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DIE GROSSE LÜGE
Das Läuten, das uns zur Dinnerparty im Salon rief, wirkte so affektiert wie alles andere in der Königlichen Kutsche der Bettelhines. Es war ein Feengeklimper, die Art von Geräusch, die allenfalls Leute ertragen konnten, die - getrieben von hellsichtiger Verachtung - die Stirn in Falten zogen, wann immer sie an ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen erinnert wurden. Vielleicht interpretierte ich aber auch nur zu viel hinein. Vielleicht war der Moment, in dem ich mich bei dem Gedanken ertappte, dass ich genug von der Lebensart der Bettelhines hatte, gekommen, als die Porrinyards und ich uns von dem Bett erhoben und wie hypnotisiert erstarrten, als unsere gebrauchte Bettwäsche in das Schott gerollt wurde, ein Mechanismus im Bettgestell sogleich die neue abwickelte und ein Nebelhauch alles in einen netten - Betonung kleinlaut auf netten - blumigen Duft hüllte, um allem bis zu unserer Rückkehr den Stempel absoluter Perfektion aufzudrücken.
Ich stöhnte auf. »Oh, Mann!«
Die Porrinyards grinsten. »Muss sehr bequem für einen Mörder sein, der keine forensischen Beweise zurücklassen will.«
Ich erinnerte mich an die Klaue Gottes und fand den Kommentar nicht sonderlich witzig. »Muss wohl.«
Wir brauchten nicht lange, um uns fertigzumachen. Ich besitze keine formelle Kleidung, aber mein üblicher schwarzer Anzug sollte reichen, ebenso die übereinstimmende weiße Kleidung der Porrinyards, umso mehr, wenn sie die Schlupfjacken ohne Knöpfe anzogen, die sie stets zu tragen pflegten, wenn sie ihren Status als zusammengehörige Einheit zu betonen gedachten. Ich trage auch kein Make-up, von den Porrinyards allerdings war bekannt, dass sie, abhängig von den Gebräuchen ihrer Umgebung, durchaus dazu griffen. Auch unser Haar machte dank ihrer kurzen Stoppeln und meiner langjährigen Gewohnheit, das Haar kurz mit einer einzelnen langen Strähne über der rechten Wange zu tragen, kaum Arbeit. Das mochte nach Xana-Standards angemessen sein oder auch nicht, aber zum Teufel mit allen Anwesenden, die sich daran stören mochten. Wir waren nicht hier, um Eindruck auf irgendjemanden zu machen.
Wir gingen hinüber und fanden den Salon von einer Reihe Bettelhines und Konsorten besetzt vor, die längst in ein ermüdendes Geschwätz von der Art vertieft waren, die in mir stets den Wunsch weckte, mich vom nächsten Balkon zu stürzen.
Ich erhaschte einen Blick auf eine große, elegante Rothaarige in einem silbrigen Gewand, das einen großen Teil ihres Rückens freiließ. Ihre Bewegungen kamen mir vertraut vor, aber ich konnte nicht genug von ihr sehen, um sie einzuordnen.
Dann war da ein nervöses Paar Ende fünfzig: der Mann kahl bis auf eine spiralförmig gelockte Strähne über der riesigen schweißnassen Stirn, die Frau strahlend unter dem Einfluss einer Art solidarischen Rauschs, der jedoch nicht bewirkte, dass sie den Schutz der Nische verlassen hätte, in der sie und ihr Mann sich wie verängstigte Katzen zusammendrängten. Als unsere Blicke sich trafen, wandte sie sich hastig ab, so, als fürchte sie, schon dieser Augenblick des Kontakts würde als schamlos eingestuft werden.
Jason Bettelhine war auf der anderen Seite des Raums in eine Diskussion mit zwei mir unbekannten Männern vertieft, die beide schwarze Anzüge mit identischem Schnitt trugen. Der größere der beiden schaute in unsere Richtung und offenbarte uns Bettelhine-Züge unter einem Helm frühzeitig ergrauten Haars. Vermutlich war er der Bruder, den Jason erwähnt hatte. Im Gegensatz zu Jason lächelte er jedoch nicht. Das Haar des dritten Mannes lichtete sich bereits erkennbar über dem feucht glänzenden Gesicht, er war kleiner als die beiden Bettelhines und fahl auf eine Weise, die nicht allein auf seinen natürlichen Teint zurückzuführen sein konnte. Dieser Mann hätte sich dem Sonnenlicht aussetzen und knusprig bräunen können, und unter der Haut wäre er immer noch blass gewesen bis auf die Knochen. Auch er blickte in meine Richtung und nickte grüßend.
Jelaine Bettelhine stand nicht so weit von uns entfernt und nippte an einer dunstigen Flüssigkeit, während sie mit dem Khaajiir und einem großen, dürren Mann plauderte, dessen Gesicht einer Ansammlung scharfer Linien glich. Sie hatte ihre Kleidung gewechselt und ihr Haar zu einer kunstvollen Frisur angeordnet, dazu angetan, bei jeder beiläufigen Kopfbewegung neue Schnörkel und Zierden zu offenbaren. Bei jedem anderen hätte es penibel oder protzig ausgesehen, aber sie trug ihren Kopfputz wie eine juwelenbesetzte Krone. Ich hatte nie auch nur einen Fliegenschiss auf Haarmode gegeben, und doch beneidete ich sie um ihre Fähigkeit, sich solchermaßen zu präsentieren, ganz zu schweigen von ihrer Fähigkeit, diesen Kopfputz binnen der drei Stunden, seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, zusammenzubasteln. Ich nahm an, das war eine der erblichen Kunstfertigkeiten des Hochadels - ich kannte bestimmt nicht viele Frauen, die sich an diesem Kleid versucht hätten: einer silbernen, juwelenbesetzten Monstrosität, die offenbar danach gierte, mit den Deckenleuchten in puncto Strahlkraft zu konkurrieren.
Wie der Zufall wollte, sah sie uns bereits, als wir unsere Suite verließen, und sie ließ ein Lächeln aufblitzen, das entweder von echter Wärme erfüllt war oder selbige zu geschickt nachahmte, um den Unterschied zu erkennen. »Counselor, Sie sehen wundervoll aus.«
In mir kämpften zwei widersprüchliche Gedanken, wobei der erste schlicht Schwachsinn lautete, während der andere ein erstauntes, demütiges Wirklich beinhaltete. Gegen meinen Willen trug letzterer den Sieg davon, und ich fühlte, wie sich meine Wangen röteten. »Danke.«
»Nichts zu danken, das ist die reine Wahrheit.« Sie drehte sich zu den Porrinyards um. »Und Sie auch, meine Lieben. Ich fürchte, ich bin nicht bewandert in der Kunst, ein verbundenes Paar korrekt anzusprechen, und daher weiß ich auch nicht, ob ich Sie als stattlich oder als hübsch bezeichnen soll, ganz zu schweigen davon, wann ich Sie beide als eine Person ansprechen muss und wann als Individuen, aber wenn Sie ein wenig Nachsicht mit mir üben, verspreche ich, es zu lernen. Ich freue mich darauf, jegliche Unbeholfenheit zu Gunsten einer freundschaftlichen Beziehung abzulegen.«
Die Frau hatte keine einzige unbeholfene oder auch nur uncharmante Zelle im Leib. Ich wollte verdammt sein, wenn die Porrinyards, die üblicherweise ebenso gut austeilen wie einstecken konnten, nicht auch erröteten. »Sie machen das wunderbar. Ihre Frisur gefällt mir.«
»Danke. Ich weiß, Sie wurden bereits mit dem Khaajiir bekanntgemacht«, sagte sie und deutete mit einem Nicken auf den Bocai-Akademiker. »Aber ich glaube, dies ist Ihre erste Begegnung mit einem der engsten Vertrauten meines Vaters, Mr Monday Brown.«
Der Mann mit den scharfen Zügen blinzelte mir zu, doch sein Lächeln erreichte im Gegensatz zu dem von Jelaine nie seine Augen. Er sah aus, als könnte er ebenso gut darüber nachdenken, wie viel Profit es bringen mochte, die Porrinyards und mich in Einzelteilen zu verhökern. »Counselor. Wie hat Ihnen Ihr Besuch bis jetzt gefallen?«
Ich konnte nicht fassen, dass er das wirklich gesagt hatte. »Die Station ist ein wenig überbevölkert mit Attentätern.«
