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MAGRISONS MÄDCHEN

 

Oscin hatte einen achteckigen Chip entdeckt, etwa so groß wie der Fingernagel eines kleinen Fingers und so gut in die Haut integriert, in die er eingebettet war, dass dort, wo die Haut endete und das Metall begann, nicht einmal eine Nahtlinie zu erkennen war. Auch ohne ihn genauer in Augenschein zu nehmen, wusste ich, dass er nur ein paar Moleküle dick sein konnte, dass er sich jedem Versuch, ihn zu entfernen, widersetzen würde, und dass die Tausende winziger Fasern auf seiner subkutanen Seite mit dem Nervensystem des Trägers verbunden sein mussten, mit dem sie eine Art Geflecht bildeten, das in einem brodelnden Endpunkt irgendwo in seiner Gehirnmasse kulminieren musste. Schlimmer aber war das Muster aus erhabenen Punkten in der Mitte, das einen Buchstaben bildete, der in meinen Augen von jeher an zwei Schlangen erinnert hatte, die sich gegenseitig im Ganzen verspeisten. Dieser Buchstabe, der dem schärfsten der drei Konsonanten entsprach, den Merkantil dem M-Laut zuweist, gehörte nicht zum Merkantil-Alphabet, sondern entstammte einem Ort, der lediglich als der Geburtsort eines Zerstörers berühmt war, den seit beinahe dreißig Jahren niemand mehr im zivilisierten Raum gesehen hatte.

Der bloße Anblick brachte das aufgestaute Blut in meinen Ohren zum Pulsieren. Ich ließ den Unterarm los, in dem das verhasste Artefakt ruhte, wandte der zornig blickenden Gestalt, der es gehörte, die Kehrseite zu und widmete mich den drei Bettelhines, die sich derzeit in erbleichtem Schweigen zusammengerottet hatten. »Wussten Sie davon?«

Jason Bettelhine schüttelte den Kopf.

Jelaine war so blass geworden, als hätte sie einen ähnlich schweren Blutverlust erlitten wie der Khaajiir. »Ich schwöre Ihnen, Counselor, ich hatte keine Ahnung.«

Philip sagte nichts. Aber mir fiel auf, dass Monday Brown ein wenig näher an ihn herangerückt war, beinahe wie eine Mutterkatze bei dem Versuch, ein Kitten nach einem großen Sturz zu besänftigen.

Mein Zorn vernebelte mein Blickfeld wie ein roter Vorhang, der alles in blutigrote Farbe taucht. »Sie wussten es, nicht wahr? Nicht wahr?«

Philip Bettelhines Mund war nurmehr ein horizontaler Einschnitt in seinem Gesicht, so fahl wie eine blutleere Wunde. »An Ihrer Stelle würde ich auf meinen Ton achten, Counselor. Sie befinden sich auf unserem Terrain.«

»Zum Teufel mit meinem Ton! Beantworten Sie meine Frage!«

Er verdrehte die Augen. »Ich wusste es. Ebenso wie Vater, falls Sie sich das fragen. Und mein Großvater hat es auch schon gewusst.«

»Und Sie hatten kein Problem damit?«

»Dergleichen hat es in der Geschichte schon oft gegeben. Wann immer ein großer Krieg endet, nimmt der Sieger einige der führenden Köpfe des Gegners gefangen, exekutiert andere, lässt ein paar laufen und rekrutiert die Übrigen im Dienst seiner eigenen Zwecke. Ihr eigenes Dip Corps beschäftigt einige Geheimagenten, die nicht minder abscheulicher Verbrechen schuldig sind als diese arme Frau. Verdammt, sehen Sie doch nur sich selbst an. Sind Sie etwa in der Position, sich über ein System zu beklagen, das Kriegsverbrecher beschäftigt?«

Ich bebte vor Zorn. »Wir beschäftigen keinen von Magrisons Leuten. Wir jagen Magrisons Leute.«

Sein mitleidiger Blick goss Öl in mein Feuer. »Das ist blauäugig, Counselor. Auf den Gehaltslisten Ihrer Konföderation finden sich einige von Magrisons Leuten. Wenn Sie wollen, stelle ich Ihnen eine Liste zur Verfügung.«

Die Trägerin des Chips, Dina Pearlman, begegnete meinem Blick mit einem kalten, trotzigen Ausdruck in den Augen, die nun nicht mehr die geröteten Tränenquellen von vor ein paar Minuten waren, sondern trockene, reptilienhafte Kugeln, frei nicht nur von Furcht, sondern auch von jeglicher menschlicher Wärme. Es war unmöglich, diesen Anblick und die ihm innewohnende gefährliche Intelligenz mit der geistlosen, flatterigen Idiotin in Einklang zu bringen, als die sie sich noch bis vor wenigen Augenblicken ausgegeben hatte.

Ihr Ehemann hingegen war vollends in sich zusammengesunken. Der Anschein munterer Zuversicht, den er bisher erweckt hatte, war einem Ausdruck der Resignation und, ja, der Erleichterung gewichen. In seinen Augen war keinerlei Überraschung zu sehen, und auch keine Furcht. In erster Linie sah er aus, als wollte er einfach nur Platz nehmen.

Ich zeigte mit dem Daumen in seine Richtung. »Was ist mit ihm?«

»Farley? Er ist der, der er zu sein scheint. Ein Unternehmensbürger in dritter Generation. Er hat sie an dem Tag geheiratet, an dem sie in unsere Dienste getreten ist.«

Die Porrinyards nickten. »Das hört sich nach einer Zweckehe an.«

Die Frau, die unter dem Namen Dina Pearlman bekannt war, stieß ein explosives, grausames Gelächter hervor. »Als Ehe verfehlt das jeden Zweck. Der Mann ist nutzlos für eine erwachsene Frau. Wenn ich Ihnen sage, welche Altersgruppe er bevorzugt - nicht einfach nur einstellige Zahlen, niedrige einstellige Zahlen -, dann würden Sie all ihre zivilisierten Skrupel fallen lassen und ihn auf der Stelle tottreten.«

»Möglich«, sagten die Porrinyards. »Vielleicht werden auch Sie dann an der Reihe sein.«

Farley Pearlman ließ nur den Kopf hängen und wartete darauf, dass es vorbeiging. Er war so sehr eine Marionette, eine Marionette, deren Fäden eine Macht in Händen hielt, die sich seiner Kontrolle so vollkommen entzog, dass er nichts mehr zu tun oder zu sagen hatte, waren die Fäden erst durchgeschnitten.

Dejah Shapiro stellte ihren Drink auf den Tresen und tupfte sich die Lippen mit einer Serviette ab. »Wissen Sie, Philip, jedes Mal, wenn ich zu hoffen wage, Ihre Familie könnte vielleicht irgendwann so etwas wie kollektive Erlösung finden, schlägt mir die kalte, hässliche Wirklichkeit neue Beweise ins Gesicht. Ich bedaure wirklich, dass ich gekommen bin.«

»Das müssen gerade Sie sagen«, gab Philip mit gleichermaßen kontrollierter Stimme zurück.

