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Arto Söderstedt saß mit einem Namen da. Es war ein eigentümlicher Name, ein Name, den er in der ganzen weiten Welt nicht finden konnte. Und der deshalb wahrscheinlich gar kein Name war.

Nicht Keyser Söze.

Sondern Vebach Zelsai.

Er drehte ihn zwischen den Fingern. Er dehnte ihn und wendete ihn hin und her. Er pfriemelte die Buchstaben heraus und schüttelte sie.

Es war wie ein Kinderspiel.

 

Lena Lindberg hielt es nicht aus. Sie schlich sich leise aus dem Schlafzimmer und setzte sich im Arbeitszimmer, das einmal die Garderobenkammer ihrer kleinen Wohnung gewesen war, an den Schreibtisch. Sie griff zur Maus und erweckte den Bildschirm zum Leben. Sie loggte sich ins Intranet der Polizei ein und arbeitete sich durch mehrere Schichten mit Codes und Passwörtern hindurch. Jedes Mal musste ihr Computer eine Weile nachdenken. Das tat sie auch. Stoßweise.

Sie konnte nicht den Finger darauflegen, aber irgendetwas ließ ihr keine Ruhe, sie musste sich unbedingt die Verhöre mit Naska Rezazi ansehen, die sie verpasst hatte. Sie wusste nicht, ob es etwas war, was Sara gesagt hatte, oder ob es nur das nagende Gefühl war, das der wunderliche Abschluss ihres letzten Verhörs hinterlassen hatte. Es hatte falsch geendet. Alles hatte falsch geendet.

Sie war bei den Vernehmungsprotokollen. Sie blätterte die anklickbaren datierten Zeilen durch. Da. Sara allein mit Naska. Während sie selbst sich mit den trostlosen Überwachungskameras beschäftigt hatte.

Sie klickte die Zeile an und bekam das Vernehmungsprotokoll. Sie ging es durch, Zeile für Zeile.

Und da war es. Die Ahnung. Der Verdacht.

Warum sollte alles stimmen?

Warum musste jeder paranoide Verdacht sich als wohlbegründet erweisen?

›Heute bin ich Russin.‹

 

Kerstin Holms Blick wanderte zwischen dem übervollen Flipchart und dem Spinnennetz an der Decke hin und her. Was war glaubwürdiger? Das rational gesponnene Netz oder die Willkür der Natur?

Durch den Fensterspalt, aus dem Mittsommer, kam ein Apollofalter hereingeflattert. Er flog in sonderbaren Bahnen kreuz und quer durchs Zimmer. Er hätte nicht zum Netz hingezogen werden sollen. Der ruckhafte Schmetterlingsflug hierhin und dorthin hätte ihn dazu bringen müssen, ihm zu entgehen. Aber das Netz war gnadenlos, als würde er davon angesogen. Und schließlich saß er fest. Mitten im Netz. Ohnmächtig flatternd.

Sie beobachtete den ohnmächtigen Todeskampf des Apollofalters. Sollte sie eingreifen? Sollte sie ein Teil der Natur sein und eingreifen? Oder sollte sie tun, was die Natur tat, außerhalb stehen und beobachten? Und damit wirklich ein Teil der Natur sein?

Es war Zeit, sich einzugestehen, dass die Schlacht verloren war, und nach Hause zu gehen. Zeit, Anders und Viktor abzuholen, sich dem strömenden Regen im Vitabergspark auszusetzen und sich durch Anders’ erstes Mittsommerfest in Stockholm hindurchzuquälen.

Anders, dachte sie und sah zu dem Schmetterling im Netz auf.

Der vernachlässigte Sohn.

Sie blickte hinunter auf Lars-Inge Runströms Versuch, den Mann zu beschreiben, den er in der Garage gesehen hatte. Das Wesen. Ein Wort fiel ihr ins Auge. ›Pferdeschwanz‹.

Dann kam eine andere Bemerkung in eigenartigen Mustern durch die Luft geflattert. Und wurde direkt zu ihr hingesogen.

Sie saß mit Paul Hjelm in ihrer Wohnung. Es war vollkommen still, als ob der Luftraum der ungepflegten Wohnung von anderem erfüllt wäre als dem Staub, der die ganze Zeit aufgewirbelt wurde.

