33
»Ich habe auf ihn geschossen.«
Arto Söderstedt nickte bedächtig.
Er betrachtete den schwer mitgenommenen Mann und sah die neue Glut in seinen Augen.
Mit ebenfalls neuer Stimme fuhr Lars-Inge Runström fort: »Ich schieße in die Wand. Zwei Schuss. Sie sitzen unmittelbar nebeneinander, zwei kleine Löcher, wie eine Steckdose. Aber die haben sich von selbst gelöst. Dann schoss ich noch zweimal. Tiefer in die Garage hinein. Wo ich das Wesen sah. Es lief geduckt zwischen ein paar Autos zehn Meter ins Innere. Ich muss weit weg eine Wand getroffen haben.«
Söderstedt nickte weiter. Sie hatten vier Einschusslöcher gefunden. Zwei in der Wand, zwei in Ronald Swärd. Nach anderen hatten sie nicht gesucht.
Da sieht man, wie vorgefasste falsche Meinungen einen leiten.
»Erinnern Sie sich daran, wie er aussah?«, fragte er.
»Etwas fängt an, sich zu zeigen«, sagte Runström. »Als Sie erzählt haben, wie es abgelaufen ist, wurde alles klar. Ich habe Swärd nicht erschossen. Er war schon tot. Aber ich habe auf eine Bewegung geschossen. Ganz instinktiv, ohne eine Sekunde zu zögern. Ich fürchtete, jemanden getroffen zu haben. Dadurch habe ich jedes Gefühl für die Wirklichkeit verloren. Ich hatte eine Gedächtnisstörung. So muss es gewesen sein. Jetzt ist alles ziemlich deutlich. Er hatte etwas in der Hand. Wie einen großen Füller.«
»Ein Tätowiergerät?«
»Vielleicht. Er war ziemlich jung, geschmeidig, schwarz gekleidet.«
»Jung?«
»Das war mein Eindruck. Da war etwas. Das Haar.«
»Dunkel? Hell?«
»Lang. Ziemlich lang jedenfalls. Die Farbe weiß ich nicht mehr, aber ich erinnere mich an einen wehenden Pferdeschwanz. Er hat mich angesehen. Ich müsste mich an sein Gesicht erinnern.«
»Wir drehen das Ganze noch einmal und fangen von vorn an«, sagte Söderstedt. »Sie fahren den Wagen in die Garage. Wie haben Sie das gemacht?«
»Sie war offen.«
»Weil Ronald Swärds BMW an einer Stelle steht, wo die Fotozellen reagieren und die Tür aufgeht?«
»Ja. Er steht genau neben der Einfahrt, auf der linken Seite. Ich musste voll auf die Bremse treten. Ich steige mit der Pistole in der Hand aus. Die Windschutzscheibe hat Löcher. Da sehe ich das Blut. Der Kopf ist völlig zerschossen. Zwei Schüsse aus meiner Pistole lösen sich. Ich sehe die Löcher in der Wand. Geradeaus, genau nebeneinander. Dann sehe ich die Bewegung, links von der Wand mit den Einschüssen, zehn Meter weit im Garageninnern. Er duckt sich zwischen die Autos. Ich sehe den großen Füller in seiner Hand. Und ich schieße. Noch zweimal. Da sieht er mich an. Aber dann erinnere ich mich an nichts mehr.«
»Hat es einen Sinn, den Polizeizeichner zu holen?«, fragte Söderstedt und fühlte, dass er eine Art anerkennende Geste machen sollte. Es gelang ihm nicht richtig.
Runström schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte er.
»Ich sehe kein Gesicht vor mir. Es muss erst auftauchen.«
»Dann zu der Frage, wie er wissen konnte, dass Sie sich auf den Weg gemacht haben, um Swärd zu erschießen. Und sagen Sie jetzt nicht –«
»Er muss meine Gedanken gelesen haben.«
»Ganz genau das, ja. Sagen Sie das nicht. Sagen Sie stattdessen, wie es dazu kommen konnte. Haben Sie es jemandem erzählt?«
»Absolut nicht«, sagte Lars-Inge Runström gekränkt.