»Ach?«, machte sie. »Was habe ich denn getan?«

»Zunächst mal haben Sie einen Kriminellen geheiratet.«

Dejahs Lächeln spiegelte Enttäuschung darüber wieder, dass sein bester Schuss so kläglich danebengegangen war. »Ich war mit verschiedenen Kriminellen verheiratet. Ernst habe ich sogar bereits selbst erwähnt. Von welchem haben Sie gesprochen?«

»Von dem Schwachkopf, den Sie zu Hause gelassen haben.«

»Ach, Karl.« Sie ergriff ihr Glas, füllte es nach, kostete und stellte es wieder ab, ehe sie sagte: »Sie haben vollkommen recht. Mein derzeitiger Ehegatte, den ich von Herzen liebe, ist vorbestraft. Das ist allgemein bekannt. Außerdem ist er unterdurchschnittlich intelligent. Das ist eine verifizierbare medizinische Tatsache. Er hat sich von Leuten in die Irre führen lassen, die mehr draufhatten als er. Und welche Ausrede haben Sie zu bieten?«

Ungefähr eine Zehntelsekunde lang dachte ich, Philip würde ihr mit Schwung an den Hals gehen. Dejah dachte offenbar ähnlich, denn sie hatte sich zu ihm umgedreht und blickte ihm mit ruhiger Miene, aber auch mit vorgerecktem Kinn entgegen. Ihre Arme waren frei, ihre Haltung war die einer Kämpferin.

Ehe irgendetwas passieren konnte, traten die Porrinyards zwischen Philip und Dejah, stellten sich zwischen ihnen Rücken an Rücken mit einer Ruhe und Tatkraft auf, die jeden Gedanken an eine gewalttätige Auseinandersetzung in die ferne Vergangenheit rückte. Zugleich sprachen sie wie aus einem Munde.

»Andrea? Ich glaube, du hast die Person gefunden, die du zuerst befragen solltest...«

 

Es folgte eine weitere, ermüdende Streiterei mit Philip, bei der es um die Frage ging, ob es mir gestattet werden könne, allein mit Mrs Pearlman zu sprechen, oder ob ich Monday Brown und Vernon Wethers in ihrer Funktion als Anwälte im Dienste der Bettelhines miteinbeziehen müsse. Reine Zeitverschwendung. Natürlich hätte ich ausgiebig darlegen können, wie idiotisch die Idee war, sie brauche in irgendeiner Form anwaltlichen Rat, während ich sie auf dem Terrain einer Macht befragte, die keinerlei Interesse hatte, sie wegen ihrer zurückliegenden Verbrechen zu belangen, aber ich wollte dieses Vorgeplänkel endlich hinter mich bringen und mich mit einem Monster, das seine Verbrechen im Gegensatz zu mir im Erwachsenenalter begangen hatte, in einen anderen Raum zurückziehen. Ich gestattete Brown und Wethers, uns zu begleiten.

Zu fünft (Paakth-Doy, Brown, Wethers, Skye und ich) führten wir Mrs Pearlman in meine Suite und suchten uns Plätze im Vorraum, woraus sich, ohne jede Absprache, eine perfekte, kreisrunde Sitzordnung ergab, in deren Zentrum sich die aufsässige Mrs Pearlman befand. Sie hatte eine Ottomane als Platz beansprucht, auf der sie nun im Schneidersitz hockte und es sich für die Befragung in einer Weise bequem machte, als würde sie lediglich Vorbereitungen für ein formelles Beisammensein treffen wollen.

Die meisten Leute, die einen Gesichtsausdruck aufsetzen, wie sie ihn derzeit zur Schau trug, sehen sich mit der unerwünschten Verseuchung der eigenen Heimstatt durch insektoides Leben konfrontiert. »Ich habe den Bocai nicht ermordet. Und ich habe dieser Dip-Corps-Schlampe den anderen Bocai-Idioten nicht auf den Hals gehetzt. So blöd bin ich nicht.«

»Wie blöd genau Sie sind«, erklärte ich ihr in einem Ton, triefend vor Abneigung, »müssen wir erst noch feststellen.«

»Hans Bettelhine ist da anderer Meinung«, schnaubte Mrs Pearlman. »Er entschädigt mich großzügig für meine Intelligenz. Würden Sie wissen, welche Summen Jahr für Jahr in meinen Ruhestandsfonds eingezahlt werden, nur damit ich die Früchte meiner Intelligenz zur Verfügung stelle, würden Sie vermutlich auf der Stelle Selbstmord begehen. Natürlich habe ich längst aus Ihrer Akte erfahren, dass es nicht allzu schwierig ist, Sie zu einem Selbstmordversuch zu treiben, Andrea, bedenkt man die - wie viele? Fünf oder sechs Vorfälle im Lauf der Jahre? Insofern hat das nicht viel zu sagen.«

Ich ertappte mich dabei, die alte Mrs Pearlman zu vermissen, die derbe, aber im Grunde harmlose, die es nie wirklich gegeben hatte. »Wie lautet Ihr richtiger Name?«

Sie setzte eine gelangweilte Miene auf. »Ich werde bereits genauso lange Dina Pearlman genannt, wie ich den vorangegangenen Namen getragen habe, also können Sie ebenso gut dabei bleiben.«

»Für den Moment«, stimmte ich zu, wohl wissend, dass ich in diesem Punkt so oder so nicht weiterkommen würde. Außerdem dürfte es reichen, Geheimdienstinformationen über bekannte Bundesgenossen jenes Mannes, der für den Chip verantwortlich war, einzuholen, was vermutlich dazu führen würde, dass ihre Identität aufflöge. »Wie ist die Verbindung zwischen Ihnen und dem Mann, der den Behörden unter dem Namen Peter Magrison bekannt ist, zustande gekommen?«

»Er hat mich in meiner Jugend rekrutiert.« Sie sprach den Satz aus, als berichte sie über eine weit zurückliegende Epoche, so weit von der Gegenwart entfernt wie die Kreidezeit.

»Wo war das?«, fragte ich.

»Auf meiner Heimatwelt, Ottomos. Ich war Studentin der Nanopsychologie, eingeschrieben an einem Institut, das sich Universität Pastharkanak nennt und in einer kleinen Stadt namens Vivakiosy liegt. Ich gehe selbstverständlich davon aus, dass Ihnen diese Namen nichts sagen. Möchten Sie vielleicht auch noch die Namen meiner idiotischen Professoren hören oder die genaue Anschrift meiner Unterkunft?«

»Später vielleicht. Wie hat Magrison Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«

Für einen Moment schlich sich ein sanfter Ausdruck in ihre Augen, als sähe sie die feindselig gesonnenen Gesichter um sich herum nicht mehr, sondern das, was immer eine in der Finsternis gefangene Seele als glückliche Erinnerung betrachten mag. »Die Leute kennen von ihm nur das übliche Bild, das in den wenigen existenten Holos vermittelt wird: ein verschwommenes, spöttisches Gesicht, halb im Schatten verborgen, halb ausgebleicht durch zu grelles Licht, mit zusammengezogenen schwarzen Brauen und Augen, die aussehen wie ein bodenloser Abgrund. Ich glaube, die da oben haben bessere Bilder in ihren Archiven, aber sie publizieren dieses, weil es so einfach ist, dieses Gesicht als böse zu verkaufen. Die Wahrheit ist, dass er überhaupt nicht so war. Er hatte ein liebenswürdiges Lächeln, das Gesicht eines Heiligen und die Stimme eines Heilers. Keine fünf Minuten, nachdem er mich angesprochen hat, als ich zwischen zwei Unterrichtseinheiten unter einem Baum gesessen und zu Mittag gegessen habe, wusste ich schon, dass ich mit ihm überall hingehen und alles für ihn tun würde.«

»Müssen höllisch interessante fünf Minuten gewesen sein«, sagte Skye.

