Die Lust auf neue Dinge
»Nýjungagirni«, die Lust auf neue Dinge, zeichnet die Isländer aus. Veränderungen werden auf der Insel nicht als etwas Bedrohliches angesehen, sondern sind normal und meist erwünscht. Von einem Kollaps der gesamten Wirtschaft mal abgesehen.
Initiativbewerbung auf isländische Art
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Beginne mit: »Entschuldige bitte vielmals, dass ich erst jetzt dazu komme, mich zu melden.«
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Hey, wir sind doch verwandt. Ich finde, der Job sollte in der Familie bleiben.
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Finde positive Formulierungen. Statt »Ich bin klein und schmächtig« lieber »Ich bin stark wie eine isländische Birke«.
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Vorher war ich schon Astronaut, Schäfer, Automatenaufsteller und Koch, da kommt mir diese Herausforderung sehr gelegen.
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Wenn du momentan keinen Job für mich hast, dann erfinden wir einfach einen.
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PS: Ich kenne den Präsidenten.
»Gott sei Dank haben wir keine Raketenstation wie die NASA, wir würden andauernd neue Satelliten – Blupp! Blupp! – ins All schießen, weil wir so viele Ideen und Energie haben«, scherzte Vigdís Finnbogadóttir, die ehemalige isländische Präsidentin 2007 in einem Interview, das ein Kollege und ich für den ›Tagesspiegel‹ mit ihr führte.
Diese Energie hat Tradition. Schließlich wurde auch Amerika ums Jahr 1000 vom Norden Europas aus entdeckt. Fast 500 Jahre bevor Christoph Kolumbus mit seiner ›Santa Maria‹ losfuhr landete der Isländer Leifur Eiríksson bereits an der Nordspitze Neufundlands. Das Island seiner Zeit war noch zu einem Viertel bewaldet, doch innerhalb weniger Jahrhunderte hatten die Siedler den Bestand verbraucht – für den Bau von Schiffen und als Brennholz. Um auf der abgelegenen Insel am Rande des Polarkreises überleben zu können, mussten die Isländer willensstark und kreativ sein. Also nutzten sie alles, was sie finden konnten: Dazu gehörte auch Treibholz. Manche Kiefernstämme sind sieben Jahre im Meer unterwegs, bis sie mit der Strömung die Ufer der Atlantikinsel erreichen, das Salzwasser konserviert die silbergrau schimmernden Hölzer. Früher waren sie Gold wert, heute nutzen die Isländer sie nur noch als Baumaterial für Zäune, und Künstler schnitzen aus den Stämmen Statuen, die sich manche in ihre Vorgärten stellen.
Über viele Jahrhunderte lebten die Menschen vom Fischfang und der Landwirtschaft. Hatte der Kabeljau gerade Saison, musste er so schnell wie möglich gefangen werden. Zum Ernten des Heus blieb im kalten Klima ebenfalls nicht viel Zeit. Die Menschen mussten ihren Rhythmus des Lebens von der Natur abhängig machen und dabei flexibel sein. Das ist bis heute so. Daher beschreibt Vigdís ihre Landsleute auch als »unstet aus Tradition«. Die inzwischen über Achtzigjährige war wie die meisten Isländer in mehreren Berufen tätig, lebte also typisch ungewöhnlich. Vigdís ist Literaturwissenschaftlerin, arbeitete als Französischlehrerin, Reiseführerin, Direktorin des Stadttheaters Borgarleikhúsið und war schließlich ab 1980 Präsidentin Islands und damit weltweit das erste direkt vom Volk gewählte weibliche Staatsoberhaupt.

Von Sibirien nach Island: Treibholz
Vigdís gewann die erste Abstimmung zwar nur knapp, aber immerhin: In vielen anderen Ländern wäre es zu dieser Zeit undenkbar gewesen, eine Theaterdirektorin, geschieden und alleinerziehende Mutter einer adoptierten Tochter, überhaupt als Kandidatin ins Rennen zu schicken. Ihre zweite Wiederwahl gewann Vigdís trotz eines Gegenkandidaten mit über neunzig Prozent der Stimmen. 1996 trat sie nicht mehr an, bis heute ist sie in ihrer Heimat sehr populär und aktiv.
Zur Identität der Isländer gehört neben dem Mut, neue Wege zu gehen, auch eine gewisse Unruhe. »Am liebsten machen wir alles zur gleichen Zeit«, sagt Vigdís. »Wir sind ziemlich ungeduldig, müssen alles heute haben. Im Prinzip sind wir Jäger geblieben.« Und so jagen sie ständig neuen Herausforderungen hinterher. Eine Managerin betreibt im Sommer ein Hummer-Restaurant, ein Banker jobbt nebenbei als Hochlandbusfahrer, ein Opernsänger lässt sich zum Tourist-Guide ausbilden und eine Ingenieurin ist erfolgreiche Krimiautorin.
Isländer arbeiten europaweit die meisten Stunden, gehen später in den Ruhestand und werden statistisch gesehen älter als fast alle anderen Menschen. Selbst wer offiziell mit 67 in Rente geht, arbeitet meist noch bis siebzig weiter oder hilft Verwandten bei deren Projekten aus. Die Männer liegen mit einer Lebenserwartung von 79,4 Jahren in der Weltspitze, die Frauen werden durchschnittlich 82,9 Jahre. In Deutschland erreichen die Männer derzeit 73,2 Jahre, die Frauen ebenfalls 82,9.
Die Isländer arbeiten freilich nicht nur aus Spaß an der Freude. Ihre kinderreichen Familien und die Lust nach neuen Dingen wie Autos, Fernsehern, Designermöbeln und Reisen müssen sie sich hart erarbeiten. Bis zur Krise war es kein Problem, einen Job zu finden, es gab so gut wie keine Arbeitslosigkeit, und wer mehr Geld brauchte, arbeitete einfach mehr. Heute müssen sich viele einschränken, und meist haben sie dazu noch Kredite abzubezahlen. Doch wer seine Stelle verloren hat, nutzt die Zeit der Unsicherheit, um sich neue Perspektiven zu schaffen: Eine Architektin engagiert sich für ein nachhaltiges Tourismusprojekt, durch das sie später hoffentlich neue Aufträge bekommt, eine entlassene Bankerin studiert noch mal.