
Woher kommst du? Zu wem gehörst du? Diese Fragen kommen schnell auf, wenn Isländer sich treffen. Meist dauert es nur wenige Minuten, bis sie gemeinsame Bekannte oder direkte Verwandte ausmachen. Die Familienbande spiegeln sich auch in der Namensgebung wider. Isländer haben keine Nachnamen in unserem Sinne, sie werden nach dem Vornamen des Vaters oder der Mutter benannt. Hallgrímur Helgason zum Beispiel ist der Sohn (»son«) von Helgi, und Musikerin Björk Guðmundsdóttir die Tochter (»dóttir«) von Guðmundur. Auch wer heiratet, behält stets seinen Namen.
Vigdís Finnbogadóttir, die ehemalige Präsidentin, kann ihren Stammbaum sogar bis zur Besiedlung zurückverfolgen. 34 Generationen. Es interessiert die Isländer genau wo sie herkommen und mit wem sie verbunden sind. Die engsten Verwandten kennen sich natürlich, doch es passiert immer wieder, dass langjährige Freunde plötzlich feststellen, dass es direkte Verbindungen zwischen ihnen gibt: zum Beispiel dass die Großmutter des einen und die Urgroßmutter des anderen Schwestern waren. Im ›Íslendingabók‹, dem ›Buch der Isländer‹, steht alles drin – dazu gehört auch eine Website, bei der man die Namen von zwei Personen eingibt und dann mit einem Klick den Verwandtschaftsgrad erfährt. Eine Information, die besonders frisch verliebten Pärchen wichtig ist.
Im Allgemeinen sind die Isländer aber nicht so blutsverwandt, dass es genetisch gefährlich wäre, schließlich kamen über die Jahrhunderte viele Reisende auf die Insel am Rande des nördlichen Polarkreises, unter anderem Inuit aus Grönland, Dänen, Franzosen, Basken, Iren, Engländer, Deutsche und Amerikaner. Einige jagten Wale, andere kamen als Handelsleute, Piraten, Abenteurer oder wie die Dänen als Kolonialisten, und manche verliebten sich bei ihren Touren in die Töchter der Fischer und Bauern. Die ersten Dauersiedler waren im Jahre 874 Norweger, die vor der Unterdrückung des Königs flüchteten und auf dem Weg nach Island, der »Eisinsel«, in Irland und auf einigen anderen Inseln Halt machten, um sich ein paar Sklaven, vor allem irische Frauen, zu schnappen. Manche scherzen deshalb, die ersten Isländer seien räuberische Steuerflüchtige gewesen.
Glaubt man den alten Sagengeschichten, die von der Landnahme der Norweger und Kelten berichten, so sollen sie stur, stolz und eigen gewesen sein – alles Attribute, die man auch den heutigen Nachfahren immer wieder nachsagt. Die Isländersagas wurden im 13. und 14. Jahrhundert aufgeschrieben. Es sind nicht nur gewaltige Wikinger-Geschichten, sondern auch Familiendramen. Der eine muss den Mord eines Bruders rächen, der andere die Ehre seiner Frau retten. In der Njáls-Saga zum Beispiel, die im Süden Islands spielt und als berühmteste Saga gilt, geht es um die Freundschaft zwischen Gunnar und Njáll, aber auch um deren verfeindete Frauen. Der grund- und endlose Sippenstreit endet in einem großen Brand.