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PHILIP, AUSGEGRENZT

 

Philip Bettelhine saß da, das Gesicht in den Händen verborgen, und seine steife Haltung war der Benommenheit eines Mannes gewichen, dessen Fundamente unter seinen Füßen zu Staub zerfallen waren. »Ich verstehe das nicht«, sagte er. »So etwas sollte gar nicht möglich sein.«

Ich glaube nicht, dass er mit mir sprach, eher schon mit dem Universum im Allgemeinen, ein Gefüge, das, nachdem es die Unverletzbarkeit der Bettelhines längst als Täuschung enttarnt hatte, ebenso gut hätte beschließen können, Schwerkraft, Relativität und Thermodynamik über Bord zu werfen. Die trotzige Fassade - hinter der er sich versteckt hatte, als es noch möglich gewesen war, Hoffnung darauf zu setzen, dass die Sicherheitssysteme, für die seine Familie bezahlt hatte, Hilfe schicken würden - begann unter diesem jüngsten Schlag zu bröckeln. Er war stark, zu stark, um sich nicht wieder zu erholen, aber nun hatte er seinen Tiefpunkt erreicht. Dies war der Punkt, an dem er besonders verletzlich war.

»Warum sollte das nicht möglich sein, Sir?«, fragte ich ihn.

»Ich ... ich verstehe nicht.«

»Sie wissen, wovon ich spreche. Jede menschliche Gesellschaft seit dem Beginn der industriellen Revolution hatte ihre Anarchisten, ihre Saboteure, ihre Terroristen. Und je weiter wir uns entwickeln, je mehr auf dem Spiel steht, desto leichter wird es für die Unzufriedenen, unsere Sandburgen zu zertreten. Warum sollte das also nicht möglich sein? Warum sollte so etwas nicht passieren?«

Seine Augen waren gerötet, sein Ton gereizt. »Es ist nur ... sollte nicht funktionieren.«

»Ich wiederhole: Warum nicht? Wozu brauchen Sie Sicherheitsmaßnahmen, wenn es nicht zumindest im Bereich des Möglichen liegt, dass es auch hier Kriminelle gibt.«

»Es gibt Kriminelle«, sagte er, als wollte er sich an dieser Tatsache festhalten. »Wir haben Gefängnisse.«

»Gewiss. Das dort unten ist eine Gesellschaft von Menschen. Ich würde wetten, dass Sie auch jede Menge gewöhnlicher Diebe, Vergewaltiger, Mörder und Soziopathen haben; ich bin in der Tat davon überzeugt, dass Farley da drüben nicht der einzige Pädophile auf Ihrem Planeten ist, auch wenn er zweifellos einer zu viel ist. Aber wie kommt es, dass die Erkenntnis, dass es bei Ihnen noch mehr Verbrecher gibt, Sie so erschüttert? Immerhin gibt es bei Ihnen Tausende, vielleicht sogar Millionen von Menschen, die direkt in die Entwicklung neuer und immer tödlicherer Waffen eingebunden sind, und diejenigen, die zugelassen haben, dass dieser Fahrstuhl überfallen wird, gehören vermutlich auch dazu. Warum halten Sie es für unmöglich, dass irgendein verärgerter Techniker die wie auch immer gearteten Voraussetzungen schafft, um den Bettelhines genau diesen Stich mitten ins Herz zu versetzen? In einer Welt, in der fortschrittliche Waffen eine alltägliche Geschäftsgrundlage darstellen. Warum hat es da nicht schon früher irgendwelche Möchtegern-Eroberer gegeben, die bereit waren, sich an einem Staatsstreich zu versuchen?«

Er sagte nichts, starrte nur seine Hände an. Juje helfe dem Erben der Macht, dessen persönliche Stärke nie ausreichend auf die Probe gestellt wurde; an dem Tag, an dem er sich dieser Prüfung stellen muss, könnte sich erweisen, dass seine Knochen aus Sand bestehen. Vielleicht wird er sich wieder erheben, stärker als zuvor. Vielleicht auch nicht.

Ich sah mich unter den anderen Passagieren nach einer sorglosen Miene oder einer entspannten Haltung um, die jene hätte verraten können, für die diese Entwicklung keine Überraschung darstellte. Ich fand nichts. Jason sah blass und erschüttert aus, immer noch entschlossen, eine souveräne, angstfreie Fassade aufrechtzuerhalten, obgleich seine körperlichen Reaktionen nicht minder entschlossen waren, ihn zu verraten. Jelaine wirkte eher wütend, wenn auch nicht weniger verängstigt -eine emotionale Mischung, die in dem unerschütterlichen Beschluss gipfelte, jemandem wehzutun, sobald sie wusste, wer es verdient hatte. Farley Pearlman war an der Bar geblieben und arbeitete an seinem sechsten oder siebten Drink, stierte dabei in sein Glas, als neide er dem Schnaps die Fähigkeit, sich seiner Form zu fügen. Dina Pearlman blickte mir wütend entgegen, doch war ihr Blick von einer zornigen Konzentration geprägt, die in meinen Augen ein klares Zeugnis darüber ablegte, dass sie innerlich genauso wie alle anderen angestrengt darum kämpfte, herauszufinden, was hier los war. Dejah war genauso wütend. Monday Brown sah krank aus. Schweiß troff von seiner Stirn, als forderte jeder einzelne Moment, in dem die Bettelhines in dieser Lage verharren mussten, zusätzliche Anstrengungen von ihm, nur um seinen Bossen gerecht zu werden. Vernon Wethers sah noch schlimmer aus. Die vier Stewards Mendez, Colette Wilson, Paakth-Doy und Loyal Jeck gaben alle ein Bild von Menschen ab, die soeben einige kräftige Schläge auf den Rücken in Empfang hatten nehmen müssen, obwohl sich Doy und Colette, jede auf ihre ganz unterschiedliche Weise, an einem Lächeln versuchten, als ich sie anschaute. Skye umkreiste uns wie ein Hirtenhund. Ihre Augen waren ständig in Bewegung, während sie nach einem Hinweis suchte, den ich vielleicht übersehen hatte. Oscin widmete sich weiter der Aufgabe, die ihn schon einige lange Minuten beschäftigte: Er untersuchte den Khaajiir aus jedem denkbaren Blickwinkel. Niemand schien bereit zu sein, vorzutreten und sich selbst als verantwortlichen Entführer vorzustellen.

