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DAS TESTAMENT DES KHAAJIIR
Als wir fünf die Suite verließen und in die besudelte Pracht des Salons der Königlichen Kutsche zurückkehrten, traten auch die anderen nach und nach ein und nahmen ihre Plätze an der Bar ein. Der gemeinsame Nenner in dieser Gruppe war nicht Furcht, sondern Erschöpfung. Sie alle waren viel zu viele Stunden unter höchst anstrengenden Bedingungen auf den Beinen, und das Adrenalin, das sie in den Anfangs stadien der Krise aufrecht gehalten hatte, hatte ihre Reserven angezapft und weitgehend erschöpft. Nicht in allen Gesichtern zeigte sich die Anspannung, aber bei allen war sie an der resignierten Haltung erkennbar, beinahe so, als wäre die Schwerkraft in den Stunden, seit wir uns zu einem friedlichen Mahl an den Tisch gesetzt hatten, stärker geworden.
Unter all diesen Leuten schien Dejah diejenige zu sein, die durch die Ereignisse der letzten paar Stunden am wenigsten in Mitleidenschaft gezogen wurde. Wären wir in diesem Moment befreit worden, hätte ich mich nicht gewundert, wenn sie einen netten Zehn-Kilometer-Lauf vorgeschlagen hätte oder vielleicht eine Klettertour oder zwei in den Bergen. Sie mochte nach der Zeit im Interschlaf noch aufgedrehter sein, als die Porrinyards und ich es gewesen waren, aber ich war nicht bereit, mich mit dieser schlichten Erklärung allein zufriedenzugeben. Erschöpfung war jedoch anscheinend nicht in dem physischen Vokabular ihres Körpers verzeichnet, so wenig wie Verzweiflung im emotionalen ihrer Seele. Sogar jetzt las ich eine versteckte Botschaft in dem Nicken, mit dem sie mich bedachte, als sie mich auf dem Weg zu ihrem Platz passierte: Ich bin bereit.
Dina Pearlman durchbohrte mich mit ihrem Blick, als sie mein Gesicht auf der Suche nach Anzeichen für weitere Beschuldigungen studierte, und als sie an mir vorüberstürmte, hörte ich sie etwas darüber murmeln, dass sie hoffe, das wäre bald vorbei.
Ihr Ehemann Farley sah verschwitzter und elender aus als alle anderen. Seine Augen waren blutunterlaufen, und auf seiner Jacke prangte ein frischer, glänzender Fleck auf Brusthöhe. Da es dort unten keine Speisen und keine Getränke gegeben hatte, nahm ich an, dass ihm schlecht geworden war -nicht verwunderlich, wenn man all das in Betracht zog, was er in den Nachwehen des Ablebens des Khaajiir hatte in sich hineinkippen müssen.
Monday Brown nickte mir professionell zu, ehe er sich nach Philip umsah und neben ihm Stellung bezog. Es war kaum zu übersehen, wie seine Haltung, steif wie ein Ladestock, immer formeller wurde, je näher er dem höchstrangigen Bettelhine an Bord kam. Ich konnte mir keinen Menschen vorstellen, der besser als rechte Hand des großen Hans geeignet gewesen wäre. Aber nun verstand ich auch die Spur der Traurigkeit, die ich an ihm gespürt hatte. Im Stillen fragte ich mich, was für ein Mann er wohl gewesen wäre, hätte es ihm freigestanden, ein Leben nach eigenem Gutdünken zu leben.
Vernon Wethers wählte einen Platz neben Philips anderer Schulter. Anders als Brown, der in Gegenwart seines Arbeitgebers Format gewann, wurde Wethers sichtbar kleiner, erschien weniger als eigenständige Präsenz denn als zusätzliche Komponente der allumfassenden Atmosphäre. Als er erkannte, dass ich ihn musterte, wandte er hastig den Blick ab. Ich überlegte, ob er dahingehend konditioniert worden war, solch eine schwere Last sozialer Unzulänglichkeit mit sich herumzutragen, oder ob er die schon seit seiner Kindheit auf seinen Schultern trug.
Arturo Mendez marschierte zum Tresen und bezog neben ihm Position, wartete, die Hände hinter dem Rücken verschränkt, auf den passenden Moment, sich in Erfüllung seiner persönlichen Aufgaben hervorzutun. Seine lächerliche Uniform mit der Schärpe und den Epauletten war unberührt von all den üblen Ereignissen des Tages. In Anbetracht dessen, was wir über ihn wussten, kam ich in Versuchung, ihn mir in seiner natürlichen Umgebung vorzustellen: braun gebrannt mit nacktem Oberkörper, die Haut glitzernd von der Nässe, die von einem erst kurze Zeit zurückliegenden Sprung in das türkisblaue Meerwasser stammte. Ich nahm an, dass ein Teil von ihm hinter diesen dienstbeflissenen Augen nie aufhörte, vor Kummer zu schreien.
Loyal Jeck baute sich ihm gegenüber in identischer Haltung auf, doch sein zierlicher Körperbau und seine zurückhaltende Persönlichkeit ließen ihn beinahe unsichtbar erscheinen. Da war nichts in seinem Gesichtsausdruck, nichts in seinen Augen, nichts in seinem Charakter, das irgendetwas anderes als Dienstbeflissenheit vermittelte. Er hatte in den Stunden, die wir zusammen verbracht hatten, nicht viel gesagt, doch hatte auch niemand seinen Beitrag vermisst. Seine spröde Art, seine innere Leere schufen den Eindruck einer Porzellanfigur, die nur auf den Moment wartete, in dem sie zerschmettert wurde.
Colette Wilson strahlte vielleicht kein Licht mehr aus, leuchtete aber immer noch aus sich heraus, und ihre entschiedene Fröhlichkeit und Hilfsbereitschaft zeigte sich auch noch unverkennbar in ihren Zügen, als sie diesen mit grimmigen, stirnrunzelnden Gesichtern angefüllten Raum betrat. Seit ich sie das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie ihr Make-up nachgebessert. Im Vorübergehen blinzelte sie mir zu. Zweifellos stellte sie sich noch immer vor, in unmittelbarer Zukunft meiner Entspannung zu dienen. Zu meinem persönlichen Entsetzen ging sie zurück hinter den Tresen, als rechne sie damit, weiter Getränke zu servieren, während ich mich darauf vorbereitete, mit dem Finger auf den Schuldigen zu zeigen. Die Porrinyards sahen, dass sie wieder an die Arbeit gehen wollte, aber Oscin brauchte nur einen Moment, um sie zu einer nahen Couch umzuleiten und neben Farley Pearlman zu platzieren. Ihr hübsches Gesicht spiegelte lediglich gehorsames Interesse wider. Sollte sie im Inneren schreien, so müssen ihre Schreie sogar noch erbärmlicher geklungen haben als die von Arturo. Ich wollte es nicht wissen.