»Sogar weniger. Vielleicht war es nur eine Frage. Ich war gerade dabei, meine Studienarbeit für das nächste Seminar per Hytex zu senden, da kam er zu mir, kreuzte die Projektion und fragte mich: ›Glauben Sie wirklich, die werden zulassen, dass Sie etwas bewegen?‹ Ich weiß nicht, warum er das wusste, aber das war etwas, worüber ich das ganze Semester lang nachgedacht hatte. Nanopsychologie hat so viel Potenzial, bietet so viele Möglichkeiten, auf die Art einzuwirken, wie die Leute denken und träumen und miteinander interagieren, und vor ihm ist niemand auf die Idee gekommen, die schwierigen Fragen zu stellen. Er ...«

Ich winkte ab. »Warum sollte er gerade Sie ausgewählt haben?«

»Er hat mir später erzählt, dass er ganz hinten gesessen und die Studenten während des Seminars beobachtet habe, auf der Suche nach einem Geist, der fähig sei, ihm zu folgen, wohin immer er es für nötig hielte. Vielleicht stimmt das sogar. Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass ich mich nicht erinnere, ihn vor diesem Moment je gesehen zu haben.«

»Sie sind also mit ihm gegangen«, stellte ich fest. »Ist Ihnen je in den Sinn gekommen, dass er Sie möglicherweise gegen Ihren Willen manipuliert hat?«

»Oh, das wusste ich gleich. Er hat einen Sublader auf mein Lustzentrum ausgerichtet und mir jedes Mal einen Glücksstoß versetzt, wenn ich seine Worte geschätzt habe, und einen negativen Stoß, wenn ich an ihm gezweifelt habe. Für ihn war es natürlich ermüdend, mich tagelang so genau unter Beobachtung zu halten, aber er hat es geschafft, bis wir zu seinen Leuten gestoßen sind und er ein automatisches System installieren konnte.« Sie deutete auf den achteckigen Chip an ihrem Handgelenk. »Aber die Wahrheit ist, dass das bis dahin gar nicht mehr nötig war. Ich hatte die Brillanz seiner Ideen erkannt. Ich glaubte an ihn wie frühere Generationen an Gott geglaubt haben. Seine Träume waren meine Träume, seine Ambitionen meine Ambitionen. Ich lebte dafür, seine Vision von der Zukunft der Menschheit wahr werden zu lassen.«

Die Porrinyards verzogen angewidert das Gesicht. »Psychische Vergewaltigung.«

»Liebe«, schoss Mrs Pearlman zurück. »Leidenschaft.«

»Er hat Ihnen dieses Gefühl gegeben«, konstatierte ich.

»Das schönste Geschenk, das er mir machen konnte.«

»Das Mädchen, das er auf dem Campus der Universität angesprochen hat, hätte vielleicht anders darüber gedacht«, sagte Skye.

»Sie war eine geistlose kleine Idiotin.«

Ja, dachte ich. Eine geistlose kleine Idiotin, die imstande war, aus eigenem Antrieb zu denken und zu handeln; die ein eigenes Interesse an anderen menschlichen Wesen hatte, nicht nur an jenem einen Mann, der ihr wie auch immer geartetes Wertesystem durch ein anderes ersetzt hat, das allein der Verfolgung seiner eigenen Ziele diente.

Ich ertappte mich dabei, an jene Nacht des Wahnsinns zurückzudenken, die meine Familie und meine Nachbarn auf Bocai überwältigt hatte. Wir hatten in Frieden miteinander gelebt, bis zu dem Moment, in dem wir ohne Vorwarnung plötzlich nichts anderes mehr wollten, als einander umzubringen. Wir wurden andere. Konnte es sich bei Magrisons Methode der Bewusstseinskontrolle um die gleiche Waffe handeln, die auch die Unsichtbaren Dämonen benutzt hatten?

Hatte das womöglich etwas mit der bevorstehenden Vernichtung zu tun, von der die KIquellen gesprochen hatten?

»Hat er Sie je physisch benutzt?«, erkundigte sich Skye bei Mrs Pearlman.

Ein finsterer Ausdruck legte sich über Mrs Pearlmans Augen. »Sie wollen mich auf den Arm nehmen. Sie kennen seine Philosophie. Er hat es gehasst, berührt zu werden. Er dachte, alle Menschen würden durch die animalischen Triebe, die uns dazu zwängen, die Anerkennung anderer zu suchen, ihres wahren Potenzials beraubt. Er wollte uns davon befreien. Was Sex betrifft, gab es nur eine Sache, die er mochte, und er hat sich geweigert, mir diese Sache angenehm zu machen; die Besudelung und die Entwürdigung, die seine Sexpartner erfuhren, war weitgehend das, worum es ging.«

Vernon Wethers, dessen Zimperlichkeit mich schon während des Essens beeindruckt hatte, erbleichte bei diesen Worten; gleich darauf murmelte er eine Entschuldigung und raste mit aufgeblasenen Wangen ins Badezimmer.

Mrs Pearlman sah ihm nach, und ihre Miene spiegelte trotziges Vergnügen angesichts seines Unbehagens wider. Dann blickten ihre Augen wieder sanfter, und ihre Stimme hörte sich etwas atemlos und beinahe beglückt an. »Weitere Details gefällig? Manchmal, wenn ich gut war, wenn ich ein Problem gelöst oder seine Pläne in anderer Weise unterstützt hatte, schickte er mir so viel Freude in mein Gehirn, wie mein Herz nur ertragen konnte; stundenlang blieb er bei mir, während ich mich fühlte, als würde Gott mich berühren. Einmal hat er mir sogar ein besonderes Vergnügen gegönnt, als er sechs Wochen verreist war und den Transmitter die ganze Zeit auf Maximum laufen ließ. Er hat Leute bei mir lassen müssen, damit ich Nahrung und Wasser bekam, sauber gehalten und regelmäßig umgedreht wurde, um Druckgeschwüre zu vermeiden. Es hat sich angefühlt, als würde es hundert Jahre dauern. Als er wiederkam und den Transmitter abgeschaltet hat, hätte ich alles dafür getan, noch einmal so berührt zu werden. Alles. Ich habe geweint. Ich habe ihn sogar angebettelt, das zu machen, was er mochte. Ich habe ihm gesagt, er könne mich beschmutzen, wie er wolle, wenn er mich nur noch ein Mal an diesen Ort brächte, und sei es nur für fünf Minuten. Einmal hat er...«

