19
Poznán, eine Stadt, in der man sich fühlt, als hätte sich das Ozonloch über einem geöffnet.
Wie am Polarkreis. In Schweden. In Tornedalen. Zu Hause. Eine nackte Sonne.
Das merkwürdige Gefühl, nach Jahren im Exil nach Hause zurückzukehren. Ein Fremder. Und die Sonne war auch fremd. Als wäre sie sehr viel näher gekommen.
Als wollte sie ihn festbrennen.
Jon Anderson war dort oben geboren, dreißig Kilometer südlich von Pajala. Da hatte er seine Wurzeln. Aber Poznán kannte er besser. Wo er als Erwachsener gelebt hatte. Nicht in Tornedalen. In Tornedalen würde er immer Kind sein.
Nach Poznán zurückzukehren, war etwas ganz anderes. Auf den eigenen Spuren zu reisen, zu erleben, wie man damals war. Ungestüm, wie ein freigelassenes Kalb.
Wenn man sich dafür entschieden hatte, wer man war.
Das Gefühl.
Selbst unter Folter würde er abstreiten, dass er deswegen darauf bestanden hat hierherzukommen.
Weil es ihn an jene Jahre erinnerte. Die besseren Jahre.
Außerdem war er die A-Gruppe eine Weile los. Diese Ansammlung superschlauer einspuriger Intelligenzen. Fähige Polizisten? Ja, vielleicht. Aber auf einen klitzekleinen Sektor des Weltalls festgelegt. Mit Gunnar Nyberg zusammenzuarbeiten … diesem Grobian. Und unter einer derart unsicheren und unbestimmten Chefin wie Kerstin Holm hatte er noch nie gearbeitet. Es war ein Skandal, offen gesagt. Hultin war zumindest einer von der alten Schule gewesen. Durchschaubar. Aber Holm? Er fragte sich, ob die Gerüchte stimmten, die über sie im Umlauf waren. Ob sie – wie die Gerüchte, aber nicht die Medien behaupteten – tatsächlich in die komische Geschichte mit dem durchgeknallten Polizisten Dag Lundmark verwickelt gewesen war. Persönlich. Die Medien hatten es nicht richtig begriffen. In der wirren Presseberichterstattung ahnte er den Hauch von bewusst ausgelegten falschen Spuren.
Die Einsamkeit gefiel ihm. Sie war seine Begleiterin. Er kannte sie. Er war in ihr zu Hause.
Er begegnete seinem Blick im Spiegel des schäbigen Hotelzimmers. Vier Jahre lang hatte er sein Gesicht nicht im Spiegel gesehen. Er hatte aufgehört, sich anzusehen, als er noch ein Kind war und zum ersten Mal bei den Männern in der Sauna eine Erektion bekam. Als er sich wiedersah, war er erwachsen. Es dauerte eine gute Weile, bis er begriff, wer der Mann war, der ihn aus dem Spiegel anstarrte.
Eigentümliche Jahre. Prägende Jahre. Das fromme Lasstadianische Erbe. Die Strenge, die er von sich selbst kannte, die er bei sich wiederfand, als er glaubte, er habe eine vollständige Metamorphose durchgemacht.
Wie alles wiederkehrte. Unentrinnbar.
Dennoch war er wieder hier. In Poznán. Wo er die mutigste Tat seines Lebens begangen hatte. Würde er eine Wiederholung wagen?
Park Marcinkowskiego.
Das Hotelzimmer lag im Dunkeln. Der Abend ging in die Nacht über, in die Nacht nach einem langen und produktiven Tag. Und etwas rumorte in ihm. Zerrte und riss. Ein brauner Bannkreis. Ein innerer Hochdruck. Park Marcinkowskiego.
Ein Tier wohnte in ihm, das ihn zwang, sich zu bewegen. Es gab kein Zurück. Er musste hinaus. Wurde hinausgedrückt. Einsamer Ausländer in der harten polnischen Nacht.
Er harrte noch aus, indem er den Tag Revue passieren ließ. Das munterte auf. An der Anderson’schen Effizienz gab es nichts auszusetzen. Nicht einmal die grantige Plastikkommissarin Holm, per Frauenquote aufgestiegen, würde etwas bemängeln können.
Er war kurz nach zwölf am Mittag in Poznán angekommen, nach zwei angenehmen Stunden zwischen Arlanda und Warszawa und einer wahren Horrorstunde auf dem Inlandsflug von Warszawa nach Poznán. Die rekonstruierte polnische Fluggesellschaft Lot hatte offenbar zwei Gesichter, ein Auslandsgesicht und ein Inlandsgesicht. Letzteres bescherte ihm einen jener Albtraumflüge, von denen er geglaubt hatte, sie seien mit dem Fall der Mauer Vergangenheit. Die Stewardessen waren militante Grundschullehrerinnen, die aufmüpfige Passagiere bestraften, indem sie ihnen mit dem Lineal auf die Fingerknöchel schlugen. Jede Hoffnung, ein bisschen zollfreien Wyborowa-Wodka oder Jarzebiak-Vogelbeerschnaps mitnehmen zu können, wurde zunichte. Wenn es hochkam, musste man zu den Schlägen auf die Fingerknöchel eine Dosis Rizinusöl schlucken.
Es war ein schöner Sommertag. Die Sonne war grausam, als er aus der Maschine stieg und die wenigen Schritte zum Flughafengebäude hinüberging. Es war nicht die Art von Hitzeschock, die Reisende aus nördlichen Ländern überfällt, wenn sie beispielsweise in Marokko das Flugzeug verlassen und die Lungen sich mit glühendem Gas füllen. Im Schatten war es fast ein wenig kühl. Aber die Sonne war nackt. Wie eine ganz andere Sonne, ohne alle Filter und Schutzschichten der Atmosphäre.
Wie in Tornedalen. In Olkamangi.
Danach konnte er für den Rest des Tages die schwedische Landschaft nicht aus dem Kopf bekommen. Die wunderschönen Kulissen vor dem Hintergrund der sprudelnden Strömung des Torne Älv begleiteten ihn auf seinen Wanderungen durch Poznán. Es war ein wenig zwiespältig. Das Kind und der Erwachsene gingen nebeneinander. Doch das hieß nicht, dass sie sich einig waren.
