
Eigentlich sollte man meinen, dass die Isländer bei all ihren Familienverpflichtungen, Kindern und Jobs viel zu busy sind, um sich ausgiebigen Hobbys zu widmen. Doch wie du dir sicher denken kannst, finden sie auch dafür noch Zeit. Wer schnell gelangweilt ist, sucht eben stets nach neuen Herausforderungen. »Wir sind immer aktiv«, sagt etwa Hlynur, und seine Frau Viktoría nickt. Zu ihren liebsten Freizeitbetätigungen zählen Motocross fahren, fantasievolle Möhren züchten, Angeln, Scheunenpartys feiern, Beeren und Pilze sammeln, Bootstouren, Jagen und Häuser verpflanzen.
Seit drei Jahren sind die beiden 37-Jährigen ein Paar, sie kennen sich schon aus Schulzeiten, verloren einander aber zeitweise aus den Augen. Viktoría hat zwei Kinder, Hlynur ebenfalls, nun erwarten sie noch ein gemeinsames. Die Patchworkfamilie lebt in Hólmavík, einem 400-Seelen-Ort im östlichen Teil der Westfjorde. Viktoría arbeitet Vollzeit als Projektmanagerin für die Gemeinde, Hlynur ist leidenschaftlicher Fischer, wenn auch ein seekranker.
Das Haus der Familie liegt auf einem Hügel, von dort haben sie den perfekten Blick auf das gemütliche Dorf und den Steingrímsfjörður. Morgens beim Zähneputzen können sie den Walen zuschauen, wie sie beim Luftholen Wasserfontänen ausstoßen. Vor kurzem wäre einer der Kolosse beinahe gestrandet, doch Hlynur und andere Fischer fuhren mit ihren Booten los und retteten ihn, indem sie ihn wieder hinaustrieben. Sie wollten kein »hvalreki«, Walstrandgut, sondern lieber einen glücklichen, lebendigen Wal.
In Viktorías und Hlynurs Garage stehen zwei Motocross-Räder. Jetzt, wo die 37-Jährige schwanger ist, muss sie sich ein wenig zurückhalten, doch momentan kümmert sich das Paar hobbymäßig ohnehin um ein ganz anderes Projekt. Mitte Januar heirateten die beiden in einem hundertjährigen Holzhaus bei Reykhólar. »Die Atmosphäre war so romantisch«, erinnert sich Viktoría. Im Wohnzimmer, das sie zu ihrem persönlichen Traualtar machten, gab es keinen Strom, also stellten sie einfach eine Kerze auf den Tisch.

Hlynur und Viktoría
»Es passten gerade mal unsere Kinder und Eltern hinein, und natürlich der Priester.« Sobald sie sich das Jawort gegeben hatten, lief die kleine Gesellschaft schnell raus, um in der klirrenden Kälte noch ein Hochzeitsfoto zu machen, bevor es wieder dunkel wurde; im Winter geht die Sonne schließlich nur für wenige Stunden auf. Genauso verliebt, wie Viktoría und Hlynur ineinander sind, waren sie sofort in das zweistöckige Holzhaus.
Die Besitzerin wollte es loswerden, also organisierten die Frischvermählten nach ihrer Hochzeitsnacht postwendend einen riesigen Anhänger und brachten ihre »Kapelle« – quasi während der Flitterwochen – ins 88 Kilometer entfernte Svanshóll, das dortige Land gehört Viktorías Eltern. Bei minus zehn Grad eskortierte die Polizei das reisende Gebäude auf der spiegelglatten Strecke. An vielen Stellen mussten die Straßenpfosten, schmale gelbe Stangen, entfernt und danach direkt wieder eingesetzt werden.

