25
Gunnar Nyberg saß im Bett und betrachtete den Bildschirm seines Laptops. Neben ihm lag Ludmila, abgewandt. Sie schlief. Er sollte auch schlafen. Aber er konnte sich nicht von den Bildern der vier Polen losreißen. Etwas reizte ihn. Izabela Wlodarczyk, Malgorzata Krzosek, Mateusz Kohutek und Wojtek Krzosek. Vier Verwandte von ermordeten Patienten. Irgendetwas hier, irgendetwas auf diesen vier Bildern ließ ihn reagieren. Oder ließ ihn das Gefühl haben, reagieren zu müssen. Die elegante sechzigjährige Admiralswitwe mit dem blaugrauen Haar und dem anzüglichen Lächeln. Die engelhafte, gleichsam durchsichtige fünfzigjährige Lehrerswitwe mit dem sanften Lächeln. Der hartgeprüfte einarmige fünfundsiebzigjährige Kriegsinvalide, dem Metallstücke aus dem Kopf ragten. Und der arbeitslose ehemalige Universitätslehrer mit dem verbitterten Blick.
Was war es? Er hatte keinen aus dieser finsteren Schar bisher gesehen. Und dennoch war da etwas, was ihm zu entgehen drohte.
Die Mittsommerwoche war soeben in ihren mittleren Tag gegangen. Mittwoch. Zwanzig Minuten nach Mitternacht.
Da geschah etwas. Er würde es nie beschreiben können. Das Geräusch splitternden Glases. Ganz deutlich. Als wenn mitten im Schlafzimmer ein Glaskäfig zersprang. Und eine große und plötzliche Schwere legte sich auf sein Herz. Er wurde vollkommen kalt.
Hätte Gunnar Nyberg dies ganz allein erlebt, wäre es vermutlich ein Herzinfarkt gewesen.
Doch er erlebte es nicht ganz allein.
Das deutliche Geräusch von splitterndem Glas hörte auch Lena Lindberg, während sie auf die blonde zerzauste Mähne hinabblickte, unter der eine Zunge ihre linke Brustwarze bearbeitete. Diese Leichtigkeit, das Offnen, die Beine zu spreizen. Die allumfassende Freiheit. Alles, was da zusammenkommt. Und das Glied, das unterhalb ihrer Wade lag. Wartend. Sie hatte die Hand darum geschlossen, während die andere an ihrem eigenen Geschlecht ruhte. In jeder Hand ein Geschlecht. Sie liebte es. Ein wunderliches Gefühl von Ganzheit. Für einen kurzen Augenblick eins zu sein. Dann hatte sie sich zurückgebeugt und rücklings aufs Bett fallen lassen. Sein Kopf hatte sich ihren Brüsten genähert. Seine Hand schloss sich um die linke Brust, und er küsste die Brustwarze, und in dem Augenblick hörte sie ganz deutlich das Geräusch von splitterndem Glas und spürte eine große und plötzliche Schwere, die sich auf ihr Herz legte. Sie wurde vollkommen kalt. Er merkte, wie sie erstarrte. Dann war es vorüber. Ihre Erregung steigerte sich, sie griff in sein zerzaustes Haar und hob es zu sich herauf und versenkte ihre Zunge in seinem Mund.
Paul Hjelm war entrückt. Er küsste den herrlichen Nacken, den Hals, ließ die Zunge abwärts gleiten, zwischen die schönen Brüste, zu den wunderbar knospigen dunkelbraunen Warzen hinauf und um sie herum, und der Duft, der der wechselnden Topografie des Körpers entsprechend den Charakter änderte. Hinunter zum Nabel, die Zunge in den Nabel, aufgehalten, als die Bartstoppeln auf das krause Haar treffen, abwartend. Wartet die kleinen ungeduldigen Bewegungen ab. Dann abwärts, die Zunge durch das Krause, und plötzlich zur Seite, zum Schenkel hinunter. Größere ungeduldige Bewegungen, sie abwarten. Und da, die Nase versenkt in die kraftvollen Düfte, hörte er plötzlich das vollkommen deutliche Geräusch von splitterndem Glas. Eine kurze Pause in der Pause. Sie merkte nichts. Und die auf dem Herzen lastende Schwere wich. Und die Zunge bewegte sich langsam den Schenkel aufwärts, bis sie die überwältigende fleischige Knospigkeit erreichte.
Kerstin Holm hielt einen Penis umfasst. Es war so unglaublich lange her. Sie erinnerte sich kaum daran. Sie hatte vergessen, was es bedeutete. Das Wunderliche, Mächtige, Fremde. Und dabei die schlimmen Erinnerungen. So kompliziert, so unnötig und doch wunderbar kompliziert. Er war steif auf jene Art und Weise, die nicht überschritten werden kann, ohne eine Spur von Weichheit. Sie zog die Vorhaut zurück und staunte. Über das Leben. Über alles, was immer noch geschehen konnte. Die Hand wanderte hinab. Sollte sie wirklich? Gerade als sie mit einem dumpfen Beben die Zunge näher heranführte, hörte sie das deutliche Geräusch von splitterndem Glas. Sie hielt inne. Sie fühlte eine große und plötzliche Schwere, die sich auf ihr Herz legte. Die Schwere wich. Kerstin griff auch mit der anderen Hand zu. Und dann ließ sie die Lippen sich schließen. Und es war alles sehr sonderbar.
Die Wärme kehrte in Gunnar Nybergs Brust zurück. Er hielt die Hand aufs Herz und fühlte. Nein, er lebte. Alles war wie immer. Er fühlte sich sogar leichter als sonst. Und auf dem Schlafzimmerfußboden waren keine Glassplitter.
Dennoch war ein Glaskäfig zersplittert. Er fragte sich, was das bedeutete.
Vielleicht nichts. Vielleicht war überhaupt nichts passiert. Doch er bezweifelte es.
Er machte den Laptop aus und legte ihn auf den Boden. Ein lusterfüllter Strom glitt durch die Luft heran, und er sank an Ludmilas Seite nieder. Er presste sich an sie und legte eine Hand auf ihre Brust. Die andere glitt unter ihren Schlüpfer. Es musste tragen oder brechen.
Es trug.
Und bald war Mittsommer.