Seine Zähne waren sehr klein und sehr weiß. »Ich habe gerade vor ein paar Minuten mit Antrec gesprochen. Er sagte mir, dass beide Kriminelle noch immer unzugänglich seien. Aber da es seinen Leuten gelungen ist, die Mikrolader zu entfernen, die in ihre Tränenkanäle implantiert waren, haben sie kaum eine Chance, sich der Befragung durch eine Bewusstseinsüberflutung weiterhin zu entziehen.«
»Das ist ein Fortschritt. Ich nehme an, den Komplizen hat er noch nicht gefunden?«
»Nein, ich fürchte nicht. Es war ihm auch nicht möglich, ihre Reiseroute weiter zurück als bis zu ihrer Abreise von der Heimatwelt der Bursteeni zu verfolgen. Aber er ist gut. Ich bin überzeugt, von der Sekunde an, in der die Ladung abgebaut ist, wird er nicht mehr lange brauchen, um Antworten von den Attentätern zu erhalten.«
Der Khaajiir verlagerte, auf seinen Stab gestützt, sein Gewicht, und die Anstrengung schlug sich in einem Zittern in seinen Oberarmen nieder. »Und wie wird er das anstellen, Sir? Folter?«
»Dies ist eine zivilisierte Welt, Sir.«
»Ach«, entgegnete der Khaajiir, »die Definition dieses Wortes war von jeher fließend. Wir beide kennen Welten, in denen Zivilisation lediglich bedeutet, dass ausgiebige Folterungen nur in schalldichten Räumen stattfinden. Bedauerlicherweise wissen wir auch, welche Handelsgüter unseren Gastgebern ihre Reichtümer eingetragen haben und mit welch peinigenden Ressourcen, die im Krisenfall jederzeit zum Einsatz kommen können, diese Gesellschaft ausgestattet ist.« Dann erst schien er sich an seine Gastgeberin zu erinnern. »Ich wollte Ihnen natürlich nicht zu nahe treten, meine Liebe.«
»Seien Sie unbesorgt«, sagte Jelaine. »Das ist eine berechtigte Sorge.«
»Dennoch«, fuhr der Khaajiir fort und widmete sich wieder Brown, »würde ich, sollten die Prioritäten der eigentlichen Zielperson hier Gewicht haben, es vorziehen, wenn sich die weitere Befragung möglichst schmerzlos gestaltete.«
Über Browns Züge zuckte etwas, das weder höflich noch freundlich war. »Was ist mit Counselor Cort? Sie war ebenfalls eine Zielperson.«
Mein Lächeln kollidierte frontal mit Browns Verärgerung. »Ich fürchte, ich bin im Hinblick auf die Behandlung von Leuten, die versucht haben, mich umzubringen, nicht ganz so prinzipientreu. Aber ich sehe keinen Grund, dem Khaajiir in diesem Punkt zu widersprechen.«
Brown hätte dem Khaajiir und mir möglicherweise einen deutlicheren Groll entgegengebracht, hätten wir allein diesen Standpunkt vertreten, doch auch Jelaine hatte Zustimmung signalisiert, und das änderte alles. »Wie Sie wünschen. Ich werde dafür sorgen, dass Sie beide mit Mr Pescziuwicz sprechen und ihm ihre Bedenken mitteilen können.«
»Bitte«, sagte der Khaajiir.
Als Brown davonschlenderte und dabei eine unsichtbare Wolke des Grolls hinter sich herschleppte, setzte Jelaine eine mitleidvolle Miene auf, beinahe wie jemand, der einen verletzten Vogel beobachtete. »Ich muss mich für Monday entschuldigen. Er ist nie besonders charmant, aber er zeigt sich stets in Gegenwart meines Vaters von der besten Seite. Dort, wo mein Vater nicht ist, fühlt auch er sich, sagen wir, nicht heimisch.«
»Das beinhaltet nicht die Gegenwart von Ihnen oder Ihrem Bruder?«, erkundigte ich mich.
»Oh, wir können ihm natürlich Anweisungen erteilen, falls Sie darauf hinauswollen. Vater hat ihm klargemacht, dass jegliche Order von uns zu behandeln ist, als käme sie von ihm. Aber der Innere Kreis der Familie umfasst ungefähr dreihundert Verwandte samt all der politischen und persönlichen Konkurrenz. Persönliche Referenten wie Monday lernen, diejenigen zu unterstützen, für die sie arbeiten, und sich mit einer Art entschlossener Besitzgier an sie zu klammern, die wenig Spielraum für Loyalität gegenüber irgendeiner anderen Person lässt. Das ist, wie ich annehme, ganz ähnlich, als würde man ein Haustier halten. Aus ihrem persönlichen Blickwinkel besitzen diese Leute sie. Monday ist ein ziemlich extremes Beispiel für dieses Syndrom. Mein Vater ist seine ganze Welt.«
»Und er hat keine Familie? Keine Freunde?«
»Nein. Er bewohnt ein Quartier im Haus meines Vaters und steht ihm von dem Moment, in dem er des Morgens aufsteht, bis zu dem Moment, in dem er sich des Nachts zu Bett begibt, uneingeschränkt zur Verfügung. Er nimmt sich nur frei, wenn es ihm befohlen wird.«
Der Khaajiir verlagerte erneut sein Gewicht an seinem Stab. »Das ist wahr. Ich habe es selbst beobachtet. Monday empfindet das als Strafe.«
»Hübsch gesagt. War er immer schon so?«
»Zumindest so lange, wie er für meinen Vater arbeitet.«
»Was ist mit Ihnen?«, fragte ich sie. »Haben Sie und Ihr Bruder auch derartige Leute in Ihren Diensten?«
»Oh, bitte. Unterwürfigkeit in einem solchen Maß sagt uns nicht zu. Wir können ihr nicht entgehen, jedenfalls nicht vollständig, aber wir ziehen es vor, wenn man uns Loyalität entgegenbringt, weil wir sie uns verdient haben, nicht weil sie aufgezwungen wurde. Darum suchen wir uns unsere Leute nach Möglichkeit außerhalb der Stammbelegschaft.« Sie lächelte. »Wie auch immer, Andrea, ist in Ihrer Suite alles zu Ihrer Zufriedenheit?«
»Ich würde mich wohler fühlen, wenn ich erführe, worum es hier eigentlich geht.«
Sie legte mir eine Hand auf die Schulter. »Vielleicht muss das nicht warten, bis mein Vater zugegen ist. Ich würde zu gern den geschäftlichen Teil‹ dieser Begegnung als erledigt sehen, auf dass wir versuchen können, eine, wie ich hoffe, innigere Beziehung aufzubauen, vielleicht sogar eine, die getragen ist von der Art von Loyalität, die ich gerade erwähnt habe. Lassen Sie uns erst einen Drink nehmen und uns ein wenig unterhalten. Wenn die anderen Herrschaften uns entschuldigen würden ...«
Die Porrinyards nahmen sich des Khaajiir an und bekannten sich im Fortgehen zu einer tief empfundenen Faszination bezüglich des abrupten Endes des Dunklen Zeitalters der K'cenhowten.
Jelaine eskortierte mich zur Bar, die von einer zierlichen jungen Frau mit einem frischen Gesicht, scharlachrotem Haar, bestehend aus künstlichen Fasern mit leuchtenden orangefarbenen Streifen, und Augen wie geschliffenen Smaragden - was bedeutet, dass sie nicht nur grün, sondern facettiert und lichtdurchlässig und frei von sichtbarem Weiß waren - geführt wurde. Ich hatte schon sonderbarere Körpermerkmale gesehen, dennoch konnte ich mich der Frage nicht erwehren, wie sich dieser Umstand wohl auf ihre Sehfähigkeit auswirken mochte. Die junge Frau mit den Edelsteinaugen und dem Neonhaar - die sich als Colette Wilson vorstellte und erklärte, sie fühle sich geehrt, mich bedienen zu dürfen - ließ ein Lächeln aufblitzen, das zusätzlich betonte, dass die Gelegenheit, mir einen Drink einzuschenken, einem Gefühl irgendwo zwischen dem besten Sex, den sie je gehabt hatte, und einer direkten Elektrostimulation des Lustzentrums in ihrem Gehirn gleichkam.
Ich hatte keinen speziellen Wunsch, also ergab ich mich Colettes überlegener Kenntnis der Vorräte und bat um etwas Süßes, Leichtes, Berauschendes ohne euphorische oder halluzinogene Nachwirkungen. Was immer es war - es erwies sich als elektrisierende blaue Flüssigkeit in einem hohen Glas. Es war süß, wie ich es gewünscht hatte, aber ein einziger Schluck reichte, und ich fühlte ein Prickeln an Fingern und Zehen. Von wegen leicht! Ich würde vorsichtig damit sein müssen.