Bald waren alle im Halbkreis versammelt und starrten mich an. Colette Wilson und Farley Pearlman saßen Seite an Seite auf der Couch. Dejah Shapiro und Dina Pearlman umrahmten sie auf je einem schräg zu der Couch stehenden Sessel. Arturo Mendez stand zusammen mit Paakth-Doy zu unserer Linken, Loyal Jeck hatte eine gleichwertige Habachtstellung auf der rechten Seite inne. Die Porrinyards standen ein Stück hinter mir, Oscin links von mir, Skye rechts. Die Bettelhines und ihre Assistenten verweilten noch immer etwa fünf Schritte hinter der Couch, auf der Colette und Wilson saßen, Jason ganz links neben Brown. Nach Brown kam Philip, dann Wethers und, ganz rechts, Jelaine. Es war unmöglich, in Brown und Wethers keine schützenden Klammern zu sehen, die Philip vor dem Einfluss seiner seltsamen Geschwister Jason und Jelaine abschirmen sollten.
Der Sessel, auf dem noch immer der Leichnam des Khaajiir ruhte, befand sich hinter uns - seine leblose Gestalt nur ein Schatten, der immer tiefer in die Kissen sackte, während sein Inneres immer leerer wurde.
Wenn das die Art und Weise sein sollte, in der wir den Rest des Weges bis zur Bekanntgabe des Namens hinter uns bringen wollten, dann sollte es so sein. Aber es war unwahrscheinlich, dass das Ganze ohne Blutvergießen vonstatten ging.
Ich blickte nacheinander jedem in die Augen, hustete dann in die geschlossene Faust und ergriff das Wort.
»Ich weiß, das war eine lange Nacht, und so leid es mir tut, sie wird noch länger.
Vor einer Weile haben Mr Bettelhine und Mrs Shapiro dem Mörder des Khaajiir Amnestie im Gegenzug für seine Kapitulation angeboten. Beide Angebote sind inzwischen ungültig geworden, aber ich werde ein weiteres Angebot machen. Wir wissen bereits, wer Sie sind. In wenigen Minuten werde ich Ihren Namen nennen. Wenn Sie aber jetzt vortreten und mir die Mühe ersparen zu erklären, wie wir zu diesem Schluss kommen konnten, dann verspreche ich, Sie werden weder verletzt noch getötet, wenn wir Sie in Gewahrsam nehmen.
Auch das ist ein einmaliges Angebot, und ich werde im Gegensatz zu den anderen nach Fristablauf keine zusätzlichen Sekunden gewähren in der Hoffnung, dass Sie doch noch nachgeben.
Sie haben zehn Sekunden.«
Niemand wandte den Blick von mir ab. Inzwischen rechnete niemand mehr mit einem einfachen Geständnis. Damit rechnete auch ich nicht, aber einen Versuch war es wert.
Als die zehnte Sekunde ablief, sagte ich: »Also schön. Sie wurden gewarnt.
Diese Erklärung lässt einige persönliche Informationen über das Leben mancher Bettelhines in unserem Kreis außer Betracht und verzichtet auf die Erwähnung gewisser fragwürdiger Sicherheitsmaßnahmen des Konzerns, die mit Philip, Jason und Jelaine bereits erörtert wurden.
Außerdem bleiben etliche Fragen außen vor, die unbeantwortet bleiben. Ich werde ein paar von ihnen unterwegs anschneiden, aber es ist nicht nötig, dass Sie weitere Informationen dazu erhalten oder über die Daten in Kenntnis gesetzt werden, die wir den persönlichen Dateien des Khaajiir verdanken, damit Sie in der Lage sind, den speziellen Pfaden zu folgen, die uns zum Mörder des Khaajiir führen.«
Ich hustete, suchte in den Gesichtern der aufgereihten Verdächtigen nach Anzeichen dafür, dass mir irgendjemand zuvorkommen könnte, und fuhr fort.
»Also, was Sie nun über das Verbrechen selbst erfahren, sollten Sie im Kopf behalten.
Der Khaajiir wurde mit einer Klaue Gottes der K'cenhowten ermordet, der Art von Waffe, mit der die Bocai-Attentäter auf Layabout zuvor mich zu ermorden versucht haben.
Viel später erfolgte noch ein Mordversuch an Mr Wethers und mir, bei dem eine weitere antike Waffe zum Einsatz kam, die als Feuerschlange bezeichnet wird.« Verwundertes Gemurmel erfüllte den Raum. »Ich glaube, das war lediglich ein Ablenkungsmanöver, das dazu gedacht war, die wahren Absichten des Mörders zu verschleiern, und ich erwähne es nur der Vollständigkeit halber. Wir werden es nun erst einmal beiseiteschieben und uns auf die Benutzung der Klaue Gottes konzentrieren.
Die erste, kritische Frage: Warum sollte man so nahe an einer Zivilisation, die auf der Entwicklung von Waffen fußt und vermutlich den Zugriff auf eine Vielzahl praktischer Alternativen ermöglicht hätte, eine so seltene und obskure Waffe benutzen?
Gewiss nicht aus religiösen Gründen. Die Sekte, die diese Waffe ursprünglich entwickelt und benutzt hat, existiert schon seit etwa sechzehntausend Jahren nicht mehr. Es gibt keine Hinweise darauf, dass sie unter Bocai je Verbreitung gefunden hat. Das persönliche Interesse des Khaajiir an der Geschichte der K'cenhowten war akademischer Natur und basierte weniger auf den Verbrechen, die im Zuge ihres dunklen Zeitalters verübt wurden, als auf den großartigen Leistungen der historischen Khaajiirel, denen es gelungen ist, in den nachfolgenden Jahren ein gewalttätiges Nachspiel zu verhindern. Den Mord mit einer Klaue Gottes zu begehen, mag symbolischen Wert haben, wie ich annehme, aber wen außer einem Historiker würde das interessieren?
