19

XANA

 

Danach schien nichts mehr zu geschehen, eine lange Zeit nicht; nichts abgesehen davon, dass ich all die Augenblicke noch einmal durchspielte und mich erinnerte, wie und wo, aber nicht warum ich starb.

Und auch als etwas geschah, hatte es nicht viel zu besagen.

Ich trieb eine Weile zwischen Bewusstlosigkeit und Wachzustand hin und her.

Irgendwann stellte ich fest, dass ich schwebte, wie ein Fötus, in einer Kammer, angefüllt mit goldener Flüssigkeit. Die Wände waren gewölbt und transparent, die Schatten, die sich durch den trockeneren Raum hinter ihnen bewegten, waren verzerrte Gestalten, deren Gesichter sich zu Zylindern dehnten und nur eine entfernte Ähnlichkeit mit den Menschen aufwiesen, die ich gekannt hatte. Einer presste die Handfläche an die Wand, die uns voneinander trennte, und formte Silben mit dem Mund. Ich überlegte, ob ich den Arm ausstrecken und meinerseits die Hand auf die andere Seite der Wand legen sollte, schien aber unfähig, den Impuls in eine Handlung umzuwandeln und verlor bald jegliches Interesse. Nach ein paar Sekunden schloss ich die Augen und schlief weiter.

Nach einem kaum merklichen Übergang fand ich mich in einer anderen Flotationskammer wieder, in diesem Fall in dem blauen Nichts der virtuellen KIquellen-Schnittstelle. Ich war verärgert. Ich wollte nicht, dass die mich jetzt mit ihrem Mist belästigten. Aber der Avatar studierte mich lediglich und sprach einen einzelnen Satz, den wahrzunehmen oder gar zu beachten ich nicht in Stimmung war. Es ist noch nicht vorbei, Counselor.

Unterbrochen von kurzen Wahrnehmungsblitzen meiner selbst auf einer Rolltrage und in einem Bett, jede meiner Hände gehalten und massiert von einem besorgten Porrinyard, träumte ich von meiner Kindheit auf Bocai. Solche Träume hatte ich natürlich schon früher gehabt, viel zu häufig, traumatische Rückblenden zu der Nacht des Massakers. Ich war allzu sehr daran gewöhnt, in kalten Schweiß gebadet aufrecht im Bett zu sitzen und noch immer die Bilder des Blutvergießens und des Verlusts zu sehen. Nicht ganz so häufig kehrte ich zu den Augenblicken zurück, an die ich mich jetzt erinnerte: zu der Idylle vor der Tragödie, dem sonnigen Himmel, den lachenden Gesichtern, der Liebe meiner menschlichen Familie und meiner Bocai-Familie. Bei dieser speziellen Erinnerung muss ich drei oder vier Jahre alt gewesen sein. Meine Mutter und ich waren zusammen in einem Park, an den ich mich gut erinnern konnte, und spielten träge ein Spiel mit einem Ball am Ende einer Schnur, dessen Regeln ich mir beim Spielen zurechtlegte. Dann stolperte ich über etwas und stürzte schmerzhaft zu Boden, brach in explosives Schluchzen aus, ergriffen von der typischen Unfähigkeit kleiner Kinder, Schmerz und Schock so zu absorbieren, wie Erwachsene es Tag für Tag zu tun hatten. Meine Mutter nahm mich auf die Arme und sagte mir, es sei alles in Ordnung, alles würde wieder gut, sie würde sich um das Aua kümmern, wenn wir wieder zu Hause wären. Sie sah mich aus leuchtenden Augen mitfühlend an - eine kluge und starke Frau, die wusste, die Wunde war belanglos, wusste, ich musste die Krise durchleben, um sie zu meistern. Als der Traum oder die Erinnerung abflaute, zauberte die Sonne von Bocai helle Lichtreflexe in ihr dunkles Haar, und ich streckte, von unschuldiger Faszination ergriffen, die Hände aus, um es zu berühren.

 

Wieder der blaue Raum.

Andrea Cort: Sie sind noch nicht außer Gefahr.

Ich dachte, Sie hätten gesagt, Sie würden mir nicht helfen. Dass es gegen die Verfahrensbedingungen verstieße, würden Sie es tun.

Wir haben Ihnen öfter geholfen, als Sie ahnen, Counselor. Wir helfen Ihnen auch jetzt. Die Bettelhines benutzen ihre örtliche Niederlassung unserer medizinischen Abteilung, um Sie behandeln zu lassen.

KIquelle Medizintechnik. Der nächste Punkt, in dem ich ihnen etwas schuldig war. Was ist los mit mir?

Sie waren knapp unter einer Minute dem reinen Vakuum ausgesetzt. Ihre Lungen, Ihre Luftröhre, Ihre Nasengänge, Ihre Kehle und ihre Augen haben schweren Schaden genommen. Außerdem sind etliche Blutgefäße in entstellender Weise in Ihrer Brust und den Schultern geplatzt, und Sie haben einen zerebralen Insult erlitten. Sie waren mehrere Minuten lang tot.

O Juje. Werde ich wieder gesund?

Sie hätten nicht überlebt, jedenfalls nicht als autonom lebensfähiges menschliches Wesen, hätten die Bettelhine-Mediziner nicht erkannt, wie beschränkt ihre Möglichkeiten vor Ort sind, und Sie in Cryofoam eingesiegelt, um Sie in unsere Notfalleinrichtung in Anchor Point zu bringen. Sie dürfen unbesorgt sein. Ihr derzeit etwas unsteter Zustand, der sich durch Phasen der Apathie, des Deliriums und des Versagens Ihres Kurzzeitgedächtnisses auszeichnet, ist ein normaler Bestandteil Ihres Genesungsprozesses und sollte bereits in den nächsten achtundvierzig Stunden abflauen.

Bombig. Was ist mit den anderen?

Wie Sie gehofft haben, als Sie zu solch verzweifelten Maßnahmen gegriffen haben, hat sich die unmittelbare Notsituation eines Ehrengastes als dringlicher erwiesen als die zuvor von Vernon Wethers erteilten Befehle. Nachdem ihre Konditionierung durch Ihre dringende Hilfsbedürftigkeit überlagert worden war, waren die Sicherheitskräfte der Bettelhines imstande, die Königliche Kutsche zu betreten und die überlebenden Passagiere in Sicherheit zu bringen.

Die überlebenden Passagiere?

Leider wurden mehrere Todesfälle gemeldet, darunter Mr Jeck, Ms Wilson, Mr Pearlman und der Khaajiir. Xanas Massenmedien haben berichtet, sie wären alle im Augenblick des Nothalts ums Leben gekommen. Keiner der anderen sah einen Grund, die Genauigkeit der Berichterstattung in Frage zu stellen.

