Vier Kinder! Sind die alle vom selben Partner?

Während die meisten bei uns irgendwann in ihrem Leben an den Punkt kommen, wo sie sich fragen, ob und wann sie Kinder haben wollen, stellt sich diese Frage in Island erst gar nicht: Sie wachsen mit dem Selbstverständnis auf, dass sie eigene Kinder haben werden, sofern es denn klappt.

Nachwuchs ist immer willkommen, ob er nun geplant war oder das Ergebnis eines One-Night-Stands. So schafften es die Isländer seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges, also kurz nach ihrer Unabhängigkeit, die Bevölkerung von rund 130 000 mittlerweile mehr als zu verdoppeln. Laut Eurostat bekommen sie europaweit die meisten Kinder. Andri Snærs Familie ist in Island also nicht exotisch, ungewöhnlich ist eher, dass alle vier Kinder von derselben Frau sind. Denn Schätzungen zufolge soll jede dritte Familie eine Patchworkfamilie sein, bei uns ist es ungefähr jede zehnte.

Kinder überall, hier auf einer Demo am 1. Mai

Manche nennen sie Misch- oder Stieffamilien, doch zumindest letztere Bezeichnung hat immer noch das Odium des Negativen, ja sogar des Bösen. Insofern beschreibt »Patchworkfamilie« die Lage am ehesten, denn wie bei einer Quilt-Decke werden verschiedene Stücke zu einem neuen Ganzen zusammengefügt. Der Begriff ist übrigens wie das Wort »Handy« eine deutsche Kreation. Dass inzwischen auch bei uns Patchworkfamilien allmählich zum Alltag gehören, sieht man zum Beispiel daran, dass das Möbelhaus Ikea im deutschen Fernsehen Werbespots ausstrahlt, die das Zusammenziehen zweier neuer Partner samt jeweils eigenem Nachwuchs thematisieren. Trotzdem wird bei uns, anders als in Island, nur selten über diese neue Familienform gesprochen, viele sehen sie hier noch als Makel an, als ein Scheitern.

Natürlich trennen sich die Isländer nicht leichtfertig, aber sie quälen sich auch nicht zehn Jahre in einer unglücklichen Beziehung, nur weil sie kleine Kinder haben. In Island sind die Familienkonstellationen traditionell ungewöhnlich. Schon in der Großelterngeneration wuchsen einige damit auf, dass der Vater sechs Kinder mit einer anderen Frau hatte oder die Witwe eines Seemannes eine neue Familie gründete. Deshalb muss man sich auf eine lange Antwort gefasst machen, wenn man einen Isländer fragt, wie viele Geschwister und Angehörige er hat.

Auch der zehnjährige Jón Ágúst kommt manchmal etwas durcheinander, wenn er all seine Halbgeschwister aufzählen soll. Denn seine Mutter Helga hat mit ihrem neuen Mann Birgir (Jóns Stiefvater) noch zwei gemeinsame Kinder: Viktor Ingi ist vier Jahre alt, Andri Ísak drei. So weit, so gut. Der Stiefvater hat außerdem noch drei Kinder aus zwei vorherigen Beziehungen, und Jóns leiblicher Vater hat ebenfalls drei weitere Kinder – aus verschiedenen Beziehungen.

Nicht jede isländische Familie ist so weit verzweigt wie Jóns. Sie ist aber auch kein Einzelfall. Helga Jónsdóttir, die Mutter des Zehnjährigen, wuchs ebenfalls in einer Patchworkfamilie auf. Von ihrem ersten Mann trennte sie sich, als Jón ein Baby war. »Eigentlich wollte ich einen Partner finden, der noch keine Kinder hat«, gesteht Helga. Doch dann lernte sie Birgir kennen. Beide kannten sich aus der Nachbarschaft, sie waren vier Jahre zusammen, als weiterer Nachwuchs ins Haus stand.

Wie kommt es, dass Isländer so viele Kinder kriegen? »Wir denken nicht so viel darüber nach«, sagt die 38-Jährige. »Es passiert einfach.« Diese Antwort ist immer wieder zu hören – und vermutlich der Schlüssel für den Kindersegen. Die genügend vorhandenen und bezahlbaren Kita-Plätze helfen dabei.

Helgas Familie lebt in Kópavogur, mit 30 000 Einwohnern ist es nach Reykjavík die zweitgrößte Stadt Islands. Sie liegt direkt südlich der Hauptstadt, ein beschaulicher Ort, aber mit dem größten Shopping-Center der Insel. Nur fünf Minuten davon entfernt wohnt Helga in einer schmalen Straße mit Einfamilienhäusern in einem modernen Reihenhaus, der Kindergarten befindet sich circa 400 Meter weiter am Ende der Straße. Dort sind die beiden Jüngsten von 8 bis 15 Uhr, toben im Freien und malen Bilder von Elfen. Der Zehnjährige ist tagsüber in der Schule.