»Ich wusste es ja selbst nicht. Er hat meine Gedanken gelesen, bevor ich sie gedacht habe.«
»Oder Sie wussten es ganz sicher. Unter anderem haben Sie Ihre alte Heimwehr-Husqvarna geputzt und sich Munition beschafft. Es war nicht unvorbereitet.«
Runström zuckte die Schultern. »Ein Teil von mir muss begriffen haben, wie schlimm es mit ›Makeover‹ werden würde. Von welchen neuen Tiefständen des Erniedrigungsfernsehens das schwedische Volk sich gezwungenermaßen faszinieren lassen sollte. Etwas in mir muss gewusst haben, dass ich zu der Einsicht kommen würde: Mein Wort kann nichts ausrichten. Ich werde tauben Ohren predigen. Etwas in mir wusste davon, bevor ich selbst es wusste. Besser kann ich es nicht erklären.«
»Wann haben Sie die Munition gekauft?«
»Ungefähr eine Woche früher. In einem Waffengeschäft auf Söder. Skånegatan, glaube ich.«
»Sie müssen sich ausgewiesen oder eine Waffenlizenz vorgezeigt haben. Und haben Sie mit Scheckkarte bezahlt?«
»Vermutlich. Ganz sicher mit Karte. Das mache ich immer. Ich hasse Bargeld.«
»Dann können wir auf jeden Fall das Datum feststellen. Vielleicht haben wir das Glück, dass er Ihnen in den Laden gefolgt ist, um zu beobachten, was Sie kauften. Um das Gleiche zu kaufen: eine alte Husqvarna mit Munition.«
»Tja«, sagte Runström und sah ausgelaugt aus.
»Und von Vebach Zelsai haben Sie noch nie etwas gehört?«
»Nie. Ist es wirklich ein Name?«
»Was sollte es sonst sein?«
Arto Söderstedt überlegte. Was sollte es sonst sein, das geplante Treffen, das den Fernsehchef Ronald Swärd veranlasste, sich gerade in diesem Moment auf den Weg zu machen? Hatten sie vielleicht ein bisschen zu früh entschieden, dass der Termin im Szeneclub Kharma ein Treffen mit einem Menschen betraf? Der Name musste kontrolliert werden. Gründlich.
»Er erinnert mich an Keyser Söze«, sagte Lars-Inge Runström.
»Keyser was?«
»Den geheimnisvollen und ständig abwesenden Gangsterboss im Film ›Die üblichen Verdächtigen‹. Den sollten Sie sich ansehen. ›The greatest trick the devil ever pulled was convincing the world that he didn’t exist.‹ Es sind auch eine Menge Ungarn dabei. The mysterious Vebach Zelsai.«
»Schön zu sehen, dass Sie sich erholt haben«, sagte Söderstedt und sah schon vor sich, wie er direkt von der Arbeit zum Videoladen gehen würde.
»Ich bin unschuldig«, sagte Lars-Inge Runström und lehnte sich im Stuhl zurück. »Begreifen Sie, wie glücklich ich bin? Ich habe niemanden umgebracht.«
»Dann machen wir Folgendes«, sagte Arto Söderstedt und stand auf. »Es ist schon ziemlich spät. Morgen ist Mittsommerabend. Dann komme ich früh wie eine Waldfee mit einem Polizeizeichner im Schlepptau herunter. Und Sie haben die Nacht damit verbracht, sich ein Gesicht in Erinnerung zu rufen. Klingt das gut?«
»Wie in der besten aller Welten«, sagte Lars-Inge Runström.