Als Jelaine mich schließlich zu einem ruhigen Plätzchen neben dem Aquarium mit dem Bettelhine-Fisch führte, hatte sich die Gruppierung der Gäste bereits deutlich verändert. Das nervöse Paar kauerte immer noch in der Nische, unterhielt sich aber nun mit der Rothaarigen in dem Gewand, deren Gesicht ich immer noch nicht sehen konnte. Oscin und der Khaajiir hatten einige Plüschsofas angesteuert, damit der gebrechliche Bocai sich setzen konnte. Er ließ sich nach wie vor über etwas aus, das Oscin ein von ehrlicher Faszination kündendes Nicken entlockte. Skye hatte die beiden allein gelassen, um sich Jason Bettelhine und seinen Gesprächspartnern anzuschließen, und ihre bloße Anwesenheit schien die Stimmung in der Ecke des Raums bereits deutlich zu verbessern. Die Gebrüder Bettelhine grinsten sie an, entzückt über was immer sie Kluges von sich gegeben hatte. Sogar der fahle Mann, der bei ihnen war, schien beeindruckt zu sein. Ich war sowohl davon überzeugt, dass ihr Bonmot brillant war, als auch davon, dass die Männer gleichermaßen entzückt reagiert hätten, wenn sie irgendeine Banalität von sich gegeben hätte. Es gibt einen Grund, warum ich Dinge, die eine Interaktion mit anderen menschlichen Wesen erforderlich machen, gern den Porrinyards überlasse: Sie sind so gut darin, Sympathie zu wecken, wie ich darin, Antipathie auszulösen.
Jelaine sah, dass ich Skye beobachtete. »Faszinierend. Die Art, wie Sie sie nutzen.«
Ich wurde ganz steif. »Ich weiß nicht so recht, wovon Sie sprechen.«
»Bitte, Counselor. Ich habe nicht vor, Ihre Freunde - oder Ihren Freund, wenn Sie den Singular vorziehen - herabzusetzen. Wie kompliziert es doch ist, Bezug auf sie zu nehmen! Mir ist nicht entgangen, dass sie mehr als bloße Assistenten für Sie sind. Aber gerade jetzt benutzen Sie sie als Hilfsmittel zu Ihrer Unterstützung, nicht wahr? Sie benutzen ihre geteilte Perspektive, um so viel Informationen wie möglich zu sammeln.« Sie nippte an ihrem Drink, einem goldfarbenen Gebräu in einer Flöte. »Verzeihen Sie mir meine Neugier. Sie sind das erste verbundene Paar, dem ich bisher begegnet bin.«
Kybernetisch verbundene Paare mochten selten sein, da die KIquellen-Prozedur, die sie hervorbringt, auf den meisten von Menschen bewohnten Welten illegal ist, aber es fiel mir schwer, den naiven Beteuerungen aus dem Munde eines Bettelhine zu glauben. »Jason hat mir erzählt, er hätte einmal einen Narren an zwei kybernetisch verbundenen Frauen gefressen, die für einen Onkel gearbeitet haben. Er sagte, sie hätten das Hauptanwesen regelmäßig besucht.«
Beschwichtigend legte sie mir eine Hand auf den Unterarm. »Ja, ich weiß. Ich war dabei, als er Ihnen davon erzählt hat, wissen Sie noch? Sie werden hier keinen Widerspruch entdecken können. Ich weiß, von wem er gesprochen hat, aber ich war zu jener Zeit ein sehr naives junges Mädchen und dachte, sie stünden einander nur auf ganz gewöhnliche Art nahe. Ich fürchte, ich habe nie genau genug hingesehen und nie bemerkt, dass sie eine Einheit gebildet haben. Ich habe auch nie gehört, dass sie gemeinsam gesprochen hätten, so wie es ihre entzückenden Freunde tun. Ist es wirklich so schlimm, dass ich ein wenig geblendet bin? Sogar ein bisschen eifersüchtig?«
»Nein«, sagte ich, während ich Skye kichern sah, als die Bettelhine-Männer sich zu mir umblickten. Ich nahm an, ich war inzwischen zum Gesprächsthema geworden. »Ich schätze, nicht.«
»Wie haben Sie sie kennengelernt?«
Beinahe hätte ich einen vollständigen Bericht über meinen Einsatz auf der Zylinderwelt namens One One One abgeliefert, hielt mich dann aber doch zurück und taxierte Jelaine von Neuem. »Sie sind wirklich gut, wissen Sie.«
Sie machte große Augen. »Worin?«
»Die Art, wie Sie mich mit Andeutungen weggelockt haben, mich mit einem Drink hingehalten und nun das Thema gewechselt haben, um sich auf sicherem Terrain aufzuhalten. Die Art, wie Sie den Eindruck erwecken, Sie würden sich offen geben, obwohl Sie rein gar nichts preisgeben. Die Art, wie Sie sich einer skeptischen und unfreundlichen Person annehmen, die nicht die Absicht hat, Freundschaften zu schließen, und sie dazu bringen, sich in Ihrer Gegenwart zu entspannen. Was immer Sie sonst sein mögen, Sie sind eine geborene Politikerin. Aber ich falle nicht darauf herein, ich verliere nur langsam die Geduld. Was hat das alles zu bedeuten?«
Ihr geheimnisvolles Lächeln blieb unverändert, nur ihre Augen reagierten, allerdings mit einem zugeneigten Funkeln. »Man sagte mir, Sie könnten schwierig sein, Andrea. Man sagte mir auch, Sie wären die Mühe wert. Ich möchte Freundschaft schließen.«
Beinahe hätte ich sie aufgefordert, mir zu sagen, wer ihr das erzählt hatte, da die Porrinyards so ziemlich die einzigen mir bekannten Personen waren, die imstande waren, mich zu ertragen, ohne dass irgendjemand es ihnen befehlen musste. Aber das hätte einen weiteren Themenwechsel zur Folge gehabt. »Die Erklärung. Bitte.«
Sie seufzte, was jedoch kein Ausdruck des Ärgers war, sondern eine tiefe, durchdringende Traurigkeit offenbarte, die mir oder auch einer ganz anderen Person gelten mochte. Für einen Moment konnte ich den gleichen Schatten furchtbaren Leids an ihr sehen, den ich in Jasons Gesicht wahrgenommen hatte. »Einen Teil können Sie sich vermutlich längst denken. Sie sind, zumindest teilweise, hier, um etwas zu tun, das man im weitesten Sinne als eine Art Antrittsbesuch bezeichnen könnte.«
»Soll das ein Witz sein?«
»Keineswegs. Mein Vater hat eine bestimmte Position im Sinn, und er glaubt, er kann Ihnen etwas anbieten, das Sie von Ihren derzeitigen Arbeitgebern weglockt.«
Sie musste das Corps meinen, denn von meinem Bündnis mit den KIquellen konnte sie nichts wissen. »Nein.«
Sie zog eine Braue hoch. »Wir wissen, dass Sie mit der Art, wie das Corps mit Ihnen umgegangen ist, nicht glücklich sind. Damit können Sie sich nicht wohlfühlen.«
»Das tue ich nicht. Tatsächlich hasse ich die Mistkerle. Aber ich bin auch nicht erpicht darauf, meine Loyalität an eine Organisation zu verkaufen, die ich stets für bösartig gehalten habe, nur um dabei ein bisschen mehr Geld und eine etwas fantasievollere Berufsbezeichnung herauszuholen.«
»Das weiß ich zu schätzen, Andrea, aber es gibt Faktoren, die Sie unmöglich kennen können. Es geht nicht um ein bisschen mehr Geld oder eine etwas fantasievollere Berufsbezeichnung. Und bösartig ist nur eine Möglichkeit, Macht einzusetzen. Offen gestanden glaube ich, dass mein Vater imstande sein wird, Ihnen überzeugende Argumente dafür zu liefern, dass Ihre Loyalität ein Gut ist, das zu diesem kritischen Zeitpunkt Ihrer Geschichte besser in uns investiert wäre als in irgendeinen dieser selbstgerechten Sklaventreiber in New London.«
Sie schien ihrer Sache sicher zu sein. Diese Anspruchshaltung - die Überzeugung, Leute einfach auf die eigene Seite ziehen zu können - dürfte wohl damit einhergehen, als Bettelhine geboren worden zu sein. »Ich habe immer noch keine Antworten bekommen.«
Sie seufzte wieder. »Die Freude, Ihnen die ganze Sache darzulegen, gebührt wirklich meinem Vater, und es bedeutet ihm so viel. Aber vielleicht kann ich ihm ein wenig Zeit ersparen und Ihnen ein paar Hintergrundinformationen liefern.«
»Irgendetwas.«
»Gut, fangen wir damit an: Haben Sie je an einem Wendepunkt gestanden? Ein Augenblick, der so wichtig war, dass er nicht nur ihr ganzes Leben verändert hat, sondern auch die Art, wie Sie die Dinge sehen, die sie erlebt und getan haben?«
Ich dachte an den Tag, an dem ich meine Familie auf Bocai verloren hatte, an meine Mission auf einer Welt namens Catarkhus und an die Art, wie mich die Porrinyards angesehen hatten, nachdem sie mir zum zweiten Mal in ebenso vielen Tagen das Leben gerettet hatten. »Ja.«
»Nun, wie die Dinge liegen, hat auch die Familie Bettelhine einen solchen historischen Moment erlebt, einen, der vermutlich die Art, in der wir unsere Geschäfte führen, ebenso verändern wird wie unser Verständnis für den Rest der menschlichen Zivilisation.«