Monday Brown unterbrach sie. »Counselor! Reicht das nicht langsam?«

So ungern ich es zugab, der Mann hatte recht. Die psychologische Zerstörung einer jungen Frau und ihre Verwandlung in eine Kreatur, die imstande war, die nihilistischen Ambitionen eines Terroristen zu unterstützen, der unter dem Namen die Bestie Magrison in die Geschichte eingegangen war, übte eine gewisse Faszination auf mich aus, besonders in Anbetracht der Übereinstimmungen mit dem, was meine eigenen Leute auf Bocai erlitten hatten, aber es hatte wenig mit den Gründen für unser Gespräch zu tun. Ich atmete tief durch, warf einen Blick auf die inzwischen weinende Paakth-Doy, empfand für einen Augenblick ausreichend Zuneigung zu ihr, um zu hoffen, dass sie sich nicht als Mörderin des Khaajiir erweisen würde, und machte mich wieder an die Arbeit. »Welchen Beitrag genau haben Sie bei der Entwicklung von Magrisons Fugue geleistet?«

»Ich habe fünf Jahre in dem Team gearbeitet, das den Erregerstamm entwickelt hat. Das war nicht einfach, müssen Sie wissen. Überall, wo die Leute sich die KIquelle Medizintechnik leisten können, gibt es auch Nanomaschinen, die alle biologischen Heimsuchungen aufdecken, ob sie nun natürlichen oder künstlichen Ursprungs sind. Die Entwickler mussten eine Schutzhülle konstruieren, die mit diesen Verteidigungsmechanismen umgehen und die Nanomaschinen zu Verbündeten umfunktionieren konnte. Meine Aufgabe war die Symptomveredelung. Ich habe alles abgeschaltet, was die kognitiven Funktionen beschädigen könnte, und nur die Elemente verstärkt, die auf den Anblick oder die Geräusche anderer Menschen hin Schmerz auslösten.« Sie strahlte. »Und als das Chaos auf den von uns infizierten Welten ausgebrochen ist? Da hat er gesagt, unser Sieg sei mindestens zu zehn Prozent mir geschuldet. Er war sogar geneigt, mich zu küssen.«

Stille senkte sich über den Raum. Keiner der Beobachter war zu irgendeinem Blickwechsel bereit. Wir alle kannten den weiteren Verlauf der Geschichte. Ehe die Epidemie eingedämmt werden konnte, infizierte Magrisons Fugue siebzehn bewohnte Welten und mehr als fünfzig Milliarden Menschen, von denen über fünfundneunzig Prozent in irgendeinem Versteck gestorben sind, weil sie es vorgezogen hatten zu verhungern oder zu verdursten, als die unerträgliche Qual zu erdulden, die sie in der Gegenwart anderer menschlicher Wesen hätten erleiden müssen.

An den verbliebenen Orten gab es noch Leben und sogar eine Art von Zivilisation. Die Leute, die dort lebten, trugen KIquellen-Prothesen über Augen und Ohren, um sich davor zu schützen, in irgendjemanden mehr zu sehen als ein hypotetisches Etwas, eine Abstraktion - sie sahen lediglich etwas wie eine Strichfigur, gezeichnet von Kinderhand, anstelle von lebendigen, erkennbaren Individuen. Ihre Prothesen sprachen miteinander, handelten Vereinbarungen aus und ermöglichten so etwas wie eine organisierte, tragfähige Gesellschaft auf Welten, deren sämtliche Bewohner bis hin zu Säuglingen, geboren von Müttern, die sie nie lieben würden, einander aufgrund ihrer sensorischen Schleier nur als undeutliche Silhouetten wahrnehmen konnten.

Nur Militärblockaden seitens der Hom.Sap-Konföderation, die alle Opfer des Terroristen auf den betroffenen Welten isolierten und mehrere infizierte Schiffe vom Himmel schossen, hatten verhindert, dass sich Magrisons Infektion unter der ganzen Menschheit ausbreitete.

Es gab keine Heilung. Diese Welten standen bis heute unter Quarantäne.

Und auch das war noch nicht das Schlimmste an der Geschichte.

Die Konföderation hielt den Kontakt zu den Überlebenden aufrecht, die kein Problem damit hatten, im Textformat mit uns zu kommunizieren, solange wir auf Personalpronomen verzichteten und jegliche Detailinformationen über soziale Interaktion im umgebenden Universum aus unseren Antworten heraushielten. Sie konnten ihre Bedürfnisse klarmachen. Wir konnten Lebensmittel und technische Ausrüstungsgegenstände abwerfen und sogar ein paar tapfere Freiwillige in Isolationsanzügen hinschicken, die sich um alles, was ihre Infrastruktur für ihren Fortbestand benötigte, kümmerten. Aber wir konnten diejenigen, die auf diesen Welten lebten, nur noch als Verdammte bezeichnen: noch ein paar Generationen, hervorgebracht durch künstliche Befruchtung und vermittelt durch KIquellenvertreter sowie automatisierte Aufzucht der Kinder durch weitere KIquellenvertreter - und ich bin mir nicht einmal sicher, ob man die Wesen dort überhaupt noch als Menschen bezeichnen konnte.

Aber auch das war nicht das Schlimmste an der Geschichte.

Wethers kehrte aus dem Badezimmer zurück. Er war blass, und auf seiner Stirn glitzerten winzige Schweißperlen. Als er sich setzte, entschuldigte er sich murmelnd bei Brown. Es wäre leicht gewesen, ihm Mitgefühl entgegenzubringen, wäre er nicht ein bereitwilliger Mitwirkender jenes Imperiums, das ein Monster wie Dina Pearlman beschäftigte. Er war wie so viele Bürokraten: schuldig, die Papiere unterzeichnet zu haben, die die Gräueltaten erst ermöglichten, aber so schwach, die Nerven in der Sekunde zu verlieren, in der sie mit dem Schlachthof konfrontiert wurden, den sie autorisiert hatten.

Aber auch das war nicht das Schlimmste an der Geschichte.

Ich hustete, schluckte Speichel, um eine Stimme zu besänftigen, die sonst nur ein heiseres Krächzen hervorgebracht hätte, und widmete mich dem wahrhaft schlimmsten Teil der Geschichte: Der Frage, von der einige meiner Kollegen im Dip Corps bis zum heutigen Tage besessen waren. »Mrs Pearlman ... wissen Sie, wo sich Magrison heute versteckt?«

 

»Nein«, sagte sie, nicht ohne Bedauern. »Wir mussten uns trennen, als wir auf der Flucht waren. Ich weiß nicht, wohin er gegangen ist. Anderenfalls wäre ich längst bei ihm.«

In Konföderationshaft wäre diese Frau für den Rest ihres Lebens befragt worden, befragt von unerbittlichen Männern, die nicht dazu tendierten, ein Nein als Antwort gelten zu lassen. Und selbst die, die bereit wären, ihr Glauben zu schenken, wie es auch mir erging, hätten die Frage immer wieder aufgeworfen und Techniken angewandt, die sich der Grenze zur Folter in allen denkbaren Definitionen nicht nur näherten, sondern sie auch überschritten. Es hätte keine Wahl gegeben. Der Mann war der Schwarze Mann der ganzen Menschheit, und wir alle lebten in der paranoiden Furcht vor seiner Wiederkehr, dieses Mal bewaffnet mit etwas, wogegen sich die Fugue so harmlos wie eine verstopfte Nase ausgemacht hätte.