Die Bilder vom Fest hatten nun einen ganz anderen Stellenwert. Jedes einzelne Foto war aus der Perspektive des Mörders aufgenommen, jedes Bild hatte der Mörder buchstäblich gesehen. Lena Lindberg versetzte sich an seine Stelle, in seine Art, die Welt zu sehen. Die frohen Gesichter sahen aus wie Totentanzbilder: Lachen am Rand des Grabes. Die Flüchtigkeit, Anfälligkeit, Sterblichkeit allen Seins.
Doch nirgendwo fand sich der Fotograf selbst. Sorgfältig hatte er jede reflektierende Fläche vermieden.
Und das Auge sieht bekanntlich alles – außer sich selbst.
Er war nicht einmal in Pauls Plastikbrille zu erkennen.
Lena Lindberg legte die Fotos zur Seite und griff wieder zu den beigefügten Negativen. Alle Bilder waren da, in numerischer Reihenfolge. Kein einziges misslungenes Foto. Das ließ nichts Gutes ahnen.
Kein einziger Fehlversuch.
Und die Verpackung war seit langem weggeworfen. Sie verwendete einen unangemessen großen Teil des Tages darauf, den Weg zu rekonstruieren, den zwei Tage alter Müll aus geleerten Papierkörben nahm. Alles wurde ›täglich entsorgt‹, erfuhr sie schließlich, keine Geheimnisse verließen das Polizeipräsidium.
Dann die Überwachungskameras. Einen kurzen Augenblick lang nährte Lena Lindberg die Hoffnung, dass der provisorische Festsaal im dritten Stock von einer eigenen Kamera überwacht wurde, doch es zeigte sich, dass das nicht der Fall war. Dagegen gab es vier potenzielle Kameras auf dem Weg von der Polhemsgata hinauf in den dritten Stock. Eine in einem Korridor und die im Aufzug waren exakt datiert. Die am Eingang und eine zweite in einem anderen Korridor waren ohne Datumskontrolle. Die musste sie genauer prüfen. Das hieß mehrere Stunden Arbeit, auf die sie keinen Bock hatte.
Also die beiden Überwachungsfilme, bei denen es leicht war, den richtigen Zeitpunkt zu finden. Die im ersten Korridor zeigte nichts; er musste sich ganz einfach um sie herumgeschlichen haben. Die im Aufzug zeigte Viggo Norlanders Familie. Es war faszinierend. Viggo, Astrid, ein Zwillingswagen. Sonst nichts. Bis zwei Hände von unten ins Bild gestreckt wurden und ein Blitzlichtgerät auf eine große Kamera schraubten. Anschließend klatschte das ältere Mädchen dem jüngeren eine Rassel ans Jochbein, und beide heulten los. Lena sah deutlich, wie Viggos untröstlicher Mund ›Charlotte‹ rief, worauf er ihr die Rassel aus der Hand schnappte. Die Aufzugtür glitt zur Seite. Die Familie verließ den Aufzug, die weißen Konturen Arto Söderstedts kamen für einen Moment ins Bild. Dann verschwanden sie. Da wurde die Hand wieder ins Bild gestreckt und drückte auf einen der Aufzugknöpfe. Wahrscheinlich, um die Tür aufzuhalten. Einen Moment war es still. Der Aufzug war leer. Schließlich kam Arto Söderstedt zurück. Ein Blitz zuckte auf. Eine Kontur glitt aus dem Aufzug. Und das war alles.
Eine Kontur … Nur eine Bewegung. Mehr nicht. Er hatte sich gleichsam um den Blickbereich, den die Kamera abdeckte, herumgedrückt. Ohne dass jemand das Ausweichmanöver bemerkt hätte.
Lena Lindberg seufzte und betrachtete den großen Stapel Videobänder vor sich auf dem Schreibtisch. Sie verfluchte ihren Mangel an entsprechender Routine und fummelte das erste Band in eines der zahlreichen Videogeräte des Videoraums.
Sie fragte sich, wie viele Bänder sie wohl gleichzeitig schaffte.