Nein. Den Khaajiir oder mich mit einer Klaue Gottes zu ermorden, hat keinen anderen Grund als den, ein wenig Verwirrung unter denen zu stiften, die das Verbrechen später aufklären mussten, indem ihre Aufmerksamkeit auf eine längst vergangene Zeit gelenkt und eine Verbindung zu der wissenschaftlichen Arbeit des Khaajiir angedeutet wurde.
Die gleiche Wirkung würde auch bei jedem anderen Mord in seinem Umfeld erzielt werden. Umso mehr, hätte der Anschlag auf mich mit meinem Tod geendet. Jeder hätte gesagt: Oh, na ja, sicher, die Bocai haben sie gehasst, beinahe so sehr, wie sie den Khaajiir gehasst haben, weil er ihr vergeben wollte. Eine Waffe zu benutzen, über die er geschrieben hat, um sie zu ermorden, ist nur ein Ausdruck ausgleichender Gerechtigkeit.
Und doch ist die symbolische Wirkung des Anschlags auf mich mit größter Wahrscheinlichkeit nur ein Zufall, da einer der ersten Punkte, die wir festlegen konnten, war, dass der zeitliche Ablauf mit hoher Wahrscheinlichkeit auf eine Verschwörung schließen lässt, die längst im Gange war, ehe irgendjemand wissen konnte, dass ich nach Xana reisen würde.
Die Bocai mussten rekrutiert und die Klauen Gottes beschafft werden. Nachfolgende Ereignisse machen deutlich, dass die technischen Herausforderungen, die Königliche Kutsche zu sabotieren, überwunden werden mussten. Das Gleiche gilt dafür, die Kontrolle über die Sicherheitskräfte der Bettelhines zu erlangen.
Nein, für die Attentäter von Bocai war ich nur ein Gelegenheitsopfer, eines, das sie angegriffen haben, weil sie Bocai waren, die mich gehasst haben; tatsächlich aber hatte man sie dort wegen einer anderen Zielperson positioniert, einer Person, bei deren Ermordung diese spezielle Waffe geeignet war, die Sache beinahe ebenso verworren zu gestalten.
War der Khaajiir die Person, um die es in erster Linie ging? Das war mein erster Gedanke, vor allem, da er später tatsächlich zum Opfer wurde. Und es schien einen Sinn zu ergeben, da er Auseinandersetzungen provoziert hat, indem er sich für eine Amnestie für die Verbrechen eingesetzt hat, die ich einst auf Bocai begangen habe.
Andererseits konnten wir auch feststellen, dass es keinen Grund zu der Annahme gab, dass er Layabout an diesem Tag überhaupt betreten würde. Jeder, der von ihm wusste, wusste auch, dass er gebrechlich war und sich nur äußerst selten aus der unmittelbaren Umgebung seiner Gastgeber entfernte. Einen Hinterhalt für ihn in einem Wartebereich einzurichten, den er nie betreten würde, ergibt keinen Sinn.
Meine auf Tatsachen beruhende Vermutung?« Ich deutete auf Dejah, die nicht im Mindesten überrascht schien und anerkennend nickte, nun, da wir den Rubikon überschritten hatten, mit dessen Auftauchen sie längst gerechnet hatte. »Dejah ist eine machtvolle und einflussreiche Person, um deren Anwesenheit monatelang gebuhlt worden war, ehe sie endlich zugestimmt hat. Damit hätte es für Verschwörer auf Xana selbst - die sich dem Wunsch der Bettelhines in den Weg stellen wollten, Dejah hier zu empfangen - mehr als genug Zeit gegeben, um einen öffentlichen Anschlag auf sie vorzubereiten, der exakt am Tag ihrer Ankunft stattfinden sollte, begangen von fanatischen Angehörigen einer unbedeutenden Spezies mit den Fanatikerwaffen einer anderen Spezies. Wäre sie anstelle von mir auf Laybout gewesen und mit einer Klaue Gottes getötet worden, so hätten sich alle weiteren Ermittlungen blindlings auf eine mögliche Verbindung zwischen ihr und dem Khaajiir konzentriert und so den weitaus naheliegenderen Punkt verschleiert, dass die Bettelhines und ihre Leute in ihr einen gefährlichen Feind gesehen und schon früher versucht hatten, sie zu ermorden.
Diese Theorie wird übrigens durch die Tatsache gestützt, dass sie nicht lange nach mir auf Layabout eingetroffen ist und die Umstände bereits darauf schließen ließen, dass die Attentäter in mir nur eine Zielperson gesehen haben, weil die Gelegenheit so günstig war.«
Ich warf die Hände in die Luft. »Offen gestanden liegt jedoch die wahre Identität des primären Opfers auf Layabout auch für mich nach wie vor im Dunkeln. Ich weiß nicht, ob die Mörder hinter Dejah her waren und durch mein Auftauchen abgelenkt wurden, oder ob sie hinter dem Khaajiir her waren und durch mein Auftauchen abgelenkt wurden. Ich weiß nicht einmal, ob sie doch die ganze Zeit mit meiner Ankunft gerechnet haben und durch einen anderen Einfluss gestört wurden. Aber das ist auch nicht wichtig, denn jede dieser Möglichkeiten passt gleich gut zu den vorliegenden Fakten.
Letzten Endes ist es durchaus wahrscheinlich, dass wir alle drei Zielpersonen waren.
Wir waren alle Anomalien.
Wir wurden alle unter Schirmherrschaft ihres Vaters durch Jason und Jelaine eingeladen - jene zwei Personen, die die meisten Aktivitäten in Hinblick darauf entwickelt haben, radikale Veränderungen in der Konzernpolitik herbeizuführen, und deren Zugriff auf die geeinte Macht des Unternehmens auf Philips Kosten für alle, die wussten, dass Philip eigentlich derjenige war, der als Nachfolger herangezogen worden war, widersinnig erscheinen musste.