Stattdessen meldete sich Philip wieder zu Wort. »Wir ... wir wissen immer noch nicht mit Sicherheit, dass das keine schlichte Fehlfunktion ist.«

»Bitte«, flehte Dejah. »Vergessen Sie uns andere. Nennen Sie mir nur einen Grund, warum die Stanley auf Abstand zu uns geht, statt zu tun, was immer in ihrer Macht steht, um Jason, Jelaine und Sie zu retten. Nur einen Grund.«

»Es ist einfach nicht möglich«, sagte er erneut. Das war das Gefüge seines Universums.

Neben ihm waren Jason und Jelaine diejenigen, bei denen die Wahrscheinlichkeit, dass sie nützliche Informationen hatten, am größten war. Ich studierte sie für einen Moment, stellte fest, dass beide bereit waren, Augenkontakt zu mir herzustellen, beide in dem belastenden Bewusstsein, dass sie wichtige Informationen zurückhielten, beide begierig, sie mir zu liefern, aber unsicher, ob sie es tun sollten oder nicht. Ich sah Abbitte in ihren Augen, sogar ein tapferes, halbes Lächeln auf Jelaines Lippen. Aber sie sagten nichts, beide, nicht vor all diesen anderen.

Schön. Also war es wohl an der Zeit, die Sache anders anzugehen. Ich wandte mich von Philip ab, machte mir jedoch nicht die Mühe, die Empörung, die ich ihm und seinem Leugnen entgegenbrachte, zu verbergen, und widmete mich der Gruppe im Ganzen. »Wenn irgendjemand von Ihnen etwas weiß, irgendetwas, das ein wenig Licht auf das Geschehen werfen könnte, sollte er wissen, dass ich das früher oder später herausfinden werde, ob die Person sich nun meldet oder weiterhin in der Hoffnung schweigt, ich würde einfach aufgeben. Das wird nicht passieren. Ich verdiene mir auf diese Weise meinen Lebensunterhalt, und obwohl ich verdammt gut in meinem Job bin, schätze ich es nicht besonders, wenn man mir die Arbeit unnötig schwer macht. Vertrauen Sie mir - Sie wollen mich nicht verärgern.«

Im Salon war es so still, dass nicht einmal unser Atem von den Umgebungsgeräuschen geschluckt wurde.

Jason schien bereit zu sein. Jelaine wirkte sogar noch eifriger. Aber da war auch noch etwas anderes, etwas, das mir beinahe genauso viele Sorgen bereitete wie die Frage, was unser oder unsere Täter als Nächstes vorhatten.

Traurigkeit.

Was immer ihr abwesender Vater Hans mir zu sagen hatte, keinem von beiden schien der Gedanke zu behagen, dies seien nun die Zeit und der Ort dafür.

Ich schnappte mir einen der beiden nach dem Zufallsprinzip, und die Wahl fiel auf Jason, der ein wenig in sich zusammensackte, als ich auf ihn zukam, weniger aus Furcht denn aus Resignation, und die Traurigkeit, die ich in seinen Augen gesehen hatte, breitete sich über sein Gesicht aus.

»Sie haben mir gesagt, dass Sie Freundschaft wollen«, sagte ich.

Er brachte tatsächlich ein Lächeln zustande. »Ja.«

»Vergeben Sie mir die Worte, aber ich möchte das im Moment nicht.«

Sein Lächeln hielt stand. »Es tut mir leid, das zu hören, Counselor.«

»Da Sie mich von so weit hergeholt haben, wissen Sie auch über mich Bescheid, auch über meine Bereitschaft, das Leben der Leute zu zerstören, die meine Ermittlungsarbeit behindern. Glauben Sie mir, wenn ich Ihnen hier und jetzt sage, dass ich bereits mehr herausgefunden habe, als Sie mich in diesem Raum vor all diesen Leuten sagen hören wollen? Dass ich diese heikle Erkenntnis binnen der wenigen Sekunden, seit wir beide dieses Gespräch begonnen haben, bestätigen konnte? Und dass ich absolut kein Problem damit habe, hier in diesem Raum laut zu verbreiten, was ich weiß?«

Hätte ich gehofft, er würde zusammenbrechen, so wäre ich zu tiefer Enttäuschung verdammt gewesen. Wenn überhaupt, dann wirkte er eher noch souveräner, vermutlich, weil ich die Bloßstellung in Form einer Drohung formuliert hatte, nicht in Form von etwas Unausweichlichem. Er musterte seinen Bruder, der in Erwartung des Geheimnisses, das nun zwischen uns in der Luft hing, förmlich erstarrt war, und lächelte. »Nicht zu fassen, aber Sie haben mich ins Stolpern gebracht. Das muss ich Ihnen lassen, Counselor. Sie sind ...«

»Bitte. Ersparen Sie mir die Komplimente darüber, wie bemerkenswert ich doch bin. Davon habe ich heute Abend mehr als genug gehört, und ich bin es verdammt leid. Ich will nur Antworten. Irgendwelche Antworten. Ich fange auch mit einer ganz kleinen Frage an. Wie funktioniert der Stab des Khaajiir?«

Wenigstens darauf reagierte er überrascht. »Sein Stab?«

Ich hakte meine Beobachtungen in einem hämmernden Stakkato ab, das mir kaum Gelegenheit zum Atemholen ließ. »Erstens: Wie ich Mr Pescziuwicz schon erzählt habe, sind die Bocai nie besonders für ihre Begabung beim Erlernen von Sprachen jenseits der Sprache, die sie zuerst erworben haben, bekannt gewesen. Zweitens: Tatsächlich sind sie sogar ausgesprochen schlecht darin. Drittens: Trotzdem verdankt der Khaajiir einen Teil seines Rufes dem Umstand, dass er als Gelehrter die Vergangenheit anderer Spezies erforscht hat, ein Bestreben, das in erheblichem Umfang das Studium primärer Quellen erfordern dürfte. Viertens: Er hat sogar seine Vorliebe für multilinguale Wortspiele demonstriert, darunter etliche, für die eine profunde Kenntnis nicht mehr gebräuchlicher Sprachen notwendig ist. Fünftens: Obwohl er so geschwätzig war, hat der Khaajiir während des Essens, als seine Hände damit beschäftigt waren, seine Speisen einzunehmen, weshalb er seinen Stab nicht ständig umfassen konnte, kaum ein Wort verloren. Sechstens: Als er etwas sagen wollte, hat er zuerst nach seinem Stab gegriffen. Siebtens: Als der Stab zu Boden fiel, bat er auf Bocai um Hilfe. Achtens: Man sagte mir, ich hätte heute irgendwann Bocai gesprochen - ein Ausrutscher, der durchaus erklärbar ist, bedenkt man, dass ich mit dieser Sprache aufgewachsen bin, und dennoch einer, der die Frage aufwirft, warum ich mich in einer Sprache geäußert haben sollte, die ich seit meiner Kindheit nicht gesprochen habe. Neuntens: Alles andere habe ich heute in Gegenwart von Leuten gesagt, die keine Probleme hatten, meine Worte zu verstehen. Zehntens: Der Khaajiir hat direkt mit mir gesprochen, als ich mir seinen Stab angesehen habe, und ich habe ihm geantwortet. Schlussfolgerung: Während dieser wenigen Sekunden hat der Stab mir denselben Dienst erwiesen wie ihm. Er hat für mich übersetzt. Logische Folge Nummer eins: Da er Daten speichert, könnte er auch Informationen über seine wissenschaftlichen Aktivitäten und seine Reise nach Xana enthalten, Informationen, die sich als besonders wertvoll erweisen könnten, wenn es darum geht, herauszufinden, warum ein Attentäter seiner oder einer anderen Spezies ihn töten wollte. Logische Folge Nummer zwei: Da Jelaines Handlungsweise nach dem Notstopp aufzeigt, dass Sie beide Kenntnis von seinen Möglichkeiten haben, können Sie ebenso gut die Gelegenheit wahrnehmen, mir alles zu erzählen, was ich über seine Handhabung wissen muss oder nach welchen Daten ich suchen sollte. Später habe ich noch dringlichere Fragen an Sie, aber das wäre immerhin ein guter Anfang.«