Ich wollte schon in die Luft gehen, doch dann erinnerte ich mich daran, was Philip mir zu Beginn der Ermittlungen gesagt hatte. Dies war nicht mein Zuständigkeitsbereich. Auf der Königlichen Kutsche konnte ich ein paar aufgeblasene Bettelhines durch die bloße Kraft meiner Persönlichkeit übermannen; auf einem Planeten mit einer Bürokratie, die Tausende von Menschen beschäftigte, war ich so viel mehr als nur übermannt, dass es wohl klüger war, zu begreifen, wie wertvoll es doch sein konnte, einer Schlacht den Rücken zu kehren, in der ich so oder so nicht gewinnen konnte. Was noch?

Alle überlebenden Bettelhine-Angestellten sind an ihre Arbeit zurückgekehrt. Dejah Shapiro hat Sie in den Pausen ihrer großen Asgard-Rundreise in Begleitung von Hans Bettelhine regelmäßig besucht; Vernon Wethers und die beiden Bocai-Attentäter, die Sie auf Layabout angegriffen haben, sind aus ihrer Katatonie erwacht und werden nun ausgiebig befragt. Besonders Mr Wethers hat sich als erheblich hilfreicher erwiesen, als ihm vermutlich lieb war, und die Namen vieler der Personen, die er kompromittiert hat, preisgegeben.

Und?

Die beiden Bocai-Attentäter haben bestätigt, dass Dejah Shapiro in der Tat ihre eigentliche Zielperson auf Layabout war und dass sie tatsächlich das Interesse an ihr verloren, als sie Sie entdeckt haben. Sie haben den dritten Attentäter ihrer Gruppe, ihre Kontaktperson auf dem Bursteeni-Schiff mit Namen Grace, als einen Bursteeni namens Neki Rom identifiziert, der es zwar bis nach Anchor Point geschafft hat, dort aber inzwischen in Gewahrsam genommen wurde. Rom hat gestanden, die zweite Klaue Arturo Mendez übergeben zu haben, der sie auf ausdrücklichen Befehl auf der Königlichen Kutsche an Wethers weitergegeben hat. Bei der Gefangennahme befanden sich keine anderen Waffen in Roms Besitz. Sollten Sie mit der Vermutung, dass die Layabout-Gruppe im Besitz dreier Klauen Gottes war, richtig liegen, so muss er es geschafft haben, die dritte Klaue irgendwie loszuwerden oder an einen weiteren Verbündeten weiterzugeben. Aber es hat noch viele weitere Festnahmen gegeben, und es gilt nur noch als Frage der Zeit, bis auch der Rest der Verschwörer dingfest gemacht werden kann und die Bettelhines auf die verstärkten Sicherheitsmaßnahmen, die derzeit in Kraft sind, wieder verzichten können.

Was alles nichts mit mir zu tun haben dürfte, nun, da ich aus allem raus war. Warum haben Sie gesagt, ich sei noch nicht außer Gefahr?

Weil es so ist. Solange Sie hier sind, dürfen Sie sich nicht den Luxus der Selbstgefälligkeit leisten. Auch jetzt gibt es Kräfte, die sich gegen Sie zusammenscharen.

Warum, verdammt noch mal?

Es ist, wie wir bereits sagten. Sie sind immer noch in Gefahr, einem Attentat zum Opfer zu fallen. Und Sie haben den Moment, der darüber bestimmt, wie die Zukunft aussehen wird, noch vor sich. Er nähert sich. Seien Sie bereit.

 

Es dauerte nicht lange, da erhielt ich Besuch von der anderen Seite.

((Andrea Cort * Wissen Sie, wer wir sind?) )

Die Stimme tauchte einfach in meinem Kopf auf, und es war nicht die Stimme der KIquellen. Es war eine andere, eine weniger angenehme Präsenz, eine, die ich bisher nur einmal erduldet hatte.

Die Unsichtbaren Dämonen.

Raus aus meinem Kopf, ihr mörderischen Bestien.

((Ihre Flüche können uns nicht beschämen * wir haben bereits erklärt, dass alles, was wir getan haben, unserem Selbstschutz diente * wenn das für ihre Mitmenschen auf Bocai den Tod bedeutet hat, dann sind sie weder die ersten noch die letzten, die um unseres Überlebens willen geopfert werden * wenn das Mord ist, dann dient dieser Mord der Verhinderung eines größeren Verbrechens, der Vernichtung einer ganzen Spezies, die überleben will))

Trotzdem seid ihr in meinem Kopf nicht willkommen, ihr Scheißhaufen.

((So wenig, wie wir uns an einem Ort, der so sehr von Schmerz erfüllt ist, wohlfühlen * wir sind jetzt nur hier, weil das unsere einzige Chance ist * die Verfahrensbedingungen gestatten uns nicht, Ihnen zu sagen, was Sie tun sollen * aber Sie sind nicht weit davon entfernt, über die Zukunft einer Spezies zu entscheiden, die Ihnen nie etwas getan hat, und über die Zukunft ihrer eigenen Spezies ebenso * Sie müssen wissen, dass die Lügen, die Ihnen Ihre KIquellen-Vorgesetzten erzählt haben, alle die, die wir Ihnen erzählt haben, unbedeutend erscheinen lassen * Ihr Fehler, so Sie einen begehen, wird tragische Folgen haben) )

Fahrt zur Hölle, dachte ich wieder einmal. Eure Ausflüchte interessieren mich nicht. Ihr habt meine Familie umgebracht. Ihr habt ein Monster aus mir gemacht. Ich werde dafür sorgen, dass ihr auch sterbt.

Minutenlang, so schien es mir, schwiegen sie, zogen sich jedoch nicht zurück.

Und dann, ehe sie mich endgültig allein ließen, sagten sie in sanftem Ton: ((Eines Tages werden Sie begreifen, dass Sie sich irren))

 

Mehr Wachperioden.

Einer der ersten Besuche, die ich überstehen konnte, fand irgendwann bei Nacht statt. Das Licht war gedämpft, und der Himmel, den ich durch das Fenster sehen konnte, das sich rechts von mir über die ganze Wandbreite zog, war schwarz und von Sternen getüpfelt. Es war gut, zu solch einer Zeit wach zu sein. Die Dunkelheit tat meinen Augen gut und ließ alles weniger wild erscheinen.

