Ein Raum so berstend voll, dass der Schweiß von der Decke perlt, laute Musik, die im Körper vibriert, und Gäste, die so ausgelassen tanzen, dass sie anderen dabei ihre Biergläser fast ins Gesicht schlagen. Für uns hört sich das nach einer wilden Party an, für Isländer ist es ein normaler Samstagabend.
Das Highlight des Reykjavíker Nachtlebens war stets die Bar Sirkus. Auf knapp dreißig Quadratmetern quetschten sich dort am Wochenende viele Künstler und Musiker, die Bar war ihr kreativer Mikrokosmos. Den einen Abend legte Krummi von der Hardrock-Band Mínus die übelsten Achtzigerjahre-Schnulzen auf, in einer anderen Nacht präsentierte Stephan von Gus Gus seine Bassdrum-Sound-Installation, mal spielte Björk ihre liebsten Heavy-Metal-Platten.
Gefeiert wurde in Island immer schon zu jedem Sound, da sind sie schmerzlos. Und je höher der Alkoholpegel, desto halsbrecherischer wurden die Tänze auf den wackeligen Stühlen und Tischen. Inhaberin Sigga Boston (sie lebte mal in Boston), sah das zwar nicht gerne, ließ die Feiernden aber wohl oder übel gewähren. Denn auch die DJs und Sänger sprangen auf die Tische oder den Tresen. Wenn Sigga dann in den frühen Morgenstunden heftig mit dem Löffel auf einen Topf schlug, ging das Fest zu Ende, und die berauschten Gäste waren wieder ihrem eigenen Schicksal überlassen. Meist nur widerwillig schlichen oder torkelten sie aus dem kleinen, mit Südseemotiven bemalten Haus und überlegten, wie es nun weitergehen soll: noch einen Hot Dog essen? Am Meer frische Luft schnappen? Mit der neuen vs. alten Eroberung nach Hause gehen oder doch lieber in eine andere Bar ziehen?
Das Sirkus lag im Klappastígur, einer Seitenstraße der Lebensader Laugavegur. Es ist jene Bar, die im Januar 2008 schließen musste, weil Investoren groß bauen wollten, und die dann noch mal für die Kunstmesse »Frieze« kurz zum Leben erweckt wurde. So konnte auch das Londoner Publikum spüren, wie es ist, in einer Bar im dichten Gedränge auf isländische Art zu feiern.
Dazu gehört, dass Männer schon mal ihre T-Shirts ausziehen, wenn es ihnen zu heiß wird. »Anders ist die Hitze nicht auszuhalten«, sagt Egill Sæbjörnsson, der dann wie viele andere mit nacktem Oberkörper weiterfeiert. »Leider hat sich diese Tradition nicht auf die Frauen übertragen«, sagt der Musiker. Doch deren Outfits sind ohnehin meist sexy und knapp. Wie so ein Abend im Sirkus aussah, kann man sich übrigens in Björks Video »Triumph Of A Heart« ansehen. Der Song gehört zum Acappella-Album ›Medúlla‹, auf dem der Popstar gemeinsam mit Freunden und Bekannten die Lieder einsang. Bei diesem Video summt und tanzt auch Egill mit – allerdings angezogen.
Nachdem die Bar Sirkus schließen musste, gründete Sigga Boston auf dem Laugavegur einen neuen Club: Boston. Er ist sehr beliebt, aber gediegener. Das Publikum ist ähnlich geblieben, und so wird hier ebenfalls feuchtfröhlich gefeiert.
Am Abend eines 17. Juni war ich mit einer Freundin dort: Hekla. Sie ist eine von denen, die nach dem Vulkan benannt wurden. Wir saßen gerade in der oberen Etage auf einer gemütlichen Couch und plauderten, als Popstar Björk mit ihrem Mann Matthew Barney, einem namhaften amerikanischen Medienkünstler, hochkam. Sie trafen einige Freunde, redeten und tranken Bier, rund zwanzig Leute standen nun oben. Es war 22 Uhr, also noch sehr früh. Hekla kennt Björk und Matthew, begrüßte sie auf dem Weg zum Balkon kurz. Ich hielt mich zurück. Es war spannend, die kleine, zierliche Frau in ihrem heimischen Umfeld zu beobachten. Da in Island viele expressiv gekleidet sind, fällt Björk dort kaum auf. Nach ein paar Drinks fingen sie und ihre Freunde an, traditionelle Songs zu singen. Der 17. Juni ist der Nationalfeiertag der Isländer. Während die anderen so schön sangen, wie sie nur konnten, grölte Björk die Lieder lautstark. Hier muss sie niemandem etwas beweisen.
Isländer feiern gerne, und grundsätzlich ist für sie alles eine Party: sei es nun ein spontanes Singen mit Freunden am Nationalfeiertag, eine kleine Geburtstagsfeier zu Hause oder eine Nacht im brechend vollen Club. Jeder Abend wird zum Event gemacht, und ein rauschendes Fest adeln Isländer damit, dass sie auf den Tischen tanzen. Mittlerweile ist das zwar in einigen Clubs verboten, doch wann immer sie die Gelegenheit haben, hüpfen die Isländer auf große und kleine Tische. Und wenn die Decke so niedrig ist wie damals an einigen Stellen im Sirkus, können sie sich dort abstützen.
Keine Bar habe den Charme des Sirkus, sagen viele noch Jahre später, doch natürlich gibt es in 101 Reykjavík einige weitere gute Clubs und Bars. Im Bakkus treten zum Beispiel angesagte DJs auf, nebenbei kann man am Automaten Passfotos machen; im Ölstofan treffen sich die Literaten zum Bier, und im Dillon legt seit Jahrzehnten eine inzwischen 62-Jährige Rockmusik auf.
Damit es den Isländern nicht langweilig wird, hoppen sie meist von einer Location zur nächsten. Sie sind ja eh nur ein paar Häuser voneinander entfernt. Während die einen über den beheizten Bürgersteig des Laugavegur schlendern, schleichen die anderen mit ihren Autos über die Einbahnstraße. Besonders bei Jugendlichen ist das »rúntur«, das Cruisen mit den Autos, beliebt. Sie drehen die Musik so laut auf, dass die Bässe wummern, und verstopfen den Laugavegur, weil sie ständig jemanden treffen, mit dem sie schnell noch ausmachen, wo man sich später trifft. Auch in Akureyri ist das rúntur eine beliebte Freizeitbeschäftigung. Da die Innenstadt so klein ist, fahren sie eben immer im Kreis umher. (Auch die Rundtour von Bar zu Bar wird als rúntur bezeichnet.)