Können die Verschwörer genau gewusst haben, was zwischen Jason, Jelaine und ihrem Vater los war? Ich bezweifle es, aber auch das ist nicht wichtig. Bedenken Sie: Der Leiter eines Unternehmens, das sich der Entwicklung machtvoller Waffen verschrieben hat, geht eine enge, unerklärliche und unauflösbare Beziehung zu einem obskuren Akademiker einer fremden Spezies ein. Er verbringt das nächste Jahr damit, die Prioritäten des Konzerns grundlegend zu verändern, eliminiert profitable Projekte und initiiert andere, bei denen auf den ersten Blick kein unmittelbarer Profit erkennbar ist. Er übergeht den Sohn, den er als Erben der Macht aufgezogen hat, und fängt an, einem anderen Sohn, dessen Beständigkeit und Loyalität seit den Jahren der Abwesenheit in seiner Kindheit in Frage stehen, immer mehr Entscheidungsgewalt zu übertragen. Er lädt eine langjährige Gegnerin, Dejah, ein, ihn zu besuchen. Zugleich lädt er eine umstrittene Staatsanwältin der Konföderation ein.
Betrachtet man all diese Ereignisse aus der Perspektive von Parteien, die nicht wissen können, warum sie stattfinden, deren Loyalität zudem ausschließlich dem Konzern gilt, wie sollte man dann nicht verstehen, dass diese Parteien unausweichlich zu dem Schluss kommen mussten, dass Hans Bettelhine auf irgendeine Weise umgedreht wurde, möglicherweise gegen seinen Willen? Dass all das eine offensichtliche Gefahr für die Familie und den Konzern im Ganzen darstellt? Und dass dagegen alles Menschenmögliche getan werden muss?
Ich persönlich glaube, ich stehe mitten im Zentrum der ganzen Geschichte und nach wie vor auf verlorenem Posten, denn ich weiß immer noch nicht, warum ich hier bin, und ich weiß nicht, was Jason und Jelaine vorhaben. Und ich neige dazu, Philip zu glauben, der sagt, er wisse es auch nicht.
Aber niemand muss über die vollständige Klassifizierung bakterieller Invasoren Bescheid wissen, um eine Infektion zu erkennen, wenn er sie vor Augen hat. Und jeder, der sich für den Schutz des Bettelhine-Konzerns einsetzt, wie er ihn kannte, wäre erst in Aktion getreten und hätte sich später um genaue Erklärungen bemüht.
Unsere Konspiration hat folglich beschlossen, dass die wichtigen Personen im Umfeld von Jason und Jelaine, für deren Anwesenheit es keine Erklärung gibt, zu verschwinden haben. Der wichtigste Joker, der Khaajiir, dürfte so zum vorrangingen Zielobjekt geworden sein. Dann kam Dejah. Und ich nehme an, ich war die Letzte und die mit dem unbedeutendsten Namen.
Aber das konnte nicht in der Öffentlichkeit passieren. Da waren die machtvollen Bettelhines, Jason und Jelaine, die auf keinen Fall verletzt werden durften. Ein Netz der Verschleierung musste gesponnen werden, um die Verbrechen zu tarnen. Die Art der Bedrohung für die Machtstrukturen im Hause Bettelhine musste ausfindig gemacht werden. Und - das ist der kritische Punkt - Jason und Jelaine mussten isoliert und von ihrem Zugriff auf jegliche Ressourcen abgeschnitten werden. Und sie mussten genau beobachtet werden, in der Hoffnung, sie würden irgendetwas sagen oder tun, was geeignet wäre, zu erklären, was zum Teufel sie im Schilde führen.« Ich lächelte. »Kurz gesagt, ich bin nicht die einzige Person, die hier Ermittlungen durchführt.
Darum also geht es. Die nächste Frage lautet folglich, wem geht es darum.
Zumindest bei oberflächlicher Betrachtung scheint Philip der Hauptverdächtige zu sein. Er ist derjenige, der am meisten darüber erzürnt sein muss, was sein Bruder, seine Schwester und sein Vater getan haben. Er hatte nur begrenzt Zugriff auf diesen Vater in einem Abschnitt seines Aufstiegs zur Macht, in dem er normalerweise fast täglich mit dem Mann hätte zusammenarbeiten müssen. Er hatte gesehen, wie ihm sein Einfluss Stück für Stück genommen und zumindest teilweise einer Allianz übertragen wurde, der ein Bruder angehörte, welcher für seine Unbeständigkeit bekannt war. Und, ja«, sagte ich und richtete meine Worte vorübergehend an Philip persönlich, »dafür zolle ich ihm Anerkennung, er war außerdem todunglücklich und unfähig zu begreifen, wie es zu der Entfremdung von seinen Geschwistern hatte kommen können. Er mag ein Bettelhine sein, aber er ist auch ein Mensch.«
»Danke«, sagte Philip.
»Gern geschehen«, entgegnete ich, wandte mich wieder der Allgemeinheit zu und fuhr fort: »Auf jeden Fall hat sich Philip, konfrontiert mit eben diesen Problemen, uneingeladen einen Weg an Bord erzwungen, in der Hoffnung, er könnte hier ein paar Antworten erhalten. Er hat sogar die Pearlmans mitgenommen. Sie sollten ihm helfen, einen Verdacht auszuräumen oder zu bestätigen, über den wir bereits im kleineren Kreis gesprochen haben.
Aber das ist auch genau das, was ihn in meinen Augen von jedem dieser Verbrechen freispricht. Wäre er nur ein habgieriger, profitorientierter Mistkerl, dem allein daran gelegen ist, seine Macht zurückzuerlangen, indem er jeden umbringt, der zwischen ihm und dem Thron des Konzerns steht, so hätte er genug Untergebene, darunter auch Anwesende, die ihm bereitwillig die Drecksarbeit abgenommen hätten. Er wäre nicht hier auf der Königlichen Kutsche, so nah am Geschehen und folglich all den Gefahren ausgesetzt, hätte er gewusst, was passieren würde.
Nein, soweit es mich betrifft, dürfte sein überraschendes Auftauchen von seiner Seite aus zwar eine Verzweiflungstat gewesen sein, aber es war eine friedfertige Verzweiflungstat. Möglicherweise die Letzte, ehe er zu radikaleren Maßnahmen gegriffen hätte. Dennoch war er in diesem Fall friedfertig.
Er ist die erste Person, die wir für unschuldig erklären können.