Dejah Shapiro saß neben meinem Bett, gewandet in ein schimmerndes, rotes Kleid, dessen Schnitt ihre perfekte Figur umschmeichelte, während sich der Stoff auf eine Weise kräuselte, die in meinen Augen große Ähnlichkeit mit Wellen auf einem kleineren Gewässer hatte. Sie trug Christbaumkugeln, die ich als Ohrringe bezeichnet hätte, hätten sie ihre Ohren als Aufhängevorrichtung benötigt; stattdessen schienen sie völlig frei neben ihren Ohrläppchen zu schweben. Mir ging auf, dass sie offenbar gerade von einem weiteren formellen Treffen irgendeiner Art gekommen war, und in meiner halb bewusstlosen Dummheit hoffte ich, dass dabei niemand ermordet worden war. Ich war nicht fit genug, um das Verbrechen aufzuklären.

Sie hatte schon eine Weile gesprochen, aber ich konzentrierte mich erst, als sie flüsterte: »Tja, nun weiß ich, was Hans Bettelhine von mir will.«

»Was?«

Sie führte die bemalten Lippen dichter an mein Ohr. »Eine Fusion. Wie ich schon an Bord der Königlichen Kutsche sagte, er fährt das Waffengeschäft herunter. Er will umdisponieren und in meinen Geschäftszweig, die Habitatkonstruktion, umschwenken. Dabei will er sich besonders auf den Aufbau und die Regeneration angeschlagener Ökosysteme, ganz gleich ob natürlich gewachsen oder künstlich geschaffen, konzentrieren. Orte wie die Welt, auf der Jason eine Weile gelebt hat. Deriflys. Seine Ideen sind schlicht genial. Am Anfang wird das heftige Verluste einfahren, aber wenn wir ein paar Jahre zusammenarbeiten, werden wir der Menschheit viel Gutes tun können, ohne dabei unsere Gewinnmarge zu schädigen. Wir würden sie sogar ein bisschen vergrößern können. Es würde funktionieren, Andrea. Es würde funktionieren.«

Ich bemühte mich um Begeisterung, versagte aber kläglich. »Was haben Sie ihm gesagt?«

Sie nahm meine Hand und drückte sie, eine oberflächlich freundliche Geste, deren Ausführung eher schmerzhaft war, da sie gezielt ihre langen, lackierten Fingernägel in meinen Handrücken bohrte. Ich verzog das Gesicht und klappte den Mund zu einem Protest auf, doch sie brachte mich mit einem Blick zum Schweigen und sprach mit einer glühenden Dringlichkeit, die ich an ihr nie zuvor erlebt hatte: »Ich habe ihm gesagt, dass ich meinen Leuten zu Hause die Zahlen vorlegen und ihm dann meine Entscheidung mitteilen werde. Aber das ist nur eine Ausrede, um so schnell wie möglich von hier wegzukommen. Es wäre wunderbar, wenn er diesen Wechsel zustande brächte, und sollte er das schaffen, werde ich tun, was ich kann, um ihm zu helfen. Das wären die besten Neuigkeiten, die es für die menschliche Rasse seit langer Zeit geben würde. Aber wir sprechen hier von Bettelhines, Andrea. Der Anfangsverlust in den ersten Jahren wird nicht bei allen Beteiligten gut aufgenommen werden. Es wird noch einige Rückschläge geben, und der Rest von uns sollte nach Möglichkeit außer Reichweite sein, wenn das passiert.«

Sie ließ meine Hand los. Ich zog sie weg und fing an, sie mit der anderen Hand zu massieren, grollend wie ein Kind angesichts des unerwünschten, vorübergehenden Schmerzes. Ich war noch so benebelt, dass ich mir mehr Sorgen um diesen kleinen Kummer machte als über irgendetwas von dem, was sie gesagt hatte.

Noch einmal führte sie ihre Lippen an mein Ohr und murmelte: »Ich würde Sie mitnehmen, wenn ich könnte, aber ich bin nur so lange geblieben - länger, als klug war -, um Sie zu warnen. Ich würde noch länger bleiben, wäre ich nicht überzeugt, dass es da draußen jemanden geben muss, der sich diesen Leuten in den Weg stellt, sollte das Schlimmste geschehen. Aber Sie müssen so schnell wie möglich gesund werden. Seien Sie vorbereitet. Und vergessen Sie nicht, was die Porrinyards gesagt haben, ehe sie gegangen sind. Denken Sie daran, wer Sie sind.«

 

Aber für eine Weile entnahm ich ihren Worten nur: Die Porrinyards sind gegangen?

Ein Teil von mir weigerte sich, das zu glauben. Ich konnte nicht billigen, dass es irgendwelche Umstände geben sollte, unter denen sie mich so sehr verabscheuten, dass sie mich Feinden preisgaben. Ich konnte mir vorstellen, dass sie mich ausreichend leid waren, um sich anderswo ein passenderes Spielfeld zu suchen. Ein Teil von mir rechnete schon lange mit etwas in dieser Art und staunte beständig, dass es so lange gedauert hatte. Aber mich einfach verlassen? Hilflos und verwundet und nicht in bester Verfassung unter Menschen, die mir womöglich etwas antun wollten? Warum sollten sie das nur tun? Was um alles in der Welt sollte sie dazu treiben können, so etwas zu tun?

Ich erinnerte mich an jeden Streit, den wir hatten, jeden Moment, in dem ich in ihrer Gegenwart meine eigene Grausamkeit und Selbstsucht offenbart hatte. Nichts von all dem schien schlimm genug, um sie dazu zu treiben. Nichts.

Denke daran, wer du bist.

Ich dachte daran, wer ich war. Ich war das kleine Mädchen, gefangen im Wahnsinn einer Gemeinschaft, die sich selbst in einem schauerlichen Akt des Kannibalismus verschlang, das kleine Mädchen, das auf den Bocai losging, in dem es seinen zweiten Vater gesehen hatte, und ihm die Augen aus dem Schädel riss. Ich war eine Kriegsverbrecherin, die man auf Bocai für das Antlitz des Bösen hielt, ein Symbol des menschlichen Gewaltpotenzials für ein Dutzend andere Spezies und eine politische Bürde für die Konföderation. Ich war eine sarkastische Schlampe, die als Erwachsene nie jemanden geliebt hatte, nicht bevor sie in Erscheinung getreten waren, und dann immer noch nicht auf eine gute Weise.

Denke daran, wer du bist?

Ich dachte daran, wer sie waren. Und das war eine erheblich wichtigere Frage. Wenn es um Leben und Tod ging, hätten sie nie irgendjemanden im Stich gelassen, nicht einmal Leute wie Dina Pearlman. Was konnte ich getan haben, dass sie mich genug hassten, um mich im Stich zu lassen?

