zur Korruption - und da geht es nicht um kleine Einsätze, sondern um Korruption in einem gesellschaftlich destruktiven Umfang - bei Leuten ihres Standes weitaus größer ist, als Sie es sich vorstellen können. Ein unveränderter Monday Brown hätte, sich selbst überlassen, die Möglichkeit, das ganze Unternehmen zu ruinieren. Er könnte Unterschlagungen begehen, Geheimnisse stehlen, er könnte sein Wissen benutzen, um sein eigenes Imperium aufzubauen. Jemand wie er muss in seinem Beruf absolut zufrieden sein, muss den Dienst an den Bettelhines über alle persönlichen Vorstellungen erheben, damit diese Möglichkeit ausgeschlossen wird.«
Wenn der es nicht schaffte, das alles beinahe schon vernünftig klingen zu lassen ... Aber ich brauchte nicht lange, um etwas zu finden, das meinen Zorn wieder zu alter Hitze aufwallen ließ. »Und wie soll das die Vergewaltigung durch Gedankenkontrolle rechtfertigen? Beispielsweise das, was mit Colette passiert ist?«
Seine eben noch zur Schau getragene Rechtschaffenheit geriet ein wenig ins Wanken. »Ich bestreite nicht, dass dergleichen passiert. Dann und wann findet einer von uns ein lüsternes Interesse an dem einen oder anderen Angestellten und ändert die Einstellung des Reglers, um auch sexuelle Gefälligkeit als Ausdruck der Loyalität zu definieren. Das wird nicht gern gesehen, und ich selbst habe es nie getan, aber wir alle wissen, dass das häufiger geschieht, als uns recht sein kann. Das Schlimmste, was Sie jedoch darüber sagen können, ist, dass es aus der Sicht derer, die nicht daran beteiligt sind, verachtenswert ist. Die Leute, mit denen es gemacht wird, sind auf ihre Weise beinahe selig. Colette ist glücklicher als irgendeine andere Person, die ich kenne.«
»Auf Kosten von allem, was sie einmal war.«
»Wie schon gesagt, ich billige den Einsatz der Technik ausschließlich aus Sicherheitsgründen, und ich habe mit Magnus darüber gesprochen, dass er sie in ihr altes Leben zurückführen soll.«
Es war zum Verrücktwerden. »Und was ist mit Arturo Mendez? Sein Gönner Conrad ist tot. Er ist seit Jahren tot. Er wird nie zurückkommen. Und doch ist Arturo immer noch hier und arbeitet Jahr um Jahr unter Bedingungen, die einen krassen Kontrast zu dem Leben bilden, das er leben würde, hätte er denn die Wahl.«
Auch darauf schien Philip nicht stolz zu sein. »Arturo ist wie alle unsere engen Mitarbeiter der unteren Ebenen. Er hat Zeit mit uns verbracht, hat unsere Gespräche mit angehört, kennt unsere Geheimnisse. Er weiß Dinge, die auf keinen Fall an die Ohren Außenstehender dringen dürfen. Darum haben wir seine Ambitionen, anderswo zu arbeiten, ausgeschaltet. Das ist scheußlich, aber für ihn ist das nur eine Veränderung der Kriterien, die erfüllt sein müssen, damit er glücklich leben kann. Irgendwann, früher als er denkt, wird er ein Ruhestandspaket erhalten, das weit großzügiger ist, als ein Mann mit seinen Möglichkeiten es auf irgendeine andere Art und Weise erarbeiten könnte. Ob Sie es glauben oder nicht, Counselor, bei diesem Geschäft gewinnen beide Seiten.«
»Das ist kein Geschäft, das ist Sklaverei.«
»In gewisser Weise. Auf einer Welt, auf der unbeschränkte Freiheit zur Massenvernichtung führen könnte.«
»Und was hält einen einzelnen Bettelhine, der etwas niedriger in der Hackordnung angesiedelt ist, davon ab, die Gelegenheit dazu zu nutzen, sich ein paar gefügige kleine Roboter zu basteln, mit deren Hilfe er die Macht an sich reißen kann?«
»Abgesehen von der Tatsache, dass jeder Bettelhine, der auch nur einen Gedanken daran vergeudet, alles verlieren, aber nur sehr wenig gewinnen kann? Wir sind zu raffiniert, um so etwas zuzulassen, Counselor. In den meisten höheren Ebenen sind unsere Angestellten nicht loyal gegenüber einem Bettelhine, sondern gegenüber dem Machtgefüge der Bettelhines im Ganzen.«
»Also gibt es auch Angestellte, die mehr Macht haben als Bettelhines?«
»Die muss es geben. Das ist zwingend notwendig, um das destruktive Potenzial familiärer Rivalität in Schach zu halten. Ich hörte, das Jason Ihnen gegenüber Lillian Jane erwähnt hat. Ihre Lehrer waren ihr gegenüber zweifellos loyal, sie waren aber auch noch in der Lage, über ihre Aktivitäten Bericht zu erstatten. Der eigentliche Grund, warum es bei uns nie irgendeinen hinterhältigen, soziopathischen Verwandten gegeben hat, der alle Leute über sich vergiftet und die Herrschaft an sich gerissen hat, ist die ständige Gegenwart von Leuten wie Brown und Wethers, deren wahre Loyalität der Unternehmensstruktur im Ganzen und den Prinzipien, denen unsere Familie seit...«
Mitten im Satz brach er ab.