Wen sonst noch? Die Mannschaft?« Bei diesen Worten konzentrierte ich mich auf die Stewards. »Ich habe den Bettelhines bereits erklärt, dass jeder von Ihnen, Arturo, Loyal, Doy oder Colette, dem Täter geholfen haben könnte, persönlich oder auch gemeinsam. Wüsste ich nicht, wer diesen Mord begangen hat, so wären Sie alle hervorragende Verdächtige. Aber wenn wir hier fertig sind, wird nur noch die Frage Ihrer möglichen Beteiligung an der Konspiration zu klären sein.
Nein. Am Ende hat diese Tat etwas mit persönlicher Macht zu tun. Wer in diesem Raum hat genug Einfluss, um eine große Anzahl von Personen - die Autoritäten auf Layabout und die militärischen Kräfte um uns herum eingeschlossen - in einer Verschwörung dieser Größenordnung zu vereinen? Und sei es durch die Manipulation einiger weniger Personen in Schlüsselpositionen?
Offen gesagt, nur zwei von Ihnen.
Monday Brown, der persönliche Assistent von Hans Bettelhine. Und Vernon Wethers, persönlicher Assistent von Philip Bettelhine. Kommen Sie doch bitte zu mir.«
Die beiden Assistenten sahen erst einander und dann ihre Herren und Meister an. Diese nickten und bestätigten mit einer Geste wortlos, dass von ihnen erwartet wurde, sich zu fügen. Brown sah gleich um einige Grade gestrenger aus, und Wethers schluckte hörbar. Aber beide ließen die Bettelhines allein, kamen um die Couch herum und stellten sich in der Mitte des Kreises neben mir auf.
»Das nehme ich übel«, sagte Brown.
»Ich ebenfalls«, sagte Wethers in einem weitaus weniger souveränen Ton. »Nach all den Jahren, in denen ich ...«
»Bitte«, sagte ich und brachte beide zum Schweigen. »Jeder von Ihnen agiert als Repräsentant und gelegentlicher Stellvertreter des Bettelhines, in dessen Diensten Sie stehen. Jeder von Ihnen hat die Möglichkeit, sich nach eigenem Gutdünken kreuz und quer durch das System zu bewegen, ohne jemandem eine Erklärung abgeben zu müssen, womit Sie auch in der Lage sind, eine Operation dieser Größenordnung zu organisieren. Und jedem von Ihnen kann nachgesehen werden, dass er sich so sehr mit der Bettelhine-Familie identifiziert hat, dass er sich gezwungen sah, zu verzweifelten Maßnahmen zu greifen, um die Zukunft der Familie zu sichern.«
Ich wandte mich Monday Brown zu. »Monday, Sie könnten beobachtet haben, dass Hans Bettelhine angefangen hat, eine destruktive Politik zu betreiben, und keine Möglichkeit gesehen haben, auf irgendeine andere Weise einzugreifen.« Dann Vernon: »Vernon, Sie könnten miterlebt haben, wie Philip aufgrund einer Politik mehr und mehr kaltgestellt wurde, die den Geschäften der Bettelhines, so wie Sie sie verstehen, nur schaden konnte.«
Die beiden Männer huben im gleichen Moment an zu sprechen. Brown sagte: »Das ist...« Wethers: »Ich bin nicht...«
Philip Bettelhine brachte sie mit einem einzigen, lautstarken Wort zum Schweigen. »RUHE!«
Beide Männer verstummten mitten im Satz.
Ich wusste nicht, ob es an seiner Autorität lag oder an den internen Reglern, aber wie dem auch sei, es funktionierte. Beide schienen die Sprache verloren zu haben. Noch immer glühte ein gewaltiger Hass in ihren Gesichtern, aber sie würden sich von nun an kooperativ verhalten. Sie hatten keine Wahl.
Dina Pearlman feixte. Stolz auf ihr Werk? Oder war es lediglich das Vergnügen, das eine Frau wie sie naturgemäß empfinden musste, wenn sie zusehen durfte, wie höherstehende Personen gedemütigt wurden?
Ich wartete, bis die Stille an Gewicht gewonnen hatte, und fuhr fort. »Jeder von Ihnen könnte sich veranlasst gesehen haben, zu drastischen Maßnahmen zu greifen. Jeder von Ihnen könnte diesen Ablauf der Ereignisse in Gang gesetzt haben.
Und es ist wohl kein Zufall«, setzte ich mit erhobener Stimme hinzu, »dass jeder von Ihnen imstande war, die notwendigen Zutaten zu beschaffen: die Klauen Gottes und die Feuerschlange. Wir haben im Zuge der Ermittlungen herausgefunden, dass der Konzern erst vor ein paar Jahren versucht hat, die Klauen für den Einsatz als Langstrecken-Orbitalwaffe nachzubauen ...«
Dejah schlug die Hand vor die Augen. »Ich wünschte, das hätte mich bei diesen Leuten nicht überrascht.«
Ich grinste sie an. »Ja, der bloße Gedanke ist schon übelkeiterregend. Aber darum geht es nicht. Die Tatsache, dass solch ein Projekt existiert hat, deutet darauf hin, dass der Konzern funktionierende Klauen in seinem Besitz hatte oder zumindest imstande war, Prototypen zu Testzwecken herzustellen, irgendwo in einer der vielen Forschungsstätten. Es kommt nicht darauf an, ob es sich um echte Antiquitäten handelt oder um moderne Prototypen. Das Gleiche gilt für die Feuerschlange, die für einen Waffenhersteller, der alte Technologien ausplündert, um Ideen zu sammeln, ebenfalls von großem Interesse sein muss. Aber was beide Waffen betrifft: Würde der Konzern die vorhandenen Modelle einfach entsorgen oder irgendwo in eine Vitrine legen? Was denken Sie?«
»Ich stimme für die Vitrine«, sagte Dejah. »Wozu eine potenziell wertvolle Ressource vergeuden.«
»Exakt. Und irgendwie ist einer von Ihnen«, sagte ich und zeigte auf Brown und Wethers, »auf die Idee gekommen, sie für diese Sache zu benutzen. Also haben Sie sie an sich gebracht. Niemand hätte sich einem von Ihnen in den Weg gestellt. Immerhin musste jeder, der mit der Verantwortung betraut wurde, ein Auge auf derart gefährliche Gegenstände zu haben, dahingehend konditioniert worden sein, autorisierten Personen den Zugriff zu gewähren, und wer könnte eine höhere Autorisation haben als Sie?