 

Ich schlief wieder eine Weile und wachte bei Licht auf, empfing weitere Besucher, darunter einige, denen ich nie zuvor begegnet war, die aber offenbar von meiner bloßen Existenz fasziniert waren.

Allmählich drangen die Einzelheiten des Raums, in dem ich lag, in mein Bewusstsein, des bei Weitem luxuriösesten Krankenzimmers, das ich je gesehen hatte. Nach einer Weile kam mir der Gedanke, dass ich vielleicht gar nicht in einem Krankenhaus lag. Die Wände sahen aus wie gesponnenes Gold, und an der gewölbten Decke hing ein juwelenbesetzter Kristalllüster. Ein Bild irgendeines Bettelhine-Patriarchen samt einem albernen Schnurrbart und einer Miene, die andeutete, dass er in seiner unmittelbaren Umgebung einen abscheulichen Geruch wahrgenommen hatte, hing an einer nahen Wand in einem Rahmen, dessen vielfältig gerillte Randleisten ein Gerichtsgebäude hätten stützen können. Der freistehende Kleiderschrank war auf Hochglanz poliert und sah aus, als hätte er mehr gekostet, als ich in einem Jahr als Vertreterin der Staatsanwaltschaft hätte verdienen können. Das wandbreite Fenster, das ich zu meiner Rechten entdeckt hatte, war tatsächlich eine wandbreite Schiebetür, die sich zu einem gewaltigen Balkon und einem Himmel öffnete, so strahlend und blau, dass der Anblick in meinen armen, leidenden Augen schmerzte. Ich hörte Vogelgezwitscher: kein zufälliges Zwitschern, sondern eine komplizierte Symphonie, hervorgebracht von Spezies, die perfekt für die Breite und Tiefe der Kompositionen geeignet waren.

Jede sichtbare Oberfläche war mit Blumen vollgestopft: mit einem strahlenden Regenbogen aus verschiedenen Blüten, arrangiert zu Sträußen, so farbenfroh und vielfältig, dass es Tausende von Arbeitsstunden gekostet haben musste, sie zu kultivieren, ganz davon zu schweigen, sie zu arrangieren.

Ich erinnere mich, dass ich dachte, das sei nicht richtig. Und dann trieb ich in einen neuen Schlummer.

 

Ich empfing noch eine Besucherin, Paakth-Doy, angetan mit einer sonnigen Bluse, die ihre Arme frei ließ und ein rekombinantes Tattoo in Form einer Art lauernden Reptilienkatze offenbarte, die in einer animierten Simulation gefräßiger Gier ihren Arm hinauf und hinunter schlich. Sie erzählte mir, dass ich alle in Angst und Schrecken versetzt hätte und dass sie mich für eine der tapfersten Personen hielt, von denen sie je gehört hatte. Sie sagte, sie würde mich nie vergessen, und erklärte mir, sie habe mir eine Nachricht von meinem Dip-Corps-Vorgesetzten Artis Bringen mitgebracht, die an die Königliche Kutsche weitergeleitet worden sei und erst Beachtung gefunden habe, als das Vehikel wieder auf Xana zur Inspektion angedockt war. Sie hatte die Daten in die Hytex-Verbindung dieses Raums hochgeladen.

Unser Gespräch war nett, bis ich sie fragte, was sie nun zu tun beabsichtige.

Düsternis sank über ihre Augen, und sie sagte: »Wir alle haben nach der Katastrophe eine Menge Aufmerksamkeit bekommen. Die hat zu lukrativen Jobangeboten geführt. Ich selbst habe die Gelegenheit bekommen, als persönliche Begleiterin einer der Bettelhine-Tanten zu arbeiten. Sie mag meine exotische Ausstrahlung, Sie verstehen?«

O Juje. Sie hatten sie erwischt. Irgendwie hatten sie es geschafft und sie dazu gebracht, alles aufzugeben, was sie sich wünschte. Ich ergriff ihr Handgelenk. »Doy - Sie müssen das nicht tun. Ich habe Ihnen versprochen, Sie von hier wegzubringen. Das Dip Corps hat immer freie Stellen zu vergeben ...«

Sie zog die Hand fort. Als sie antwortete, stach ihr schwerer Riirgaan-Akzent so hervor, als hätte sie beschlossen, ihn absichtlich zu betonen und dem Teil ihrer selbst auszuweichen, der sie mit der Spezies einte, der sie gemäß ihrer Abstammung angehörte. »Es ist meine Entscheidung, Counselor. Ich weiß, was persönliche Begleiterin gewöhnlich bedeutet. Ich weiß, wie der Job mich verändern wird. Ich habe immerhin mit Colette Wilson zusammengearbeitet. Aber während ich diese Entscheidung getroffen habe, war ich im Vollbesitz meiner geistigen Kräfte.«

»Warum ...«

»Weil sich für mich nichts ändert. Weil ich weder ein Riirgaaner bin noch voll und ganz menschlich. Weil ich es müde bin, nicht zu wissen, wie ich leben soll. Und weil meine neue Arbeitgeberin mir versichert hat, dass ich, wenn die Wirkung erst eingesetzt hat, immer glücklich sein werde, selbst wenn man mich dazu bringt, Dinge zu tun, die ich jetzt als entsetzlich einstufen würde.« Sie wischte sich die Feuchtigkeit von den Augen und setzte ein erzwungenes, falsches Lächeln auf. »Wie kann irgendjemand jemals Glück ablehnen, Counselor? Warum sollte es weniger real sein, wenn es aufgezwungen wird?«

Bis ich damit fertig war, mir zu überlegen, was ich wohl sagen könnte, war Paakth-Doy längst fort.

 

Eine Schwester kam herein und brachte mir ein Frühstück aus pürierten Früchten, die meinem Gaumen fremd waren, deren Süße mich jedoch an Bonbons aus einer Zuckerbäckerei in New London erinnerte, die ich ganz besonders liebte. Die Früchte enthielten genug Säure, auf meinen wunden Schleimhäuten zu schmerzen, aber zum ersten Mal seit der Königlichen Kutsche stellte ich fest, dass ich Heißhunger empfand. Ich aß die ganze Schüssel leer und bat um eine zweite Portion.

Nach dem Frühstück aktivierte ich den Hytex im Zimmer und fand dort die Botschaft von Bringen. Es war eine späte Antwort auf meine Fragen. Die meisten davon waren entweder im Zuge der späteren Ermittlungen beantwortet worden oder nicht länger von Bedeutung, aber ich stockte kurz, als ich auf den Abschnitt mit Informationen über den vermissten Schuldenberater Bard Daiken stieß.