Runzelte die Stirn.
Ging im Geiste noch einmal alles durch, was er gerade gesagt hatte.
Fing an zu begreifen.
»Was haben die Pearlmans heute hier zu suchen?«, fragte ich. »Werden sie häufiger zu Überraschungsreisen auf die Königliche Kutsche eingeladen? Oder sind sie üblicherweise nicht viel mehr als Gefangene, die gut behandelt werden, aber in ihrem Inselgulag zu arbeiten haben?«
»N-nein. Ich ...«
»Sie wussten, dass zwischen Jason und Jelaine irgendwas vorging. Aber Ihr Verdacht konzentrierte sich auf Jason, den Halbbruder, dem Sie nie wieder vertrauen würden. Und so haben Sie sich eine vollkommen fehlgeleitete Theorie zurechtgelegt. Sie glaubten, Jason würde Jelaine auf irgendeine Weise kontrollieren. Sie haben befürchtet, jemand, der für Dina Pearlman arbeitet, hätte sich aus ihrem Reservat geschlichen und ihm geholfen, die Regler bei Jelaine zu installieren. Also haben Sie Ihren Einfluss dazu genutzt, den Pearlmans eine Freifahrt im Aufzug zu verschaffen, und Dina angewiesen, sie möge Ihren Bruder und Ihre Schwester heimlich beobachten, in der Überzeugung, das könnte ihre Vermutung beweisen.«
Jelaine schüttelte den Kopf. »Oh, Philip, du könntest gar nicht weiter daneben liegen.«
»Nein, das konnte er nicht«, sagte ich. »Und nicht nur in diesem Punkt.« Ich schlug ihn mit der vollen Macht des größten Fehlers, den seine Familie begangen hatte. »Ihr Großvater wollte verhindern, dass Angestellte in Schlüsselpositionen je moralischen Widerspruch gegen Anweisungen der Bettelhines erheben oder zu anderen Mächten oder Konzernen überlaufen. Er wollte jeden davon abhalten, je eine Linie in den Sand zu ziehen und zu sagen: Bis hierhin bin ich bereit zu gehen und keinen Schritt weiter. Und er dachte, er hätte es geschafft. Für Jahrzehnte hat jeder Bettelhine, der Zugriff auf die Technik hatte, geglaubt, das gäbe ihm Sicherheit. Aber tatsächlich hat es eine Kommandokette geschaffen, die für Angehörige des mittleren Managements mit einer eigenen Definition von Loyalität umso leichter angreifbar ist.«
Philip erhob sich.
Ich ging auf ihn zu, legte ihm die Hände auf die Schultern, drückte ihn zurück auf seinen Platz und beugte mich zu ihm herab, ehe ich ihm wütend mein Schlussplädoyer lieferte. »Loyalität, die das Einverständnis zu schrecklichen Verbrechen beinhalten kann, sogar Verbrechen an den Bettelhines, solange irgendjemand, der über ihnen steht, einer Ihrer kostbaren internen Revisoren, ihnen nur sagen kann, dass es dem Wohl der Familie im Ganzen diene.«
Philips Lippen bewegten sich tonlos.
Dieses Mal herrschte er mich nicht an, ich solle von ihm ablassen.