Für einen Moment herrschte fassungsloses Schweigen. Dejah schürzte die Lippen noch ein bisschen mehr. Jelaine nippte an einem Drink, der möglicherweise gar nicht ihr gehörte. Philip schien wieder aufgewacht zu sein; er saß nun aufrechter, und sein Blick huschte von seinem Bruder zu seiner Schwester auf der Suche nach der feinsinnigen Schlussfolgerung, die ich angedeutet hatte und von der er sich wünschen musste, er würde sie kennen.

Jason zeigte sich keineswegs geschlagen, er wirkte nur noch trauriger, als wäre meine Zurückweisung seiner Freundschaft für ihn die schmerzlichste Erfahrung des ganzen Tages. Er sprach sanft, beinahe so, als wollte er ein widerspenstiges Kind beschwichtigen. »Die Übersetzung läuft automatisch, sobald jemand den Stab an dem Friktionsstreifen umfasst. Zum Öffnen der Dateien des Khaajiir wird ein Berechtigungscode auf Bocai benötigt: ›Decch-taanil blaach nil Al-Vaafir‹. Diese Worte einmal mit klarer Stimme auszusprechen reicht, dass die Software sie später auch dann erkennt, wenn sie im Kopf gesprochen werden. Damit haben Sie dann ständigen Zugriff auf die Dateien.«

Die Übersetzung der Worte in Merkantil, die dem Original am nächsten kam, lautete: Urteil Verweigert Die Himmlischen Väter, eine sonderbare Wortkombination, bedachte ich, dass ich noch nie von irgendeiner Bocai-Sekte gehört hatte, die einen orthodoxen Schöpfungsmythos lehrte. Aber das war nicht von Bedeutung; ein Code war umso schwerer zu knacken, wenn er aus zufällig zusammengestellten Teilen bestand, und der Khaajiir hätte auf einen Code, den ich zum Schutz meiner persönlichen Dateien im Laufe eines hässlichen Streitfalls über speziesübergreifende Gerichtsbarkeit benutzt hatte, nicht minder verblüfft reagiert: Erbarmen dem fetten Tchi mit meiner Faust tief im Arsch. Ich wandte mich an die Porrinyards. »Hast du das mitgekriegt?«

»Decch-taanil«, fing Oscin an.

»Blaach nil Al- Vaafir«, setzte Skye fort.

»Großartig. Entscheide dich, wer von euch hierbleibt und wer sich zurückzieht, um allein daran zu arbeiten.«

Sie nickten. Ohne Diskussion blieb Skye, wo sie war, während Oscin mit dem blutigen Stab des Khaajiir die Treppe hinunterging.

Ich bemühte mich, meine Befriedigung nicht durch meinen Gesichtsausdruck zu verraten. Es war sinnvoll, die Durchsicht der Daten den Porrinyards zu überlassen; ihre Datenaufnahmegeschwindigkeit übertraf meine in einem solchen Maß, dass ich Stunden gewinnen konnte, in denen ich anderenfalls falschen Spuren nachgejagt wäre. Trotzdem war es nicht nötig, sie mehr als notwendig zu beschäftigen, also wandte ich mich wieder an Jason. »Gibt es irgendetwas, auf das wir uns besonders konzentrieren sollten?«

»Ja«, sagte Jason, dessen Ton nun eindeutig optimistisch klang, als könnte er nur noch Glück empfinden, nun, da die Mühe, Geheimnisse zu wahren, der Vergangenheit angehörte. »Auf die Schriften des Khaajiir bezüglich der Erleuchtung der K'cenhowten, die er als Teil seiner Theorie zu den historischen Impulsen abgefasst hat. Auf ein vor etwa drei Generationen gescheitertes und vorzeitig abgebrochenes Bettelhine-Projekt namens Mjölnir, ein Verweis auf den Hammer des altirdischen nordischen Gottes Thor. Auf die Schriften und das schlussendliche Schicksal einer Lillian Jane Bettelhine, meiner inzwischen verstorbenen Tante väterlicherseits. Das sind alles Dinge, die ihre Freunde zweifellos in wenigen Stunden aufdecken werden; genauso gut können Sie gleich nach diesen Punkten suchen und sich wieder an mich wenden, wenn Sie fertig sind und weitere Fragen haben. Oder Sie können mich einfach beiseite nehmen und direkt fragen. Ich werde Ihre Zeit nicht länger verschwenden.«

»Zu spät. Außerdem werde ich so oder so bald weitere Fragen an Sie haben.« Einmal tief durchatmen. »Im Augenblick wäre ich gern ein paar Minuten allein mit Ihrem Bruder.«

Philip regte sich und machte Anstalten, aufzustehen.

Vernon Wethers reckte eine Hand hoch. »Ähm ... ich erhebe Einspruch.«

Das waren die ersten Worte, die er seit einer ganzen Weile von sich gegeben hatte. Seine sanfte, zögerliche Stimme, für sich schon eine klare Entschuldigung, erschreckte auf eine Weise, auf die es ein zornigerer Zwischenruf vermutlich nicht getan hätte.

»Wir sind hier nicht vor Gericht, Mr Wethers«, sagte ich.