Helga hat Glück, dass ihre Eltern, Schwiegereltern und auch einige der Halbgeschwister und Stiefkinder in der Nachbarschaft wohnen. Es ist immer jemand da, der die dreifache Mutter unterstützen kann, die nebenbei noch an der Fernuniversität Betriebswirtschaftslehre studiert. Hat die Familie mal keine Zeit, helfen Freunde oder Nachbarn. Die direkten Nachbarn gehören zwar nicht zu Helgas engstem Freundeskreis, aber sie wüsste, dass auch sie kurz auf die Kleinen aufpassen würden, wenn es denn nötig wäre. Das soziale Netz funktioniert hier, man verlässt sich aufeinander, in der Kleinstadt Kópavogur werden die Haustüren meist nicht abgeschlossen.

An diesem Nachmittag sitzt Helga in der Küche, trinkt Kaffee, die drei Söhne tollen um sie herum, zwischendurch stibitzen sie sich vom Küchentisch Pfannkuchen, die eine ihrer Großmütter gebacken hat. Ihr Zuhause ist mit modernen Möbeln eingerichtet, an den Wänden hängen Gemälde, im Wohnzimmer steht ein neuer Fernseher, jedes der drei Kinder hat sein Zimmer. Vor dem Haus parkt ein großer Jeep. Um sich all das leisten zu können, muss die Familie viel arbeiten. Helgas Mann Birgir ist Zimmermann und hat eine eigene kleine Firma. Sie selbst war früher Maskenbildnerin beim Fernsehen, nach ihrem Studium will Helga als Buchprüferin tätig sein.

Fünf Jahre ist es her, dass ich Helga und ihre Patchworkfamilie das erste Mal getroffen habe. Dann kam Ende 2008 der Finanzcrash in Island. Ihr Leben veränderte sich komplett. Im Rahmen der Krise bekam Birgir kaum Aufträge, keiner konnte es sich mehr leisten, ein Haus bauen zu lassen. Er fand Arbeit in Norwegen, und die Familie überlegt auszuwandern. Die Fernbeziehung belastet sie, momentan leben Helga und Birgir getrennt. Wahrscheinlich müssen sie ihr Haus verkaufen, der Jeep ist schon weg, immerhin hat die inzwischen 43-Jährige einen sicheren Job in der Finanzabteilung eines Lebensmittelkonzerns. »Es ist nicht einfach, aber ich stehe noch«, sagt Helga. »Ich habe meine drei Jungs und die Familie.« Sie sind nicht die einzige Familie, die unter der Krise leidet. Helga und ihr Mann Birgir hoffen, dass sie wieder zueinanderfinden. Sicherlich wünschen sich auch Isländer eine dauerhafte Beziehung, sie gestehen sich jedoch schneller ein, wenn es nicht klappt. Trennungen sind hart und unromantisch, aber sie ermöglichen einen ehrlichen Umgang miteinander und die Chance, ein neues Glück zu finden. Die meisten lernen recht zügig einen anderen Partner kennen und stürzen sich mit gleicher Leidenschaft ins nächste Liebesabenteuer. Die romantische Hoffnung der Realisten: Vielleicht klappt es ja diesmal! Die Isländer haben keine Angst, Beziehungen einzugehen, weil sie auch keine Angst haben, sich wieder zu trennen. Eine Isländerin gab ihrer Freundin sogar mal den Tipp, mit dem ersten Mann nicht zu viele Kinder zu bekommen, dann habe sie noch »Luft« für weiteren Nachwuchs mit dem nächsten Mann. Der Gedankengang geht vielen Isländern zu weit, allein schon deshalb, weil sie ja tendenziell nicht so viel nachdenken, sondern Dinge einfach passieren lassen. Überspitzt gesagt: Erst bekommen Paare ein Kind, dann überlegen sie, wie sie das eigentlich alles regeln wollen.

Goldene Regeln für das Leben in Patchworkfamilien

  • Dein Alltag ist insgesamt nicht gewöhnlich, warum also nicht auch in einer ungewöhnlichen Familienstruktur leben?

  • Für die Kinder ist es besser, wenn die Eltern getrennt glücklich sind, als zusammen unzufrieden. Es braucht natürlich seine Zeit, bis sich alle Beteiligten an die neue Situation gewöhnen.

  • Habe Geduld.

  • Alle Mitglieder sollten sich den Druck nehmen, eine klassische Familie sein zu wollen.

  • Es ist normal, dass die Kinder und der neue Partner anfangs eifersüchtig aufeinander sind.

  • Verbringe mit allen Zeit allein: dem Partner, den eigenen Kindern, den neuen Kindern und mit dir.

  • Finde ein gemeinsames Hobby mit den Kindern, bei dem sie dir noch etwas erklären können.

  • Rede offen über deine Gefühle – mit allen Beteiligten.

  • Freue dich über die kleinen schönen Momente und die Vorteile einer größeren Familie.

  • Erweitere deinen Genpool: Lieber 2,15 Kinder von zwei Partnern als 1,37 Kinder (wie in Deutschland) von einem.

  • Nimm das Leben nicht zu ernst.

  • Wenn du mit einem Stiefkind einfach nicht zurechtkommst, tausche es mit einem Kind aus einer anderen Patchworkfamilie. Vielleicht merkt es ja niemand.