Einen Moment später löste ich mich wieder von ihm, schritt im Raum auf und ab, erfüllt von einem Zorn, den manch ein Beobachter fälschlicherweise für Hysterie hätte halten können.
»Wie Sie sich auch rechtfertigen mögen«, sagte ich, »es ändert nichts an den Tatsachen. Ihre heimtückische Methode existiert, und sie ist es, die diese Verbrechen erst möglich macht, indem sie die Kommandokette rauf und runter blinden Gehorsam erzwingt. Und das ist es, was für uns derzeit die größte Gefahr darstellt, denn es beschränkt die Anzahl der Personen, denen wir trauen können, auch an Bord dieser Kutsche. Ich habe mal nachgerechnet. Wollen Sie die Ergebnisse hören?«
»Bitte«, sagte Jason.
Philip nickte, sah dabei aber so widerwillig aus, dass es schien, als hätte er es vorgezogen, der bitteren Wahrheit durch bloße Ignoranz aus dem Weg zu gehen.
»Schön.« Ich marschierte weiter auf und ab. »Wir sind sechzehn Personen. Ich weiß, dass ich unschuldig bin und kann das Gleiche auch im Hinblick auf meine Mitarbeiter sagen.«
Philip klappte den Mund auf.
Ich hob eine Hand, um ihn zum Schweigen zu bringen. »Wenn Ihnen mein Wort dafür nicht genügt, dann bedenken Sie, dass ich noch nie auf Xana war und dass ich erst Stunden, bevor ich New London verlassen habe, erfuhr, dass ich herkommen würde. Können wir uns dieser Argumente wegen darauf einigen, dass es schlicht sinnvoller ist, davon auszugehen, dass wir nicht die Schuldigen sein können?«
Jelaine verblüffte mich mit lautem Gelächter. Herzlicher hatte ich sie bisher nie lachen gehört - eine Fröhlichkeit, völlig unbeeindruckt von den makabren Umständen oder der Gefahr, in der wir schwebten. Das beinahe schallende Gelächter bezeugte eine Genussfähigkeit, die ihr unter all ihren Angehörigen eine echte und herausragende Lebenskraft geschenkt haben musste. »Ich habe Sie nie verdächtigt, Counselor.«
Die Müdigkeit, die mich vor wenigen Minuten befallen hatte, schien nun auch Philip zu beeinträchtigen. »Machen Sie weiter.«
Ich zählte die einzelnen Punkte an meinen Fingern ab. »Ab hier fällt jeder Versuch eines Ausschlussverfahrens in das Reich der Spekulationen. Da dies ein Verbrechen ist, das die Bettelhines im Allgemeinen und den Bettelhine am oberen Ende der Kommandokette im Besonderen in Gefahr bringt, bin ich bereit, Sie drei auch als mutmaßlich unschuldig einzustufen. Bei Jason und Jelaine bin ich meiner Sache sicherer als bei Ihnen, Philip, da ihre Absichten unter dem Angriff leiden. Aber da Sie keine Mühe gescheut haben, um Ihrerseits an Bord zu sein, und keinen Grund hatten, sich selbst in Gefahr zu bringen, während Attentäter in Ihren Diensten ihre Arbeit verrichten, bin ich geneigt, auch Ihnen einen Freifahrtschein auszustellen. Natürlich kann ich in diesem Punkt nicht absolut sicher sein, aber es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich richtig liege.«
Er genehmigte sich eine verschrobene Grimasse. »Ihre Beurteilung meiner Person rührt mich zutiefst.«
»Das Gleiche gilt für Dejah. Sie hätte die Ressourcen und sogar ein vernünftiges Motiv, bedenkt man die Anschläge auf ihr Leben, die in der Vergangenheit auf das Konto Ihrer Familie gegangen sind, aber selbst wenn sie diese Sache finanziert hätte, sehe ich keinen Grund, warum sie sich persönlich an die Front hätte begeben sollen. Ich mag mich bei jedem einzelnen oder sämtlichen dieser letzten vier Namen irren, der Rest jedoch ist offen. Wenn ich Sie mit einiger Vorsicht von meiner Liste der Verdächtigen streiche, bleiben von sechzehn Personen noch neun - neun Leute, die geholfen haben könnten. Neun von sechzehn, deren Reaktion - habe ich erst den Namen des Mörders, dessen Identität ich kenne, genannt - nicht vorhersagbar ist. Neun von sechzehn, die Waffen gelagert haben könnten und möglicherweise nur zu gern bereit sind, noch ein oder zwei weitere Leichen zum Abkühlen im Salon zurückzulassen, sollten wir versuchen, die Pläne zu vereiteln, die sie zusammengeführt haben.« Ich atmete tief durch und konzentrierte mich erneut auf Philip. »Begreifen Sie jetzt allmählich, wie prekär unsere Lage ist, Sir?«