Seine Lippen bewegten sich ein oder zwei Herzschläge lang, ehe Worte erklangen. »Nein, aber es ist dennoch meine Pflicht, Philip Bettelhines Interessen zu wahren, und ich nehme meine Aufgabe ernst. Ich muss darauf bestehen, bei jeder Konsultation zugegen zu sein.«

Das gefiel mir: Konsultation anstelle von Befragung. Selbst seine Wortwahl wischte jede Andeutung von Schuld augenblicklich fort.

Was mir nicht gefiel, war Wethers. Der Mann war ein Schatten, nicht nur im Hinblick auf seine ständige Nähe zu seinem Arbeitgeber, sondern auch im Hinblick auf seine Persönlichkeit. Ich konnte an ihm keine eigene Struktur erkennen, keine emotionale Tiefe, die über die Prägung durch den Mann, dem er diente, hinausgegangen wäre. Es wäre gefährlich zu glauben, dass ich, wenn ich mit Philip fertig würde, auch automatisch mit ihm fertig würde. Fanatiker haben stets eigene Geschossbahnen. Aber nun, da er sich geäußert hatte ... »Also schön. Ihnen muss bewusst sein, dass einige meiner Fragen persönlicher und möglicherweise beschämender Natur sein werden. Sie könnten den Eindruck bekommen, dass Sie in Mr Bettelhines emotionale Privatsphäre eindringen.«

Wethers tupfte sich die Mundwinkel mit einer Serviette ab, stand auf, strich sein Jackett glatt, sodass es nach und nach wieder der unpersönlichen Perfektion gerecht wurde, die er dem Bettelhine-Imperium schuldig war. »Das ist kein Problem. Mr Bettelhine weiß, dass es, wann immer sein Privatleben betroffen ist, nie meine Funktion war, Meinungsbildung zu betreiben ...«

 

Philip Bettelhine saß auf der Kante des Sofas im vorderen Raum der Suite, die Unterarme auf die Oberschenkel gelegt, sodass seine Hände wie tote Fische über die Knie baumelten. Seine Augen wichen den meinen aus, begegneten meinem Blick gerade lange genug, um zu verdeutlichen, dass jeder Moment dieses Geschehens für künftige Ressentiments katalogisiert würde. Sein Geschöpf Wethers stand dort, wo eigentlich das Panoramafenster den Blick nach draußen gewähren sollte. Er hatte die Arme vor der Brust verschränkt, und der Blick seiner farblosen Augen ruhte mit einer Konzentration auf seinem Arbeitgeber, die darauf hindeutete, dass er schon seit Jahren ganze Bände aus den mikrofeinen Veränderungen in Philips Mimik herauslas. Solch eine ständige Taxierung hätte ich als ebenso abstoßend wie unheimlich empfunden, aber Philip schien es gewohnt zu sein und den Blick seines Vasallen als dessen gutes Recht anzusehen, so wie er meinen Blick als dreisten Eingriff in seine Privatsphäre ansah.

Paakth-Doy, die sich in seiner Gegenwart offenbar nicht wohlfühlte, saß ein Stück von uns entfernt und war stets bemüht, keinen Augenkontakt herzustellen.

»Mr Bettelhine«, sagte ich. »Sie mögen mich nicht besonders, richtig?«

Er sah müde aus. Schon diese Frage schien ihn an die Grenzen seiner Geduld zu treiben. »Nach allem, was ich in Erfahrung bringen konnte, gibt es nicht so viele Leute, die Sie mögen.«

»Ihr Bruder und ihre Schwester scheinen es zu tun.«

»Geht es in dieser Diskussion darum? Um kindische Aufrechnungen, wer wen mag? Bitte. Ich weiß, dass ich vollends zufrieden damit bin, Sie nicht zu mögen. Ich weiß, dass Sie damit zufrieden sind, mich nicht zu mögen, und ich glaube, Sie und ich haben dringendere Dinge zu besprechen.«

Er wusste es nicht, aber ich ertappte mich dabei, ihm nach dieser kleinen Ansprache mehr Respekt entgegenzubringen als je zuvor seit unserer ersten Begegnung. Ehrliche Abneigung ist stets wie ein frischer Lufthauch. »Sie wissen nicht, warum sie mich eingeladen haben?«

»Sie haben Sie nicht eingeladen. Mein Vater hat Sie eingeladen. Aber, nein, ich weiß es nicht.«

»Meine Anwesenheit stört Sie.«

»Mich stört, dass Sie hier herumstolzieren, als würde der Planet Ihnen gehören, vor allem weil ich einer der Mistkerle bin, denen der Planet gehört. Ihre Anwesenheit als solche kümmert mich in keiner Weise.«

»Was halten Sie davon, dass ich ein Ehrengast Ihres Vaters bin?«

Sein Ton klang plötzlich matt. »Es verblüfft mich.«

»Das Gleiche gilt vermutlich für seine enge Beziehung zu dem Khaajiir.«

»Selbstverständlich.«

»Worum es dabei ging, wissen Sie auch nicht?«

»Wenn mein Vater wollte, dass ich es wüsste, hätte mein Vater es mir erzählt.«

»Haben Sie ihn danach gefragt?«

»Er hat mich wissen lassen, dass er diese Angelegenheit als Geheimsache betrachtet.«

»Ist das typisch für die Beziehung zwischen Ihnen und Ihrem Vater?«

Philip rieb sich die Augen, einerseits, so denke ich, um weiter meinem Blick auszuweichen, andererseits, um etwas gegen die Anspannung zu tun, die er ob der Katastrophen des Abends empfunden haben mag. »Mein Vater und ich haben mehr als nur irgendeine Beziehung, Counselor. Als Vater eines respektierten und wohlerzogenen Sohnes war er mir oft sehr nahe. Als Firmenchef und Weisungsberechtigter gegenüber einem seiner leitenden Angestellten war er bisweilen verpflichtet, den Informationsfluss auf den Personenkreis zu beschränken, der die Informationen benötigte. Ich kann das verstehen. Und es ist nicht untypisch.«

»Und doch«, sagte ich und beugte mich näher an ihn heran, »sollten Sie - als eine eigenständige versierte Führungskraft, eine, die häufig als der mutmaßliche Nachfolger Ihres Vaters gehandelt wird, die zumindest hoffen musste, während des Aufstiegs innerhalb des Familienunternehmens immer mehr und mehr Verantwortung übernehmen zu können - doch auch davon ausgehen, dass Sie im Laufe der Jahre, während der Tag der Nachfolge immer näher rückt, auch immer mehr geheime Materialien zu sehen bekommen.«