»Hat das zufällig etwas mit Jasons Verschwinden zu tun?«
Die Vermutung vermochte sie nicht zu verblüffen. »Wären Sie überrascht zu hören, dass seine Abwesenheit uns beinahe zerstört hätte?«
»Nein.«
»Damit sind Sie ziemlich allein. Ich weiß, was die Leute über uns sagen. Sie sehen sich all den Schaden an, den wir angerichtet haben, das Blut, das unseretwegen vergossen wurde, und erklären uns zu gottverlassenen Monstern, die sich an menschlichem Leben bereichern. Ich wette die Hälfte meines Anteils am Familienvermögen, dass Sie selbst etwas Ähnliches gesagt haben, vermutlich schon, bevor Sie hergekommen sind und ganz bestimmt danach. Habe ich recht?«
Ich beschloss, sie nicht mit inhaltlosen Dementi zu beleidigen. »Ihr Geld wäre sicher angelegt.«
»Daran sind wir gewöhnt. Aber manchmal, wenn wir ein familiäres Trauma erleben, gestehen Außenstehende uns nicht einmal zu, dass wir mit den Unseren fühlen. Sie zweifeln unsere Tränen an und behaupten, unsere Trauer diene Werbezwecken. Es ist schwer, wenn man mittendrin steht. Uns hat es beinahe zerrissen.«
»Ich verstehe.«
»Nein, Andrea, bei allem Respekt und größerer Zuneigung, als Sie auch nur ahnen - ich glaube nicht, dass Sie das tun. Ein vermisstes Kind ist für jede Familie furchtbar, davon bin ich überzeugt, aber ich glaube, eine große Familie mit einer kleinen Kinderbande wie die Unsere fühlt das noch stärker. Das Leiden, die Furcht um ihn, das Gefühl des Verlusts - das alles wird nicht geringer, weil es auf viele aufgeteilt ist, es multipliziert sich. Wir alle haben den Kummer und die Unsicherheit jedes anderen widergespiegelt, und wir alle haben uns hilflos im Angesicht des Geschehens gefühlt. Aber das könnte auf lange Sicht gut für uns gewesen sein. Wir sind vielleicht die erste Generation in meiner Familie, die nicht mit dem Gefühl auf gewachsen ist, unverwundbar zu sein.«
»Und was ist mit Ihnen?«
»Ich bin nicht arrogant genug zu behaupten, es wäre für mich schlimmer gewesen als für die anderen, aber ich wurde zu einem Schatten meiner selbst. Jason und ich waren etwa im gleichen Alter, und bis zu diesem Tag war er unter all meinen Brüdern und Schwestern mein engster Freund.«
Das lärmende Durcheinander aus leiser Musik und Gesprächen schien so fern wie New London. Zumindest in diesem Moment waren wir ganz allein in dem großen Raum. »Warum ist er fortgegangen?«
»Zum Teil war es Idealismus, zum Teil törichte Rebellion. Er dachte, er würde als siegreicher Held nach Hause zurückkommen. Ich war so ein romantischer, naiver kleiner Idiot, ich habe ihm geglaubt und ihm sogar Glück gewünscht, als er ging. Zu meiner unendlichen Schande habe ich ihm sogar geholfen, sich fortzuschleichen.«
»Das dürfte zu einer bleibenden Erinnerung geworden sein.«
»Niemand wusste davon, auch lange nach seiner Rückkehr nicht. Und bis dahin war der Schaden schon angerichtet. Haben Sie je von einer Zylinderwelt namens Deriflys gehört?«
Das Wort klang elegant, die Art, wie sie es aussprach, war entsetzlich, und ich stellte fest, dass ein Teil von mir nichts darüber wissen wollte. Aber ich hatte diese Tür aufgestoßen, also schüttelte ich den Kopf.
»Es gibt Orte, an denen der Mechanismus der Zivilisation ein Habitat schafft, das einen Lebensraum für die Leute darstellen soll, nur um sie sogleich im Stich zu lassen, wenn diejenigen, die die Rechnungen bezahlen, entweder bankrott gehen oder einfach beschließen, weiterzuziehen. Deriflys gehörte zu den schlimmsten dieser Orte.«
»Was ist passiert?«
»Eigentlich sollte das ein Reise- und Arbeitszentrum mit vielen Arbeitsplätzen sein, aber die Geldgeber verschwanden und ließen zwei Millionen Menschen zurück, gestrandet und ohne Evakuierungsmöglichkeit. Keine menschliche oder nicht menschliche Regierung im ganzen zivilisierten Raum wollte die bevorstehende Katastrophe zu ihrem Problem erklären. Die lokale Wirtschaft brach zusammen. Die legale Schifffahrt flog andere Ziele an. Bald waren die einzigen Schiffe, auf denen ein Interesse daran bestand, auf Deriflys anzulegen, solche, die von kriminellen Elementen geführt wurden, von Verbrechern, die daran interessiert waren, Profit aus der Not derjenigen zu schlagen, die man dort zurückgelassen hatte. Drogen und Waffen überschwemmten die Station, kriminelle Banden übernahmen die Macht, und die Bewohner, denen es gelungen war, einen Platz auf einem Schiff zu buchen, fanden sich häufig gegen ihren Willen in einer Situation wieder, die noch schlimmer war als die, die sie hinter sich gelassen hatten. Die, die blieben, mussten mit dem Chaos leben. Es gab ein paar gut genährte Anführer und Not und Elend auf allen tieferen Ebenen. Die Bewohner wurden dem Hunger überlassen, der Verzweiflung, dem Schmutz; sie gingen für ein Gramm Nahrung, einen Atemzug oder einen Quadratzentimeter Raum aufeinander los. Es dauerte nicht lange, und das Leben dort wurde zu einer alltäglichen Abfolge endloser Gräueltaten und einer Studie dafür, wie tief Leute zu sinken vermögen, wie billig sie bereit sind, sich zu verkaufen, nur um zu überleben.« Sie erzählte die Geschichte, als wäre sie selbst dabei gewesen, und tupfte sich mit einem weichen Tuch die Augen. »Das, Counselor, ist der Ort, an dem mein wundervoller Bruder Jason, mein bester Freund, fünf Jahre verbracht hat, während wir nicht wussten, ob er überhaupt noch am Leben ist.«
Das war nicht die einzige derartige Geschichte, die mir zu Ohren gekommen war. Der zivilisierte Raum war voll von Welten, die sich zu Höllen entwickelt hatten, manchmal aufgrund von purer, selbstmörderischer Vernachlässigung, dann wieder, weil die Bewohner mit eben jenen Waffen aufeinander losgegangen waren, die den Ahnen von Jason Bettelhine ihren Reichtum eingebracht hatten - einen Reichtum, den er aufgegeben hatte, als er, strahlenden Blicks und doch blind, auf Wanderschaft durch ein feindseliges Universum gegangen war. Es gab keinen Grund für mich, Mitleid für ihn zu empfinden, bedachte ich, wer er war. Aber er war auch noch ein Kind gewesen, ein Kind, dessen Unschuld ähnlich wie die eines ganz anderen Kindes in Brutalität und Blut geendet hatte. Ich brauchte mehrere Sekunden, um meine Sprache wiederzufinden. »Warum hat er niemandem erzählt, wer er ist, und dem ersten Schiff, das ihn nach Hause zurückbringt, eine hohe Belohnung versprochen?«
Ein weiteres Mal überschritt ihr Lächeln die Grenze zu dem Mitgefühl, das sie auch Monday Brown gegenüber gezeigt hatte. »Eine so kluge Frau wie Sie dürfte die Antwort auf diese Frage kennen.«
Sie war mir in der Tat in den Sinn gekommen, kaum dass ich die Frage gestellt hatte. Natürlich hatte er das nicht tun können. Die Sorte von Leuten, die imstande ist, sich an die Spitze einer auseinanderfallenden Welt vorzukämpfen, hätte in einem Bettelhine-Erben eine Handelsware gesehen, deren Wert weit über pures Lösegeld hinausging. Es gab ganze Zivilisationen, die durch sein Familiengeschäft beinahe ausgelöscht worden waren und die Hälfte all ihrer Aktivposten dafür gegeben hätten, ihn in die Hände zu bekommen und zu exekutieren. Es gab andere, die entzückt gewesen wären, ihn an eine Mauer zu ketten und für den Rest seines natürlichen Lebens Tag für Tag mit neuen Foltermethoden zu quälen. Wieder andere hätten eine Waffe auf seinen Kopf gerichtet und den Bettelhines erklärt, er bliebe am Leben, solange die Familie regelmäßig zahlte. In keinem dieser Fälle hätte irgendjemand einen Gedanken daran verschwendet, ihn je zurückzubringen. So hart es gewesen sein muss, das zu akzeptieren, aber Jason war als zerlumpte kleine Ratte oder auch als Spielball von Mächten, die größer waren als er, sicherer gewesen als der lange verlorene Bettelhine-Sohn, der auf eine komfortable Reise zurück zu dem Luxusanwesen zählte, das er zugunsten eines fehlgeschlagenen Abenteuers verlassen hatte, es je hätte sein können.