Poznán war grüner und blauer, als er die Stadt in Erinnerung hatte, doch es waren nicht nur die vielen Parks und Seen, die einen anderen Eindruck entstehen ließen. In Jon Andersons Erinnerung war Poznán eine osteuropäische Industriestadt ohne Farben. Entweder ließ ihn seine Erinnerung im Stich, oder die Stadt hatte sich drastisch verändert. Da seine Erinnerung ihn nie im Stich ließ, musste die Stadt sich verändert haben.
Poznán wirkte ganz einfach wohlhabend. Im guten Sinne repräsentativ für europäische Städte mittlerer Größe. Die Stadt hätte ebenso in Deutschland oder in Frankreich liegen können. Farben und moderne Autos. Poznán war Hauptstadt der Woiwodschaft Großpolen, in der Landschaft Wielkopolskie, und Polens fünftgrößte Stadt nach Warszawa, Kraków und Wroctaw. Und kurz vor Gdánsk.
Poznán konnte neben Warszawa als kommerzielle Hauptstadt betrachtet werden, mit gut dreißig Banken und einer erstaunlichen Anzahl von kleinen Unternehmen. Erst vor kurzem war sie als eine der investitionsfreundlichsten Städte des ehemaligen Ostblocks eingestuft worden. Der Wohlstand hing in starkem Maß mit der jährlichen großen Wirtschaftsmesse in der gut besuchten internationalen Messehalle zusammen.
Dass Poznán, wie ganz Polen, während des Weltkriegs schwer verwüstet worden war, sah er noch deutlich auf der Taxifahrt vom Wagenfenster aus – bis das Auto sich der mittelalterlichen Altstadt, stare miasto, näherte, von wo es, an einem weiteren Park entlang, weiterglitt und sicher beim Polizeihauptquartier landete. Angesichts der wahnwitzigen Verkehrssituation musste dies als ein kleineres Wunder eingestuft werden.
Er betrat das nach osteuropäischen Sechzigerjahren riechende Polizeipräsidium und fand sofort, was er suchte. Die Götter waren mit ihm. Er warf seine kleine Umhängetasche über die Schulter und klopfte bei Kommissar Marek Wojcik von der Kriminalpolizei Poznán an.
Kommissar Wojcik sah anders aus, als seine Stimme hätte vermuten lassen. Jon Anderson hatte sich einen korpulenten älteren Herrn in einem dicken Mantel vorgestellt – wie auch immer eine Stimme den Gedanken an einen Mantel hervorrufen mochte –, doch stattdessen traf er einen durchtrainierten Mann in den Vierzigern mit gepflegtem Schnauzbart und maßgeschneidertem Anzug. Der Mann wirkte nicht im Geringsten osteuropäisch. Kommissar Marek Wojcik stand auf und kam seinem jungen schwedischen Kollegen entgegen. Er sah ihn aus schönen braunen Augen fest an und sagte in gutem Englisch: »Willkommen in Poznán, Mister Anderson. Ich hatte nicht erwartet, dass Sie so –«
»Kriminalinspektor Jon Anderson«, sagte Anderson und war sich des schlechten Timings bewusst.
»– jung wären«, fuhr Wojcik unbeirrt fort und vollführte eine einladende Geste zu einer Art Barocksofa, das den halben Raum einnahm.
Sie setzten sich. Der Kaffee stand bereits auf dem Tisch. Der Dampf stieg aus den Tassen. Es war verblüffend. Woher konnte der polnische Kollege wissen, dass er genau jetzt eintreffen würde?
Wojcik las Andersons Gedanken und sagte: »Man braucht nur den Flugplan zu lesen. Bitte schön, trinken Sie in Ruhe Ihren Kaffee. Dann diskutieren wir Ihren Fall.«
Jon Anderson trank nie Kaffee. Kaffee ließ seinen Magen rebellieren. Es war eine unerwartete und betrübliche Komplikation, nicht zuletzt weil Marek Wojcik neben ihm saß und wartete. Es gab kein Entrinnen. Er nahm einen kleinen Schluck und hoffte, dass sein Lächeln nicht allzu falsch aussah. Der nussbraune Blick nagelte ihn fest und machte den labberigen Kaffee erträglich. Aber er spürte sofort, wie sein Magen aufbegehrte. Er hoffte, den Protest mit einer Willensanstrengung unterdrücken zu können.
»Sie hatten es eilig herzukommen«, sagte Kommissar Marek Wojcik. »Sie hätten ein wenig warten können, dann hätten wir alle Nachforschungen für Sie erledigt. Jetzt haben wir sie auch so gemacht. Sie hätten sich die Reise sparen können.«
Aber ihr hättet es nicht so schnell gemacht, wenn ich nicht gekommen wäre, dachte Jon Anderson.
»Ausgezeichnet«, sagte er. »Und zu welchem Ergebnis sind Sie gekommen?«
Wojcik stellte die Kaffeetasse ab und senkte den Blick. Offenbar hatte er damit gerechnet, dass die Konversation noch ein wenig weiterginge.
Anderson spürte das und sagte: »Entschuldigen Sie, wenn ich das sage, Kommissar Wojcik, aber ich habe schon in Stockholm gemerkt, dass es da etwas gibt, worüber Sie nicht richtig sprechen wollen. Warum?«
Wojcik antwortete noch immer nicht, doch er hob seinen klaren braunen Blick und richtete ihn fest auf sein Gegenüber. Dass Jon Anderson sich vollkommen aus dem Gleichgewicht gebracht fühlte, lag nicht nur daran, dass der Kaffee in seinem Magen hin und her schwappte wie Leckwasser in der Bilge bei starkem Sturm.
»Ich hatte einen Verdacht«, sagte der Kommissar schließlich.
Mehr kam nicht. Anderson beobachtete ihn und war verblüfft über die plötzliche Veränderung der Szene. Doch es war nicht Schuld, was er in der Haltung der nun verschlossenen Gestalt sah. Es ging nicht darum, etwas zu vertuschen, nicht darum, einen hochgestellten Diplomaten zu decken oder einem verwöhnten Diplomatensohn zu helfen, das Gesicht zu wahren. Etwas in der Art hatte er vermutet. Das war der Tonfall, den er zu erkennen gemeint hatte: den Kehrenwir’s-unter-den-Teppich-Tonfall. Befehl von höchster Stelle, die schwedische Polizei in die Irre zu führen. Um der nationalen Sicherheit willen.