»Ja, das wäre folgerichtig.«

»Also müsste die Bedeutung der wenigen Geheimsachen, die Ihnen noch vorenthalten werden, im Lauf der Zeit ebenfalls zunehmen?«

»Ja.«

»Zu diesen Geheimnissen zählen momentan die Gründe für meinen Besuch oder den von Dejah Shapiro oder für den langen Aufenthalt des Khaajiir oder die Einbindung Ihrer Geschwister Jason und Jelaine?«

»Ja.«

Ich entschuldigte mich, ging ins Badezimmer, zapfte mir ein Glas Wasser und leerte es vollständig, ehe ich zurückging. Als ich zurück war, saß er noch genau da, wo ich ihn verlassen hatte. Weder seine Haltung noch die von Vernon Wethers hatte sich auch nur um einen Millimeter verändert. Es war unmöglich, nicht darüber nachzudenken, wie eng diese beiden Männer miteinander verbunden waren und wie viele Missetaten sie gemeinsam in Räumen, so luxuriös wie dieser, ersonnen hatten.

Ich lächelte ihm zu. Wie meist war auch dieses Lächeln nicht dazu gedacht, als angenehm empfunden zu werden. »Jason ist vor einigen Jahren verschwunden.«

»Das ist allgemein bekannt«, sagte Philip.

»Er kehrte nach vorgeblich scheußlichen Erfahrungen auf einer verfallenden Radwelt namens Deriflys zurück und wurde liebevoll in den Schoß der Familie aufgenommen. Wie ist es Ihnen dabei ergangen?«

Die Frage überraschte ihn nicht, dennoch stieg Röte in seine Wangen, und seine Augen feuerten auf mich die glühende Hitze seines Grolls ab. »Wie, denken Sie, soll es mir dabei ergangen sein? Er ist mein Bruder. Ich war älter und hatte eine andere Mutter, also habe ich während seiner Kindheit nicht so viel Zeit mit ihm verbracht wie Jelaine und einige der anderen Kinder, die eher in seinem Alter waren, aber er war mir trotzdem wichtig. Niemand war glücklicher als ich, als es Jelaine gelungen war, ihn wieder aufzurichten und er endlich imstande war, seinem Leben einen Sinn zu geben.«

»Es hat Ihnen nichts ausgemacht, dass er so herzlich aufgenommen wurde, obwohl Sie selbst sich die ganze Zeit als loyaler, verlässlicher Sohn gezeigt haben?«

Mehr Zorn. »Vielleicht hätte es das, wäre ich ein selbstsüchtiges Balg gewesen und hätte meinen Platz in der Familie nicht gekannt.«

»Und, waren Sie?«

»Was, ein selbstsüchtiges Balg oder mir nicht klar über meinen Platz in der Familie? Ersteres passiert mir manchmal. Das ist ein Berufsrisiko, wenn man reich ist. Zweiteres nie.«

»Sie waren nie eifersüchtig?«

Er verdrehte die Augen, warf dem teilnahmslosen Wethers einen Blick zu, der besagte: Ist das zu glauben, was die Schlampe da von sich gibt?, und wandte sich wieder mir zu. »Da haben wir es ja. Das übelste Klischee, das je über reiche Familien verbreitet wurde. Die Geschwister sind stets korrupte Karikaturen, die sich gegenseitig im Rennen um die Gunst der Familie abschießen. Die Eltern sind grundsätzlich heimtückische, dominante alte Langweiler, die ein stetes Sperrfeuer aus bösartigen Bemerkungen abfeuern, während sie drohen, die Unfähigen unter ihren Nachkommen zu verstoßen. Ist das die Vorstellung, die Sie von uns haben, Counselor?« Er schnaubte verächtlich. »Leider ist Ihre vorgefasste Meinung auf uns nicht anwendbar. Die Bettelhines haben diesen Vorurteilen nie entsprochen. Was immer Sie darüber denken mögen, wie unsere Familie mit anderen Leuten umgeht, wir haben immer für die unseren gesorgt.«

»Also keine Rivalität unter Geschwistern?«

»Keine? Bitte. Wir sind auch nur Menschen. Nur keine von der Sorte, die Sie postulieren.«

»Nicht einmal, als Sie Jelaine verloren haben?«

Er stierte mich finster an. »Ich habe Jelaine nicht verloren.«

»Einverstanden«, sagte ich. »Aber Jason und Jelaine scheinen eine Einheit zu bilden, die alle anderen ausschließt, nicht nur aus dem, was immer sie mit ihrem Vater und dem Khaajiir zu tun haben, und nicht nur aus den Geschäftsbereichen, die sie Ihnen haben abringen können, sondern auch von jeglicher emotionellen Bindung an sie als Ihre Geschwister. Sie scheinen keine Abneigung gegen Sie zu empfinden. Sie scheinen nur keinen Bedarf an Ihrer Gegenwart zu haben. Wollen Sie mir erzählen, das würde Ihnen auch nichts ausmachen?«

Ich rechnete schon fast damit, dass er das auch abstreiten würde, und für einen Moment schien er auch geneigt zu sein, es zu tun, doch dann sah er sich erneut zu Wethers um und atmete lange den tiefen Zug angehaltener Luft aus. »Nein, das werde ich nicht behaupten. Das nehme ich ihnen höllisch übel. Sind Sie jetzt zufrieden?«

»Wie ist es dazu gekommen, Mr Bettelhine?«

Er war wieder wütend, dieses Mal aber nicht auf mich. »Ich weiß wirklich nicht, was Sie das verdammt noch mal angeht, Counselor, und wir werden uns noch unterhalten müssen, um sicherzustellen, dass Sie meine Informationen nicht aus diesem Raum hinaustragen, aber als Jason von jenem Ort zurückgekehrt war, war er nicht ganz in Ordnung. Sicher, er hat die Dinge gesagt, die von ihm erwartet wurden, und es sogar geschafft, die passenden Damen zu bezirzen, als unsere Eltern einen Wochenendball zu seinen Ehren veranstaltet haben, aber er hat nie wieder eine richtige Bindung zu uns oder zu dem Leben hergestellt, das er weggeworfen hatte. Er hat nur geschauspielert und uns gegeben, was wir seiner Ansicht nach von ihm wollten. Und obwohl er dabei meistens gottverdammt überzeugend war, konnten wir uns nicht in seiner Gegenwart aufhalten, ohne irgendwann den Ausdruck in seinen Augen zu bemerken, der immer dann auftauchte, wenn er dachte, niemand von uns sähe hin. Ich weiß immer noch nicht genau, was während jener Jahre mit ihm passiert ist - das ist eines von vielen Dingen, die er nicht mit mir hat teilen wollen -, aber ich kann Ihnen sagen, wir alle wussten, dass es noch immer passierte. Ich dachte, die Familie würde ihn erneut verlieren, auf die eine oder andere Art.«