Viggo Norlander war überaus aktiv. Er laborierte mit drei Medien gleichzeitig. Fabelhaft, in welche Höhen der Simultankapazität man sich als ganztags arbeitendes Kleinkind-Elternteil hinaufarbeitete. Man bekam so gut wie alles in den Griff, außer Rasseln.
Er mailte, er telefonierte, er war unterwegs – alles gleichzeitig. Und die Erinnerungsbilder von Jan-Olov Hultins anspruchslosem Pensionsfest legten sich als mentale Bruchstücke nebeneinander. Alle hatten sich im selben geschlossenen Raum befunden, und alle erinnerten sich an gänzlich verschiedene Dinge. Nur in einem Punkt waren sich die Befragten einig: Sie erinnerten sich bezüglich des Fotografen ausschließlich an die Blitze.
Bislang.
Er fuhr mit dem Wagen im Vierundzwanzigstundenstoßverkehr auf Ringvägen und betrachtete das E-Mail-Programm auf den drahtlos mit dem Internet verbundenen Laptops, während er gleichzeitig am Handy telefonierte. Mit Niklas Grundström.
Grundström machte sich Sorgen. Weniger über den Komplikationsgrad des Falls an sich als über seinen eigenen Mangel an Aufmerksamkeit. »Aber wie ist das möglich?«, stieß die in der Regel beherrschteste Kraft des gesamten Polizeikorps hervor. »Ich hatte ihn doch direkt vor der Nase.«
»Überhaupt nichts?«, sagte Viggo Norlander und bog gleich hinter dem Söderkrankenhaus in eine kleine Parallelstraße ein, Richtung Skanstull. Im gleichen Augenblick sagte es Pling im E-Mail-Programm, und er klickte die Mail an.
»Nein«, sagte Grundström zerknirscht. »War er nicht ziemlich jung?«
»Ich habe gerade eine Mail von deiner Frau bekommen«, sagte Norlander. »Arbeitet sie im Modernen Museum?«
»Ja«, sagte Grundström abwesend.
»Sie schreibt: ›Der fragliche Fotograf ist ein dunklerer Fleck als ich selbst. Leider. Elsa.‹«
»Sie hat einen besonderen Humor«, sagte Niklas Grundström tiefernst.
Norlander hielt an, nahm das Handy aus dem Halter und steckte es in die Tasche, klappte den Laptop zu und klemmte ihn unter den Arm, als er die Treppe zur Eriksdalschule hinunterging. Seine Ankunft in dem während des Sommers geöffneten Freizeitheim machte einen nachhaltigen Eindruck, weil im selben Moment, in dem der Freizeitpädagoge die Tür öffnete, sein Handy klingelte. Da sein Klingelton, das klassische Mittsommerlied ›Die kleinen Frösche‹, auf höchste Lautstärke eingestellt war, breitete sich im Innern des zum Hallenhockeyfeld umfunktionierten Freizeitheims eine gewisse Heiterkeit aus.
»Warum spielt ihr nicht Fußball, wenn die Sonne scheint?«, fragte Norlander und meldete sich am Telefon.
Der Freizeitpädagoge starrte ihn an. Das Hallenhockeyspiel war angehalten. Es war wie ein Standbild. Der Ball schien in der Luft zu stehen.
»Ja«, sagte Viggo Norlander. Dann sagte er: »Ja. Nein. Okay, Jan-Olov. Gar keine Erinnerung? Und Stina? Nein, okay. Wenn euch noch etwas einfällt … Gut. Danke und hej. Jaja, ich erzähle es euch später. Hej.«
»Hej«, sagte er jetzt stattdessen zu dem Freizeitpädagogen und hielt seinen Polizeiausweis hoch. »Ich muss mit Linda Söderstedt aus der Klasse 9e sprechen.«
Ein kreideweißrotes Wesen tauchte mit dem Hockeyschläger in der Hand auf. »Ich dachte mir doch gleich, dass du es bist, Viggo«, sagte Arto Söderstedts Zweitälteste Tochter. »Ist Papa etwas passiert?«
»Nein, nein«, sagte Norlander beruhigend. »Gar nichts. Können wir einen Moment rausgehen? Wenn du frische Luft verträgst.«
»Haha, Plattnase«, sagte Linda Söderstedt und ging mit hinaus an die frische Luft.
