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Die junge Mutter fasste sich ein Herz und rief die Polizei an. Sie saß auf der Schaukel neben ihrem dreijährigen Sohn und kramte vorsichtig ihr Handy heraus. Nach der üblichen Verzögerung bei der lebenswichtigen Nummer 112 wurde sie – zitternd inzwischen – zur lokalen Polizeiwache in der Tulegata 4 in Vasastan durchgestellt.

»Ja?«, sagte der Wachhabende in Vasastan.

»Ja, hallo, ist da die Polizei?«

»Ja.«

»Endlich. Ich bin hier mit meinem Sohn auf dem Spielplatz im Vasapark. Hier sitzt ein sehr verdächtiges Individuum auf einer Parkbank. Ich glaube, er hat ein Kind geraubt.«

»Sind Sie allein?«

»Außer diesem zwielichtigen Typ, ja«, sagte die junge Mutter gepresst, in einer Mischung aus Flüstern und Rufen.

»Und mein Sohn. Wir fühlen uns bedroht. Bitte, beeilen Sie sich. Es wird jeden Moment etwas passieren.«

»Können Sie ihn kurz beschreiben?«

»Ein kleiner Ausländer um die dreißig. Sein Blick ist äußerst komisch, und er zuckt mit dem Kopf. Bestimmt ein Drogenabhängiger. Und dann hat er einen Kinderwagen, den er immer mit einem Stock anstößt. Als wäre es eine Schlange. Es kann nicht seiner sein. Er hat bestimmt einer armen Mutter das Baby geraubt. Ist bei Ihnen vielleicht ein Baby als vermisst gemeldet?«

»Versuchen Sie jetzt, sich zu beruhigen«, sagte der Wachhabende von Vasastan. »Mir kommt die Beschreibung bekannt vor. Hat er vielleicht eine Gitarre in einem Futteral bei sich?«

»Ja. Wahrscheinlich auch gestohlen. Von einem seiner Kifferkumpel.«

»Das glaube ich nicht«, sagte der Wachhabende in Vasastan und hustete seltsam.

»Lachen Sie?«, stieß die junge Mutter aus. »Lachen Sie etwa über mich?«

»Nein, ganz und gar nicht«, sagte der Wachhabende in Vasastan mit einer Stimme, die eine geheimnisvolle Verwandlung durchzumachen schien. »Entschuldigen Sie.«

»Hier ist ein Verrückter, der mir jeden Augenblick meinen Sohn rauben wird, und die Polizei lacht mich aus. Es ist nicht zu fassen.«

»Sie müssen schon entschuldigen«, krächzte der Wachhabende in Vasastan. »Der Verrückte heißt Jorge Chavez und ist Polizeibeamter.«

 

In glücklicher Unkenntnis des oben beschriebenen Vorgangs streckte Jorge Chavez die Hand aus und schaukelte mit einem Stock den Kinderwagen. Um sich nicht unnötig bewegen zu müssen. Er war unglaublich müde. Isabel hatte die geschlagene Nacht durchgeschrien.

Zu allem Übel sollte er noch zum Übungsraum zu einer ganztägigen Police-Probe. In seinem Innern ging er Stings geniale Bassläufe durch und nickte den Takt dazu.

The Police war in den ersten Tagen im Jahr des Punk 1977 in London von dem amerikanischen Drummer Stewart Copeland und dem Jazzrockbassisten Gordon Matthew Sumner, der unter dem etwas albernen Spitznamen Sting ging, gegründet worden. Nach Anfangsproblemen schloss sich der routinierte Studiogitarrist Andy Summers an, und das Trio wurde ein Begriff: eine Jazzband, die als Punkband auftrat. Während einer misslungenen Europatournee im August wanderte Sting durch das Pariser Hurenviertel und dachte über das Leben der Prostituierten nach. Er hatte eine Idee. Er schrieb ein Lied über eine von ihnen. Er nannte sie Roxanne.