»Daiken ist im Zuge einer routinemäßigen Verhandlung zum Bettelhine-Konzern übergelaufen und hat eine Frau und zwei Kinder in New London zurückgelassen. Seither hat er jede Kontaktaufnahme verweigert, und wir wissen nicht, ob er auf Xana arbeitet oder ob er überhaupt noch dort ist. Das sollte als ein Punkt niedriger Priorität gelten, aber sollten Sie ihm begegnen, dann übermitteln Sie uns bitte alle Informationen, die Sie haben. Für seine Familie könnte es eine große Hilfe sein, könnte sie endlich einen Schlussstrich ziehen. Holo ist angefügt.«

Ich öffnete das Hologramm und wusste, wo ich Daiken bereits gesehen hatte. Er hatte ein zufriedenes, wenn auch sehr ruhiges Leben geführt und Essen in der Kombüse der Königlichen Kutsche der Bettelhines erhitzt.

Zu dieser Zeit hatte er auf den Namen Loyal Jeck gehört.

Loyal, was für ein Witz!

Der Bettelhine, den er verärgert hatte, muss sich auf seine Kosten prächtig amüsiert haben.

 

Das nächste Mal erwachte ich mit voller Blase, und an der Decke hingen lange Schatten. Ich setzte mich auf, kämpfte gegen eine Woge der Benommenheit an, die mich beinahe überzeugt hätte, mich wieder hinzulegen, verzog das Gesicht, als die Benommenheit den Weg zu einem Gefühl der Schwere in meinem Kopf freigab, und schwang die Beine (bekleidet, wie mir nun erst auffiel, mit einer pinkfarbenen Pyjamahose, die gerade locker genug saß, um die Haut bei jeder Bewegung zu umschmeicheln) über die Bettkante. Der Boden fühlte sich warm an, so, als befänden sich Heizelemente unter der Oberfläche, und die Beschaffenheit des Belags war gerade wohltuend genug, dass ich die Dekadenz einmal wahrhaftig zu schätzen wusste.

Das Licht schaltete sich in dem Moment ein, in dem ich mein Gewicht auf eigenen Füßen trug. Wie lange ich auch im Dämmerzustand in meinem Bett gelegen hatte - ich hatte keinen größeren Muskelschwund erlitten. Trotzdem, nur um sicher zu sein, schloss ich die Augen und drehte mich einmal auf der Stelle um die eigene Achse, nur einmal, um mich zu vergewissern, dass ich noch im Besitz meiner Koordinationsfähigkeit war. Ich war. Das war gut. Sollte ich irgendwann in naher Zukunft um mein Leben kämpfen müssen, würde ich zumindest nicht umhertaumeln wie eine Betrunkene.

Mein Kopf fühlte sich schwerer an, als er sein sollte. Ich verstand nicht, wie das möglich war, bis weiches Haar, länger als meines sein sollte, über beide Seiten meines Gesichts fiel. Es war jetzt schulterlang und voller denn je. Was zum Teufel...?

Das Badezimmer war nur wenige Schritte entfernt und wartete mit einer Badewanne auf, größer als manche Schwimmbecken, die ich in meinem Leben zu sehen bekommen hatte. Dazu kam ein mit einem goldenen Rand verzierter Waschtisch, umgeben von einer Auswahl an Cremes, Parfüms, Lotionen und zeitgemäßen Euphorika, die noch teurer waren als das, was die Porrinyards in unserer Suite auf der Königlichen Kutsche so tief beeindruckt hatte. Mich jedoch berührte vielmehr das, was ich in dem Spiegel in ihrer Mitte zu sehen bekam; ich wartete, bis ich die Toilette aus reinem Gold gefunden hatte und mir eine gesegnete Erleichterung zuteil geworden war, ehe ich mich auf den Plüschsessel vor dem Waschtisch setzte und mit einer Mischung aus Entsetzen und Verwunderung die Fremde anstarrte, die mich dort angaffte.

Das Gesicht gehörte immer noch mir, auch wenn der Teint etwas milchiger war als sonst; ich bewahrte mir stets eine leichte Bräune bei minimaler UV-Belastung, sogar in Umgebungen, die sich auf künstliche Beleuchtung beschränken mussten. Ich nahm an, dass ich während der Genesung ein wenig Farbe verloren hatte. Aber das Haar war eine Revolution. Die Farbe war näher an einem dunklen Braun als an dem gewohnten Rabenschwarz; und meine sonst aus praktischen Erwägungen so kurz geschnittenen Haare - deren einzige persönliche Note eine einzelne, fehlgeleitete Strähne war, der ich zubilligte, länger zu wachsen - waren nun dicht und seidig und reichten auf beiden Seiten bis zu meinen Schultern. Glänzende Ponysträhnen fielen mir bis auf die Höhe der Augenbrauen in die Stirn. Der unbekannte Kosmetiker hatte außerdem eine Spur Lidstrich aufgelegt; nicht viel, nur gerade genug, um einen eigenen Beitrag zu meiner zunehmenden Beunruhigung zu leisten.

Seit dem Erwachsenwerden hatte ich mein ganzes Leben lang überrascht reagiert, wenn Leute mich als schön bezeichnet hatten. Ich hatte das nie an mir wahrgenommen, doch nun sah ich es selbst. Sie hatten ein Mordsweib aus mir gemacht. Aber das war nicht das Aussehen, das ich selbst für mich gewählt hätte. Es ließ mich sanft wirken, feminin auf eine Weise, die nie zu meinen persönlichen Vorlieben gezählt hatte.

War es womöglich das, was Hans Bettelhine wollte?

Das schien mir irrsinnig zu sein. So er ein Interesse an eher hohlköpfigen Konkubinen hegte, hätte er die Wahl aus unzähligen bereitwilligen Angeboten auf diesem Planeten, sei es mit oder ohne künstliche Anreize.

Und warum sollten die Porrinyards mich in so einer Lage allein lassen?

Ich kehrte in mein Schlafzimmer zurück, wo ich zuerst den Schrank ansteuerte, in dem ich meine Tasche oder einen meiner schwarzen Anzüge zu finden hoffte. Fehlanzeige: Da waren ein paar paillettenbesetzte Dinger, die ich bei einem formellen Essen zu sehen erwartet hätte, gemusterte Blusen und Röcke, die eher für den alltäglichen Gebrauch passend waren, und sogar ein paar Pullover und Hosen, in denen herumzulaufen ich mir vorstellen konnte, aber da war nichts, das meine bevorzugte kalte, eisenharte Autorität zu vermitteln geeignet gewesen wäre. Die Schuhe reichten von Pantoffeln bis hin zu schwindelerregend hohen Schuhchen mit Pfennigabsatz. Ich ließ den Schrank Schrank sein, dachte über eine unmittelbare Flucht durch die Tür nach, die wohl die Eingangstür war, und beschloss, dass sie vermutlich bewacht wurde, ehe ich mich auf die scharlachroten Berge am Horizont konzentrierte und auf den Balkon hinausrannte in der vergeblichen Hoffnung, dort draußen einen sinnvollen Gedanken zu finden, da drinnen keine verfügbar waren.