Es war der Moment, als Paul Hjelm sagte: »Ich glaube, er ist irgendwo ganz in unserer Nähe.«

Ein zutiefst ungutes Gefühl durchfuhr sie, während sie weiter auf den Falter starrte, der unverdrossen im Netz flatterte. Als gäbe es einen Ausweg. Sollte sie wirklich …?

Doch, sie tat es. Sie rief zu Hause an.

Keine Antwort. Sie ließ es zehnmal klingeln, doch niemand nahm ab.

Es musste nichts zu bedeuten haben.

Und es war, als käme das Flügelschlagen immer näher.

Dann wählte sie eine andere Nummer. Nach achtmaligem Klingeln bekam sie Antwort. »Ja, hier ist Lotta.«

»Bin ich richtig beim Kungsholmen-Gymnasium?«

»Ja, Studienrektorin Lise-Lotte Kamberg.«

»Hier ist Kerstin Holm von der Reichskriminalpolizei. Ich müsste mit jemandem über Ihr Personal sprechen.«

»Ich höre.«

»Ich möchte wissen, ob bei Ihnen ein Viktor Ljungström angestellt ist. Lehrer für Schwedisch und Mathematik.«

»Den Namen kenne ich nicht. Nein. Ich arbeite gerade an den Stundenplänen, habe also einen ziemlich guten Überblick.«

»Sind Sie sicher? Es ist wichtig.«

»Ich suche nur eben die Anstellungsliste heraus. Einen Augenblick bitte.«

Ein schrecklicher Augenblick.

Dann kam die Studienrektorin wieder ans Telefon: »Nein«, sagte sie. »Wir haben keinen Viktor Ljungström hier. Überhaupt keinen Viktor.«

Kerstin legte auf. Ihr Herz begann zu pumpen. Sie hatte das schon einmal erlebt.

Anders.

Anders mit Viktor allein zu Hause. Keine Antwort am Telefon. Und Viktor war nicht der, für den er sich ausgab.

Der Pferdeschwanz in der Tiefgarage von Kalastelevision.

Sie lief. Sie stürzte durch die Flure und die Treppen hinunter zur Polizeigarage. Sie warf sich in ihren Dienstwagen und gab Gas. Der Wagen flog hinaus auf die Bergsgata, die Scheelegata hinunter, weiter durch die Fleminggata, in den Kreisverkehr von Kungsbron und die Kungsgata hinauf.

Die Blindheit der Liebe, dachte sie und fuhr bei Rot über die Ampel an der Vasagata. Stockholms Straßen waren mittsommerleer. Als wäre die Stadt verlassen.

Oder die Blindheit der Sexualität.

Verdammt, verdammt, verdammt. Wenn sie jetzt zu spät kam. Wenn sie wieder zu langsam gedacht hatte.

Auf der Kreuzung von Sveavägen wäre sie fast mit einem Bus zusammengestoßen. Sie stellte den Wagen an einer Bushaltestelle ab und lief wild quer über die Kungsgata. Stürmte die Treppen zur Regeringsgata hinauf und erreichte ihre Haustür. Mit zitternden Fingern tippte sie den Türcode ein und sprang mit einer Schnelligkeit, die sie selbst überraschte, die Treppen hinauf.

Dann stand sie vor der Wohnungstür und fummelte mit dem Schlüsselbund herum. Von drinnen kein Laut. Der Schlüssel wollte sich nicht greifen lassen. Die Zeit verging.

Sie bewegte sich in Treibsand. Die Sekunden kamen ihr vor wie Peitschenhiebe ins Gesicht. Und alles war zu spät. Alles war zu spät. Sie bekam die Tür auf und stürzte hinein.

 

Sie lief durch die Wohnung. Es waren furchtbare Schritte. Dann stieß sie die Schlafzimmertür auf. Er saß da und betrachtete das Kind. Dann wandte er sich um und sah ihren Blick, ihren wilden, wahnsinnigen, von dunklen Einsichten erfüllten Blick.

Sie tat ein paar kleine Schritte. Jede Bewegung die reinste Selbstüberwindung.

Da griff er nach etwas. Sie hätte sehen müssen, was es war.