Aber da war noch ein anderer Punkt, noch schlimmer, der wie eine gewaltige Last, bereit, alles unter sich zu begraben, über all diesen Schrecken lauerte. Wie lange konnte ein naiver, verhätschelter Junge in der Hölle überleben, bis er etwas tun musste, das ihm nicht gestatten würde, je wieder nach Hause zurückzukehren? Wie lange, bevor die einzige mögliche Schlussfolgerung für ihn selbst lauten musste, dass er sich ruiniert hatte und nirgends anders mehr hingehören konnte als genau dahin, wo er war?
»Wie ist er rausgekommen?«, fragte ich.
»Er ist derzeit nicht bereit, davon zu erzählen. Aber ich weiß, dass er, nachdem er wieder zu Hause war, beinahe ein Jahr gebraucht hat, ehe er akzeptieren konnte, dass die Familie sich freute, ihn wiederzuhaben. Der Junge, den wir gekannt haben, war ... gebrochen.«
Ich sah mich zu dem parkettsicheren jungen Mann um, der sich am Gespräch mit Skye ergötzte. »Augenblicklich wirkt er ganz zufrieden. Genau wie Sie.«
»Danke. Sie wissen nicht, was uns das gekostet hat, womit ich uns beide meine. Wir helfen einander, die Last zu tragen. Das ist einer der Gründe, warum wir uns immer noch so nahe sind.«
»Und - entschuldigen Sie - das alles hat etwas damit zu tun, warum ich hier bin?«
Jelaine spreizte die Hände. »Ein veränderter Mann kann seine Familie ändern und das, wofür die Familie steht. Sogar, so wage ich zu behaupten, wie weit sich das Netz der Familie ausbreitet. Wir wollen dem mit unserer Politik Rechnung tragen, Andrea, und wir glauben, dass Sie uns dabei helfen können, dieses Ziel zu erreichen. Wir glauben, dass Sie wie niemand anderes geeignet sind, uns in diese Zukunft zu führen. Aber den Rest überlasse ich meinem Vater. Wir haben so oder so keine Zeit mehr.«
Ich hörte ein weiteres Feengeläut, genau wie das, das die Porrinyards und mich aus unserer Suite gelockt hatte. Ihm folgte ein sanftes, mechanisches Summen, das irgendwo über mir ertönte. Ich folgte dem Geräusch zu seinem Ursprung und sah eine formelle Dinnertafel, ausgestattet mit einem goldenen, reich bestickten Stoff und zwölf Gedecken, die aus einer unsichtbaren Aussparung in der Decke herabgelassen wurde. Drahtlos. Der Tisch selbst hatte keine Beine, nur eine Platte, die ihren üblichen Platz auf angenehmer Speisehöhe einnahm. Kaum war sie dort angelangt, kamen zwölf Stühle - elf erbaut für menschliche Körper, einer für den knochigeren Rumpf eines Bocai - in Sicht, sanken herab aus der illusorischen Festigkeit der Decke und nahmen ihre Positionen ein. Auf dem Tisch standen längsseits glänzende silberne Kerzenhalter, in denen scharlachrote Kerzen brannten, deren Reflexionen über das schimmernde Tischgedeck tanzten. An jedem Platz fand sich eine gedruckte Namenskarte, die, in der Mitte geknickt, hinter dem Teller stand und die vorgesehene Tischordnung festlegte.
Auf der anderen Seite des Raums erklang ein Aaaaah aus den Mündern des nicht mehr ganz jungen Paares, und es konnte kaum widerstehen, in die Hände zu klatschen. Ich hatte in unserer Suite einen ganz ähnlichen Impuls unterdrückt, als ich sah, wie das Bett sich selbst gemacht hatte. Ich rief nicht Oh, MANN!, aber ich dachte es. Mag sein, dass ich wenigstens ein Familienmitglied der Bettelhines mochte, mehr sogar, als ich es mir je hätte vorstellen können, aber ich hasste die augenscheinliche Familiengewohnheit, alles und jedes so umzusetzen, dass nur noch der zugehörige Fanfarenstoß zu fehlen schien.
Irgendwo verkündete Arturo Mendez: »Es ist angerichtet.«
Für mich stellt eine gewöhnliche Dinnerparty eine ebenso fremdartige Umgebung dar wie ein Ozean aus flüssigem Quecksilber oder eine Eisebene auf einem gefrorenen Mond.
Aber manche Dinge lassen sich nicht ändern.
Wir nahmen unsere Plätze ein, und ich lernte die anderen Gäste der Party kennen.
Wie sich herausstellte, kannte ich die umwerfende Rothaarige, die mir gegenübersaß (»Counselor Cort! Wie schön! Ich hörte, Sie würden hier sein!«), aber das war von meiner Seite aus keine besondere Leistung. Jeder kannte sie. Ihr Name war Dejah Shapiro, und sie war die berühmte Herrin eines eigenen Imperiums, das sich ebenso über das Universum ausbreitete wie das der Bettelhines und vorwiegend auf dem Verkauf hochwertiger Orbitalhabitate an Märkte überall im von Menschen bewohnten Raum basierte. Es hieß, sie hätte mehr Welten erbaut, als eine Jahresproduktion aus Bettelhines Fabriken in die Luft jagen könnte. Es hieß auch, dass sie, trotz ihrer jugendlichen Erscheinung, älter war als jeder andere lebende Mensch. Wir hatten vor ungefähr zehn Jahren eine Woche zusammen verbracht, als sie engagiert worden war, die Größe des stetig wachsenden New London zu verdoppeln und ich als junge Dip-Corps-Anwältin beauftragt worden war, sie durch die Genehmigungsverfahren zu führen. Sie hatte damals behauptet, sie würde mich mögen, auch wenn ich alles in meiner Macht stehende getan hatte, um ihr das auszutreiben.