»Und dann?«

»Einen Tag nach dem Ball, von dem ich Ihnen erzählt habe und der bestenfalls als abgewendete Katastrophe bezeichnet werden kann, hat Jelaine mir erzählt, sie sei mit Vater übereingekommen, dass sie Jason auf eine ausgedehnte Außerweltreise mitnehmen würde. Sie sagte, es gäbe Dinge, mit denen Jason sich befassen müsse, Dinge, die von seiner Zeit in der Fremde übrig geblieben seien. Sie sagte, sie würde dafür sorgen, dass er eine Chance dazu bekäme. Nun, was mich betrifft, so habe ich die Vorstellung gehasst, denn als er Xana zum ersten Mal verlassen hat, hat sich das zu einer Katastrophe für ihn entwickelt, aber Jelaine schien sich ihrer Sache sicher zu sein, und sie hatte bereits Vaters Einverständnis, also würde es auch so geschehen.«

»Haben Sie Ihren Vater gefragt, warum er zugestimmt hat?«

»Er hat mir erklärt, er wolle seinen Sohn zurückhaben.«

»Und Sie?«

»Ich wollte meinen Bruder zurückhaben.«

»Aber Sie waren trotzdem dagegen.«

»Ich hielt Jason für eine Gefahr«, sagte Philip. »Ich hatte zugesehen, wie er, ein Lieblingssohn, ausgeflogen ist und sich einem Schrecken ausgeliefert hat, den wir anderen uns nicht einmal vorstellen konnten. Ich sah ihn als einen Schatten seiner selbst zurückkehren, der weder zu uns noch zu irgendetwas um ihn herum eine echte Verbindung herstellen konnte. Und nun sah ich, wie er auch Jelaine mit hineinzog. Verstehen Sie das nicht? Ich fürchtete, sie auch noch zu verlieren!«

»Wie sind Sie damit umgegangen?«

»Da ich sie nicht von der Reise abhalten konnte, habe ich angeboten, meine Arbeit liegen zu lassen und mitzugehen. Ich habe behauptet, es ginge mir darum, Jason zu unterstützen. Andererseits habe ich nicht geglaubt, dass es irgendetwas gab, das Jason hätte helfen können. Ich war mehr daran interessiert, als Stimme der Vernunft zwischen ihn und Jelaine treten zu können. Aber Jelaine hat abgelehnt. Sie hat gesagt, sie wisse, was sie tut. Sie hat gesagt, ich solle ihr vertrauen. Und so habe ich getan, was ein Bruder zu tun hat. Ich habe sie gehen lassen und das Beste gehofft.«

»Und das ist ... ›das Beste‹ ... was Sie bekommen haben?«

Er ballte krampfhaft die Fäuste, öffnete sie dann und massierte abwechselnd eine Hand mit der anderen, als wolle er sie unbewusst waschen. »Als sie zurückgekommen sind, war Jason ein neuer Mann, in sich ruhend, selbstsicher und zufrieden in einer Weise, wie er es nie vorher gewesen war. Jelaine hatte sich auch verändert. Sie war immer ein wundervolles Mädchen auf dem Weg zu einer bemerkenswerten Frau gewesen, aber nun war sie ... anders lässt sich das nicht ausdrücken ... zu einer Dame gereift. Wirklich königlich.«

»Und warum hat Sie das nicht glücklich gemacht?«

»Sie waren mir gegenüber distanzierter. Sie haben mit mir gesprochen und mich gefragt, wie es mir ergangen sei, sie haben mir sogar zu meiner Hochzeit und zu der Geburt meiner Tochter gratuliert. Sie waren nicht unfreundlich. Aber irgendwie war ihre Beziehung zu mir keine Beziehung mehr, die sie sich wünschten, sondern eine, zu der sie sich verpflichtet fühlten.«

»Sie lieben Sie nicht mehr.«

»Ich weiß nicht, ob sie mich lieben oder nicht. Das ist das Schlimmste daran. Aber falls sie es tun, dann nur, weil ich ihr Bruder bin und sie mich lieben müssen. Davon abgesehen haben sie angefangen, mich wie ein Hindernis zu behandeln, mit dem sie umgehen müssen. Wie ein Teil des Problems.«

»Teil welchen Problems?«

»Ich weiß es nicht! Teil irgendeines verdammten Problems, das sie anscheinend haben! Entschuldigen Sie mich.«

Nun war er es, der das Badezimmer aufsuchte. Er schloss die Tür, ließ das Wasser laufen, kehrte mit einem frischen, aber nur halb vollen Glas zurück. Er trank nur in winzigen, kontrollierten, aber spürbar aufgebrachten Schlucken. Er weinte nicht - ich weiß nicht, ob er dazu überhaupt fähig war -, aber seine Augen waren glasig, und seine Hände zitterten. Der Mann war ein Industriekapitän, eines der reichsten menschlichen Wesen im ganzen Universum und kraft des Unternehmens, dem er diente, möglicherweise auch ein soziopathisches Monstrum, aber in diesem Moment war er nur ein Junge, der wütend war, weil seine Geschwister ihn aus ihrem Geheimclub ausgeschlossen hatten.

Ich ließ ihm Zeit, sich zu sammeln, und taxierte derweil seinen Schatten, Mr Wethers. Der Mann blieb ehern - kein Deut der Sorge oder des Mitgefühls zeigte sich in seinen nichtssagenden, unternehmensgebundenen Zügen. Offenes Mitleid mit dem Boss dürfte natürlich ein recht guter Weg sein, gefeuert zu werden, und das wäre gewiss keine gute Idee, wenn besagtem Boss der Planet gehört, auf dem man lebt. Aber die Fähigkeit dieses Mannes, jegliches Mitgefühl, das er empfinden mochte, zu verbergen, war extrem - und besser als seine Fähigkeit, die eigene Befangenheit zu verbergen, denn er errötete und wandte voller Unbehagen den Blick ab, kaum dass er sah, dass ich ihn beobachtete. Ich erinnerte mich, dass er gegenüber Skye, Jelaine und Dejah weitgehend genauso reagiert hatte. Er hatte zweifellos Probleme damit, die zwanglose Aufmerksamkeit seitens einer Frau auszuhalten. Ich fragte mich, wer ihn wohl in der Vergangenheit verletzt haben mochte und wie tief die Wunden waren.