Eine Pistole. Es war absurd.

»Es tut mir wirklich leid«, sagte er und erschoss sie.

Zuerst war es nur ein Stoß. Als hätte jemand ihr einen Schlag versetzt. Dann kam der Schmerz in der Brust. Er breitete sich wie eine Sternenexplosion durch ihren Körper aus.

Als sie fiel und die Welt um sie her einstürzte, begriff sie, was Verrat war.

 

Sie lief durch die Wohnung. Es waren furchtbare Schritte. Dann stieß sie die Schlafzimmertür auf. Er saß da und betrachtete das Kind. Dann wandte er sich um und sah ihren Blick, ihren wilden, wahnsinnigen, von dunklen Einsichten erfüllten Blick.

Sie tat ein paar kleine Schritte. Jede Bewegung die reinste Selbstüberwindung.

Er legte die Stirn in Falten und verstand. Er stand auf und kam ihr entgegen. Sie glitt an ihm vorbei und trat zu Anders. Sie spielten Karten. Anders blickte fröhlich zu ihr auf. Ein glückliches Lächeln. Sie umarmte ihn lange.

»Ich komme gleich zurück«, sagte sie zu Anders und drückte Viktor hinaus in die Küche. Sie machte die Tür hinter sich zu. Und hängte den Telefonhörer wieder ein, der an der Wand baumelte. »Wer bist du?«, fragte sie.

Viktor betrachtete sie. Sein brauner Blick war schicksalsergeben. »Es war dumm von mir«, sagte er. »Ich bin kein Lehrer. Ich bin nichts. Seit fünf Jahren arbeitslos. So etwas sagt man in der Kneipe, um Eindruck zu schinden. Wenn man glaubt, dass man sich nie wiedersieht.«

»Und deine gestorbene Frau? Der Gebärmutterkrebs?«

Er schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte er.

»Wie konntest du mir das alles vorlügen?«, schrie sie.

Und sie war rundum erleichtert. Sie hoffte, dass man ihr nicht ansehen konnte, wie glücklich sie war.

»Es war nicht so gedacht, dass wir uns weiter treffen würden«, sagte Viktor. »Ich habe das noch nie zuvor gemacht. Seit mir meine Existenz genommen wurde, habe ich davon gelebt, Frauen einzufangen. Ich mache sie für eine kurze Weile glücklich. Eine einzige Nacht. Das gibt meinem Leben einen Sinn. Aber dann habe ich angefangen, diese kleine Familie zu mögen. Anders mag mich. Ich habe hin und her überlegt, wie ich es dir sagen sollte. Aber jetzt ist es nicht mehr nötig.«

»Nein«, sagte Kerstin. »Jetzt ist es nicht mehr nötig.«

Sie begegnete seinem schönen braunen Blick. Der Mann, der das Eis durchbrochen hatte. Der Mann, der ihr Liebesleben wiederhergestellt hatte.

»Raus«, sagte sie.

 

Die Buchstaben lagen vor Arto Söderstedt. Umgestellt. Er runzelte die Stirn. Und wählte eine Nummer.

»Paul Hjelm.«

»Wie kommst du voran?«, fragte Söderstedt.

»Die landesweite Fahndung nach Stig Nilsson läuft. Aber er ist nirgendwo.«

»Wie hieß diese Frau, die du nicht gefunden hast?«

»Aus Sundsvall? Eva-Liza Besch. Wieso?«

»Zwei nicht existente Gestalten …«

»Worauf willst du hinaus, Arto?«

»Sind das nicht die gleichen Buchstaben wie in Vebach Zelsai?«

Paul Hjelm schwieg eine Weile. Offenbar schrieb er, strich durch, stellte um. Genau wie Söderstedt es selbst getan hatte.

»Doch«, sagte er schließlich. »Und was machen wir damit?«

»Kann man nicht noch einen Namen daraus bilden?«

»Kann man? Das weißt du besser als ich.«

»Wer hat ein Z im Namen?«, fragte Arto Söderstedt.

»Chavez«, sagte Hjelm tonlos.

»Ich habe es mehrfach nachgeprüft«, sagte Arto Söderstedt. »Es ergibt Isabel Chavez.«