Als man ihr die Porrinyards als meine Assistenten vorstellte, taxierte sie sie kurz, und ihre Miene hellte sich sichtlich auf. »Oh, wow, Counselor, wer hätte das gedacht?«
Die Porrinyards, die an entgegengesetzten Enden des langen Tisches saßen und sich dabei ein wenig zu sehr amüsierten, sagten: »Erstaunlich, nicht wahr?«
»Eigentlich nicht, nun, da ich darüber nachdenke. Es musste mehr als nur eine mit sich im Einklang stehende Person nötig sein, um Andreas Mauern zu durchbrechen.«
Dejahs jüngste Ehe mit einem erbärmlichen kleinen Dieb namens Karl Nimmitz war ein Fressen für den Boulevardjournalismus gewesen, ein Thema, dem man einfach nicht entkommen konnte, nicht einmal, wenn man, wie ich, derartigen Neuigkeiten stets aus dem Weg zu gehen geneigt war. Aber er war nicht hier, und ich fragte mich, warum. Hatten sie sich gestritten? Getrennt? Oder war er einfach ein Liebesobjekt, das man schlicht nicht zu vornehmen Anlässen mitschleppte? Ich verwarf all diese Fragen als irrelevant für den Moment und erkundigte mich höflich und trügerisch zwanglos: »Ist das Ihre erste Reise nach Xana?«
Dejah bedachte mich mit einem Blick voller innigem Verständnis, der in ihrem Fall den Eindruck erweckte, sie könne jedes verirrte Neuron kartografieren, das sich in meinem Hirn zum Feuern entschlossen hatte. »In der Tat, das ist es. Ich fürchte, die Beziehungen zwischen mir und unseren Gastgebern waren nicht immer so herzlich wie heute.«
Der andere Bettelhine-Bruder stieß ein Gelächter aus, das sich eher wie Gebell anhörte. »Beschönigen wir die Dinge nicht, Dejah. Das passende Wort, vor dem heutigen Tag, war stets feindselig. Es hat Zeiten gegeben, da hätten Sie es nicht gewagt, ohne eine Armada hier aufzutauchen.«
»Nun, das ist wahr«, sagte sie und neigte dabei geziert ihr Kelchglas. »Aber ich hoffe, dieser Tag kennzeichnet den Beginn einer angenehmeren Beziehung.«
Er erhob ebenfalls sein Glas. »Genau wie ich.«
Gute Wünsche dieser Art schienen die Luft zwischen diesen beiden mit dem Geräusch berstenden Glases zu erfüllen.
Sein Name war Philip Bettelhine, und er wurde mir als Halbbruder von Jason und Jelaine vorgestellt, eine Dekade vor den beiden als Sohn der vorherigen Frau seines Vaters geboren. Die Bettelhine-Gene jedoch waren dominant, und er hatte das gleiche kantige Kinn, die gleichen bohrenden, intelligenten Augen. Aber sein Teint war dunkler, besaß einen polierten Mahagoniton, während seine Geschwister eine milchig rosafarbene Haut hatten. Sein graues Haar erinnerte in Farbe und Konsistenz an Lammwolle und war so geschnitten, dass es wie eine Säge, in zerklüfteter Linie, auf seine Stirn fiel und wahlweise an eine Krone oder das Gebiss eines Hais gemahnte - ich wusste nicht, was mehr zutraf. Als älterer Bruder wirkte er wachsamer und weniger zu höflichem Lächeln aufgelegt als seine jüngeren Geschwister, schien schwerer an den wie auch immer gearteten Verantwortlichkeiten zu tragen, die seinen Beitrag zum Familienunternehmen kennzeichneten.
Heute saß er zur Rechten Jasons und murmelte seinem jüngeren Bruder leise Kommentare ins Ohr, wann immer die Konversation abflaute. Nur Skye, die gleich neben ihm saß, war imstande zu beweisen, dass er tatsächlich fähig war, mit dem Ausdruck echter Heiterkeit anstelle von unterschwelliger Anspannung zu lächeln. Zumindest eine ihrer Bemerkungen veranlasste ihn, ehrlich amüsiert in meine Richtung zu blicken. Ich brannte darauf zu erfahren, worum es in dem Witz ging, hätte aber gern darauf verzichtet, wenn ich stattdessen begriff, was zwischen ihm und seinem Bruder vorging.
Irgendwann während des Salats - Orangen, vielmehr knusprige Kugeln, die ich mit wenig Appetit und großem Schrecken kostete und die Jelaine mir als »köstlich scharfe« Sporen von dem vereisten Kontinent Xanas beschrieb - drehte sich Philip zu mir um und gab die bisher einzigen Worte seit unserer knappen Vorstellung vor Beginn des Mahls von sich. »Entschuldigen Sie, Counselor? Jason und ich haben uns über ihren neuen Titel unterhalten. Sonderstaatsanwältin?«
Ich tupfte mir die Lippen mit der Serviette ab, nachdem ich die Kügelchen auf meinem Teller neu angeordnet hatte, ohne es jedoch fertiggebracht zu haben, eines davon vollständig zu konsumieren. »Was ist damit, Mr Bettelhine?«
»Nun, er ist, soweit ich weiß, ohne Beispiel. Nach meinem Kenntnisstand in Hinblick auf die Leitung des Dip Corps dürfte er sogar einen Schlag ins Gesicht jener Politik darstellen, die eine stete Aufsicht für die Agenten im Außendienst verlangt.«
Ich bin dafür berüchtigt, künstlich angemischtes Dosenfutter gegenüber allem, was auf irgendwelchen Planeten wächst, zu bevorzugen, dennoch stopfte ich mir jetzt eine der Kugeln in den Mund, um einen möglichst sorglosen Eindruck zu erwecken. Sie war, wie angekündigt, scharf. Ob sie köstlich war, konnte ich nicht recht entscheiden. »Das ist korrekt.«
»Verzeihen Sie mir, Counselor, aber wie Sie zu dieser Unabhängigkeit gekommen sind, dürfte eine der spannendsten Geschichten an diesem Tisch sein.«
»Da haben Sie recht«, sagte ich. »Es ist die spannendste. Aber ich werde sie nicht erzählen.«
Philip überraschte mich, indem er das Thema auf der Stelle fallen ließ, aber ich erwischte ihn auch später noch einige Male dabei, wie er mir verstohlene Blicke zuwarf. Schon nach den ersten wusste ich eine Sache so genau, wie ich die Litanei über die Verbrechen der Bettelhines gegen die Menschheit kannte: Er wusste nicht mehr über den Grund meiner Anwesenheit als ich selbst. Er wusste nur, welche Bedeutung sein Vater und seine Geschwister meinem Besuch zumaßen, und der Mangel an Informationen bereitete ihm Kopfzerbrechen.
Der Khaajiir sagte nicht viel - ein anderes Verhalten als vor dem Essen, wo er geradezu geschwätzig gewirkt hatte -, aber wenn er den Mund öffnete, dann war er charmant und zugewandt, wenn auch etwas zögerlicher und formeller als zuvor. Sein Stab ruhte stets zwischen Sitzfläche und linker Armlehne, und er berührte ihn immer wieder, als fürchte er sich davor, auch nur einen Moment ohne ihn sein zu müssen.
Der fahle Mann zur Linken Skyes - jener Mann, der vor dem Essen so fasziniert von ihr gewesen war - war Vernon Wethers, ein weiterer hingebungsvoller Assistent vom Schlage eines Monday Brown, nur dass er für Philip Bettelhine arbeitete, nicht für Hans. Während der kurzen Momente, in denen ich mich mit ihm unterhielt, erzählte er mir in einem Ton, der vermuten ließ, dass es ihm widerstrebte, in irgendein fremdes Gespräch vorzudringen, dass er bereits seit fünfzehn Jahren für Philip tätig sei und die Möglichkeit, so viele hochrangige Projekte aus der Perspektive des Managements verfolgen zu dürfen, sehr zu schätzen wisse. Natürlich konnte er mir keine Details nennen, diese Projekte unterlagen samt und sonders der Geheimhaltung, aber er versicherte mir, dass seine Arbeit überaus spannend sei. Der Umstand, dass er zwischen zwei wunderschönen Frauen saß (Skye und Dejah), direkt gegenüber einer weiteren (Jelaine) und sich dabei mit einer vierten unterhielt, die es zumindest nicht verdient hatte, unter dem nächsten Stein versteckt zu werden (mir), schien ihn seiner Männlichkeit zu berauben. Er stammelte, starrte auf seine Füße und zuckte zurück, als Skyes Schulter ihn für einen Moment streifte, als hätte er sich verbrannt. Später sollte mir von ihm vor allem eine Äußerung im Gedächtnis bleiben, die er zur Antwort auf Mrs Pearlmans Lobeshymne über das Essen von sich gab: »Ich freue mich, dass es Ihnen zusagt. Aber ich fürchte, ich selbst besitze keinen Geschmackssinn.«
»Tut mir leid, das zu hören«, sagte Dejah.
Er zuckte mit den Schultern. »Das würde mich von der Arbeit ablenken.«
Ich fragte Vernon nicht, ob er Familie hatte. Das schien mir kaum von Belang zu sein.