Ich besaß weder die Zeit noch die Autorität zu tun, was so viele meiner Kollegen getan hätten, aber auch ich konnte ein schlichtes Nein nicht akzeptieren. »Haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass er noch am Leben ist?«

»Ja«, sagte sie. »Vertrauen.«

»Haben Sie irgendeinen Grund zu der Annahme, dass die Bettelhines in Kontakt zu ihm stehen?«

Monday Brown verlagerte sein Gewicht auf seinem Platz und sah so unglücklich aus wie ein Kind, das lediglich einen Pullover zum Jubeltag geschenkt bekam. »Das geht ein bisschen zu weit, Counselor.«

Ich wirbelte zu ihm herum und gab dabei so etwas wie ein Knurren von mir. »Sie sind die Mistkerle, die seine alten Sklaven beschäftigen. Ich würde sagen, das ist verdammt notwendig.« Dann widmete ich meine Aufmerksamkeit wieder Mrs Pearlman. »Beantworten Sie die Frage.«

Sie schürzte die Lippen, verbarg das Lächeln, das sich auf ihnen abzubilden gedroht hatte, als ich Brown angegiftet hatte. »Warum sollten sie etwas mit ihm zu tun haben wollen? Sie machen ihr Geld mit Hilfe von Menschen, die sich mit anderen Menschen im Krieg befinden. Menschen, die nicht interagieren können, sind nutzlos für sie.«

»Die Fugue verwüstet jede Zivilisation, mit der sie in Berührung kommt. Das dürfte ein höchst machtvolles Instrument für ein Munitionsimperium sein.«

»Eigentlich nicht«, sagte sie mit einer Spur von Langeweile. »Als Eroberungswaffe ist sie ziemlich nutzlos. Und im Falle eines Krieges zwischen Nationen, die auf einen einzigen Planeten beschränkt sind, könnte die Seite, die sie zuerst einsetzt, nicht verhindern, dabei selbst infiziert zu werden.«

»Die Furcht vor gegenseitig zugesicherter Zerstörung hat die Entwicklung von Vernichtungswaffen nie verhindern können«, wandte Skye ein.

»Gutes Argument. Aber anders als die meisten Gerätschaften dieser Art ist die Fugue nicht die Art von Technik, die kriegerische Kulturen sich erträumen. Zur gleichen Zeit wie der Feind zu sterben, hat eine derart romantische Aura, dass jede Bevölkerung überzeugt werden kann, danach zu streben. Aber sich selbst und alle, die man kennt, zu einem Schicksal zu verdammen, das man als lebendigen Tod wahrnehmen würde, ist eine ganz andere Perspektive.«

»Und bei einem Krieg zwischen Welten, die durch den Raum getrennt, aber durchaus imstande sind, sich gegenseitig ins Nichts zu bomben?«

Mrs Pearlman rümpfte die Nase. »Bitte. Es gibt weniger solcher Kriege, als die Action-Abenteuer-Neurostimulatoren, die bei Durchschnittsbürgern so beliebt sind, Glauben machen wollen. Aber selbst wenn ein solches Szenario häufiger auftauchen würde, ist die Fugue das Letzte, was man gegen einen Feind einsetzen wollte. Wenn Sie um Land kämpfen, werden Sie das Land, das Sie begehren, nicht erst unbewohnbar und damit auch für sich selbst nutzlos machen. Und wenn Sie einfach nur aus purer Bosheit eine andere Zivilisation auslöschen wollen, dann gibt es dafür andere Möglichkeiten - Bomben, Schienenkanonen und dergleichen -, die vollkommen reichen, dem Gegner die Fähigkeit zum Rückschlag zu rauben. Damit würden auch Sie jedem rachsüchtigen Kommandanten, der nicht in der Lage ist, in Ihrer Zivilbevölkerung mehr als nur eine lästige Störung zu erkennen, die Macht nehmen, zu einem vollen, automatisierten Vergeltungsschlag auszuholen.« Sie leckte sich die Lippen und konstatierte durch ihr verhaltenes Lächeln, dass sie die Vorstellung geradezu köstlich fand. Sie brauchte einen Moment Zeit, um diesem Gedanken nachzuhängen, sich an der bloßen Idee zu laben, ehe sie, die plumpen Wangen frisch gerötet, imstande war, fortzufahren. »Nein, Counselor. Ich muss Ihnen sagen, die einzigen Leute, die die Fugue würden nutzen wollen, sind die, die ihre philosopische Grundlage schätzen. Die Bettelhines mögen einer Frau mit meinen Fähigkeiten ein paar nützliche Gelegenheiten bieten können, aber sie haben mir bisher nie einen Anlass gegeben, sie auf solch einer erhöhten Bewusstseinsebene zu vermuten. Glauben Sie mir, ich weiß es. Ich glaube an die Fugue. Ich schlage alle sechs Merkantil-Monate eine Massenproduktion vor, aber die hiesigen Entscheidungsträger reagieren darauf stets mit einem überaus nachdrücklichen ›Nein‹.«

Juje sei auch für kleine Gefälligkeiten Dank. »Und dieser Entscheidungsträger ist wer?«

»Erst war es der verstorbene Kurt Bettelhine, dann sein ältester Sohn Hans. Und sollte ich lange genug leben, wird es bald Philip sein. Er kümmert sich jetzt schon seit drei oder vier Jahren darum, dass meinen Anforderungen Genüge getan wird.«

»Nur Philip?«

»Ich bin Jason und Jelaine schon früher begegnet. Sie wissen, was ich tue, und sie haben in der Vergangenheit ein paar Mal meine Hilfe benötigt. Aber, nein, sie wissen nichts über meine vorangegangene Verbindung zu Magrison. Man hat mir nahegelegt, diesen Punkt geheim zu halten.«

Also war sie nicht das Geheimprojekt irgendeines übereifrigen Unternehmensangehörigen, der ohne Kenntnis seiner Vorgesetzten handelte. Alle Bettelhines wussten von ihr, auch wenn nicht alle wussten, woher sie kam. »Und diese lächerliche, komödienhafte Persönlichkeit, mit der sie sich bisher umgeben haben?«, fragte ich.