Meiner Frage folgte eine tiefe Stille. Philip nagte an seinem Daumen, sah sich zu Jelaine (deren Gesichtsausdruck sich nicht verändert hatte) und Jason (dessen scheinbare Unverwundbarkeit ein Spiegelbild der ihren zu sein schien) um. Wieder hatten sie ihm nichts geliefert. Schließlich widmete er sich wieder mir und sagte: »Was schlagen Sie vor?«
»Ich schlage vor, dass wir, wenn ich erst dazu komme, den Namen preiszugeben, alle darauf vorbereitet sein sollten, um unser Leben zu kämpfen. Und«, tja, nun, »ich schlage vor, da mir das der beste Weg zu sein scheint, dass Sie Ihrem Bruder erklären, wie abwegig seine Vermutung wirklich war.«
Philip erschrak. Seine Augen weiteten sich, als ihm klar wurde, dass er nun endlich einige der Antworten erhalten würde, die er schon so lange herbeisehnte. Er drehte sich zu seinen Geschwistern um, erwog deren Reaktion, erkundete ihre sanften, liebenswürdigen Mienen, als wäre er entschlossen, die Wahrheit aufzudecken, ehe sie sie freiwillig preisgeben konnten.
Jason rieb sich mit einer Hand die Stirn. »Müssen Sie jetzt alles wissen, Counselor? Was mir auf Deriflys passiert ist? Wonach meine Schwester und ich gesucht haben, als wir Xana verlassen haben? Warum wir anschließend getan haben, was wir getan haben?«
Ich dachte darüber nach. Der Gedanke war verlockend. Aber dann schüttelte ich den Kopf. »Nein. Ich kann auf diese Antworten und die Erklärung dafür, warum Sie Ihren Vater dazu gebracht haben, mich einzuladen, warten, bis wir in Sicherheit sind. Aber ich möchte, dass Sie Philip gegenüber klarstellen, was Sie sind, damit er erfassen kann, wie sich das auf das Kommende auswirken wird.«
Jason nickte, und für einen kurzen Moment huschte ein Ausdruck tiefer Trauer über sein Gesicht, während er seinen älteren Halbbruder mit unmissverständlicher Zuneigung musterte. Tränen sammelten sich in seinen Augenwinkeln. »Es tut mir leid, Bruder. Das hat sich nie negativ auf das ausgewirkt, was wir dir gegenüber empfunden haben. Aber so ein Geheimnis vor den Menschen zu wahren, die uns am besten kennen, ist furchtbar schwierig. Und das, was wir gemeinsam zu tun versuchen, ist so ungeheuer wichtig.«
»Wir lieben dich«, sagte Jelaine. »Das darfst du nie vergessen.«
Philips Blick huschte zwischen Jason und Jelaine hin und her, und seine Lippen bewegten sich wortlos, während er versuchte, Antworten aus der Luft zu fischen. Nach einer Million Jahren - er hatte immer noch nichts begriffen - würgte er hervor: »... was?«
Jelaine strich mit dem Handrücken über ihr Gewand und erhob sich. Das liebreizende, schiefe Lächeln zupfte immer noch an ihren Mundwinkeln. Tränen, die denen von Jason so sehr glichen, schimmerten in den Lidrändern ihrer wunderschönen Augen. In ihrer Haltung lag keinerlei Abwehr, kein Zorn, nichts außer einer Liebe, so strahlend, dass mir schon der bloße Anblick Schmerzen bereitete.
Ich fragte mich, wie viel Courage es erforderte, sich auf solch eine Weise zu öffnen, obwohl diese Offenheit ebenso viel zerstören wie heilen konnte, und ich musste ganz gegen meinen Willen erkennen, dass ich sie beneidete, so wie ich die Porrinyards immer beneidet hatte, weil sie den Mut gefunden hatte, zu einer Reise aufzubrechen, für die ich nicht genug Vertrauen aufzubringen imstande war.