»Pass auf, dass du keine Sonne abkriegst«, insistierte Norlander.
»Was ist denn? Wir sind mitten im Halbfinale.«
»Erinnerst du dich an einen Fotografen auf dem Fest für den Chef deines Vaters, der in Pension ging?«
»Was? Und deswegen störst du mich? Wir haben Schulmeisterschaft. Du Obertrottel.«
»Werden meine engelgleichen Töchter auch in Kürze erwachsene Männer mit Schimpfworten traktieren?«
»Klar erinnere ich mich an ihn«, sagte Linda Söderstedt.
»Kann ich jetzt gehen?«
»Was? Du erinnerst dich an den Fotografen?«
»Aber klar. Der war voll cool. Er hat mit mir geflirtet. Da bin ich ganz sicher.«
»Das Hallenhockeyturnier ist beendet«, entschied Viggo Norlander und entführte Linda von der Schulmeisterschaft.
»Was glaubst du selbst?«, fragte Sara Svenhagen. »Wie hat er erfahren, dass ihr euch treffen wolltet?«
Die Frau, die einmal Naska Rezazi geheißen hatte, beobachtete sie und schwieg.
»Nun komm schon, Lera«, bohrte Sara nach. »Er hat versucht, dir den Mord an deinem Bruder anzuhängen. Du hast keinen Grund, ihn zu decken.«
Das gleiche störrisch beharrliche Schweigen wie vorher.
»Was dir widerfahren ist«, versuchte es Sara, »war die Art von Verbrechen, die in der Abgeschlossenheit gedeiht. Und du selbst hast im Verborgenen gelebt. Nichts von alldem hier ist an die Öffentlichkeit gelangt. Es muss aus einem der geschlossenen Räume gekommen sein: entweder dem deiner Familie oder deinem eigenen. Und ich glaube nicht, dass deine Familie irgendeinen Außenstehenden das Allergeringste hat sehen lassen. Es muss von dir gekommen sein, Lera. Dein Raum war offener. Darum ging es ja bei dem Ganzen.«
»Ich heiße nicht mehr Lera«, sagte Naska Rezazi und blickte zu Sara auf. »Es war ein unwürdiger Name.«
»Ich verstehe, dass du so denkst, Naska. Aber Lena und Sara suchen einen mehrfachen Mörder. Man kann ihn vielleicht sogar einen Serienmörder nennen. Und er plant noch weitere Morde.«
»Heute bin ich Russin. Heute heiße ich Bahizeva. Olga Bahizeva.«
»Warum willst du mir nicht helfen? Man hätte dich freigelassen, und du hättest eine hohe Entschädigung bekommen. Stattdessen entscheidest du dich dafür, als Verbrächerin weiterzumachen. Obwohl du gar keine bist. Warum?«
Naska Rezazis dunkler Blick wurde sehr, sehr scharf.
»Verstehst du das wirklich nicht, Sara?«, fragte sie.
»Nein«, log Sara.
»Wenn wir uns … wie sagt man …? hypothetisch vorstellen, es gäbe einen Er – was hat er dann gemacht?«
Jetzt war es an Sara Svenhagen, beharrlich zu schweigen. Sie hatte kein gutes Gegenargument.
Naska Rezazi sagte: »Er hat mir das Leben gerettet.«
Paul Hjelm betrachtete seine Liste von Zeugen für Jorge Chavez’ schwerwiegende Drogengeschäfte. Er saß wieder hinter dem Spiegel; das schien sein Los zu sein. Der Mann hinter dem Spiegel. Wenn man glaubt, niemand sieht einen, dann sieht einen Paul Hjelm.