Nein, das war es nicht. Nicht Schuld, sondern Scham.
Scham, nicht Schuld.
Der erfahrene Kommissar Marek Wojcik von der polnischen Kriminalpolizei saß da und schämte sich wie ein Hund vor seinem jungen, unschuldigen schwedischen Kollegen.
»Ich hoffte bis zuletzt, dass es nicht darum ginge«, sagte Wojcik schließlich und versenkte aufs Neue seinen nussbraunen Blick in dem des jungen Schweden.
Der junge Schwede schluckte schwer. »Um was nicht?«, fragte er.
Wojcik schloss die Augen und kniff sie ein paar Sekunden fest zusammen.
»Um einen polnischen Schandfleck«, sagte er.
Dann war es wieder still. Die unbarmherzigen Strahlen der nackten Sonne strömten in das kleine Büro und trugen zu Jon Andersons betrüblichem Allgemeinzustand bei. Er schwitzte, sein Magen revoltierte, und mitten in all diesem Leiden glühte eine wachsende Leidenschaft wie Lava einhundert Meter unter dem rauchenden Vulkan.
Etwas schickte sich an, geboren zu werden.
Doch nach außen war davon nichts zu sehen. Er saß vollkommen neutral da und sah aus, als verfügte er über grenzenlose Geduld. Der Widerstreit zwischen Innerem und Äußerem hätte jeden anderen Menschen zusammenbrechen lassen. Nicht so Jon Anderson. Widerstreit war sein Lebenszustand.
Schließlich sprach Wojcik: »Ein wichtiger Teil des polnischen sozialen Sicherungsnetzes heißt Sterbegeld. Die Hinterbliebenen erhalten viertausend Zloty vom Staat, um ihren verstorbenen Verwandten zu beerdigen. Ich habe ausgerechnet, dass dies in etwa zehntausend Schwedenkronen entspricht. Das ist in Polen sehr viel Geld. Aber unsere Beerdigungen sind teurer. Wir geben Unsummen dafür aus, unseren Toten einen würdigen Abschied zu bereiten.«
Marek Wojcik hielt inne und beobachtete seinen sanft lächelnden Kollegen. Nichts verriet, dass er eine Ahnung hatte, wohin die Erklärung führen würde. Aber auch nichts, dass er keine Ahnung hatte.
»Das bedeutet«, fuhr Wojcik fort, »dass wir eine sehr große Beerdigungsindustrie haben. Die Beerdigungsinstitute bilden mächtige und einflussreiche Netzwerke. Sie jagen buchstäblich Kunden. Ihre Zuträger werden ›Kopfjäger‹ genannt rekrutieren sich hauptsächlich aus Krankenwagenbesatzungen und Pflegepersonal. Menschen, die Kontakt mit den frischen Leichen haben – und die in unserem goldenen Zeitalter des freien Marktes für reine Hungerlöhne qualifizierte Arbeit leisten. Es ist schwer, der Belohnung von bis zu achtzehnhundert Zloty für ein schnelles Telefongespräch mit einem Tipp an ein Beerdigungsinstitut zu widerstehen. Nur Stunden nachdem die Angehörigen die Todesbotschaft erhalten haben, klingelt das Personal des Beerdigungsinstituts an der Tür und bietet den Trauernden seine Dienste an.«
Wieder hielt Marek Wojcik inne und warf einen verwunderten Blick auf seinen allem Anschein nach balsamierten nördlichen Kollegen.
Er fuhr fort: »Vor einigen Monaten wurde von der größten polnischen Tageszeitung Gazeta Wyborcza ein beachtliches Netzwerk aufgedeckt. Es war in der Textilstadt Lódg. Viele Menschen waren beteiligt, und es ging nicht mehr nur um Belohnungsgeld für Hinweise. Die ›Kopfjäger‹ hatten auch angefangen, aktiv zum Beschaffen der Leichen beizutragen. Krankenwagenfahrer ließen sich Zeit, damit Kranke und Verletzte unterwegs sterben konnten, und am Ende gingen sie ein Stück zu weit. Sie injizierten Mittel, die den Tod beschleunigen sollten. Unsere Kollegen von der Polizei in Lódg interessierten sich besonders für den übermäßig hohen Verbrauch des Muskelentspannungsmittels Pavulon, das normalerweise nur bei Operationen eingesetzt wird. In anderen Fällen kann es zum Atemstillstand führen. Man exhumierte eine Menge Tote, und der Skandal wurde in seiner ganzen Tragweite aufgedeckt. Es zeigte sich, dass das Netzwerk Verzweigungen auch in anderen Städten hatte, aber Poznán war weitgehend verschont geblieben. Bis jetzt.«
Zum ersten Mal bewegte sich Jon Anderson. Sein Gesundheitszustand hatte sich ein wenig stabilisiert, und er begann, den Zusammenhang zu ahnen. Er sagte: »Die Krankenschwester Elzbieta Kopanska war also ›Kopfjägerin‹?«
»Alles deutet darauf hin«, nickte Wojcik. »Es lässt sich natürlich nicht nachprüfen, woher die Zahlungen kamen, aber es sind immer tausend Złoty, während des vergangenen Jahres mindestens einmal im Monat.«
»Und immer ist jemand in ihrer Station gestorben?«
Wojcik lächelte freudlos und beobachtete Anderson.