»Gibt es sonst noch etwas?«, fragte Philip.

Ich entließ Mr Wethers zumindest teilweise aus der unwillkommenen Hitze meines Blicks und widmete mein Interesse wieder seinem Herrn und Meister. »Mr Bettelhine, welche Aufgaben erfüllen Sie in dem Konzern?«

»Ich leite ungefähr zweihundert fortlaufende Forschungs- und Entwicklungsprojekte im Auftrag meines Vaters, dem Konzernleiter.«

»Sie entwickeln Waffen.«

»Ich erforsche neue Technologien.«

»Welche«, bemerkte ich, »Sie überwiegend zur Entwicklung von Waffen benutzen.«

»In anderen Abteilungen. Ich bin mehr daran interessiert, die Regionen ungerichteten Potenzials abzustecken. Auf Unternehmensebene ist klar, dass annähernd siebzig Prozent der von mir geleiteten Projekte sich jederzeit als Sackgassen herausstellen können. Die verbleibenden dreißig Prozent allein rechtfertigen mein Budget.«

»Dennoch hat die praktische Anwendung Ihrer Forschungsergebenisse das Potenzial, Menschen in großer Zahl zu töten.«

Dieser Unterhaltung müde, verdrehte er die Augen. »Counselor, glauben Sie ernsthaft, dass ich diese Debatte nicht schon längst mit mir selbst geführt habe? Ich trage meinen Teil zu einer Industrie bei, die Leuten die Möglichkeit gibt, ihr eigenes Schicksal zu bestimmen. Wie sie diese Macht einsetzen, ist ihre Sache. Was hat das mit der Situation zu tun, in der wir uns derzeit befinden?«

Da hatte er recht. Ich hätte die moralischen Fragen, die das Familienunternehmen der Bettelhines aufwarf, bis in alle Ewigkeit mit ihm diskutieren können, ohne dass wir je zu einem Schluss gekommen wären, der ihn oder mich hätte zufriedenstellen können. »Mir ist bekannt, dass eine Anzahl Ihrer Abteilungen geschlossen oder an Jason und Jelaine übergeben wurde, und das ist extrem ungewöhnlich, bedenkt man Ihre langjährige Tätigkeit für das Unternehmen und Jasons ungewisse persönliche Geschichte. Ich bin überzeugt, Sie sind an Ihren Vater herangetreten und haben ihn gefragt, warum das geschehen ist. Hat er Ihnen eine Antwort gegeben, die in Ihren Augen Sinn ergab?«

Seine Antwort war eisig. »Er hat nur gesagt, der Konzern müsse sich wegen veränderter Bedingungen neu ausrichten, und man würde mir alles zu gegebener Zeit erklären.«

»Sie haben auch gesagt, dass Sie zu Ihrem Vater mehr als nur eine Beziehung haben, nämlich die als Sohn und die als leitender Angestellter des Unternehmens. Was Sie gerade gesagt haben, klingt nach der Antwort für den leitenden Angestellten. Verzeihen Sie die Frage, mir ist bewusst, dass das schmerzhaft sein muss, aber hat er Ihnen auch eine Antwort als Vater gegeben?«

»Nein.«

»Nein?«

»Nein. Es ist mehr als ein Jahr her, seit er mir irgendeine Antwort gegeben hat, die ein Vater seinem Sohn geben würde. Ich war seit drei Monaten nicht mehr im selben Raum mit ihm. Darum bin ich hier. Ich habe meinen Zeitplan geändert und auch den meines Mitarbeiters, in der Hoffnung, ich könnte ihn abfangen und vielleicht ein paar Antworten erhalten. Als Vater diesen Ausflug in letzter Minute abgesagt hatte, dachte ich, ich könnte wenigstens ein bisschen Zeit mit Jason und Jelaine verbringen und stattdessen von ihnen ein paar Antworten bekommen. Aber Sie wissen ja selbst, was daraus geworden ist.«

»Haben Sie irgendetwas getan, was Ihren Vater gegen Sie aufgebracht haben könnte?«

»Das habe ich ihn auch gefragt.«

»Und was sagt er?«

Er gab die oberflächliche Antwort ohne jede Betonung wieder. »Dass er mich liebt. Dass er mein Vater und stolz auf mich sei. Dass ich nicht so empfindlich sein möge. Dass ich alles verstehen würde, wenn ich erfahre, was los ist.«

»Das hört sich nach Vater-Sohn-Antworten an.«

»Ja, nicht wahr?«, sagte er in einem Ton, der andeutete, dass er mir meine Worte nicht abnahm.

Ich wusste es nicht. Ich hatte nie die Gelegenheit gehabt, als Erwachsene Umgang mit meinen Eltern zu pflegen. Ich konnte nicht wissen, wie eine normale Beziehung funktionierte oder was es bedeutete, Teil eines Clans wie dem der Bettelhines zu sein, ganz zu schweigen davon, was dergleichen für Hans Bettelhine im Besonderen bedeutete. Philip Bettelhine behauptete, er hätte eine Veränderung erlebt, aber hatte es wirklich eine Veränderung gegeben? Wollte Hans ihn wirklich besänftigen, oder wollte er ihn nur hinhalten oder gar vergraulen? Wie sollte ich das aus der Ferne beurteilen, wenn Philip es nicht konnte, obwohl er alle Beteiligten schon sein Leben lang kannte?

Ich beschloss, das Problem aus einer anderen Richtung anzugehen. »Mr Bettelhine, Sie haben eine Frau und eine Tochter erwähnt. Wie steht es um Ihr Familienleben?«

»Meine Frau Carole hat vor sechs Monaten die Kinder genommen und mich verlassen.«

»Eine Scheidung von einem Bettelhine dürfte auf diesem Planeten recht außergewöhnlich sein.«

»Nicht für einen anderen Bettelhine. Sie ist eine entfernte Cousine aus dem Äußeren Kreis - viele Grade entfernt, das versichere ich Ihnen, aber doch eine Familienangehörige. Hinzu kommt, dass wir nicht geschieden sind, nur getrennt. Keiner von uns will den Kindern die Aufstiegsmöglichkeiten nehmen, die untrennbar mit meiner eigenen übergeordneten Position im Inneren Kreis verbunden sind.«

»Würde es Ihnen etwas ausmachen, mir zu erzählen, warum Ihre Ehe gescheitert ist?«

Nun geriet er in Rage. »Was zum Teufel hat das mit irgendetwas zu tun?«

»Ich weiß es nicht. Das finde ich nur heraus, indem ich frage.«

Philip wand sich noch einen Moment, dann gab er auf. »Emotionale Inkompatibilität.«