Wären wir nicht in dieser Notlage, wären wir imstande, Kontakt zur Oberfläche aufzunehmen und die Einrichtung ausfindig zu machen, in der die Klauen Gottes und die Feuerschlange aufbewahrt wurden, dann könnten wir es dabei belassen, denn dann wäre es ein Leichtes herauszufinden, wer von Ihnen sich Zugriff darauf verschafft hat.
Wir wären außerdem in der Lage, festzustellen, wer von Ihnen seinen Einfluss missbraucht hat, um Hans Bettelhine irgendwohin zu rufen, kurz bevor die Königliche Kutsche Anchor Point verlassen hat, und so dafür zu sorgen, dass er nicht an Bord ist und folglich durch diese Ereignisse nicht gefährdet werden kann.
Leider sind wir von der Außenwelt abgeschnitten und können all diese Fragen derzeit nicht klären. Aber wir werden es können, wenn wir schließlich das Beweismaterial gegen Sie zusammentragen.
Wie auch immer, die Aussicht auf eine lange Fahrstuhlfahrt in Gegenwart all der Leute, die Ihnen Kopfzerbrechen bereitet haben - Jason, Jelaine, Dejah, der Khaajiir und ich - hat Ihnen am Ende auch noch eine wunderbare Gelegenheit geboten, uns alle zusammen an einem Ort zu haben, an dem wir von dem Machtgefüge, das Sie beschützen wollen, abgeschnitten wären. Sie konnten nicht warten, bis wir Xana erreicht hätten. Sie mussten feststellen, was wir vorhaben, und uns, falls notwendig, neutralisieren, ehe wir dort ankommen. Daher war es wichtig für Sie, den Nothalt und den Zusammenbruch der Kommunikationseinrichtung zu initiieren, und zu streuen, was immer an falschen Informationen nötig war, um die Sicherheitskräfte davon abzuhalten, uns zu Hilfe zu kommen. Das ist auch der Grund, warum sie in all den Stunden, die seit dem Tod des Khaajiir vergangen sind, kein weiteres Mal getötet haben. Es geht nicht nur darum, dass jeder jeden beobachtet. Es geht darum, dass Fragen gestellt werden, weil Sie die Antworten ebenso dringend hören wollen wie wir. Hätte ich nicht darauf bestanden, eigene Ermittlungen aufzunehmen, so hätten Sie den gleichen Vorschlag gemacht.«
Meine nächsten Worte waren sanfter, als ich selbst es erwartet hatte, sehr viel sanfter als alles, was ich bis dahin gesagt hatte. Ich sprach zu den Menschen hinter den starren Gesichtern, den Seelen in ihren Käfigen, die zu diesen Verbrechen getrieben worden waren. »Ich empfinde Mitleid mit Ihnen. Aufrichtiges Mitleid. Gewissermaßen sind Sie nicht verantwortlich für das, was Sie getan haben. Getrieben von einer Loyalität, die Ihnen aufgezwungen wurde, haben Sie den Bettelhines gedient, so gut Sie nur konnten. In Anbetracht Ihres Verdachts hinsichtlich einer internen Verschwörung, der Sie ob der Frage, wem Sie noch trauen können, schier zur Verzweiflung getrieben haben muss, haben Sie ihnen auf die einzige Weise gedient, die Ihnen noch möglich schien.
Aber dennoch haben Sie den Khaajiir ermordet.
Und dennoch sind Sie immer noch eine Bedrohung für alle anderen an Bord.
Und da wir Ihre Identität nicht feststellen können, indem wir uns mit Xana in Verbindung setzen und herausfinden, wer von Ihnen die Klauen in seinen Besitz gebracht und die notwendigen Anweisungen erteilt hat, könnten wir mit leeren Händen dastehen und hier festsitzen, bis uns die Luft oder das Essen ausgeht.«
Ich atmete tief durch.
»Aber glücklicherweise haben wir ein wenig Hilfe erhalten.
Der Khaajiir selbst hat uns verraten, wer Sie sind.«
Diese Worte lösten einen Tumult unter allen außer den Porrinyards und den Bettelhines aus, die wussten, worauf ich hinauswollte: verblüfftes Keuchen, aufgeregtes Geplapper unter denen, die sich verzweifelt zu erinnern suchten, was der Khaajiir gesagt haben mochte und wann er es gesagt haben mochte.
Ich gestikulierte Stille gebietend.
»Über einen Punkt müssen Sie sich im Hinblick auf den Khaajiir im Klaren sein: Er war ein Bocai, ein Angehöriger einer Spezies, die nur ein geringes Talent besitzt, nach der Adoleszenz neue Sprachen zu erlernen. Um dieser Beschränkung zu begegnen, hat er seinen Stab als persönliches Übersetzungssystem benutzt, ohne das er unfähig gewesen wäre, mit anderen Spezies zu kommunizieren.
Außerdem wissen wir von einer skurrilen Eigenschaft des Khaajiir, die so gar nicht zu diesem zentralen Punkt passen will: Er selbst hat seinen Hang zu multilingualen Wortspielen erwähnt. Als wir uns erstmals begegneten, hat er mich mit einer sekundären Bedeutung meines Namens, Cort, beglückt und mit weiteren Interpretationen zu den Namen Oscin und Skye. Außerdem hatte er zusätzliche Informationen zur Ableitung des Namens Porrinyard zu bieten. Und an seinem Titel, Khaajiir, ein Wort aus der Sprache der K'cenhowten, gefielen ihm besonders die zufälligen Übereinstimmungen mit seinem Bocai-Namen. Wir wissen, dass er Mr Mendez mit ähnlichen Informationen ergötzt hat. Ich bin überzeugt, dass er dies auch mit allen anderen Anwesenden gemacht hat, habe ich recht?«
Paakth-Doy hob die Hand. »Als ich ihn auf dem Weg nach oben bedient habe, hat er mir von einem ausgestorbenen Lasttier erzählt, das von den alten Riirgaanern, die es domestiziert haben, Paarkth genannt wurde. Nicht ganz mein Name, Paakth, aber sehr ähnlich.«
Es wurde laut im Salon. Colette hatte er von einem anderen, antiquierten Wort, coquette, erzählt. Jelaine war über bestimmte Worte in den Sprachen verschiedener Spezies, von denen ich noch nie gehört hatte, in Kenntnis gesetzt worden, die Ähnlichkeit mit dem Namen Bettelhine hatten. Oscin hatte eine Lektion über geistreiche Ableitungen der Planetenbezeichnung Xana erhalten. Von all dem hatte ich nichts gewusst, aber es überraschte mich nicht. All das passte wunderbar zu dem kindlichen Vergnügen, das der monolinguale Khaajiir ob der unbegrenzten Möglichkeiten eines kulturübergreifenden Vokabulars empfand.