Während sie da stand, erhob sich auch Jason und stellte sich neben ihr auf, sodass sie zusammenstehen und sich Philip als die vereinte Macht präsentieren konnten, die sie schon so lange waren. Eine subtile Veränderung zeigte sich in ihren Gesichtern, als sie sich synchronisierten, die so oder so schon beachtliche Ähnlichkeit hervorhoben, bis sie mehr waren als bloße Geschwister, näher als sie es hätten sein können, wären sie Zwillinge gewesen.
Wie abgesprochen zogen sie die Brauen hoch, als sie sich ihrem älteren Bruder stellten, vereint in ihrem Flehen, vereint in der Herausforderung.
Philips Augen wurden größer. Er war kein dummer Mensch, und ich denke, er erkannte die Wahrheit einen Sekundenbruchteil, bevor seine sonderbaren Geschwister unisono zu sprechen anhuben, bevor die gemeinsame Stimme erklang, die weder männlich noch weiblich war, sondern einem Geschlecht entsprang, das zugleich beides und keines war. Vielleicht erleichterte dieser Herzschlag, um den er ihnen voraus war, den Moment, als seine Geschwister sagten: »Einst war ich zwei Personen, ein Bruder und eine Schwester namens Jason und Jelaine Bettelhine. Einst verließen sie Xana als getrennte Wesen und kamen als ein vereintes zurück. Nun bin ich ein verbundenes Paar. Nun bin ich beides, Jason und Jelaine vereint...«
Philip fiel vom Hocker. Buchstäblich.
Er versuchte zu stehen, aber seine Beine gaben unter ihm nach, und er fiel auf die Knie, als die mit herabhängendem Unterkiefer aufgebrachte Aufmerksamkeit für seine Geschwister alle anderen Gedanken verschlang. Es hätte komisch ausgesehen, wäre da nicht das Entsetzen, der Abscheu, die Verständnislosigkeit und die Abwehr, die in seinen attraktiven, aristokratischen Zügen miteinander rangen. Als er endlich seine Sprache wiederfand, fragte er: »Wie ... konntet ihr?«
Jelaine sprach allein: »Ich weiß, das ist schwer, Philip, aber du musst verstehen. Jason war durch seine Zeit auf Deriflys zerrüttet und durch ... andere Dinge, die passiert sind, als wir fortgegangen sind. Er konnte nicht mehr in seinem eigenen Kopf leben, nicht allein. Also hat Jelaine, die Einzelperson Jelaine, ihm angeboten, sich der Prozedur zu unterziehen und ihm dabei zu helfen, seine Last zu tragen.«
»Es war ein Fehler! Er hätte nicht zulassen dürfen, dass du dich selbst zerstörst, um ihn zu retten!«
Nun sprachen Jason und Jelaine gemeinsam: »Das hat er auch gedacht. Er hat sich gegen ihren Vorschlag gewehrt. Er hat versucht, ihr zu sagen, er wäre es nicht wert, dass sie sich opfert.«
Jelaine lachte sanft. »Aber er hat sich geirrt. Es war kein Opfer.«
Philip wich vor ihnen zurück, als sie in einem fehlgeleiteten Versuch, ihn zu besänftigen, auf ihn zukamen.