»Behauptet wer?«

»Carole hat das behauptet.«

»Hat Sie Ihnen Gründe genannt?«

»Das wollen Sie wissen? Ich habe es mir zur Gewohnheit gemacht, mich durch die Betten zu treiben. Für die Angehörigen des Inneren Kreises ist das furchtbar einfach. Eine Nacht mit einem Bettelhine gilt für die, die nicht der Familie angehören, als eine Art Hauptgewinn. Sex ist in jeder Form, die unsereins bevorzugen mag, stets verfügbar, und man muss kein Nein als Antwort akzeptieren, wenn man mies genug ist, ein paar der Möglichkeiten zu nutzen, die uns offenstehen.«

Na, das war doch mal eine interessante moralische Konstruktion. »Sind Sie es, Sir?«

»Mies genug?« Er verzog das Gesicht, angewidert von sich selbst. »Nein, ich bin nur der ganz alltägliche, ordinäre Mistkerl, der gern Frauen nachstellt. Ich zwinge niemanden zu irgendwas. Ich bekomme nur Angebote und denke: Warum nicht?«

»Ich nehme an, Ihre Frau hatte eine Antwort darauf.«

»Sie ist eine Bettelhine und muss ihren Stolz aufrechterhalten. Sie hat mich dreimal gewarnt, und als ich alle drei Warnungen missachtet habe, hat sie mich verlassen.«

»Sie hören sich an, als wären Sie stolz auf sich.«

»Dumm wie ich war, war ich das tatsächlich. Aber ich bin es nicht mehr. Und was hat das mit irgendetwas von dem zu tun, was heute Abend passiert ist?«

»Ich fasse zusammen: Was Sie mir erzählt haben, ist, dass Sie in den letzten paar Jahren nach eigener Berechnung Ihren Bruder, Ihre Schwester, Ihre Frau, Ihr Leben als Ehemann und Vater, Ihre Beziehung zu Ihrem Vater und einen guten Teil Ihrer Stellung im Familienunternehmen verloren haben.«

»Ja.«

»Wäre es Ihrer Meinung nach unangemessen, wenn ich darauf hinweise, dass manche Leute, die durch eine solche Serie von Nackenschlägen über alle emotionalen Grenzen hinaus unter Druck geraten sind, sich all die Verluste vergegenwärtigen und anfangen würden, sie als das Ergebnis einer Verschwörung gegen die eigene Person zu sehen?«

Für einen Moment schwieg er. Und dann fiel aller Zorn auf einmal von ihm ab und machte einer Ernsthaftigkeit Platz, die nicht annähernd so gut zu ihm passte wie der Ärger. »Ich weiß nicht, was Jason und Jelaine vorhaben. Ich weiß nicht, was der Khaajiir damit zu tun hat. Oder mein Vater. Oder Sie oder diese Shapiro-Hexe. Ich weiß nicht, warum Leute Morde unter Benutzung einer albernen antiken Waffe begehen. Das alles entzieht sich mir vollkommen. Und sollten wir unter Quarantäne gestellt worden sein oder als Geiseln gehalten werden, wie Sie vermuten, dann entziehen sich mir die Gründe dafür noch mehr. Ich verstehe das nicht. Ich verstehe das alles nicht. Ich will nur wissen, warum wir hier festsitzen und ob das für die Familie im Ganzen gut oder schlecht ist. Ich will wenigstens diese Sicherheit. Beantwortet das Ihre letzte Frage abschließend genug?«

Ich will verdammt sein, wenn ich nicht wenigstens ein bisschen Mitleid mit ihm empfand. »Nur noch eine Sache«, sagte ich. »Es geht um etwas, das Sie selbst vor einiger Zeit gesagt haben, etwas, das Sie mir nicht zufriedenstellend erklärt haben. Warum denken Sie, ein Terroranschlag auf Ihre Familie sei unmöglich

In diesem Moment löste sich Vernon Wethers von der Wand und demonstrierte dabei eine effiziente Agilität, die verriet, dass er schon viele, viele frühere Gelegenheiten gehabt hatte, sich zwischen seinem Arbeitgeber und einer unerwünschten Frage aufzubauen. Dieser miese kleine Wurm sagte nicht einmal etwas darüber, dass dieses Thema der Geheimhaltung unterläge oder die Befragung vorbei sei. Er scheuchte lediglich Philip hinaus und zeigte dabei nicht mehr persönliche Anteilnahme, als er sie irgendeinem anderen deplatzierten Hindernis entgegengebracht hätte.

Kaum war Philip sicher auf der anderen Seite der Schwelle, da wirbelte Wethers zu mir herum und streckte mir einen langen, schmalen Finger ins Gesicht. »Seien Sie vorsichtig, Counselor. Ich weiß, Jason und Jelaine und der alte Mann beschützen Sie, aber das hier ist immer noch Xana. Wir wissen, wie wir mit Gästen umzugehen haben, die uns zu nahe treten.«

Ich hatte es noch nie geschätzt, wenn mit dem Finger auf mich gezeigt wird. Binnen eines Augenblicks hatte ich eine Faust um diesen Finger geschlossen, die andere um das dahinterliegende Handgelenk. Es würde nur einen weiteren Augenblick erfordern, ihn schreiend und mit gebrochenen Knochen zurückzulassen, aber ich beschränkte mich darauf, ihm gerade so viel Schmerz zu bereiten, dass ihm dies bewusst wurde. »Was haben Ihre Leute mit Bard Daiken gemacht?«

Der Hauch eines Lächelns, überlegen und höchst ärgerlich und prallvoll mit Wissen, zupfte an seinen Mundwinkeln. »Etwas, das Sie nicht erleben wollen. Etwas, das Philip herbeiführen kann, wenn er nur die passende Anordnung in das richtige Ohr flüstert. Etwas, das mir einen Heidenspaß bereiten und woran ich im Alter stets zurückdenken würde, wenn ich mich an einen der Momente erinnern möchte, die meinem Leben Sinn gegeben haben. Lassen Sie los!«

Ich behielt den schmerzhaften Griff und den bohrenden Augenkontakt noch weitere zehn Sekunden bei, aber das hier war sein Machtbereich, nicht meiner.

Ich ließ los.

Er massierte sich das Handgelenk mit der freien Hand, bedachte mich mit einem verächtlichen Blick und wandte sich der Tür zu.

Das wäre ein netter Abgang für jeden bösen Buben gewesen.

Aber in dem Moment, in dem er den schmalen Gang zwischen dem Hauptraum der Suite und dem großen Salon betrat, ging ihm etwas an die Kehle ...