Der Balkon war groß genug, einen eigenen Garten vorzuweisen, in dem spiralförmig angeordnete, gefleckte Pflanzen blühten, bewacht von einem winzigen Wasserrad, das sich beständig unter dem sachten Einfluss eines kristallenen Stroms drehte, der sich aus einer Wasserrinne in der Wand über dem Balkon ergoss. Es gab genug Platz für einen schmalen, gefliesten Weg, der zu einer Schaukel führte, auf der gleich zwei Personen bequem Platz gefunden hätten. Ein biegsames Tier unbekannter Art mit weißem Fell und großen Augen und einer überaus interessierten Miene beobachtete mich und deutete dann die Akzeptanz meiner Gegenwart mit einem kraftlosen Zusammenbruch auf einem der bestickten Kissen an.

Außerdem war da noch ein aus Stein gemeißelter Tisch, umgeben von einer runden Steinbank. Der Stab des Khaajiir lehnte an einem lachsfarbenen Blumenkübel, aus dem eine ganze Orgie von Farnwedeln hervorspross. Als ich die hüfthohe Mauer am äußeren Ende des Balkons erreicht hatte und hinunterblickte, verzog ich gepeinigt das Gesicht in Anbetracht eines potenziellen Sturzes über drei Stockwerke des Gebäudes und eine zusätzliche enorme Mauer in Form einer mit Gestrüpp bewachsenen Klippe, der alles in allem etwa vierhundert Meter weit geradewegs in die Tiefe führte. Dort unten sah ich einen glitzernden See, der im Licht der untergehenden Sonne aufleuchtete und derzeit bis auf ein einziges Segelboot leer war. Etliche Kilometer entfernt lagen kantige rote Berge, von hinten beleuchtet von einer Sonne, die nun so kurz davor war, am Horizont zu verschwinden, dass ich in der Lage war, den fernen, geschwollenen Kreis anzustarren, ohne das Gefühl zu haben, blinzeln zu müssen.

Ein Vogel flog vorüber. Er war anders als alle Kreaturen, die ich bisher gesehen hatte, ein scharlachrotes, flammendes Etwas mit einem Gesicht wie ein Dolch und einer Haube, die an einen Papierfächer erinnerte und beinahe bis zu den leuchtenden Schwanzfedern reichte, die in einer blauen Spitze endeten. Er stürzte ein Stück weit herab, blinzelte mich aus klaren, intelligenten Augen an, ehe er mich mit dem Vogeläquivalent eines Schulterzuckens bedachte und mit trotzigem Krächzen spiralförmig davonflog.

Gerade als ich anfing, darüber nachzudenken, wie und wo ich hinunterklettern könnte, sagte eine vertraute Stimme hinter mir: »Das ist ein Dekarsi, eine importierte Spezies von den Tchi und einer meiner Lieblinge. Sie sind so intelligent wie ein fünfjähriges menschliches Kind.«

Ich wirbelte um die eigene Achse.

Es war Jelaine Bettelhine, bekleidet mit Reithosen, Stiefeln und einer engen Lederweste über einem karierten Hemd. Ihr Haar war zu einem Pferdeschwanz zurückgebunden und sah windzerzaust aus. Auf ihrer hellen Haut hatten sich im Sonnenschein Sommersprossen gebildet. Sie strahlte mich lächelnd an.

Ich schlug ihr mit der Faust auf den Mund.

Ich weiß nicht, ob sie mich hätte aufhalten können. Vermutlich. Meine Erfahrungen mit meinem eigenen verbundenen Paar hatten mich längst gelehrt, dass diese Manipulation mit einer übermenschlichen Reaktionsfähigkeit verknüpft war. Weder Oscin noch Skye hätte ich je mit solch einem Angriff überraschend erwischen können. Aber Jelaine ließ zu, dass mein Schlag traf und sie zu Boden warf. Sie lag da, blinzelte mich an, und der Schmerz tat nichts dazu, die verfluchte Zuneigung aus ihren Augen zu vertreiben. »Warum haben Sie das getan, Andrea? Nur, um herauszufinden, ob Sie es noch können?«

Ich rieb mir die Hand. »So was in der Art.«

»Ich dachte, Sie könnten eine Bestätigung gebrauchen, darum habe ich es zugelassen. Keine Sorge. Ihr Geist gehört immer noch Ihnen und wird Ihnen auch in Zukunft gehören. Wir kämen nicht im Traum darauf, Sie so weit herzuholen, Ihnen so viel Unbill zu bereiten, nur um dann ein so fein eingestelltes Instrument mutwillig zu beschädigen.« Sie wischte sich das Blut mit dem Handrücken von den Lippen. »Darf ich aufstehen?«

Ich sagte nicht ja. »Wo bin ich?«

Jelaine setzte sich auf und schüttelte in einer beinahe drolligen Reaktion auf meinen Hieb den Kopf. »In einer der kleineren Gästesuiten auf meinem Privatanwesen im Nordosten von Asgard. Das ist der schönere Kontinent, der, der für den Inneren Kreis der Familie und dessen Bedienstete reserviert ist. Wir haben Sie unter höchsten Sicherheitsvorkehrungen hierhergebracht, als Sie für reisefähig befunden wurden.«

»Wie lange bin ich schon hier?«

»Auf Xana? Ungefähr eine Woche. Hier? Etwa drei Tage. Ihr Körper heilt schnell. Oh, Andrea, ich weiß, Ihr Besuch war bisher nicht gerade ein Vergnügen, aber das ist albern. Darf ich bitte aufstehen, damit wir auf Augenhöhe miteinander sprechen können?«

Ihre süße Ehrerbietung, die einen scharfen Kontrast zu der Macht bildete, die sie tatsächlich über mich hatte, schwand. Ich hätte sie am liebsten getreten. Aber ich fand keinen Grund, es zu tun, und eine Vielzahl an wichtigen Gründen, es nicht zu tun. Also nickte ich.

Sie erhob sich, strich mit einer Hand ihr Haar zurecht und deutete auf den Steintisch.