Puuh.
Im Spiegelsaal saß ein Nichtverdächtiger. Das war schon ungewöhnlich genug. Dass er außerdem einen Zeichner bei sich hatte, war überaus seltsam. Sie sollten nämlich eigentlich nicht dort sitzen. Aber Hjelm wollte sie sehen. Er wollte sehen, ob das Weißhemd aus dem Teleladen vertrauenswürdig war. Er glaubte – immer noch –, solche Dinge entscheiden zu können.
Was dort drinnen vor sich ging, war ein Kampf. Der Kampf des Weißhemds mit seiner Erinnerung. Im Laden war er sich seiner Sache so sicher gewesen. Jetzt sollte mithilfe eines Bleistifts und einer Datenbank ein Gesicht erstellt werden. Und alles wurde so viel schwerer, die Möglichkeiten wurden so gigantisch. Das menschliche Gesicht blieb ein unlösbares Rätsel. Dennoch fand Paul Hjelm, dass der Kampf des Weißhemds mit seinen Dämonen durchaus befriedigend war. Wenn er scheiterte, lag es nicht an irgendwelchen eigenen Phantasmen oder an einem verfehlten Willen, im Mittelpunkt zu stehen. Er strengte sich wirklich an.
Doch noch war kein Resultat in Sicht.
Paul Hjelm kehrte zu seiner Liste zurück. Er hatte noch einmal mit ihnen gesprochen, mit denen, die erreichbar waren. Außerdem hatte er den abwesenden Micke Furberg lokalisiert, er saß im Gefängnis von Ringerike, achtzig Kilometer nordwestlich von Oslo, und verbüßte eine dreijährige Strafe wegen Drogenschmuggels. Es hörte sich nicht richtig gut an. Drogen und das Majls. Hjelm rief in Norwegen an und bekam Furberg an den Apparat, der sofort dafür sorgte, dass es sich besser anhörte.
»Jorge?«, sagte er in reinstem Stockholmschwedisch.
»Aber verdammich, er war doch derjenige, der in dem Laden die Moral hochgehalten hat. Er hat zwar mal einen Zug getan, aber hauptsächlich, um die Starkraucher in der Nähe zu beruhigen. Besonders diesen Idioten Gurgel. Göran Urbansson irgendwas.«
»Gunnar«, sagte Paul Hjelm. »Gab es jemanden, der mit Jorge Probleme hatte? Von den Musikern oder so?«
»Die Bullen hatten Probleme mit Jorge. Er war Bulle und wurde von den Bullen schikaniert. Es war verdammt komisch. Wir anderen haben ihn alle geliebt. Guter Typ. Ich ging weg, als er wegging. Zu einem beknackten Bauernschuppen in Eskilstuna, den ich gekauft habe, um ihn zu einer Drogenzentrale zu machen. Wenn Sie das checken. Bisschen Stoff aus Thailand schmuggeln. Jemand sagte mir, es wäre einfacher, einen Umweg über Norwegen zu machen. Denkste. Jetzt sitz ich hier zusammen mit mental gestörten Kriegsverbrechern aus Bosnien. Vom Europäischen Gerichtshof in den Haag. Sagt Ihnen der Name Drazen Erdemovic was? Er war einer der führenden Figuren beim Massaker von Srebrenica.«
»Ist jemand in letzter Zeit wegen der Geschichte mit der Drogenzentrale mit Ihnen in Kontakt getreten? Es gibt Leute, die behaupten, das Majls wäre eine gewesen.«
»Das Majls? You gotta be kiddin’, man. Das war die reine Sonntagsschule.«
»Keiner hat im Knast Kontakt zu Ihnen aufgenommen?«
»Nix. Keine Seele in anderthalb Jahren. Bis jetzt. Wenn man von der Dusche absieht.«
Als Paul auflegte, hatte er das Gefühl, es müsse mehr zu fragen geben. Geradeheraus vielleicht? Wer klagt meinen besten Freund an? Und warum verbindet er es mit einer eigentümlichen Mordserie?