Die Pearlmans, Dina und Farley, schienen die simpelste Geschichte zu haben. Sie wurden mir als Angehörige des mittleren Managements von Temet vorgestellt, einer Ortschaft, die um eine kleine Forschungseinrichtung auf einer Insel vor der Küste von Midgard errichtet worden war. Sie lebten in der vierten Generation auf Xana und behaupteten, bisher noch nie einem Angehörigen des Inneren Kreises der Familie Bettelhine begegnet zu sein. Angesichts der Langweiligkeit, die sie verströmten, hätte es mich gewundert, wenn sie sich häufig aus ihrer direkten Nachbarschaft herausgewagt hätten, von außerweltlichen Reisen ganz zu schweigen. Aber sie hatten bei ihrem letzten Projekt das Soll übertroffen und waren unter allen Kollegen ihrer Gehaltsstufe auserwählt worden, im Zuge dieser luxuriösen Fahrstuhlfahrt aus dem Orbit einen feierlichen Abend mit ihren großen Bossen zu genießen. Kein Wunder, dass sie jedes Mal erbleichten, wenn einer dieser reichen, mächtigen Regenten ihrer Welt auch nur für fünf Minuten das Wort an sie richtete. Dies waren Menschen, die ihr ganzes Leben im Dunkeln verbracht hatten und geblendet reagierten, wenn sie sich plötzlich im Licht der Mittagssonne wiederfanden.
Während des nächsten Gangs - irgendeiner Fischdelikatesse aus der Südsee von Xana, die die Pearlmans mit Begeisterung verschlangen, während ich schon nach wenigen Bissen aufgab - hörte ich, wie Dina eine Frage an Oscin richtete: »Ich habe mich immer gefragt, was das Dip Corps ist. Ist das dasselbe wie das Diplomatische Corps?«
»Ja«, sagte Oscin.
Angestrengt suchte sie nach einem vergleichbaren Beispiel. »So wie Hom.Sap dasselbe ist wie Homo Sapiens.«
»Ja«, sagte er wieder.
Eine Pause trat ein, dann fragte sie: »Wer entscheidet über solche Dinge?«
Mehrere Sitze entfernt, lief Skye rot an und bedeckte ihre Lippen, doch auf Oscins Gesicht zeigte sich keine Spur eines Grinsens. »Dafür gibt es ein Komitee.«
Monday Brown, der seit seinem abrupten Aufbruch am Ende unserer Unterhaltung vor dem Essen nicht mehr in Erscheinung getreten war, kehrte wenige Minuten nach dem Fischgang zu uns zurück und nahm seinen Sitz mit einer Selbstverständlichkeit ein, die vermutlich daher rührte, dass er viele Jahre seine Mahlzeiten aus wichtigen geschäftlichen Gründen hatte unterbrechen oder aufschieben müssen. Er nickte Jelaine und dem Khaajiir zu, welcher sogleich seinen Stab umklammerte, als erwartete er, irgendwohin gerufen zu werden. »Ich bitte meine Verspätung zu entschuldigen. Ich hatte ein paar Dinge zu erledigen, nachdem ich Kontakt zu Mr Pescziuwicz aufgenommen habe, und ihn zu erreichen hat mich auch schon einige Minuten gekostet nach all dem, äh, Durcheinander, was der heutige Vorfall in seiner Zeitplanung hinterlassen hat. Er möchte den Khaajiir wissen lassen, dass er eingeladen ist, der Befragung beizuwohnen, wenn die Verdächtigen imstande sind, sich Fragen zu stellen. Allerdings gibt er zu bedenken, dass Sie die Befragung vermutlich nicht nur als über jeden Tadel erhaben, sondern auch als viel zu langweilig empfinden dürften, um sie gänzlich durchzustehen.«
Jason zog eine Braue hoch. »Hört sich ganz nach dem Mistkerl an.«
Der Khaajiir lachte leise. »Ich könnte ihn überraschen, indem ich ihn beim Wort nehme. Diese Rohlinge könnten ausreichend verblüfft sein, mich aus der Nähe zu sehen, sodass sie jedes Geständnis ablegen, das er sich nur wünschen kann.«
Als Nächstes wandte sich Brown mir zu. »Was Sie betrifft, Counselor, so sagte er mir, er habe zurzeit keine neuen Informationen für Sie, bat aber darum, dass Sie sich bei ihm melden.«
Ich blinzelte. »Sofort?«
»Wann immer es Ihnen beliebt, lauteten seine Worte. Colette, die junge Dame an der Bar, wird Ihnen helfen, wenn Sie es wünschen.«
Ich entschuldigte mich und verließ den Tisch, was mich vor dem Gang rettete, den Mendez gerade servierte, irgendwas Graues, halb Flüssiges, das Dina Pearlman bereits als sensationell gepriesen hatte, über das ich aber, sollte es organischen Ursprungs sein, ganz sicher nicht mehr wissen wollte. Nicht zum ersten Mal bestaunte ich die Courage all der unbekannten historischen Gestalten, die bestimmte Nahrungsmittel als Erste gekostet hatten.
Colette, in deren faserigem Haar nun Lichtstreifen aufleuchteten, die an Kometen erinnerten, und die es offenbar als einen weiteren Höhepunkt ihres Arbeitstages erachtete, für mich Kontakt zu Mr Pescziuwicz herzustellen, sagte mir, sie würde den Anruf zu dem Hytex-Knoten in meiner Suite durchstellen.
Das Läuten, das den Ruf ankündigte, erklang in der Sekunde, in der ich die Tür hinter mir schloss. »Cort hier. Reden Sie.«
Sein holografisches Bild manifestierte sich mit leichtem Schimmern gerade einen Meter von mir entfernt. Gemäß der Bettelhine-Taktik, Gästen nur das Beste zu bieten, gab es keinerlei Rauschen, kein Flirren, das Hytex-Signale anderenorts zu beeinträchtigen pflegte. Das Bild war nicht einmal durchscheinend. Das dort nicht sein echter Kopf vor mir schwebte, sagte mir allein mein gesunder Menschenverstand und das Fehlen von Blut, welches anderenfalls aus der Schnittfläche unter dem Kinn hätte triefen müssen. »Counselor? Antrec Pescziuwicz hier. Gefällt Ihnen die Fahrt?«
Die Projektion folgte mir, als ich mich in einen der Polstersessel fallen ließ. »Um die Wahrheit zu sagen, ich bin ein wenig verblüfft. Vor allem über zwei Gäste, die Pearlmans. Ergötzen sich Ihre Arbeitgeber immer so daran, den Plebs einzuschüchtern?«
Er setzte ein süffisantes Grinsen auf. »Für diese Leute, Counselor, sind wir alle der Plebs. Abgesehen, vielleicht, von dieser Shapiro, deren Namen ich auf der Passagierliste gesehen habe. Muss sonderbar für die Familie sein, einen Gast zu haben, dessen Konto gleich viele Dezimalstellen aufweist.«
»Während des Essens hörte ich ein paar Bemerkungen, die darauf hindeuten, dass Ihre Bosse und diese spezielle Persönlichkeit eine eher holprige gemeinsame Vergangenheit verbindet. Wissen Sie zufällig etwas darüber?«
»Tut mir leid. Damit hatte ich im Zuge meiner Arbeit nie zu tun.«
Was nicht ganz das Gleiche war wie die Erklärung, er wisse nichts darüber. Ich biss mir auf die Lippe. »Hat man Ihnen gesagt, dass noch ein Bocai an Bord ist?«
»Ja. Brown hat es mir vor ein paar Minuten erzählt. Ich habe seine Trommelfelle fast zum Platzen gebracht, weil er mir diese Information vorenthalten hat, bis er mir gesagt hat, dass die Bosse dahinterstecken. Er hat auch gesagt, ich sei nicht autorisiert, den Namen dieses Burschen zu kennen oder über den Anlass seines Besuchs informiert zu werden, also sollten Sie mir besser nichts darüber erzählen.«
»Ist das nicht eine raffinierte Art, mich dazu zu bringen, etwas durchsickern zu lassen?«, fragte ich.