Ich wartete, bis der Augenblick der gemeinsamen Erkenntnis vorüber war, ehe ich sagte: »Aus dem Ärmel geschüttelte Bemerkungen wie diese haben viel dazu beigetragen, dass er in dem Ruf stand, äußerst belesen und gebildet zu sein, aber wenn man einen Augenblick nachdenkt, stellt man schnell fest, dass er gar nicht so viel zu diesen Bemerkungen beigetragen hat. Er hat falsch gespielt.«
Dejah begriff als Erste. »Sein Stab.«
»Das ist korrekt«, sagte ich. »In sein Übersetzungsprogramm waren Datenbanken mit lebenden und toten Sprachen eingebunden, die es ihm erlaubten, jederzeit mit irgendeinem Wortspiel aufzuwarten.
Und das hat er sich zur Gewohnheit gemacht, weil es ihm Spaß gemacht hat, weil er andere Leute damit beeindrucken konnte, und - in meinem Fall und in ich weiß nicht wie vielen anderen - weil es auflockernd wirkt und hilft, angespannte Situationen zu bewältigen. Sehen Sie mich an. Ich habe ihn gehasst, ehe er diesen Cort/Court-Vergleich gebracht hat. Danach habe ich ihn als geschwätzig und harmlos eingestuft.«
»Langweilig, nicht zu vergessen«, sagte Dina. »Und was hat das mit irgendetwas anderem zu tun?«
Ich nickte Skye zu, die sofort kehrtmachte und zu dem Sessel ging, auf dem noch immer der Leichnam des Khaajiir ruhte. Der Sessel hatte einen drehbaren Fuß, und als sie ihn umdrehte, keuchten viele der Anwesenden beim Anblick des fortgeschrittenen Zerfalls der Leiche auf, die immer noch weitgehend dieselbe Haltung eingenommen hatte, aber noch tiefer in die Polster gesunken war, während ihre Innereien versickert waren. Soweit ich es beurteilen konnte, war er ein freundliches, wohlmeinendes Wesen, das niemandem Böses wollte, aber nun war er nur noch totes Fleisch.
Weder Brown noch Wethers gaben einen Ton von sich. Als ich mich ihnen wieder zuwandte, trugen beide eine versteinerte Miene zur Schau und warteten darauf, dass ich zur Sache kam.
»Das ist ein furchtbarer Tod«, sagte ich. »Aber nicht so schmerzhaft, wie es scheint. Man hat mir heute Abend erklärt, dass die Klaue Gottes eine kleine Gnade gewährt, indem sie die Schmerzrezeptoren röstet, sodass das Opfer von den Dingen, die in ihm vorgehen, nicht viel mitbekommt. Der Khaajiir könnte mehrere Minuten lang in dem Sessel gesessen haben und von innen geschmolzen sein, und er wäre lediglich schwächer geworden, je mehr Blut er verlor. Und weil das Sitzpolster den größten Teil des Bluts aufgesogen hat und die Armlehnen verhindert haben, dass etwas zu den Seiten heraussickert, haben wir alle nicht gemerkt, was los war, bis es zu spät war. Der Khaajiir, der keinen Schmerz empfunden hat, hätte es beinahe selbst nicht gemerkt. Aber mir ist Folgendes aufgefallen. Skye?«
Skye hob den linken Arm des Khaajiir am Handgelenk an und offenbarte eine Handfläche, die mit schwarzen Flecken getrockneten Blutes übersät war.
»Und das.«
Sie zeigte auf den winzigen Blutfleck an der Nasenspitze des Khaajiir.
»Leg ihn jetzt bitte so hin, wie wir ihn gefunden haben.«
Sie legte seine linke Hand zurück auf die Armlehne und positionierte die Handfläche auf dem Fleck, den sie hinterlassen hatte. Oscin, der den Stab des Khaajiir hielt, trug ihn zurück zu dem Sessel und legte ihn so hin, wie wir ihn vorgefunden hatten, quer über beiden Armlehnen unter den Armen des Khaajiir.
Wieder begriff Dejah als Erste: »Oh, Juje. Er hat es gewusst.«
»Das ist richtig«, sagte ich zu den anderen. »Die Platzierung der Blutflecken lässt keinen Raum für Zweifel.
Erinnern Sie sich an die ersten Augenblicke nach dem Nothalt. Wir sind in den Nachwehen der Katastrophe alle herumgerannt und waren mit unseren eigenen Sorgen beschäftigt, zu denen einige ernste Verletzungen zählten. Jason und Jelaine haben den Khaajiir, den fragilsten und verwundbarsten Gast, zu diesem Sessel eskortiert und sich vergewissert, dass es ihm gut ging, ehe sie ihn allein gelassen haben, um Verletzten zu helfen, die dringender der Hilfe bedurften. Mehrere andere, darunter Mr Brown und Mr Wethers, haben anschließend nach dem Khaajiir gesehen. Die Klaue Gottes kann irgendwann in dieser Zeit angebracht worden sein. Der Khaajiir mag sogar eine leichte Spannung im Augenblick des Kontakts wahrgenommen haben, aber er hat sich nichts dabei gedacht.
Etliche Minuten vergingen. Niemand von uns hat dem Khaajiir große Beachtung geschenkt, weil wir alle andere Dinge im Kopf hatten. Derweil hat der Khaajiir eine gewisse Schwäche gespürt. Aber er ist alt und gebrechlich und hat seine Empfindung ohne Zweifel dem Schock zugeschrieben, den er erlitten hat.
Aber dann ist etwas passiert.
Entweder hat er gespürt, dass sich unter ihm Flüssigkeit sammelte, und ist darum misstrauisch geworden, oder es war purer Zufall, jedenfalls hat er die linke Hand neben seinem Körper auf das Polster fallen lassen, direkt in das Blut, das sich dort gesammelt hat.