Wir setzten uns und blickten einander über den Fries geflügelter Schlangen an, die in Massen über eine Landschaft mit schneebedeckten Berggipfeln hinwegflogen. Die steinerne Bank fühlte sich durch die Pyjamahose kalt an, ein sinnlicher Kontrast zu der angenehmen Wärme der sanften Brise. Ich bin nicht gern unter freiem Himmel, und doch empfand ich diesen als belebend auf eine Weise, die ich sogleich dem Sauerstoffanteil zuschrieb, der hier höher war als in der üblichen Luftmischung an Orten wie New London.

»Ich weiß, das ist schwer«, sagte sie. »Einem so scharfen Geist wie dem Ihren muss es schwerfallen, mit einem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses zurechtzukommen. Bitte glauben Sie mir: Das Schlimmste ist vorbei, und wir rechnen nicht damit, dass noch weitere Probleme auftauchen, und alles, was ich Ihnen nun zum zweiten Mal erklären muss, hat vor kurzer Zeit bereits Ihre Zustimmung gefunden.«

Nur weil ich ihr ihre Erklärungen abgekauft hatte, als ich nicht ganz bei Verstand war - und auch dafür hatte ich nur ihr Wort -, gab es keine Garantie dafür, dass ich ebenso denken würde, wenn ich klar denken konnte. »Ich weigere mich zu glauben, dass die Porrinyards mich im Stich gelassen haben.«

Sie streckte den Arm aus und berührte meinen Handrücken. »Das haben sie nicht. Sie sind während der problematischen Stadien ihrer Heilung bei Ihnen geblieben oder zumindest in Ihrer Nähe. Ich habe ihre Hingabe sehr bewundert.«

»Wo sind sie dann jetzt?«

»Im Orbit. Sie halten sich auf Ihrem persönlichen Transporter auf, der immer noch auf Layabout angedockt ist. Ich habe ihnen versichert, dass sie als persönliche Gäste der Familie hierbleiben können, aber sie haben gesagt, sie wollten keinen Druck auf Sie ausüben bei all den schwierigen Entscheidungen, die Sie werden treffen müssen. So zumindest haben sie es ausgedrückt. Aber niemand wird Sie daran hindern, mit ihnen zu sprechen oder uns zusammen mit ihnen zu verlassen, wenn es das ist, was Sie wollen.«

Das fühlte sich immer noch nicht richtig an. Oscin und Skye waren meine Partner. Es gab keine schwierigen, persönlichen Entscheidungen zu treffen, die ich vor ihnen hätte zurückhalten wollen, oder solche, von denen sie erwarten würden, dass ich sie vor ihnen zurückhielte. Ich griff nach einer Locke meines luxuriösen neuen Haars und sagte: »Was ist damit? Es fällt mir schwer zu glauben, dass das in einer Woche so natürlich gewachsen ist.«

Sie grinste. »Wo liegt das Problem? Es ist wundervoll.«

»Es ist auch beunruhigend. Was hat Ihnen das Recht dazu gegeben?«

Ihr Lächeln blieb standhaft. »Sie. Mein Vater wollte wissen, wie Sie mit schulterlangem Haar aussehen würden. Sie haben gesagt, es mache Ihnen nichts aus, also haben wir Ihre Follikel mit einem Nanostimulans behandelt, und einer unserer Stylisten hat das Ergebnis in Form gebracht. Sie können es wieder abschneiden, wenn Sie wollen, auch wenn das in meinen Augen wirklich eine Schande wäre.«

Diese Insider-Story, die sich mir so vollständig verschloss, frustrierte mich mehr und mehr. »Ich bin nicht die Anziehpuppe Ihres Vaters. Was soll das? Ist er irgendwie von mir angetan oder so was?«

Jelaine verzog das Gesicht. »O Juje, nein.«

»Warum interessiert es ihn dann, wie mein Haar aussehen könnte? Ob es nun lang oder kurz ist, geflochten, fehlend, purpurrot, leuchtend wie das von Colette oder durch Schuppen ersetzt?«

Das Tier, das ich auf der Schaukel schlafend entdeckt hatte, sprang nun plötzlich vor ihr auf den Tisch und forderte Aufmerksamkeit. Jelaine kraulte den struppigen Kopf, und das Tier schnurrte. »Er wollte nur wissen, wie Sie mit schulterlangem braunem Haar aussehen würden«, sagte sie. »Kommen Sie schon, Andrea. Denken Sie nach. Ich habe bereits miterlebt, wie Sie meinen Vater in Erstaunen versetzt haben, indem Sie die Erklärung für all das vorweggenommen haben, und ich bin überzeugt, Sie schaffen das auch ein zweites Mal, wenn Sie es versuchen.«

Mittlerweile über alle Maßen verärgert in Anbetracht ihrer neckischen Art und Weise, verdrehte ich die Augen und ertappte mich plötzlich dabei, wie ich den Stab des Khaajiir musterte, der immer noch an dem Blumenkübel lehnte, als wäre er nur ein weiteres Gestaltungselement in diesem überladenen kleinen Garten.

Warum war er hier? Hatte ich ihn zuvor benutzt?

Ich dachte zurück an Skyes Worte: »Wenn ich dir je etwas vorenthalte, dann aufgrund meiner eigenen, wohl überlegten Einschätzung, dass es dich entweder nichts angeht oder du es in diesem Moment nicht wissen musst.«

Das hatte sie auf der Königlichen Kutsche zu mir gesagt, während sie mir einen Überblick über die Datenbank des Khaajiir verschafft hatte. Sie hatte mir ihre Absicht zu erkennen gegeben, Punkte, die nichts mit unserem derzeitigen Problem zu tun hatten, zu übergehen, Punkte, mit denen ich mich später vielleicht noch befassen musste. Das war die einzige Möglichkeit, mich in der Spur zu halten.

Trotzdem hatten ihre Informationen einen recht vollständigen Eindruck gemacht. Oder nicht?

Sie hatte mir sogar gestattet, den Stab selbst zu halten, sodass ich direkten Zugriff auf die Daten erlangte, die sie für sachdienlich hielt, während sie mir alles zeigte, was Oscin gefunden hatte.

Wie konnte sie dann irgendetwas vor mir versteckt haben?

Ich erinnerte mich, und mir ging ein Licht auf.

Nein. Sie hatte mich den Stab nicht die ganze Zeit halten lassen, während sie mich informiert hatte.

Gegen Ende hatte sie ihn mir weggenommen, ehe sie ihre Erkenntnisse mit mir geteilt hatte.

Sie hatte es so zwanglos getan, so frei von jeder Form der Rechtfertigung, dass ich darin nichts Verdächtiges erkannt hatte.