Der Rest ist Rockgeschichte.

Während einiger Jahre in den Achtzigern war The Police die erfolgreichste Rockband der Welt, mit der einzigartigen Fähigkeit, anspruchsvolle Kompositionen und Arrangements mit Stings unfehlbarem Gefühl für Hits zu verbinden.

Für die Musiker in Jorge Chavez’ Amateurband war es natürlich überaus komisch, dass ein Polizist The Police spielte. Kein Kalauer wurde ausgelassen. Chavez war glücklicherweise ein toleranter Polizist, der auf die Hänseleien gutmütig reagierte. Er war, wie es so schön heißt, abgehärtet. Die brutalfreundschaftlichen Bosheiten der Musiker waren nichts gegen das, was er aus seiner Zeit als Kanakenbulle in Sundsvall erlebt hatte. Nichts konnte ihn aus der Ruhe bringen. Auch nicht, dass die Bierdosen nach der Probe gegen einen kollektiven Joint getauscht wurden, auch nicht, dass der Joint zwischen den Familienvätern herumgereicht wurde, die davon geträumt hatten, ein neuer Sting oder Andy Summers oder Stewart Copeland zu werden, nie erreichte seine Toleranz ihre Grenze. Er weigerte sich nicht einmal, einen Zug zu nehmen. Einen kurzen zwar und keinen Lungenzug. Aber immerhin. Der Kriminalinspektor (der genau genommen inzwischen Kommissar hätte sein sollen) stand in einem heruntergekommenen Übungslokal in Vasastan und rauchte Gras wie ein Möchtegern-Rockstar.

Rock, ja. Rock. Jazz. Blues. Die Unterschiede wurden immer fließender, jetzt, wo er zwischen E-Bass und Kontrabass wechselte. Der beste Jazz war immer noch unerreicht, wenn es um die Gesamtheit des Ausdrucks ging, aber Musik war mehr. Musik war Freude und Gemeinschaft, ererbt wie der Sexualtrieb. Musik war auch Schwere und Druck. Kraft. Verdichtung ebenso wie Auflösung. Rockmusik hatte ihre eigene Größe, man brauchte nur die Grenzen ein wenig zu verschieben, den Fokus zu verändern – und es war ein wunderbares, neu gewonnenes Gefühl, diesen Wechsel reibungslos ablaufen zu lassen. Also wechselte er unbeschwert zwischen Rock und Jazz. Doch die Forderung nach Größe blieb bestehen. Sie war unumstößlich. Und The Police kam ihm wie ein durchaus akzeptabler Kompromiss vor.

Obwohl es kein Kompromiss war. Ein derartiger Gedanke fußte auf Hierarchien, an die er nicht mehr glaubte. Was er kaum hatte erwarten können, als er auf eine Annonce im Internet antwortete: ›Erfahrener Bassist für Amateurrockband mit Jazzeinschlag gesucht, der Erziehungsurlaub hat und zwischen Jobs spielt.‹ Als hätte er sie selbst geschrieben. Außerdem nur ein Haus weiter von seiner Wohnung in der Birkagata. Er konnte nicht widerstehen.

Eigentlich wollte er eigene Stücke schreiben, wie er es für verschiedene Jazzbands gemacht hatte, vor allem im Club von Sundsvall, in der schweren Zeit, doch das hätte einen ganz anderen Einsatz erfordert, nicht nur zeitlich, sondern auch finanziell. Ein eigenes Studio. Und in einem kurzfristigen Erziehungsurlaub Geld für ein Studio zusammenzukratzen, das hätte die Beziehung auf eine allzu harte Probe gestellt.

Aber der Traum war wieder zum Leben erwacht.