Und: Sollte ich nicht schnurstracks zu Jorge gehen und ihm alles erzählen? Für den Fall, dass er sich schützen muss? Anderseits hatte er Haschisch im Körper.
Aber das sollte er kaum Micke Furberg fragen.
Sondern eher Jan-Olov Hultin.
So geschah es. Hultin saß in der Sauna. Stina reichte das Handy ins Dampfmeer.
»Schnell, bevor ich einen Schlag bekomme«, sagte der Saunapensionär.
»Der Denunziant hat mehrere Widerlinge ermordet«, sagte Hjelm und kam sich vor, als stünde er vor einem Hollywoodproduzenten und müsste das Manuskript in dreißig Worten zusammenfassen. Er fuhr fort: »A-Gruppen-Fälle, die sie für separat hielten. Er hat die A-Gruppe im Visier. Kleinster gemeinsamer Nenner ist Jorge. Soll ich mit ihm reden? Und vielleicht von Grundström gefeuert werden?«
Okay, es waren vierunddreißig …
»Ein Glück, dass man Pensionär ist«, sagte Hultin.
Es plätscherte im Hintergrund. Badete der Kerl im Ravalen? Während er über Tod und Leben seiner früheren Mitarbeiter diskutierte?
»Badest du?«, fragte Hjelm.
»Wasche mich nur«, sagte Hultin. »Ja.«
»Ja?«
»Ja, du musst mit Jorge reden. Aber das Timing ist wichtig. Sieh auf jeden Fall zu, dass er nicht stirbt. Aber so hört es sich nicht an.«
»Danke für einen glasklaren Rat.«
»Bitte«, sagte Jan-Olov Hultin.
Ende des Gesprächs. Hultin war wirklich in Pension gegangen. Das imponierte Hjelm.
Er blickte durch den venezianischen Spiegel. Das Weißhemd fuchtelte mit den Armen und beschimpfte den armen Polizeizeichner. Hjelm wandte sich wieder seiner Liste zu. Warum hatte der Mörder ihm gerade diese Liste geschickt? War darin etwas verborgen? Was war ihm bei seinen Gesprächen entgangen? Die Polizeibeamten Emil Mårdström, Bengt Eriksson und Rickard Blomdahl, die Musiker Stig Nilsson und Rocke Rööf, der Majls-Boss Micke Furberg, die Sozialarbeiterin Ann-Charlotte Stefansson sowie die diffuse Eva-Liza Besch, die Einzige, die er nicht gefunden hatte. Er hatte sie noch einmal anzurufen versucht. Einige hatte er nicht erreichen können. Den in Polen flüchtigen Bengt Eriksson zum Beispiel.
Es kam nichts Neues zum Vorschein. Es gab sozusagen keine Fragen mehr, die man stellen konnte. Er hatte das Gefühl, sich nur zu wiederholen.
Eva-Liza Besch gab es nirgendwo. Ihr Fehlen im schwedischen Melderegister ließ die Vermutung zu, dass sie Ausländerin war. Ihre Telefonnummer führte zu einem schwedischen Mobiltelefon, das mit metallischer Kunststimme mitteilte, die Teilnehmerin sei derzeit nicht erreichbar, und von ihrer Hotmail-Adresse kam keine Antwort.
Das Handy klingelte. Das Weißhemd warf einen misstrauischen Blick in den Blindspiegel und widmete sich danach wieder der Beschimpfung des Zeichners.
»Hjelm«, antwortete er.