Aber jetzt erinnere ich mich, dass sie mir den Stab weggenommen hatte, als sie sich dem einzigen Thema zuwandte, von dem sie behauptete, nicht alles darüber in Erfahrung gebracht zu haben. Ihre Antworten zu diesem Thema waren bestenfalls fragmentarisch ausgefallen und hatten keinerlei Informationen enthalten, die für mich relevant gewesen wären. Und als sich dieser Punkt auch für die Identifikation des Mörders an Bord der Königlichen Kutsche als irrelevant erwiesen hatte, hatte ich zugelassen, dass sie das Thema fallen ließ.

Über welches Thema hatten wir zu diesem Zeitpunkt gesprochen?

Was war so gewaltig, dass es meine Fähigkeit, die Krise in den Griff zu bekommen, die unser aller Leben gefährdet hatte, hätte beeinträchtigen können?

Ich ertappte mich dabei, an andere Augenblicke zurückzudenken, bis zurück zum Anfang der ganzen traurigen Geschichte.

Die KIquellen hatten gesagt: Wir hoffen, Sie werden den Schock überleben.

Jelaine hatte zu mir gesagt: »Sie müssen bleiben.«

Sie hatte auch gesagt: »Wir haben mehr gemeinsam, als Sie sich vorstellen können.« Später, als ich herausgefunden hatte, in welcher Weise sie und Jason tatsächlich miteinander verbunden waren, hatte ich angenommen, sie hätte nur über kybernetische Verbindungen gesprochen. Aber das war etwas, das sie mit den Porrinyards gemeinsam hatte, nicht mit mir.

Sie hatte voller Zuneigung mit mir gesprochen und mich mit einem Ausdruck unverstellter Liebe angesehen.

Sie beide hatten mich mit diesem Ausdruck angesehen.

Die Bettelhines hatten mich nicht als persönlichen Gast eingestuft, sondern als Ehrengast.

Und dann war da noch das, was das Dip Corps mir angetan hatte, mir, ihrer gehätschelten Kriegsverbrecherin.

Antrec Pescziuwicz hatte es gleich erkannt: »Das Dip Corps hätte Ihren Namen ändern können, Ihre Hautpigmentier ung, Ihre Nase, vielleicht auch Ihre Haarfarbe und ein paar andere Äußerlichkeiten, dann hätten Sie eine neue Personaldatei und einen falschen Lebenslauf anlegen können, und niemand außer Ihren Vorgesetzten hätte je erfahren, dass Sie dieses Kind waren. Stattdessen haben sie Sie als Andrea Cort arbeiten lassen, die erwachsen gewordene kindliche Kriegsverbrecherin, die bereit war, all die siebenhundert Geschmacksrichtungen von Scheiße zu kosten und hinunterzuschlucken, allein aufgrund der Propagandawaffe, die sie gerade all den Alienmächten zur Verfügung gestellt hatten, denen daran gelegen war, die Menschheit als ein Rudel mörderischer Dreckskerle hinzustellen, die ihresgleichen mit einem Mord davonkommen ließen. Warum haben die sich das angetan? Warum haben die Ihnen das angetan?«

Die KIquellen hatten mir bereits einen Teil der Antwort geliefert. Jede Konspiration, von der Sie seit der Kindheit betroffen waren, muss weniger damit zu tun gehabt haben, Sie zu manipulieren, als damit, Sie als Werkzeug zur Manipulation anderer zu benutzen.

Aber wen zu manipulieren konnte ich missbraucht worden sein, als ich noch ein Kind gewesen war?

»Ein veränderter Mann kann seine Familie ändern und das, wofür die Familie steht. Sogar, so wage ich zu behaupten, wie die Familie ihre Verpflichtungen gegenüber ihren eigenen Angehörigen sieht«, hatte Jelaine gesagt.

Zu viele aus dem Handgelenk geschüttelte Kommentare, um sie alle aufzuführen, und doch ergaben sie nun einen schaurigen Sinn. Und ich musste mich nicht allzu sehr bemühen, um mir noch ein Dutzend anderer passender Bemerkungen ins Gedächtnis zu rufen.

Darunter die Versicherung der KIquellen, dass die Tragödie auf Bocai das Letzte gewesen wäre, was irgendein Bettelhine sich gewünscht haben könnte.

Wethers, der sich am Ende verhalten hatte, als hätte er zum ersten Mal Notiz von mir genommen. »Ich war ... dumm. Ich habe nicht gesehen, was ich direkt vor mir hatte. Ich habe nicht gesehen, was ich hätte wissen müssen.« Das waren seine Worte.

Und dann, am Ende, als ich Colette voller Zorn geschlagen hatte, als ich die Grenzen ihrer Unfähigkeit, nein zu sagen, auszuloten versucht hatte, hatte Skye mich angesehen, als hätte sie zum allerersten Mal begriffen, wer ich bin. Sie hatte es längst gewusst, hatte alles Notwendige in den Daten des Khaajiir gelesen. Aber wie muss es sich für sie angefühlt haben, Zeugin einer Demonstration von solch furchtbarer Klarheit geworden zu sein?

Ich beobachtete mich selbst aus der Distanz, beobachtete, wie ich mich von der Bank erhob und dem Blumenkübel näherte, wie sich meine Hand um den Stab des Khaajiir schloss und ich in Gedanken den Namen einer Frau formulierte.

Das Bild, das in meinem Geist entstand, zeigte sie so, wie sie ausgesehen hatte, als sie auf Xana gelebt hatte. Sie war eine wehmütige junge Frau mit hellen Augen, schulterlangem braunem Haar und der Art von Gesicht, die ein Licht auf jede Welt wirft, über die sie zu schreiten beschließt.

Ich hatte sie Jahre später gekannt, als sie einen anderen Namen hatte, als ihr Haar kurz geschnitten war, aber immer noch seidig genug glänzte, um im Licht der Sonne von Bocai zu schimmern.

»Sie wären überrascht, wie viele ausgestoßene Bettelhines unter anderen Namen in anderen Systemen leben«, hatte Dejah gesagt.

Lillian Jane Bettelhine.

Jüngere Schwester von Hans Bettelhine.

Tante von Jason, Jelaine und Philip.

Verbannte Idealistin.

Name geändert in Veronica Cort.

Bewohnerin einer dem Untergang geweihten experimentellen, utopischen Gemeinde auf Bocai.

Beteiligt an dem Autogenozid, den die Gemeinde an sich selbst verübt hatte.

Liebende Ehefrau des verstorbenen Bernard Cort.

Liebende Mutter meines verstorbenen Bruders und meiner verstorbenen Schwester.

Liebende Mutter ...

Ich ließ den Stab des Khaajiir los und fiel auf die Knie, schrie unter Tränen ein Wort, dass ich seit Jahrzehnten nicht ausgesprochen hatte.

»Mami ...!«