Für einen Moment matt gesetzt, drehten sich die vereinten Geschwister zu der schweigenden Skye um und sagten: »Oscin? Skye? Du bist, was ich bin. Bitte steh mir in diesem Punkt bei. Sag meinem Bruder, dass weder Jason noch Jelaine irgendetwas geopfert haben. Sag ihm, dass alles, was die beiden Personen, die sie waren, ausgemacht hat, von ihren Erinnerungen über ihre Liebe und ihren Herzschmerz bis hin zu ihren Überzeugungen, immer noch in diesem neuen Individuum fortlebt, das in dem Moment geschaffen wurde, als sie verbunden wurden. Sag ihm, wie heilsam der Prozess ist, wie unbedeutend er die alten Sorgen erscheinen lässt, wie viel besser das Leben aussieht, wenn man es durch zwei Augenpaare betrachtet und nicht nur durch eines. Sag ihm, dass daran nichts Erschreckendes ist, dass daran nichts ist, was es notwendig machen würde, dass er mein gemeinsames Selbst als Geschwister anders sieht als zuvor oder dass ich ihn als meinen Bruder anders erleben müsste. Sag es ihm.«
Skye, sichtlich bewegt von ihrem Appell, wandte sich von ihnen ab und dem verstörten Philip zu, musterte ihn mit einer Miene, die große Ähnlichkeit mit Mitleid aufwies. Warf mir einen Blick zu, wie er knapper nicht hätte sein können, einen Blick, aus dem ich die Aufforderung herauslas, mich nicht einzumischen. Dann ging sie neben ihm in die Knie, legte ihm eine Hand auf die Schulter und sagte: »Sir? Hätte es ihre innersten Gefühle nicht noch viel mehr verletzt, hätte das Leben ihres Bruders mit einer Kapitulation in Form eines Selbstmordes geendet und ihre Schwester den Rest ihrer eigenen Tage unter der Last des Wissens gelitten, dass sie nicht alles getan hat, was in ihrer Macht stand, um ihn zu retten?«
»Sie hat ihn nicht gerettet«, sagte er jämmerlich. »Sie hat sich nur zusammen mit ihm vernichtet.«
»Nein, das hat sie nicht. Sie hat sich nur verändert. Das ist das Leben, Sir. Veränderung.«
»Sie hätte sich nicht so verändern müssen.«
»Das ist richtig. Sie hätte sich auf unzählige andere Arten verändern können. Aber was immer passiert ist, sie wäre so oder so nie die Person geblieben, die sie als jüngere Frau war. Sie wäre herangewachsen, hätte neue Prioritäten gesetzt, wäre weitergezogen, hätte sich in mancher Hinsicht der Person entfremdet, die sie einmal war. Der einzige Unterschied ist, dass sie selbst entschieden hat, wie das geschehen soll.«
»Aber was sie aufgeben musste ...«
»Bitte, Sir. Wenn wir sonst nichts erreichen, vertrauen Sie auf das Wort einer Person, die wirklich weiß, wovon sie spricht. Die Schwester, die Sie kannten, die, die imstande war, einen so heroischen Schritt um ihres verletzten Bruders willen zu tun, ist immer noch hier bei uns, und wenn sie dieses Geheimnis vor Ihnen gewahrt hat, dann zumindest teilweise, weil sie gewusst hat, wie Sie reagieren würden.«
Philip schloss die Augen, schauderte, tastete nach dem Sessel und zog sich an ihm empor, weigerte sich, irgendjemanden anzusehen, gestattete sich aber ein knappes Nicken, das Maximum an Zustimmung, das er derzeit zu geben imstande war.
Das war noch lange nicht vorbei. Sollten wir alle überleben, würde es immer noch Geschrei geben, Vorwürfe, Entschuldigungen und Verletzungen, wann immer sie einander begegneten. Derzeit war nicht absehbar, ob es je Frieden zwischen Philip und seinen verbundenen Geschwistern geben würde. Aber wir hatten einen Waffenstillstand erreicht, und das war etwas, das wir zwingend brauchten, wollten wir diese Sache überstehen.
Das schienen auch Jason und Jelaine zu begreifen. Sie zogen sich von ihm zurück und setzten sich wieder, doch in ihren sich gegenseitig ergänzenden Gesichtern lag der Glanz der Hoffnungen einer einzigen, übergroßen Seele.
Philip starrte nur seine Hände an. »Counselor?«
Ich gab mir Mühe, kein Mitleid für diesen Mann, den ich hasste, aufzubringen, versagte aber kläglich. »Was?«
»Ehe wir uns irgendetwas anderem zuwenden ... bitte. Sagen Sie mir, woher Sie das wussten? Sagen Sie mir, wie Sie wissen konnten, was mein Bruder und meine Schwester getan haben, während ich, der ich glaubte, sie zu kennen, verdammt noch mal keine Ahnung hatte.«
Skye schüttelte den Kopf, und ein bitteres Lächeln kräuselte ihre Lippen. Ihre Gedanken, beider Gedanken, waren kein großes Geheimnis. Warum erzählst du es ihm nicht, Andrea? Warum nicht? Immerhin hast du nie etwas lieber getan, als deine eigene Brillanz zur Schau zu stellen.