»Eine Form der Tarnung, die ich über die Jahre entwickelt habe. Sie ist recht praktisch, wenn ich es mit Außenseitern wie Ihnen zu tun habe.«

Sollten wir je zur selben Zeit auf derselben Planetenoberfläche stehen, hätte ich für ihren erhabenen Gastgeber Hans wohl einige harte Worte parat. »Wie kam es, dass Sie für die arbeiten?«

»Ich bin in meinem eigenen Transporter angekommen und habe eine Nachricht aus dem äußeren System geschickt. Gleich auf Layabout anzulegen, wäre einfacher gewesen, aber zu jener Zeit war es für Magrison-Anhänger gefährlich, sich bewaffneten Welten zu nähern, ohne schon von Ferne die weiße Flagge zu schwenken.«

Skye murmelte etwas, das ich nicht verstehen konnte, dem ich aber zweifellos zugestimmt hätte. »Haben Sie sich wahrheitsgemäß zu erkennen gegeben?«

»Ja. Ich habe meine Vita übermittelt und meine Dienste im Austausch für eine sichere Umgebung angeboten.«

»Mit wem haben Sie gesprochen?«

»Mein Angebot durchlief die gesamte Befehlskette, bis ich schließlich mit Kurt sprechen konnte. Damals hatte er noch das Sagen.«

»Und er hat Ihnen einfach gestattet, herzukommen, obwohl er wusste, was Sie bei sich haben könnten?«

»Nein. Er hat mich angewiesen, seine Flotte bei Spyraeth zu treffen, einem unbewohnten Mond im Außenbereich des Systems. Sie haben mich dort unter Quarantäne gestellt, mich regelmäßig durchsucht und beinahe ein Jahr lang wieder und wieder verhört, bis sie überzeugt waren, dass ich keine Probe der Fugue an Bord hatte.«

»Und dann?«

»Kurt Bettelhine hat sich wieder bei mir gemeldet und mich gefragt, warum er mich nicht einfach Ihrer Konföderation übergeben sollte, als Geste der Wertschätzung, gewissermaßen. Er sagte, im Hinblick auf mich böte ihm eine Kooperation mit Ihren Behörden eine gute Gelegenheit, die Beziehungen zwischen beiden Mächten zu verbessern. Ich habe ihm gesagt, dass ich einige Ideen zu bieten hätte, die er als profitabel erachten könnte: konservativere Anwendungen für die Technik, die auch bei der Entwicklung der Fugue zum Einsatz kam. Es erforderte ein wenig Forschung, aber dann konnte ich ihm neue Waffen anbieten, die imstande waren, das Verhalten ganzer feindlicher Völker zu beeinflussen. Später habe ich fokussiertere Anwendungen für dieselbe Technik entwickelt...«

An Bocai denkend war ich erstarrt, als sie die Worte neue Waffen anbieten, die imstande waren, das Verhalten ganzer feindlicher Völker zu beeinflussen ausgesprochen hatte. »Sind diese ... sind sie je zum Einsatz gekommen, Mrs Pearlman?«

»Nicht mein Gebiet«, sagte sie.

Und Monday Brown sah erneut verärgert aus. »Counselor, darf ich darauf hinweisen, dass diese Frage von Ihrem Freibrief zur Ausforschung von Firmengeheimnissen nicht abgedeckt wird? Der Khaajiir wurde nicht durch einen Virus getötet. Er wurde auch nicht aus der Distanz getötet. Er wurde aus direkter Nähe mit einer Klaue Gottes umgebracht. Eine Waffe, die, wie ich hinzufügen sollte, schon viele tausend Jahre existiert hat, bevor diese Frau geboren wurde.«

Ich hätte ihn am liebsten angebrüllt. Und sie hätte ich am liebsten geprügelt, bis sie zugegeben hätte, dass die Ressourcen, mit denen sie geprahlt hatte, auf Bocai zum Einsatz gekommen waren. Aber zum Teufel mit dem Kerl, er hatte nicht unrecht. So gern ich auch gewusst hätte, welchen Schrecken diese Frau im Auftrag unserer Gastgeber produziert hatte, diese Details heraus zukitzeln mochte Wochen erfordern, die ich nicht hatte, und eine Autorität, die ich nicht für mich beanspruchen konnte. »Was ist passiert, nachdem Kurt Bettelhine sich bereit erklärt hat, Sie einzustellen?«

»Er hat mich in der isolierten Inselanlage untergebracht, in der ich heute immer noch arbeite, zusammen mit einem kleinen, aber entschlossenen Team qualifizierter Experten.«

»Und zu dieser ›Unterbringung‹ gehörte auch die Vorstellung des Mannes, der jetzt Ihren Ehemann spielt?«

»Er spielt nicht«, sagte Dina Pearlman. »Diese verfluchte Verbindung ist vollkommen legal.«

»Aber Sie lieben ihn nicht. Er kümmert Sie gar nicht.«

Dinas Mund war nur noch ein roter Schlitz in einem Gesicht, das zu einer Karikatur des harmlosen, unsicheren Ausdrucks davor geworden war. »Mich kümmert gar kein Mensch mit Ausnahme von Peter Magrison.«

»Was können die Bettelhines dabei gewinnen, Sie beide zu zwingen, als Eheleute zusammenzuleben?«

Sie zuckte mit den Schultern. »Schutzfärbung. Ich glaube, er wollte eher mich dazu benutzen, Farley reinzuwaschen, als Farley dazu, mich reinzuwaschen. Der dumme Mann hat sich in einer anderen Einrichtung, die er geleitet hat, einigen Ärger eingehandelt, als er zufällig mit der vierjährigen Tochter eines Kollegen allein gelassen wurde. Mit so etwas macht man sich als Vorgesetzter schnell unbeliebt, sogar bei den Bettelhine-Angestellten, die es gewohnt sind, ihre eigenen moralischen Skrupel zugunsten des Allgemeinwohls zurückzustellen. Trotzdem war er immer noch eine hervorragende Führungskraft, die ihre Mitarbeiter stets hart angetrieben und ihre Projekte üblicherweise vor dem Zeitplan abgeschlossen hat. Kurt hat den Eltern eine Entschädigungszahlung zukommen lassen, die mehr als ausreichend war, sodass sie ihren Zorn schlicht vergessen haben, auch wenn es vermutlich nicht genug war, um auch den Schaden wiedergutzumachen, den dieser Bruch elterlicher Verantwortung ihren Seelen zugefügt haben dürfte. Danach hat er uns miteinander verpaart, basierend auf der Theorie, dass seine beiden aus dem Rahmen fallenden Bestien nur zu bereit wären, Fehltritte des jeweils anderen im Austausch gegen eine kleine Belohnung umgehend zu melden. Als der Idiot später noch einmal dabei erwischt wurde, wie er seiner Leidenschaft nachgegeben hat, haben wir gewisse andere Sicherheitsmaßnahmen ergriffen, um ihn davor zu bewahren, sich je wieder derart danebenzubenehmen. Wenn Sie mir auch sonst in keiner Weise vertrauen, Counselor, tun Sie es in diesem Punkt. Er ist nicht mehr imstande, seinen niederen Impulsen nachzugeben.«

Zögernd fragte Paakth-Doy: »Haben Sie ihn ... kastriert?«

Der Blick, mit dem Mrs Pearlman sie bedachte, beinhaltete alle möglichen Dinge: Amüsement, Verachtung, Überlegenheit ... aber vor allem Stolz. »Ganz so plump sind wir nicht vorgegangen.« Dann, an mich gewandt: »Wir leben als Mann und Frau zusammen, betrachten unsere Verbindung aber nicht als Liebesbeziehung. Aus Langeweile haben wir ein paarmal versucht, miteinander zu schlafen, haben es aber nie zu Ende gebracht. Er kann nicht mit dem transzendenten Vergnügen mithalten, das Peter Magrison mir gezeigt hat. Und ich gehe nicht als Vierjährige durch. Habe ich übrigens auch schon seine entsetzliche Geistesarmut erwähnt?«