Das Hochzeitshaus von Hlynur und Viktoría
Nun steht das historische Haus in Svanshóll. Momentan erinnert es allerdings an einen heruntergekommenen Rohbau: »Wenn du uns das nächste Mal besuchst, wird es ganz toll aussehen«, verkündet Hlynur. So zupackend wie die gesamte Familie ist, besteht daran kein Zweifel.
Manche Isländer aus der Region scherzen schon, dass sie sich hier im spärlich besiedelten Tal gerade ein eigenes Dorf bauen. Zu dem gehören bisher neben dem elterlichen Hof auch ein Kuhstall, der zum Gästehaus umgebaut wird, ein Gewächshaus, die Party-Scheune und dahinter eine geräumige Werkstatt. Während Hlynur mich durch das Hochzeitshaus führt, brettert Viktoría mit einem hochglanzpolierten gelben Quad die blühenden Berghügel hinauf, um dort Blaubeeren für den Nachtisch zu sammeln. Zehn Minuten später begleitet sie uns auf der Tour durch ihr kleines Dorf. Hinter den Häusern steigt stellenweise Dampf empor, das Gebiet ist übersät von natürlichen heißen Quellen. So gedeihen selbst unweit des nördlichen Polarkreises dank der »Erdheizung« in ihrem Garten Pfefferminze, Rüben, Kohl, Brokkoli, Lauch und Karotten prächtig. »Meine Möhren sehen allerdings ein bisschen seltsam aus«, sagt sie und rupft eine heraus. Vielmehr sind es vier miteinander verwachsen Rüben, die einem Kuheuter ähneln. Zuletzt zog Viktoría zwei eng verschlungene Exemplare aus dem fruchtbaren Boden. Jede Rübe ein unfreiwilliges Kunstwerk. Aber wer will schon gerade, normale Karotten?

Karotten in Love
An diesem Sommernachmittag sind Hlynurs 17-jähriger Sohn sowie Viktorías Sohn und Tochter mit in Svanshóll. Es ist Ferienzeit. Wie die meisten isländischen Kinder sind sie alle vier sehr eigenständig. »Manchmal sind sie den ganzen Tag mit Freunden in den Bergen«, erzählt sie, »doch wir vertrauen ihnen. Und wissen, dass sie nie verhungern werden, schließlich gibt es überall Beeren, Vogeleier, die man im heißen Quellwasser kochen kann, und natürlich Bäche mit frischem Trinkwasser.«
Nun, am frühen Abend, streunen die Kleinen im Garten herum, während Hlynurs Sohn seinem Stiefgroßvater beim Umbau des Kuhstalls hilft. Sie hämmern, schweißen, es gibt keine Nachbarn, die das stören könnte. Neben dem Haupthaus grunzen zwei rotborstige Schweine vor sich hin. »Darf ich vorstellen«, sagt Hlynur: »Das sind Egg und Bacon.« Viktorías Elfjähriger findet sie sehr süß, fragt aber auch gelegentlich, wann sie denn endlich auf dem Teller landen. In ländlichen Regionen wie diesen hat man eine natürliche, unsentimentale Einstellung zum Werden und Vergehen. Das gilt für Lämmer und Wale ebenso wie für die hübschen Papageitaucher. Einerseits sind die schwarz-weiß gefiederten Seevögel mit ihren orange leuchtenden Schnäbeln eine beliebte Touristenattraktion – ebenso wie die Steilküste bei Látrabjarg, wo Abertausende der etwas tollpatschigen Seevögel an den schmalen Felsvorsprüngen nisten, andererseits stehen die Papageitaucher wie fast alle isländischen Tiere auf dem Speiseplan.
So bekommen Touristen bisweilen einen Schrecken, wenn sie sehen, wie niedliche blonde Kinder mit blauen Kulleraugen die toten Papageitaucher routiniert rupfen – genauso selbstverständlich, wie unsere Dorfkinder ein Huhn schlachten. Ist auf dem Titelbild der Tageszeitung ein blutverschmierter, erschossener Eisbär abgebildet, stehen daneben garantiert ein paar neugierige Kinder.
Hlynur füttert die beiden wohlgenährten Schweine und klopft ihnen auf die Hintern. Für heute bleiben sie verschont. Zum Abendessen gibt es Fisch, den Viktorías Bruder im nahe gelegenen Fluss gefangen hat. Da ihnen das Land vom Tal bis in die Berge hinauf gehört, haben sie ihren eigenen Supermarkt direkt vor der Haustür. Nach einer kurzen Pause arbeiten die Männer weiter, auch Hlynur gesellt sich nun zu ihnen. Die schwangere Viktoría zeigt mir die Scheune, in der sie ihre Partys feiern. Sie haben dort sogar eine Bühne, an der Theke hängen etliche Island-Flaggen, neben einer Sitzecke heizt ihnen im Winter ein kleiner Ofen ein.

Partyscheune
Noch lieber als in der Scheune trifft sich die Familie selbst in der kalten Jahreszeit im Freien – stundenlang hocken sie dann im »heitur pottur«, dem heißen Pott. Denn das Baden ist neben all den anderen Aktivitäten ihre liebste Freizeitbetätigung. »Ich bin süchtig nach den wohlig-warmen Pools«, gesteht Viktoría.

Papageitaucher