»Ganz richtig«, sagte er. »Das Geld ist, ein paar Tage nachdem eine Person in ihrer Station im Raszeja-Krankenhaus gestorben ist, auf ihrem Konto eingegangen.«
»Gibt es Gründe zu der Annahme, dass sie eine … aktive ›Kopfjägerin‹ war?«
»Leider ja. Mindestens fünf der betreffenden Todesfälle müssen als ›verdächtig‹ bezeichnet werden.«
»Inwiefern ›verdächtig‹?«
»Um es konkret zu sagen: Sie hat sie ermordet. Ihre finanzielle Lage war äußerst kritisch. Sie wohnte allein in einer zu teuren Wohnung, arbeitete extrem hart und hatte absolut keine Möglichkeit, einen Nebenjob anzunehmen. Also musste sie anderweitig ihr Einkommen aufbessern, um kein Sozialfall zu werden. So überschritt sie eine Grenze. Ich glaube, das ist die einzig mögliche Erklärung.«
»Und wie sieht es in diesen fünf ›verdächtigen‹ Todesfällen mit den Angehörigen aus?«
Wojcik blickte in seine Papiere. »Zwei waren Alkis vom üblichen osteuropäischen Zuschnitt«, sagte er ohne Umschweife. »Kein Verwandter weit und breit. Drei von ihnen hatten dagegen eine relativ normale Familiensituation. Pawel Wlodarczyk, zweiundachtzig Jahre alt, dementer Ex-Admiral mit zwanzig Jahre jüngerer Ehefrau, aber keine Kinder, gestorben im Juni vorigen Jahres. Artur Krzosek, vierundfünfzig Jahre, krebskranker pensionierter Lehrer mit Ehefrau und drei erwachsenen Kindern, gestorben im Dezember vorigen Jahres. Und Irina Zazawska, sechsunddreißig Jahre, krebskranke Fabrikarbeiterin, geschieden, Mutter von vier kleinen Kindern, gestorben im Januar dieses Jahres. Im gleichen Monat deckt die Gazeta Wyborcza das große Netzwerk in Lódg auf. Elzbieta Kopanska spürt, dass die Gefahr aufzufliegen wächst. Der erforderliche Nebenverdienst droht zu versiegen. Sie nimmt die Gelegenheit wahr und verlässt das Land. Es passt ziemlich gut.«
»Dass ausgerechnet Pflegepersonal so etwas tut, das ist schwer zu verstehen«, sagte Jon Anderson. »Sie haben doch einen Eid abgelegt.«
Marek Wojcik betrachtete seinen unschuldsvollen Kollegen. Dass Welten so unterschiedlich sein können.
Leicht zögernd sagte er: »Es ist ganz und gar nicht schwer zu verstehen. Alle Werte sind doch bereits auf den Kopf gestellt. Die Welt ist vollkommen verrückt. Was sagt es über den Wert unseres Lebens aus, wenn diejenigen, die es retten sollen, sich mit einem Taschengeld abfinden müssen? Eine so wichtige und schwere und anstrengende Arbeit für einen so lächerlich niedrigen Lohn, während der kleinste Handlanger bei den privaten Firmen das Doppelte verdient. Wir bei der Polizei sind in einer ähnlichen Situation. Für einen Polizisten ist es nicht schwer zu verstehen, dass man Skrupel abbaut, wenn man durch einen Telefonanruf mehr verdient als mit einem ganzen Monat harter Arbeit. Eine internationale Untersuchung hat gezeigt, dass die korrupteste Berufsgruppe in Polen die Ärzte sind, dicht gefolgt von den Verkehrspolizisten.«
»Einen Hinweis zu geben ist eine Sache, zu morden eine ganz andere.«
»Ja«, sagte Marek Wojcik und umfing Jon Anderson mit seinem starken nussbraunen Blick. »Eine ganz andere. Polnische Krankenpfleger sind keine Mörder. In der Regel leisten sie trotz schlechtester Bedingungen eine hervorragende Arbeit.«
Anderson riss sich aus der Umklammerung des Blicks los und sagte: »Ich möchte die Familien der drei ›verdächtigen‹ Todesfälle gern treffen.«
»Das habe ich vermutet«, sagte Wojcik sanft und überreichte ihm das Blatt. »Hier sind die Anschriften von Pawel Wlodarczyks Ehefrau, von Artur Krzoseks Ehefrau und die der drei erwachsenen Kinder und von Irina Zazawskas Vater, der sich um ihre vier kleinen Kinder kümmert. Im Nebenzimmer wartet Kriminalassistent Rafael Cazapiewski, der mit einem Polizeiwagen und seinen Englischkenntnissen zu Ihrer Verfügung steht. Er hat auch eine Digitalkamera bei sich, um die Verwandten unbemerkt zu fotografieren. Ich hoffe, das Arrangement sagt Ihnen zu, Mister Anderson.«
»Ausgezeichnet«, erwiderte Jon Anderson und stand auf. Der Kaffee in seinem Magen erwachte zu neuem Leben und verursachte eine erstaunliche Serenade von Knurrgeräuschen.
Marek Wojcik ergriff seine ausgestreckte Hand und sagte:
»Vielleicht wäre es angebracht, mit einem Mittagessen anzufangen.«
So ergab es sich, dass Jon Anderson den Rest des Tages damit verbrachte, in einem alten Saab durch Poznán zu kutschieren und mit Verwandten der potenziellen Opfer der Krankenschwester Elzbieta Kopanska zu sprechen. Er hätte vielleicht Entsetzen empfinden sollen über die Taten, aber es gelang ihm nicht, etwas zu empfinden. Alles, was er fühlte, war Zielbewusstheit – und eine zunehmende körperliche Unruhe, die er so gut kannte. Zumal als der Saab eine ihm gut bekannte Stelle passierte, den Eingang eines Parks.
»Was ist das hier?«, fragte Jon Anderson.
Kriminalassistent Rafael Cazapiewski warf einen kurzen Blick zum Beifahrersitz hinüber und wechselte mit der lässigen Präzision der Routine die Fahrspur in dem Wahnsinnsverkehr. »Der Marcinkowskiegopark«, sagte er. »Wieso?«
Jon Anderson nickte nur.
Bei vier der sechs Adressen war jemand zu Hause. Zwei der drei erwachsenen Kinder des krebskranken Lehrers Artur Krzosek waren nicht da, dagegen seine Frau und sein ältester Sohn, ebenso der Vater der Fabrikarbeiterin Irina Zazawska und die unglaubliche Admiralswitwe Wlodarczyk. Letztere war eine vitale Sechzigjährige, die Gigolos ›abonnierte‹. Man konnte beim besten Willen nicht behaupten, dass sie um ihren dementen, um zwanzig Jahre älteren Ehemann trauerte.
»Was heißt ›abonnieren‹?«, fragte Jon Anderson verblüfft.
»Das ist ein Internetservice«, ließ die Admiralin durch den etwas peinlich berührten Cazapiewski antworten.