Dank eines anderen Traums. Er stieß den Kinderwagen von neuem mit dem Stock an und dachte an die Geburt, eine langwierige, schmerzhafte, heroische Geburt. Eine Urkraft in der Frau. Als Jorge Chavez die Nabelschnur durchtrennte, die Mutter Sara und Klein Isabel noch verband, fühlte er sich wie ein Verräter. Wer war er, das Untrennbare zu trennen? Doch gleichzeitig war es ein Gefühl, das weit über alles hinausging, was er je erlebt hatte. Als träte er in eine neue Dimension ein. Danach war die Welt eine andere. Fast vergessene Träume wurden zum Leben erweckt und erhielten eine neue Form.

Und dann dieses merkwürdige kleine Wesen, so viel länger hilflos als alle anderen Tierarten. Als wären wir trotz allem kein Tier unter anderen.

Isabel.

Wie eine dunkle Kopie ihrer Mutter. Sara Svenhagen als Chilenin, einen Monat alt. Getauft nach Isabel Allende, das musste er zugeben. Als Huldigung an die Wurzeln – an das schmählich gestürzte Linksregime in Chile und gleichzeitig an die Generation danach. Die die Literatur, nicht den Marxismus als Waffe gewählt hatte.

Ein vollkommen neues kleines Wesen, das er nicht kannte, für das er aber, ohne zu zögern, sein Leben opfern würde.

Die denkwürdige Ordnung der Natur.

Zu der Zeit war seine eigene Nabelschnur schon seit ein paar Monaten durchtrennt. Die zu Paul Hjelm.

Es war schön, vom Dienst befreit zu sein, schöner, als er zu glauben gewagt hatte. ›Das unerträglichste Energiebündel des Polizeikorps‹, wie Arto Söderstedt gesagt hatte. Aber das war früher. Es machte keinen Spaß mehr, seit Paul Bürokrat geworden war. Was war los mit ihm?

Er ging den Basslauf der eigenartigen Sting-Komposition ›O my God‹ durch, komplett mit einem der ungestümsten Miniriffs aller Zeiten statt des Refrains, und machte sich bereit zu gehen.

Wenn er denn würde aufstehen können.

 

Der Mann im Auto senkte das Fernglas und dachte nach über das, was er gesehen hatte.

Diese reglose Schlappheit, der wippende Kopf. Und dieser lächerliche Stock.

War das gut?

Sollte hier wirklich der Stoß angesetzt werden? War es richtig?

Richtig, falsch … Es ging um das Schwerste, was es gab: eine Spur zu hinterlassen, die tatsächlich etwas veränderte, die zumindest einen Einzigen dazu brachte, ein wenig anders zu denken in einer Welt, in der alles darauf hinauslief, konform zu denken. Oder am besten gar nicht.

Gibt es eine menschliche Natur? Das und nichts Geringeres stand auf dem Spiel.

Besaß die eigentümliche Gestalt auf dem Spielplatz wirklich diese fabelhafte rechtschaffene Energie, die der Mann im Auto bemerkt zu haben glaubte und die ihn so geeignet machte?

Dieses merkwürdige Band, das zwischen ihnen entstanden war.

Wieder die Bewegung mit dem Stock. Der Kinderwagen wippte. Und da begriff der Mann. Da begriff er, dass es eine Methode war, die Energie zu zügeln. Hauszuhalten.

Doch. Es musste richtig sein. Es war Zeit für die nächste Phase. Die schwierigere. In dem Spiel, das schon seit langem im Gange war.

Obwohl es niemand wusste.

Es reicht nicht mehr, jemandem auf die Schulter zu klopfen, um seine Aufmerksamkeit zu wecken.

Es ist mehr erforderlich.

Der Mann im Auto hob den Blick zu dem klarblauen Himmel und blickte einen kurzen Moment direkt in die strahlende Sonne.

Ein Zeichen wurde eingeätzt. Ein Zeichen von Blindheit.

Invisible sun.

Der grenzenlose Schmerz, alles zu sehen.

Er lächelte und ließ den Motor an.

Bald war Mittsommer.