Wäre doch nur Oscin hier. Es war mir egal, dass er, wenn Skye wütend auf mich war, es ebenfalls war. Der Gedanke an ihn, wie er inmitten der anderen stand, sich an ihren Gesprächen beteiligte und keinen Schmerz offenbarte, während er die falsche Fassade der Individualität aufrechterhielt, war beinahe mehr, als ich ertragen konnte.
Vielleicht könnte ich sie überzeugen, dass es mir leidtat, wären sie beide hier.
Wieder fühlte ich eine Woge der Erschöpfung. Ich weiß nicht, was es dieses Mal war. Ich war zu viele Stunden auf den Beinen und hatte zu viel Scheiße erlebt, um noch darüber nachzudenken. Aber Philip wartete immer noch auf eine Erklärung, und ich sah keine Möglichkeit, die weiteren, wichtigeren Themen aufzugreifen, die wir zu bearbeiten hatten, ehe ich diesen Teil abgeschlossen hatte. Also strich ich mir mit der Hand durch das Haar und legte los, und meine Stimme klang viel zu dumpf für eine Frau, die es üblicherweise geradezu feierte, die klügste Person im Raum zu sein. »Meine Mitarbeiter haben es zuerst gemerkt. Sie sind selbst verbunden, wie Sie wissen, und sie waren in der Lage, sehr schnell eine ganze Anzahl von subtilen Hinweisen aufzugreifen, sogar noch bevor wir alle zum Essen Platz genommen hatten. Sie haben darin eine Privatangelegenheit zwischen Ihren Geschwistern gesehen, die auch mich nichts angeht. Aber ich wusste, dass sie etwas erkannt hatten, und folglich habe ich Ausschau nach Hinweisen gehalten, die zu begreifen sie besser gerüstet sind.
Später ... nun, es gab mehr Hinweise, als ich Zeit oder Lust habe, einzeln zu benennen. Jelaine hat beispielsweise über Jason gesagt: ›Wir helfen einander, die Last zu tragen‹. Dann war da die Art, wie sie über einige seiner Erfahrungen gesprochen hat, beinahe, als wäre ihr selbst all das widerfahren. Die Art, wie die beiden keine Mühe scheuten, Oscin und Skye mit großen Augen zu bestaunen, als stammten sie aus der tiefsten Provinz. Jason, blind von dem Blut in seinen Augen, aber immer noch in der Lage, unfallfrei über einen Boden zu laufen, der voller Schutt war, als Jelaine und der Khaajiir ihn gebraucht haben. Jason, der mir zugestimmt hat, als ich ihm sagte, er habe mir erzählt, er wolle Freundschaft schließen, obwohl er selbst diese Worte nie ausgesprochen hatte und nicht einmal zugegen war, als sie ausgesprochen wurden - als Jelaine die Herzensbezwingerin gegeben hat, Jelaine die liebenswürdige Gastgeberin, die diese Worte gesprochen hat. Möchten Sie noch ein halbes Dutzend weiterer Hinweise aus den letzten paar Stunden hören? Ich könnte weitermachen. Nach einer Weile werden sie unübersehbar.«
Schweigen senkte sich über den Raum, während ich Philip einige Minuten Zeit gab, die er brauchte, um sich darüber klar zu werden, ob er seinen Geschwistern vergeben sollte oder nicht. Dann rührte er sich wieder, erhob sich und strich sein Jackett mit der gleichen ausdrucksvollen, formellen Haltung glatt, die ich so häufig annahm, wenn ich in höchster Gefahr war, draufzugehen. Es hätte so oder so ausgehen können - doch dann erbebte seine gestrenge Maske, und er drehte sich zu dem ersten greifbaren Geschwister um, in diesem Fall Jelaine, die ihn mit aller Kraft umarmte und ihm etwas zuflüsterte, das ich nicht verstehen konnte. Keine Sekunde später hatte sich auch Jason dazugesellt, und die drei standen etwa eine halbe Minute schweigend zusammen, vermochten zwar nicht, die Differenzen, die sie trennten, zu beseitigen, konnten sie aber zumindest für den Augenblick hinnehmen.
Ich versuchte erneut, Kontakt zu Skye aufzunehmen, und dieses Mal wurde ich mit dem wohl komplexesten Blick belohnt, der mir seitens der Porrinyards je begegnet war. Er war voller Mitgefühl und Sorge und Zorn, mit einer unmissverständlichen Warnung.