»Man macht Kreuze auf einem elektronischen Formular, und eine Stunde später hat man einen kleinen Leckerbissen im Haus. Gerade passend, um sich vorzubereiten, nicht wahr?«
Anderson fand, dass die Admiralin ein wenig zu tief in seine Augen blickte. Und Cazapiewskis Tonfall, als er sagte ›don’t you think?‹ war ihm auch zu vielsagend. Ihn zog es nur in eine einzige Richtung. Zum Marcinkowskiegopark.
»Hatten Sie je das Gefühl, dass am Tod Ihres Gatten etwas verdächtig war?«, fragte er.
»Verdächtig fand ich, dass er so lange am Leben blieb«, erwiderte die Admiralin, als die Türklingel ging und ein wunderschöner Jüngling von etwa zwanzig Jahren eintrat.
»Ich glaube, jetzt ist es Zeit, dass die Herren uns allein lassen«, sagte die Admiralin. »Es sei denn, Herr Anderson möchte teilnehmen, was ich als einen Gunstbeweis betrachten würde.«
Die Witwe des Lehrers Krzosek war dagegen eine verschüchterte Person, durch die man geradewegs hindurchsehen konnte. Wahrscheinlich hatte sie ihr ganzes Leben im Schatten ihres Lehrer-Ehemanns zugebracht. Drei Kinder waren aus der Ehe hervorgegangen, aber man konnte sich nicht vorstellen, wer sie geboren hatte. Es war ja doch eine recht körperliche Tätigkeit.
»Den Tod gibt es nicht«, sagte sie, als sie nach langen Überredungsversuchen zum Sprechen ansetzte.
»Wie meinen Sie das?«, fragte Jon Anderson durch den Dolmetscher Cazapiewski. Hin und wieder hatte er den Eindruck, dass der sehr entgegenkommende Kriminalassistent eigene Sätze erfand. Einen kurzen Moment war er vollkommen überzeugt, dass Cazapiewski zur Witwe Krzosek sagte: ›Sie sind eine partiell durchsichtige Frau.‹
»Mein Mann ist bei mir«, antwortete die Witwe mit dünner Stimme. »Wir sitzen wie immer jeden Abend hier am Tisch und unterhalten uns. Er erzählt aus dem Jenseits. Da gibt es Gutes und Schlechtes. Alles ist ziemlich ähnlich. Er sagt, ich soll zu ihm kommen, wann ich es selbst will. Was ihn betrifft, können wir uns auch jeden Abend hier treffen. Es ist genauso wie zu seinen Lebzeiten.«
»Haben Sie jemals den Verdacht gehabt, dass etwas mit dem Tod Ihres Gatten nicht stimmte?«, fragte Jon Anderson.
»Ja, natürlich«, sagte die Witwe Krzosek und starrte ihn aus ihrer Schattenzone heraus an.
»Natürlich?«, platzte Cazapiewski heraus.
Die semitransparente Witwe sagte: »Mein Mann ist ermordet worden. Von der Krankenschwester auf der Station.«
Die beiden Polizisten wechselten Blicke.
»Woher wissen Sie das?«, fragte Anderson unverhohlen verblüfft.
Die Witwe Krzosek sah ihm weiter mit ihrem diffusen Blick in die Augen und sagte: »Das hat Artur mir gesagt. Als er am Abend, an dem er gestorben war, zu mir kam, sagte er: ›Man muss sie verstehen. Sie verdient nicht genug, die Ärmste. Und ich wäre ja sowieso bald gestorben.‹«
»Haben Sie Ihren Kindern davon erzählt?«
»Wir haben darüber gesprochen. Mein jüngster Sohn glaubt, dass ich verrückt bin. Meine Tochter glaubt, dass ich eine heilige Person bin. Und mein ältester Sohn wurde zornig.«
»Wie zornig?«
»Sehr zornig.«
Das Polizistenpaar fuhr weiter zu den Hinterbliebenen der Fabrikarbeiterin Irina Zazawska. Ihre vier Kinder schienen in sehr dichter Folge entstanden zu sein. Zwischen dem Ältesten und dem Jüngsten lagen höchstens vier Jahre, und das Älteste ging noch nicht zur Schule. Sie saßen am Küchentisch bei einer Art von Zwischenmahlzeit. Anderson betrachtete den Großvater, einen ausgemergelten kleinen Weltkriegsveteranen, der den linken Arm verloren und Granatsplitter im Kopf hatte. Metallstücke ragten aus der Glatze auf. Es sah aus, als könnte er jeden Augenblick explodieren. Wie eine freigelegte Granate aus dem Zweiten Weltkrieg.
»Und Sie versorgen die Kinder ganz allein, Herr Kohutek?«
Der Alte zuckte mit den Schultern und sagte: »So gut es geht. Die Nachbarin hilft mir ein wenig. Und es sind so liebe Kinder. Sie helfen sich gegenseitig.«
»Was ist denn mit dem Vater? Hilft er nicht?«
Großvater Kohutek vollführte eine resignierte Geste.
»Er lebt in Warschau und hat eine neue Familie. Zwei Kinder. Er tut so, als hätte er überhaupt nie in Poznán gelebt. Als ob es diese vier hier gar nicht gäbe.«
»Er zeugt Kinder in ziemlich dichter Folge.«
»Er ist ein guter Katholik«, sagte Kohutek mit vielsagender Miene.
»Haben Sie nie den Verdacht gehabt, dass mit dem Tod Ihrer Tochter etwas nicht stimmte?«
Kohutek bedachte Jon Anderson mit einem scharfen Blick. Es bestand kein Zweifel, dass dieser kleine Invalide vollauf in der Lage war, vier kleine Kinder aufzuziehen. Er hatte alles eisern im Griff.
»Polen funktioniert nicht richtig«, sagte er.