Ich hustete. »Warum sind Sie heute hier?«

»Mein Ehegatte und ich sind ausgesprochen bekannte, angesehene Mitarbeiter der Bettelhine Corporation, daher müssen wir bisweilen aus dem Alltag herausgeholt und mit den Vorzügen bedacht werden, die verdienten Mitarbeitern wie uns üblicherweise zugute kommen. Bei solchen Gelegenheiten gebe ich den plappernden Einfaltspinsel zum Besten, und er tut so, als wäre er ein Mann. Das sind die Fassaden, die wir immer benutzen, wenn wir uns im Kreis von Kollegen oder der feineren Gesellschaft des Ortes bewegen, was unsere Position uns häufig aufzwingt. Ich weiß nicht, wie es Farley ergeht, aber ich habe mich inzwischen daran so sehr gewöhnt, diese Persönlichkeit regelmäßig zu verkörpern, dass ich manchmal vergesse, wer ich wirklich bin, und es fertigbringe, mir einzureden, ich wäre tatsächlich die Person, die ich zu sein vorgebe.« Der Gesichtsausdruck, den sie als Nächstes präsentierte, reflektierte ein Dutzend verschiedener Emotionen auf einmal: Stolz, Zorn, Amüsement, Traurigkeit, Triumph und Verlust, alles gekoppelt mit der tiefen Befriedigung angesichts der Abscheu, die sich in unseren Mienen niedergeschlagen hatte. »Das mag nicht die Person sein, die ich war, bevor Peter Magrison mich befreit hat, aber diese Fassade kommt ihr so nahe, wie ich es vorgeben kann.«

Der Moment erschütterten Schweigens, der dieser Aussage folgte, zog sich über mehrere Sekunden. Sogar Monday Brown, der bereits im Vorfeld gewusst hatte, was sie war, schien betroffen auf ihre Worte zu reagieren. Ich überlegte, dass das Leben, was sie einmal hatte, nie eine Chance hatte, sich gegen das Leben zu behaupten, das sie an seiner Stelle begonnen hatte, und ich wusste nicht, was ich sagen sollte, bis die Worte einfach aus meinem Mund purzelten. »Mrs Pearlman ... Sie sind eine widerliche Person.«

Das kümmerte sie nicht im Mindesten. »Das hat man mir schon öfter gesagt.«

»Das haben Sie nicht oft genug gehört. Aber wie dem auch sei, ich denke, Sie waren ehrlich zu mir.«

»Was Sie denken, ist absolut bedeutungslos.«

»Ich habe nur noch ein paar Fragen«, sagte ich. »Und ich warne Sie: Bleiben Sie aufrichtig, denn ich werde wirklich sauer, sollte irgendeine der Informationen, die ich von den anderen erhalte, Ihren Antworten in irgendeiner Weise widersprechen.«

»Sie können mich nicht einschüchtern.«

»Würden Sie mich besser kennen, dann wären Sie eingeschüchtert. Wie auch immer. Haben Sie vor dem heutigen Abend je eine K'cenhowten'sche Klaue Gottes gesehen?«

»Einmal. In einer Privatsammlung. Ich weiß nicht, ob sie echt war oder ob es eine Nachbildung war.«

»Sind Sie dem Khaajiir vor heute Abend schon einmal begegnet?«

»Nein.«

»Haben Sie vor heute Abend schon einmal von dem Khaajiir gehört?«

»Nein.«

»Hatten Sie vor heute Abend irgendeinen Hinweis darauf, dass Hans Bettelhine einen außerirdischen Würdenträger zu Gast hat?«

»Es hätte mich zumindest nicht überrascht. Ein Mann in seiner Position hat ständig außerirdische Gäste.«

»Wussten Sie, dass er heute einen haben würde?«

»Nein.«

»Können Sie in irgendeiner Weise vom Tod des Khaajiir profitieren?«

»Nein.«

»Gibt es irgendeinen anderen denkbaren Grund für Sie, den Tod des Khaajiir zu wünschen?«

»Nein.«

»Verfolgen Sie irgendwelche Ziele außerhalb der Bettelhine-Unternehmen, die durch den Tod des Khaajiir gefördert werden würden?«

»Wie oft wollen Sie diese eine Frage noch neu formulieren? Nein. Nein. Nein.«

»Verfolgen Sie irgendwelche Ziele außerhalb der Bettelhine-Unternehmen?«

»Es ist mir nicht gestattet, unternehmensfremde Zwecke zu verfolgen.«

»Umfassen Ihre Privilegien als Bettelhine-Angestellte auch außerplanetarische Kommunikationsmöglichkeiten?«

»Nein. In Anbetracht meiner Vorgeschichte ist mein Hytex-Zugang auf Lesen und Antworten beschränkt.«

»Gilt das auch für Ihren Ehemann?«

»Ja.«

»Gibt es unter Ihren Kollegen irgendjemanden, der in Ihrem Auftrag Botschaften verschicken würde?«

»Nein.«

»Also wäre es Ihnen nicht möglich, Bocai als Attentäter zu rekrutieren.«

»Ich bin überzeugt, ich könnte eine Möglichkeit finden, sähe ich dazu eine Notwendigkeit. Ich bin eine kluge Frau.«

»Aber da Sie, bevor Sie an Bord kamen, gar nicht wussten, dass der Khaajiir anwesend sein würde, hatten Sie keine Gelegenheit, sich in irgendeiner Weise gegen ihn zu verschwören.«

»Nein, die hatte ich nicht.«

»Mrs Pearlman, all die Fragen, die ich Ihnen im Hinblick auf Sie und den Khaajiir gestellt habe, finden auch für Sie und mich Anwendung. Haben Sie irgendeinen Grund, meinen Tod zu wünschen?«

»Ja.«

Monday Brown erhob sich halb von seinem Platz.

»Das ist in Ordnung, ich habe Sie aufgefordert, die Wahrheit zu sagen«, sagte ich. »Lassen Sie mich neu formulieren. Hatten Sie vor diesem Gespräch irgendeinen Grund, meinen Tod zu wünschen?«

Besänftigt nahm Monday Brown wieder Platz.

Mrs Pearlman schien den Geschmack des Triumphs zu genießen wie eine Echse eine besonders köstliche Käferart. »Nein. Bis gestern hatte ich noch nie von Ihnen gehört. Ich habe Nachforschungen über Sie angestellt, wie ich über jede Person, die ich zu treffen erwarte, Nachforschungen anstelle, aber in Ihrer Vergangenheit gibt es nichts, was mir Grund gegeben hätte, Ihren Tod zu wünschen. Ich hatte mir sogar vorgestellt, wir könnten miteinander auskommen, da wir beide Monster sind.«

»Unwahrscheinlich«, beschied ich ihr. »Aber ich bin jetzt fertig mit Ihnen. Gehen Sie zurück zu Ihrem Mann.«

Sie nickte mir zu, bedachte die anderen mit einem Raubtiergrinsen und erhob sich, zögerte dann aber kurz, ehe sie die Tür der Suite erreicht hatte. »Möchten Sie, dass ich meinen Mann hereinschicke?«

»Hätte ich die freie Wahl, dann wäre es mir lieber, Sie würden ihn zur Luftschleuse hinausschicken und hinterherspringen. Aber: nein. Ich denke, für den Augenblick bin ich mit Ihnen beiden fertig.«

Sie zeigte mir noch einmal die Zähne und ging. Einige Sekunden später, einem Ruf gehorchend, der nur ihnen allein bekannt war, folgten Brown und Wethers ihr, die Augen vor meinen Blicken geschützt, als fürchteten sie, ich könnte sie mit anklagenden Blicken durchbohren. Paakth-Doy ging ins Bad. Sie war so blass wie Wethers, hatte es aber nicht so eilig wie er.