Ich war unter den gegebenen Umständen einfach nur glücklich, dass ich auch Liebe in ihm entdeckte, irgendwo.
Die Bettelhines lösten sich voneinander. Philip wischte sich die feuchten Augenwinkel ab und sagte: »Nun gut, Counselor. Ich hoffe, mehr brauchen wir nicht, um das für den Moment ruhen zu lassen. Denn ich würde nun wirklich gern erfahren, wer den Khaajiir ermordet hat.«
»Ich auch«, sagten Jason und Jelaine.
Ich ging an ihnen vorbei und näherte mich Skye, die wieder den Blick abwandte. Ich verfluchte die Situation, ohne sie ganz verstehen zu können. Das waren nicht nur mein Argwohn oder meine kurzzeitige Brutalität gegenüber einer Barfrau, deren Seele in Ketten lag; es war noch etwas anderes, etwas, das zu tiefgreifend sein mochte, um zuzulassen, dass die Dinge zwischen uns unverändert blieben.
Ich sprach mit ihr und durch sie mit Oscin. »Liebes?«
Sie senkte die Stimme. »Denk daran, wer du bist.«
»Was?«
Sie ergriff meine Hand und drückte sie eindringlich. »Das wird nicht leicht werden, wenn man bedenkt, was dich erwartet, aber denk daran, wer du bist.«
Ich hatte nicht die Spur einer Ahnung, wovon sie sprach, aber es hörte sich viel zu sehr nach einem Abschied an. Wollten die Porrinyards mir sagen, dass sie nicht damit rechneten, den nächsten Teil der Geschichte zu überleben? Oder dass sie die Absicht hatten, ihre Beziehung zu mir zu beenden, wenn wir das hinter uns hatten und über den Luxus geboten, frei zu entscheiden, wie es mit unserem Leben weitergehen sollte?
Eine dritte Möglichkeit kam mir in den Sinn, eine, die so entsetzlich war, dass ich für einen Moment fühlte, was der Khaajiir empfunden haben mag, als sein Leben aus ihm herausgesickert war. Vor Stunden und einem ganzen Leben hatte Pescziuwicz mich vor den Gefahren gewarnt, die damit verbunden waren, die Bettelhines zu sehr zu bedrängen. Er hatte das Beispiel eines früheren Dip-Corps-Repräsentanten angeführt, eines Bard Daiken, der seine Grenzen übertreten hatte und einer ungenannten Vergeltung zum Opfer gefallen war. Hatte ich bereits die wie auch immer geartetete diplomatische Immunität verloren, die die Bettelhines einem Ehrengast zu schulden glaubten? Wusste ich schon zu viel? Würde ich Xana erreichen, nur um in eines ihrer Gefängnisse weggezaubert oder, schlimmer, mit einem internen Regler versehen zu werden, der dafür sorgen würde, dass ich mich glücklich fühlen würde, jede Rolle zu spielen, die sie für mich für passend hielten?
Denk daran, wer du bist? Würde es für mich irgendetwas ändern, würde ich mich daran erinnern, wer ich bin, wäre ich erst sicher auf irgendeinem abgelegenen Bettelhine-Anwesen verstaut und trüge ein aufrichtiges, wenngleich erstarrtes Lächeln im Gesicht, während ich Getränke für Familienangehörige servierte, die nur noch ein paar mehr bräuchten, ehe sie entscheiden würden, was genau sie mit mir in der Intimität eines Schlafzimmers anfangen würden?
Denk daran, wer du bist.
Wenn das das Schicksal war, das mich erwartete, wenn diese Sache überstanden war, dann wollte ich gar nicht mehr leben.
Hinter mir sagte Philip: »Counselor?«
Skye wandte erneut den Blick ab.
Zum Teufel damit. Es war ja nicht gerade so, als hätte ich noch irgendeine Wahl. Früher oder später würde uns entweder das Wasser oder die Nahrung oder die Energie ausgehen. Was immer mit mir geschehen würde, der Mörder des Khaajiir stand immer noch zwischen uns und dem Rest unseres Lebens.
Ich atmete einmal tief durch und bat Oscin über Skye: »Bring alle wieder hoch. Es ist an der Zeit.«