»Wie meinen Sie das?«
»Die Krankenpflege ist nicht gut. Irina war auf dem Wege der Besserung, der Krebs ging zurück. Sie erkannte die Kinder wieder. Sie konnte aufstehen und spazieren gehen. Die Ärzte sagten, ihre Prognose sei gut. Plötzlich starb sie.«
»Hatten Sie den Verdacht, dass ein Verbrechen der einen oder anderen Art vorlag?«
»Die öffentliche Krankenversorgung ist zu schlecht«, sagte Kohutek. »Das ist ein Verbrechen.«
Sie fuhren weiter zum ältesten Sohn des Lehrers Artur Krzosek. Dem ›sehr zornigen‹. Er war um die dreißig und lebte allein in einem Plattenbauviertel der alten Ostsorte. Ebenso riesig und einförmig wie trostlos und geisttötend. Anderson empfand geradezu Widerwillen dagegen, die Abscheulichkeit zu betreten. Als liefe er Gefahr, angesteckt zu werden.
Wojtek Krzosek roch schlecht. Er roch nach Mann, wenn der Mann am schlimmsten riecht. Es war ekelerregend. Anderson hielt sich die Nase zu, wenn er glaubte, dass keiner hinsah.
»Was für eine Arbeit haben Sie?«, fragte er.
Wojtek Krzosek starrte den armen Dolmetscher Cazapiewski mit offenem Mund an, als hätte der und nicht der lange Schwede den Verstand verloren.
»Finden Sie, dass es hier aussieht, als ob ich Arbeit hätte?«, fragte er schließlich.
Cazapiewski nannte ungefragt eine Arbeitslosenquote, die fast durch Andersons Glaskäfig drang. Aber nur fast.
»Wie lange geht das hier schon so?«, fragte Anderson.
»Sie meinen den Verfall?«, sagte Krzosek. »Dann sagen Sie es doch.«
»Der Verfall«, sagte Jon Anderson folgsam.
»Ein Jahr«, sagte Krzosek. »Ich war Hochschullehrer in Soziologie. Ich wurde wegen drastischer Mittelkürzungen gefeuert. Es geschah etwa zur gleichen Zeit, als mein Vater starb. Es war einfach zu viel. Besonders wenn man die Umstände berücksichtigt, unter denen er starb.«
»Die im Endeffekt die gleichen Umstände waren, die zu Ihrer Entlassung führten.«
»Sie haben’s erfasst, Kommissar.«
»Kriminalinspektor.«
»Drastische Kürzungen der öffentlichen Ausgaben«, sagte Krzosek und angelte eine Flasche Wodka aus dem kaputten Polster des Sessels. Er bot dem wild kopfschüttelnden Kriminalinspektor einen Schluck an und fuhr fort:
»Hochschullehrer, die schon alles – Familie, Gesundheit und Ersparnisse – für ihre Forschung geopfert haben, werden von heute auf morgen gefeuert. Krankenschwestern, die rund um die Uhr arbeiten, ermorden pensionierte Lehrer, um zu überleben. Alles nur, um den Forderungen der EU zu genügen.«
»Ihre Mutter scheint nicht besonders rachsüchtig zu sein, aber Sie und Ihre Geschwister muss es stark getroffen haben.«
Wojtek Krzosek nahm einen kleinen Schluck Wodka, schnitt eine bittere Grimasse und sagte: »Mein Bruder macht Karriere in einem Online-Unternehmen. Er hält den Kapitalismus für Gott. Den Retter in der Not, den Erlöser von dem Bösen. Meine Schwester ist schon fast eine Nonne. Obwohl sie selbst davon nichts weiß. Keinem von beiden liegt etwas an meinem Vater, nur an meiner Mutter. Mein Bruder hält sie für total verrückt wegen ihrer Behauptung, dass unser Vater jeden Abend zu Besuch kommt. Meine Schwester hält unsere Mutter für eine Heilige. Wenn sie stirbt, wird meine Schwester wahrscheinlich ihr Leben der Aufgabe widmen, sie heilig sprechen zu lassen. Um Audienz beim Papst ersuchen. Mit korrupten Pädophilenkardinälen schachern.«
»Aber Sie haben anders reagiert. Was haben Sie gegenüber der Krankenschwester empfunden?«
»Ich habe einen starken und ohnmächtigen Hass empfunden«, sagte Wojtek Krzosek und starrte Anderson mit unerwartet klarem Blick an. »Aber ich bin mir nicht sicher, ob der Hass sich gegen die Krankenschwester oder gegen ihr Motiv richtete. Das ist nicht unbedingt dasselbe.«
»Also haben Sie nie in Schweden angerufen und sie bedroht?«
»In Schweden? Warum sollte ich in Schweden anrufen?«
»Weil sie dahin umgezogen ist.«
»Aber ich weiß nicht einmal, um wen es sich handelt«, stieß Krzosek hervor. »Das war der Spinnkram meiner Mutter. Und es gab doch Massen von Schwestern im Krankenhaus. Jede von ihnen konnte schuldig sein. Wenn es denn einen Schuldigen gab. Außer den USA.«
»USA? Dem Land USA?«
»Sie sind soziologisch nicht besonders bewandert, nicht wahr, Kommissar?«, sagte Wojtek Krzosek und stellte die Wodkaflasche ab.
»Kriminalinspektor«, sagte Jon Anderson.
Draußen im Treppenhaus wandte er sich an Cazapiewski, der zum vierten Mal die kleine Digitalkamera in die Innentasche seines Sakkos steckte.
»Was glauben Sie, Krapinski?«, fragte er. »Wie verhält sich das mit diesem Alkoholismus?«
Kriminalassistent Cazapiewski, der bisher kaum angesprochen worden war, betrachtete verwundert seinen aalgleichen schwedischen Kollegen. »Er gehört nicht zu den richtig schweren Alkoholikern«, sagte er vorsichtig.
»Glauben Sie, dass es eine Tarnung ist? Dass er gar nicht so tief unter dem Eis steckt, wie er vorgibt?«
»Vielleicht tut er, was er kann, um nicht unterzugehen«, sagte Cazapiewski.
Die Rushhour musste man ertragen um diese Tageszeit. Es war nach fünf. In einem Stau unter der noch immer vollkommen nackten, glühenden Sonne klingelte das Handy.
»Yes«, sagte Jon Anderson.