Meine Güte, was ist das?
Er zieht die Hand zurück und sieht, dass sie mit Blut überzogen ist.
Er kann nicht glauben, was er da sieht. Er hebt die Hand an seine Nase, vielleicht will er sie genauer ansehen, vielleicht war er auch gerade dabei, den Geruch einzuordnen, von dem wir zu diesem Zeitpunkt wohl alle ahnten, dass er von ihm ausging. Jedenfalls hat diese Bewegung den Blutfleck an seiner Nase hinterlassen.
Denken Sie immer daran, wer er ist. Er ist ein Experte für das Terrorregime der K'cenhowten. Er weiß, dass eine Klaue Gottes - eine Waffe dieser Gesellschaft, über die er geschrieben hat - am selben Tag bei einem Mordversuch zum Einsatz gekommen ist. Ihm muss sofort klar geworden sein, dass in den letzten paar Minuten eine weitere Klaue Gottes dazu benutzt worden ist, ihn zu töten. Mehr noch, er kann noch zusammenhängend genug denken, um zu erkennen, wer von uns diese schreckliche Tat verübt hat.
Aber er stirbt. Er weiß, dass er stirbt. Er fühlt, dass er das Bewusstsein verliert. Er kann kaum noch den Kopf hochhalten. Ganz sicher kann er nicht die Stimme erheben und den Namen des Schuldigen einfach hinausbrüllen. Und ihm bleiben vielleicht nur noch ein paar Sekunden, um uns zu sagen, was er weiß.
Er kann die Fingernägel dazu benutzen, eine Nachricht in das Gewebe der Armlehne zu kratzen.
Aber ihm läuft die Zeit davon. Ein vollständiges Wort in die Lehne zu kratzen, wird vermutlich mehr Zeit und Kraft erfordern, als er noch hat, umso mehr, wenn er das kunstvolle Bocaier Alphabet benutzt, vermutlich die einzige Schrift, die er beherrscht. Nicht, dass das noch wichtig wäre. Wie sollte er die Zeit finden, den vollständigen Namen eines Menschen in die Lehne zu kratzen, bei all diesen Kringeln und Schnörkeln?
Aber er ist nicht hilflos, unser dahinsiechender Khaajiir. Denn er ist klug, und er hat seinen Stab, das Werkzeug, das es ihm gestattet hat, so herzerfrischend mit Worten zu spielen. Seine rechte Hand ruht auf der Schnittstelle, und er muss sich kaum rühren, um den Namen seines Mörders im Kopf zu formulieren, in der Hoffnung, eine Übersetzung zu erhalten, die er nutzen kann.
Ich weiß nicht, wie viele Möglichkeiten der Stab ihm in den nächsten ein, zwei Sekunden angeboten hat. Angesichts der Leichtigkeit, mit der er das Übersetzungssystem dazu benutzt hat, andere Leute zu beeindrucken, könnten es etliche gewesen sein, darunter eine ganze Anzahl, die sich nicht leicht genug übertragen ließ.
Aber er hat wenigstens eine Übersetzung erhalten, die er nutzen konnte.
Und so war das Letzte, was er getan hat, ehe er das Bewusstsein verlor, drei krumme Zickzacklinien nebeneinander zu ziehen.«
Die Porrinyards zeigten auf die drei Kratzer, die der Khaajiir im Augenblick des Sterbens hinterlassen hatte, und zogen das Zickzackmuster mit den Händen nach.
Ich sah Brown und Wethers an. »Wir wissen, dass das das Letzte war, was er getan hat. Wie ich schon vor einiger Zeit bemerkte, hing eine der Fasern, die er aus der Lehne gerissen hat, immer noch unter einem der benutzten Fingernägel fest.«
Oscin zeigte auf den fraglichen Finger.
»Sekunden später muss er gestorben sein«, sagte ich.
Die Porrinyards überließen den Leichnam und seinen blutigen Gehstock sich selbst, kehrten auf ihre ursprünglichen Plätze zu beiden Seiten von mir zurück und warteten.
Farley Pearlman griff unter seine Jacke und kratzte sich an den Rippen. »Ich kapiere das nicht.«
»Deswegen müssen Sie sich nicht allzu unzulänglich fühlen«, sagte ich zu ihm. »Sie konnten nur darauf kommen, wenn Sie die spezielle Sprache kennen, derer sich der Khaajiir bedient hat. Ich musste selbst den Stab zu Hilfe nehmen, um die vielen möglichen Erklärungen für diese drei Zickzacklinien samt ihren möglichen Interpretationen in anderen Sprachen gegeneinander abzuwägen.
Und ich bin nicht weit gekommen, bis ich auf die Idee kam, dass diese Nachricht für mich bestimmt sein könnte, für die einzige Person im Raum, die Erfahrungen in der Untersuchung von Kriminalfällen hat ... und ich erinnerte mich, dass er, als wir uns unterhalten haben, eine bestimmte menschliche Sprache erwähnt hat, die als Englisch bezeichnet wird. Wäre es nicht sinnvoll, mich auf jene Bedeutungen zu konzentrieren, auf die ich über diesen Dialekt zugreifen konnte?
Danach musste ich nur noch herausfinden, was er geschrieben haben könnte, das einem Bocai ebenso vertraut wäre wie einem Menschen, was mich auf den Gedanken brachte, dass ein natürliches Phänomen, das man überall im Universum finden kann, sehr viel wahrscheinlicher war, als irgendein Symbol, dessen Anwendung auf unsere jeweiligen Kulturkreise beschränkt ist.«
»Rücken Sie endlich mit der Sprache raus«, forderte Philip.
Ich malte noch einmal die drei zerklüfteten Linien in die Luft. »Drei Blitze.«
Und ich sprach ein einziges Wort in der uns allen vertrauten Sprache: Hom.Sap Merkantil.
Und noch immer kapierten sie nicht.
Ich hatte nichts anderes erwartet.
Aber nun drehte ich mich zu dem Mörder um und übersetzte, sprach das vernichtende englische Wort.
»Weathers.«
Wir hatten uns eingebildet, wir wären auf das vorbereitet, was als Nächstes käme.
Doch in den nächsten sechs Sekunden ereigneten sich zwei weitere Morde.