Skye und ich starrten einander an, und die Stille lieferte die perfekte Hintergrundmusik für die Gedanken, die durch unsere Köpfe rasten. Nach einer Weile sagte sie: »Philip hat seine Vasallen zu sich gerufen. Bestimmt vergleichen sie gerade ihre Notizen über all die heiklen unternehmensinternen Skandale, die du mit nach Hause nehmen wirst, wenn das alles vorbei ist. Ich bekomme langsam den Verdacht, wir könnten Probleme bekommen, Xana wieder zu verlassen, wenn wir hier fertig sind.«

Das Gleiche hatte ich auch gedacht. »Ich würde die Hälfte meines verfügbaren Einkommens dafür geben, herauszufinden, was aus dem letzten Dip-Corps-Gesandten geworden ist, der den Bettelhines in die Quere gekommen ist, wie immer er hieß - Bard Daiken oder so. Dann hätten wir vielleicht eine Ahnung, was uns erwartet.«

Skye zog eine Braue hoch. »Würde es uns helfen, die Konsequenzen zu kennen, von denen wir nicht wissen, wie wir ihnen entgehen können?«

Ich wusste es nicht. Ich nahm es nicht an. Wir waren blindlings in eine heimtückische Umgebung gestolpert, die vor Fallen und dunklen Schatten nur so strotzte und in der uns jeder Schritt weiter von dem Ausgang fortführte, der sich für uns anscheinend bereits geschlossen hatte. Vielleicht wäre es anders gelaufen, hätten meine KIquellen-Bosse mir mit ihren üblichen Hinweisen und düsteren Andeutungen zur Verfügung gestanden und ein wenig Licht auf den Pfad geworfen, der vor mir lag. Aber sie schwiegen nach wie vor, auch nach einem weiteren Versuch meinerseits, Kontakt zu ihnen herzustellen.

Paakth-Doy kehrte aus dem Badezimmer zurück. Ihre Augen sahen glasig aus, ihr Teint war noch blasser als zu dem Zeitpunkt, als sie das Bad aufgesucht hatte. Aber sie nickte mir zu, als sie ihren Platz wieder einnahm, bereit, mit allem fertig zu werden, was nun auf sie zukommen mochte.

»Alles in Ordnung?«, erkundigte sich Skye.

Paakth-Doy brauchte eine Sekunde, ehe sie antworten konnte. »Ich muss gestehen, dass meine Erziehung durch die Riirgaaner mich empfänglich für ein gewisses Entsetzen angesichts des Ausmaßes der Schlechtigkeit meiner Mitmenschen gemacht hat.«

»Es würde Ihnen auch nicht anders ergehen, wären Sie von Ihresgleichen aufgezogen worden«, sagte Skye. »Wir haben uns alle schon das eine oder andere Mal unserer eigenen Spezies geschämt.«

»Ja, mag sein«, sagte sie in übertrieben erhabenem Ton. »Aber ich werde mein Bestes tun, um mich für das zu wappnen, was mir bevorsteht, was immer es ist. Da ist nur eine Sache. Counselor?«

»Ja?«

»Wenn Sie Xana verlassen ... würden Sie mich mitnehmen?«

Das war das Letzte, womit ich gerechnet hatte. »Wirklich?«

»Ja. Ich würde sehr gern fortgehen.«

»Warum?«

Sie kämpfte mit den Worten. »Als ich die Riirgaaner in meiner Jugend verlassen habe, ohne je zuvor ein Exemplar meiner eigenen Spezies gesehen zu haben, hat die Familie, die mich aufgezogen hat, mir die Wahl gelassen, welchen von Menschen bevölkerten Ort ich aufsuchen wolle. Ich beschloss, die Konföderation zu meiden, weil Menschen, die keine menschliche Nationalität haben, einen juristischen Spießrutenlauf hinter sich bringen müssen, wenn sie rücksiedeln wollen. Bei den Bettelhines zu arbeiten, schien der einfachere Weg zu sein. Aber nach allem, was ich inzwischen gesehen habe, bin ich nicht mehr sicher, ob ich den moralischen Preis dafür bezahlen möchte, weiter hier zu leben. Inzwischen glaube ich, es wäre besser, ich würde mich den bürokratischen Hürden von New London stellen. Würden Sie mich mitnehmen? Und mir vielleicht eine Empfehlung ausstellen?«

Innere Stärke hatte sie. Noch konnte ich aber unmöglich sagen, ob sie damit eine nützliche Verbündete sein würde oder eine unerbittliche Gegnerin, aber sie zu unterschätzen wäre ganz sicher unsinnig. Leute, die imstande sind, stets schnell wieder auf die Beine zu kommen, sind gefährlich. Dennoch warnte ich sie: »Vielleicht ist das gar nicht möglich. Die Bettelhines scheinen ein Problem damit zu haben, Leute freizugeben, die für den Inneren Kreis gearbeitet haben.«

»Das ist wahr. Aber ich habe vor dieser Abfahrt noch nie für den Inneren Kreis gearbeitet. Und mein erster Eindruck von dem Leben in ihrer unmittelbaren Nähe ist auch kein wirklich bleibender. Sollte ich diese Welt immer noch verlassen können, dann würde ich es gern tun. Bitte helfen Sie mir.«

Ich mag während des größten Teils der Zeit ein teilnahmsloses Miststück sein, aber ich bin durchaus imstande, Anteil zu nehmen. »Wenn es in meiner Macht steht, werde ich das tun.«

Sie dankte mir nicht für das noch unerfüllte Versprechen. Sie nickte nur und kehrte zu ihrem Platz zurück, zufrieden damit, die nächsten Offenbarungen abzuwarten, deren Zeugin sie werden sollte.

Skye, die den Austausch kommentarlos verfolgt hatte, fragte nun: »Wer ist jetzt dran? Philip? Im Augenblick gibt es einige unangenehme Fragen, die wir ihm zu stellen haben.«

»Nein. Noch nicht. Ich möchte erst noch ein bisschen mehr Munition haben, ehe ich mir den Kerl vornehme.«

»Dejah? In Anbetracht ihrer vorangegangenen Antipathie gegenüber den Bettelhines wirft Ihre Anwesenheit die meisten Fragen auf.«

»Ich glaube nicht.«

»Jason und Jelaine?«

»Nein«, sagte ich. »Ich glaube, die heben wir uns auch noch eine Weile auf.«

»Wer dann?«

Ich nagte nachdenklich an meiner Lippe. »Mendez«, sagte ich dann.