»Na so was«, sagte Kerstin Holm. »Ich dachte, du könntest den Namen nicht leiden.«
Trotz des schlechten Empfangs verstand er ihre nervige Stimme gut, als sie fortfuhr: »Wie läuft es?«
»Elzbieta Kopanska hat allem Anschein nach mindestens fünf Patienten ermordet, um von den Beerdigungsinstituten eine Art Prämie zu kassieren. Ich habe mit vier potenziell verdächtigen Verwandten gesprochen und mache morgen weiter. Namen und Fotos kann ich nachher mailen.«
»Es ist doch nicht zu fassen«, sagte Kerstin Holm und schien aus der Fassung gebracht. »Ich glaube, ich habe davon gelesen. ›Kopfjäger‹, richtig? Aber es war in einer anderen polnischen Stadt.«
»Lódg«, sagte Jon Anderson. »Deshalb hat die Polizei erst spät geschaltet. Sie glaubten, Poznán sei verschont geblieben. Sie wollten sicher sein, bevor sie weitere Ermittlungen anstellten. Sie haben das Ganze sehr professionell gehandhabt.«
»Du hörst dich ja richtig positiv an.«
»Hm.«
»Ist jemand mehr als nur potenziell verdächtig?«
»Möglicherweise der Sohn eines an Krebs gestorbenen Lehrers und einer Heiligen.«
»Das hört sich nach nervigen Genen an.«
»Er heißt Wojtek Krzosek. Etwa dreißig. Der Tod seines Vaters hat ihn ziemlich mitgenommen, nicht zuletzt weil er gleichzeitig arbeitslos wurde.«
»Ausgezeichnet. Mach ein paar Tage weiter. Ich habe gerade die Liste der Telefonate bekommen, die in Elzbieta Kopanskas Wohnung in Huddinge eingegangen sind. Es gibt zwei polnische Nummern, die zu der Zeit passen, als sie ein Gespräch auf Polnisch entgegengenommen hat, das sie in Angst versetzte. Aber es ist auch ein Anruf aus Deutschland dabei und zwei schwedische. Von einer Telefonzelle in Helsingborg und aus einem Motel in Linköping. Ich maile dir die Nummern. Es ist jetzt fünf Uhr. Ich wollte bald nach Hause gehen und meinen Sohn abholen. Wann kannst du deine Mail schicken?«
»Das kommt auf den Verkehr an«, sagte Jon Anderson und schaute durch die Windschutzscheibe hinaus. Immer noch Stillstand. Eine Ansichtskarte aus Poznán, dachte er ungerecht.
»Ich warte eine halbe Stunde«, sagte Kerstin Holm.
»Sonst eben morgen.«
Kommissar Marek Wojcik hatte Feierabend gemacht, als sie eine Viertelstunde später ins Polizeipräsidium kamen. Die Bewegungen des Kriminalassistenten Rafael Cazapiewski waren etwas gehetzt, als er seinem schwedischen Kollegen einen Computer zeigte, ihn instruierte und die am Tag aufgenommenen Bilder von der Digitalkamera auf die Festplatte überspielte.
»Hast du es eilig, Krackilewski?«, fragte Anderson.
»Ich habe um sechs ein Fußballspiel«, sagte Cazapiewski leicht verlegen.
»Spielst du Fußball?«, entfuhr es Anderson.
»Spielmacher in einer Mannschaft der dritten Liga. Poznán-Polizei-FC.«
»Bei der WM hat Polen nicht gut abgeschnitten, was, Krokodilski?«
»Na ja«, brummte Cazapiewski.
»Geh nur«, sagte Anderson.
Nachdem er seinem Fräulein Kommissarin eine Mail geschickt und seinerseits eine erhalten hatte, machte er sich auf den Weg, um ein Hotel in der Nähe zu suchen. Er hatte Glück. Er fand eine richtige Absteige, die eine ansehnliche Menge Prostituierte zu beherbergen schien. ›Von allem das Billigste‹, wie die Schlampe Holm gesagt hatte.
Jon Anderson machte einen Spaziergang in der näheren Umgebung und fand ein Restaurant, das annehmbar zu sein schien. Er aß ein ziemlich rohes Beefsteak und trank zwei Bier dazu. Kommissar Marek Wojtics brauner Blick drang langsam ins Innere des Glaskäfigs. Ein kleines, kleines Tier begann sich in seinem Innern zu regen.
Er überlegte, was die nächste Zukunft bringen sollte, und fasste einen Beschluss. Eine vage Erinnerung trieb ihn zu einem großen Marktplatz in der Nähe von etwas, was Garbary hieß. Skorpio Pub lag etwas versteckt, getarnt, aber er erkannte es auf der Stelle wieder. Es war Dienstag und Themenabend. Voll von Männern in allen erdenklichen Kostümierungen. Er ließ sich an einem Tisch nieder und trank noch ein Bier. Vorn auf einer kleinen Bühne nahm der Themenabend seinen Anfang. Der Geräuschpegel stieg beträchtlich. Ein gut gekleideter blonder Junge mit gelöstem Schlips betrat die Bühne, und Anderson begriff, welches das Thema des Abends sein würde. Sein Blick blieb an dem blonden Jüngling hängen, der sich langsam eines Kleidungsstücks nach dem anderen entledigte, bis nur noch ein minimaler Stringtanga übrig war.
Vor fünf Jahren war Jon Anderson hier glücklich gewesen. Er hatte mitten im Menschenmeer gestanden, sich zu den Eurodiskorhythmen gewiegt und überall Körper gefühlt. Ein Ozean von Körpern wie sein eigener, geprägt von seinen Erfahrungen, bebend vom mühsam eroberten Freiheitsglück. Aber jetzt war die Lage eine andere. Nichts war mehr wie damals. Er wollte nicht mehr Hüfte an Hüfte mit lächerlichen Transen und Ledermachoschnauzern dastehen. Er wollte nicht einmal mehr hinuntergehen in den Keller, Skorpio Night, in das vibrierende, dröhnende, muffige Inferno der Darkrooms.
Aber der Schauer, der ihn vom Kopf her durchzuckte und den Unterleib traf wie eine Bombe, als der blonde Jüngling sich aus dem Stringtanga wand, war nicht zu verkennen.
Das Tier in ihm machte seine ersten taumelnden Schritte.
Er verließ das Lokal. Das hier war für die anderen. Die aufgehört hatten, Widerstand zu leisten. Hierher gehörte er nicht.