»Kerstin hier«, sagte Kerstin Holm. »Bekommen wir eine Zeichnung?«
»Ist nicht sicher«, sagte Hjelm. »Und vieles andere auch nicht.«
»Im Zimmer nebenan sitzt ein anderer Zeichner mit Artos Tochter Linda. Sie scheint die Einzige gewesen zu sein, die den Fotografen ordentlich gesehen hat. Und Arto will Runström bis morgen dazu bringen, eine Zeichnung zu machen.«
»Das klingt gut«, sagte Hjelm. »Dann können wir sie vergleichen. Sonst noch etwas?«
»Nichts, was wir nicht morgen erledigen könnten«, erwiderte Holm. »Ich habe mir nämlich eine Großversammlung vorgestellt. Komplett mit dir und Jorge. Alles muss auf den Tisch. Hinaus ins Freie.«
»Mittsommerabend«, sagte Paul Hjelm.
»Ja, du«, sagte Kerstin Holm.
»Ja, du«, sagte Kerstin Holm und legte den Hörer auf. Sie schaute an die Decke. Jetzt gab es keinen Blickwinkel mehr, aus dem das Spinnennetz nicht zu sehen war. Es war die ganze Zeit gegenwärtig.
Es klopfte an der Tür. Ein sehr großer Mann schaute herein. Sie erkannte ihn. Es war der Hundertfünfzigkilo-Hausmeister, der ihr vor Urzeiten einen Fernseher in ihr neues Chefzimmer geliefert hatte. Da hatte sie noch gehofft, sie würde ein wenig von der Fußball-WM sehen können. Das war damals gewesen.
»War hier ein WeBe?«, fragte der Hundertfünfzigkilo-Hausmeister.
»Ja klar«, sagte Kerstin Holm, ohne eine Ahnung davon zu haben, was der Mann meinte. Sie fügte sogar hinzu:
»Hier war ein WeBe.«
Der Riese schleppte ein großes, flaches, rechteckiges Paket herein, das mitten im Zimmer auf einem Gestell stehen blieb. Sie betrachtete es mit nicht geringer Verwunderung. Viel mehr Verwunderung konnte sie in ihrem Leben auch nicht mehr unterbringen.
»Unterschreib hier«, sagte der Mann, legte ein verknittertes Papier vor sie auf den Schreibtisch, riss das Papier an sich und hielt in der Tür inne. »Soll ich das wegmachen?«
Sie folgte der Richtung seines Zeigefingers zu dem Spinnennetz und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie.
Der Hundertfünfzigkilo-Hausmeister vollführte eine großartig resignierte Geste, als wäre sie, Kerstin, ein hoffnungsloser Fall, und verließ den Raum.
WeBe? Dachte sie und trat zu dem großen, flachen Paket. Sie riss das braune Packpapier herunter und hatte eine weiß glänzende Fläche vor sich. Wie eine frisch gewaschene Eishockeybahn, auf der Kerstin Holm den Mittelkreis darstellte. Der Mittelkreis blinzelte. Dann verstand sie.
»WeBe«, sagte sie laut. »WB. Whiteboard.«
Dann machte sie sich daran, alles systematisch zu ordnen.
Zwei Filzschreiber gaben den Geist auf, bevor sie fertig war.
Die Mittsommersonne, die durchs Fenster hereinfiel, ließ durchaus nicht den Eindruck entstehen, dass es kurz vor sieben Uhr war.
Irgendwo wartete ein Sohn auf sie.
Und sie gingen nach Hause. Gunnar Nyberg ging nach Hause zu Ludmila. Arto Söderstedt ging nach Hause zu Anja, Mikaela, Linda, Peter, Stefan und Klein Lina. Kerstin Holm ging nach Hause zu Anders und Viktor. Paul Hjelm ging nach Hause zu Christina. Lena Lindberg ging nach Hause zu Claes. Viggo Norlander ging nach Hause zu Astrid, Charlotte und Sandra. Und Sara Svenhagen ging nach Hause zu Jorge und Isabel.
Widerwillig gingen sie nach Hause – über ihren Köpfen schwebte das Ungelöste wie eine bedrohliche Giftwolke.
Eine giftige Säurewolke.