Er verdrehte die Augen. »Nein, Counselor, das ist die direkte Art, Ihnen zu sagen, dass Sie das nicht tun sollen. Wenn die Bosse sagen, ich sei nicht autorisiert, etwas zu wissen, dann meinen sie, ich sei nicht autorisiert, es zu wissen, und nicht, dass ich sofort losrennen und mir ein gefälliges Großmaul suchen soll. Ehrlich, ich will es gar nicht wissen.« Er setzte die Miene eines Mannes auf, der einen kleinen Kampf mit sich selbst austrug, ehe er grollend aufgab: »Ich nehme jedoch an, es fällt nicht aus dem Rahmen, wenn ich darauf hinweise, dass es stets eine gute Idee ist, besonders vorsichtig zu sein, wenn man das Brot mit einem Repräsentanten einer Zivilisation bricht, die einen zu gern auf dem Scheiterhaufen verbrennen möchte.«
»Ist vermerkt. Wollten Sie mich deshalb sprechen?«
»Nein.« Wieder zögerte er wie ein Springer, der seine Nerven sammeln musste, ehe er sich von der Klippe abstieß. »Die Sache ist die, ich habe die letzten paar Stunden mit dem Versuch zugebracht, ein paar Linien zwischen Ihnen und unseren Übeltätern zu ziehen und bin auf ein paar ... Probleme gestoßen.«
»Probleme welcher Art?«
»Der Art, dass ihre persönliche Geschichte einiges aufweist, das keinen Sinn ergibt.«
»Nichts Neues. Ich habe mein ganzes Leben im Kampf mit Dingen zugebracht, die keinen Sinn ergeben. Beispielsweise mit dem Massaker auf Bocai.«
Ungeduldig winkte er ab und verzog das Gesicht. »Ach was, davon rede ich nicht. Sehen Sie, es gibt einen Unterschied zwischen Dingen, die zu verstehen uns schlicht die notwendigen Informationen fehlen, wie bei dem, was auf Bocai passiert ist, und Dingen, die wir als gegeben hinnehmen, obwohl sie einfach nicht passen. Wollen Sie wissen, über welche Sache ich rede? Über eine, die überhaupt nicht passt. Vielleicht können Sie mir helfen.«
Bisher hatte mich seine Arbeitsleistung nicht gerade beeindruckt, ebenso wenig wie seine mangelnde Neugier im Hinblick auf den Khaajiir, also erwartete ich nicht viel. »Schießen Sie los.«
Wieder eine Pause, als suchte er nach den richtigen Worten. »Schauen Sie, Counselor, ich wäre ganz unbesorgt, gäbe es da draußen nicht so viel Gerede darüber, wie schlau Sie sein sollen. Sie haben den Ruf, Probleme zu lösen, indem Sie die richtigen Fragen stellen. Ich habe hier einen Bericht - einen von denen, die es in die Medien geschafft haben - über einen Einsatz, bei dem Ihre Vorgesetzten Sie an irgendeinen Tchi-Ort schickten, um einen Ihrer Diplomaten zu verteidigen, der beschuldigt wurde, einen Tchi-Diplomaten ermordet zu haben. Sie sind zur Staatsanwaltschaft gegangen, haben sich gerade fünf Minuten lang angehört, welche Beweise sie hatten, und ihnen dann erklärt, warum sie den falschen Mann beschuldigen. Ich meine, Sie wussten es auf Anhieb. Die ganze Botschaft hat vier Monate lang an dem Fall gearbeitet, und Sie gehen hin und bringen die ganze Sache zu Fall, ehe Ihr Hintern die Sitzfläche Ihres Stuhles erwärmt hat. Nach dem und Ihrem Auftritt in meinem Büro wusste ich von Anfang an, dass Sie nicht dumm sind. Also gibt es hier entweder einen Faktor, der mir nicht bekannt ist, oder einen, der Ihnen nicht bekannt ist. Vielleicht stecken Sie so sehr drin, haben so lange damit gelebt, dass Sie nie auf den Gedanken gekommen sind, es infrage zu stellen.«
»Ich weiß noch nicht einmal, worüber Sie sprechen«, wandte ich ein.
»Ich weiß«, entgegnete er mit einem entschuldigenden Blick. »Lassen Sie mich die Dinge ins rechte Licht rücken, einverstanden? Eines Tages, als Sie noch ein Kind waren, sind Ihre Leute und die Bocai, mit denen sie gelebt haben, verrückt geworden und aufeinander losgegangen. Sie haben das Chaos überlebt und wurden mit acht Jahren als Kriegsverbrecherin gebrandmarkt. Der Rest ihrer überlebenden Nachbarn wurde Juje weiß wohin verschifft, vielleicht in irgendeine spezielle Einrichtung. Ich weiß nicht - vielleicht sind sie inzwischen frei, vielleicht auch nicht. Aber Sie - Ihnen hat sich das Dip Corps angenommen, hat Sie ausgebildet, und als Sie erwachsen waren, hat es entschieden, dass Sie geheilt sind von was immer Sie erwischt hatte. Die dachten, es sei ungefährlich, Sie loszulassen, um für Ihr Auskommen zu sorgen, solange Sie für sie arbeiten und folglich diplomatische Immunität genießen - anderenfalls würde irgendjemand sie schnappen und zu den Leuten zurückschicken, die Ihren Kopf auf einen Speer stecken wollen. Ist nicht böse gemeint, aber so sieht die Sache doch im Großen und Ganzen aus, richtig?«
Ich hatte immer noch keine Ahnung, wohin das führen sollte. »Ja.«
»Also sind Sie in den nächsten paar Jahren von einem System zum nächsten gesaust, immer als Dip-Corps-Mitarbeiterin. Und Sie haben sich in juristischen Kreisen einen Namen gemacht, aber wegen all der Gruppen, die Sie am liebsten in einen Sack stecken und den Bocai übergeben wollten, mussten Sie sich ständig mit politischem Mist herumschlagen. Ist das auch richtig?«
»Läuft das irgendwann auf eine Frage hinaus?«
Und da öffnete er die Falltür unter meinen Füßen und überließ mich der Erkenntnis, wie viel von meinem Leben auf einer Lüge basierte.
»Wie kommt es, dass irgendjemand wusste, dass Sie eine Kriegsverbrecherin sind?«
Mehrere Sekunden vergingen, bis ich mein Herz wieder schlagen spürte. »Wie bitte?«
»Was denn«, sagte er, »denken Sie, Sie hätten mit zwanzig noch genauso ausgesehen wie mit acht? Ich meine, das Dip Corps hätte Ihren Namen ändern können, Ihre Hautpigmentierung, Ihre Nase, vielleicht auch Ihre Haarfarbe und ein paar andere Äußerlichkeiten, dann hätten Sie eine neue Personaldatei und einen falschen Lebenslauf anlegen können, und niemand außer Ihren Vorgesetzten hätte je erfahren, dass Sie dieses Kind waren.«
Ein Geräusch brandete im Raum auf. Es befand sich zwischen meinen Ohren und brannte in meiner Magengrube, zerschlug die Knochen meiner Wirbelsäule zu Staub. Es war das Geräusch der sich bildenden Risse in jeder Vorstellung, die ich je gehabt hatte; das Geräusch, mit dem das Gerüst aller zukünftigen Vorstellungen, die folgen würden, sich neigte, anfing hin und her zu schwanken und dann einzustürzen. Ich fühlte, wie sich der Raum am Rand meines Blickfelds rot verfärbte, wollte nicht, dass Pescziuwicz fortfuhr, denn nun, nachdem er mich so weit gebracht hatte, brauchte ich seine Hilfe nicht, um auch noch den Rest des Weges zurückzulegen.
Aber er sprach weiter, und jedes Wort aus seinem Mund war ein weiterer Nagel, der sich in mein Hirn bohrte. »Stattdessen haben sie Sie als Andrea Cort arbeiten lassen, die erwachsen gewordene kindliche Kriegsverbrecherin, die bereit war, all die siebenhundert Geschmacksrichtungen von Scheiße zu kosten und hinunterzuschlucken - und das allein aufgrund der Propagandawaffe, die sie gerade all den Alienmächten zur Verfügung gestellt hatten, denen daran gelegen war, die Menschheit als ein Rudel mörderischer Dreckskerle hinzustellen, die ihresgleichen mit einem Mord davonkommen lassen.«
Ich schloss die Augen, wünschte verzweifelt, ich könnte ihn zum Schweigen bringen, hasste die Art und Weise, in der seine Stimme darauf beharrte, sich über das lautstarke Pochen meines Herzens Gehör zu verschaffen.
»Warum haben die sich das angetan?«, fragte er.
Aufhören, dachte ich.
»Warum haben die Ihnen das angetan?«
Bitte, aufhören.
»Und warum haben Sie es zugelassen?«
Meine Augen drehten sich nach innen, und die Finsternis in den Ecken des Raums verschlang mich in einem Stück.