Es wurde rasch dunkel. Anders als in Tornedalen. Um diese Zeit war die Mitternachtssonne gekommen. Die erbarmungslos alle Geheimnisse der Nacht enthüllt. Es war bald Mittsommer, und in Olkamangi würde die Mitternachtssonne eine knappe Woche lang scheinen. Ein ersehnter Gast, der nur übernachtete.
Hier auf dem Kontinent war alles in Dunkel gehüllt. In seinem Innern dehnte sich ein Vakuum aus. Eine nächtliche Leere. Er sah, wie sich die Mitternachtssonne im blanken Torne Älv spiegelte. Er sah in der öden Helle der mittsommernächtlichen Landschaft die Mückenschwärme, wie sie ein Auto, das sich in die helle Nacht verirrt hatte, binnen einer Sekunde gesprenkelt aussehen ließen. Er sah die Rentiere, die auf die Heide hinaustraten und vorsichtig witternd am dunstschimmernden Waldrand stehen blieben.
Elfen tanzten in der Mittsommernacht.
Er war zu Hause im Hotelzimmer. Zu Hause. Er bestellte eine Flasche Jarzebiak aufs Zimmer und wanderte wie ein ruheloser Geist im Zimmer umher. Bilder vermischten sich vor seinem inneren Auge. Der klare braune Blick des Kommissars Marek Wojtic, der Gigolo bei der Admiralin Wlodarezyk, ihre Einladung, an der Orgie teilzunehmen, der blonde Stripper, der sich aus dem Stringtanga wand.
Und alles formierte sich. Alles trieb ihn. Der innere Druck, der Zwang, sich aufzumachen.
Die Bewegungen des Tiers.
Er begegnete seinem Blick im Spiegel des schäbigen Hotelzimmers. All die Jahre, in denen er nicht gewagt hatte, sich im Spiegel anzusehen, weil er fürchtete, etwas Abgezehrtem, Infiziertem, Verfaultem zu begegnen.
Was ihm jetzt begegnete, war etwas anderes. Eine Maske. Eine starre Maske. Starr, eingebrannt. Und dahinter war alles abgezehrt, infiziert, verfault.
Etwas musste geschehen. Er machte sich auf. Blindlings.
Die Dunkelheit roch nach Abgasen. Er folgte seinen fünf Jahre jüngeren Beinen, und sie fanden den Weg. Nicht eine Sekunde waren sie über den Weg im Zweifel. In diesem Augenblick ging die Mittsommerwoche in ihren mittleren Tag. Es wurde Mittwoch.
Die Straße hieß Towarowa. Auf der anderen Seite hieß sie Niepodleglosci. Dazwischen lag der Marcinkowskiegopark.
Eine Weile blieb er am Eingang zum Park stehen. Dantes Pforte. Das Dunkel dahinter. So still. Alle Geheimnisse gehütet. Keine Mitternachtssonne, die sie ans Licht zerrte.
Er ging hinein.
Das Tier trieb ihn hinein.
Zuerst nichts. Als hätte sich alles verändert, wäre gesäubert. Als wäre nichts mehr übrig von der guten alten Zeit.
Aber dann glitten die Gestalten durch das Dunkel des Parks heran, und alles war gut. Der matte Schein der Straßenlaternen warf ein schwaches, schwaches Licht über die abgelegenen Winkel des Parks.
Hinter einem Busch ganz in der Nähe hörte er ein wohlbekanntes Geräusch. Das leichte Stöhnen. Er sah einen Mann mit Schirmmütze hinter einem Busch stehen. Der untere Teil seines Körpers wurde vom Busch verdeckt, aber die ruckhaften Kopfbewegungen und der in den dunklen Smoghimmel gerichtete Blick waren unverkennbar. Anderson blieb an einem Baum stehen und beobachtete. Ein Zucken durchfuhr den Mann mit der Mütze, und er gab einen gedämpften Schrei von sich. Kurz darauf tauchte ein weiterer Mann hinter dem Busch auf. Ohne ein Wort gingen die beiden auseinander.
Er betrat ein kleines Wäldchen. Ein Mann glitt an seine Seite. Kein Gesicht, nur ein leichtes Streichen über die Lenden. Er blieb stehen. Fühlte, wie der Reißverschluss des Hosenschlitzes heruntergezogen wurde. Er spürte, wie er auf der Stelle hart wurde. Der Körper erinnerte sich. Es dauerte nicht länger als eine Minute. Blitze durchzuckten sein Gehirn. Mitten in einem nussbraunen Bannkreis.
Der Mann verschwand.
Er ging weiter. Es war jetzt an ihm, aktiv zu werden. Nach einer Weile erkannte er einen Mann im Trainingsanzug. Er hatte ihm den Rücken zugewandt. Niemand sonst in der Nähe. Er trat hinzu und strich leicht von hinten über den Trainingsanzug. Es war fast pechschwarz.
Der Mann im Trainingsanzug drehte sich um. Sein Blick war ein anderer. Hass und Tod. Und er erkannte ihn.
Etwas in der Hand.
Etwas, was selbst im Dunkeln funkelte.
Die Dehnung der Zeit. Die Langsamkeit in der Bewegung. Alles, was er noch denken konnte. Alle Bilder, die er noch sehen konnte. Viel Tornedalen. Alles durchleuchtet. Die helle Landschaft ohne Menschen.
Das Messer zum ersten Mal in den Bauch sinken zu fühlen. Eine Penetration, ein kurzer, schwacher Schmerz, der irgendwo im dunklen Weltraum war. Der darauf wartete, langsam hinabzugleiten und mit fürchterlicher Kraft, die alles erleuchten sollte, auf ihm zu landen. Alles durchleuchten sollte. Wie die Mitternachtssonne.
Der Glaskäfig zerbarst.
Das Geräusch. Ratschend, berstend. Die starke Haut, die platzt, aufgeschlitzt wird.
Wie seine Unschuld zu verlieren.
Ein Kaiserschnitt für das Tier im Bauch.
Es würde nie mehr das innere Tier sein.
Das Blut rann nicht. Es spritzte. Ein Orgasmus des Todes, als die starre Maske zerbrach. Und als der zweite Stich kam, schien bereits die Mitternachtssonne.
Die erbarmungslos alle Geheimnisse der Nacht enthüllt.