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Es war nicht ganz unproblematisch, seinen Sohn am Tag, an dem man den Posten als Chefin einer der Eliteeinheiten der Polizei antrat, mit zur Arbeit zu nehmen. Anderseits galt es, ein Zeichen zu setzen – die Spezialeinheit beim Reichskriminalamt für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter, bekannt als die A-Gruppe, wurde mittlerweile von einer alleinerziehenden Mutter geleitet, und wenn man das nicht hinbekam, hatte man dort nichts zu suchen.
Wenn Kerstin Holm allerdings ganz ehrlich sein wollte, so war das eine nachträgliche Konstruktion. Es war in Wirklichkeit viel einfacher. Sie hatte nur keine Ferienbetreuung für ihren achtjährigen Sohn Anders Holm gefunden. Sie hatte nicht die Zeit gehabt, hatte es nicht geschafft, den komplizierten Prozess in die Wege zu leiten, ja, sie hatte nicht einmal geahnt, dass es ein so komplizierter Prozess war. Der Juni war ein anstrengender Monat gewesen.
Formell hatte sie den Posten schon zum ersten Juni angetreten, doch da hatte ihr Vorgänger, der legendäre Jan-Olov Hultin, noch parallel mit ihr gearbeitet, bis zu dem Tag, an dem er offiziell in Pension ging, und das war gestern gewesen. Sonntag, der sechzehnte Juni. Er hatte ihr zwei Wochen Hilfestellung geleistet. Erst heute war er endgültig fort. Obwohl er versprochen hatte, immer zur Verfügung zu stehen, ›nie mehr als drei Meter vom Handy entfernt‹.
Sie sah hinaus auf den Hof des Polizeipräsidiums, zu dem sich die kristallklare Mittsommersonne auf unergründlichen Wegen Zugang verschafft hatte. Es sah nicht aus wie gewöhnlich. Irgendetwas war schief. Etwas irritierte sie. Sie überlegte schon seit geraumer Zeit, was es sein mochte.
Es war die Perspektive.
Erst heute war sie in Hultins Zimmer gezogen. Der Raum lag nur einige Zimmer entfernt von ihrem alten, sodass die Perspektive nur leicht, ganz leicht verschoben war. Doch es reichte aus, den täglichen Ruhepunkt für den Blick zu verändern.
So sah die Chefperspektive aus.
Der Raum war leer, bis auf die Standardeinrichtung: Schreibtisch, Telefon, Computer, Fax, Drucker, Kaffeemaschine. Die Wände waren kahl wie Hultins Schädel. Es war ein Zimmer, das sich nicht im Geringsten von ihrem alten unterschied. Außer dass sie allein war.
Früher hatte sie das Zimmer mit Gunnar Nyberg geteilt, der damals noch den Ehrentitel Schwedens größter Polizist trug, und es war ziemlich eng gewesen. Dann waren die A-Gruppen-Karten neu gemischt worden, und das ein wenig logischere Paar Kerstin Holm/Paul Hjelm hatte das Licht des Tages erblickt. Der Betrieb Jalm & Halm auf Englisch.
Im Dezember vergangenen Jahres war dieser Betrieb gesprengt worden, als Hjelm zum Leiter der Stockholmsektion der Abteilung für Interne Ermittlungen ernannt wurde.
Als einziger Bewerber, wie sie in Gesprächen mit dem genannten Potentaten zu ergänzen pflegte.
Sie hatte sich nämlich selbst bewerben sollen, aber es war etwas dazwischengekommen.
Ihr Leben.
Sie hatte es jahrelang verlegt. Aber jetzt war es wieder am Platz.
›Wieder‹ war bei genauerem Hinsehen zu viel gesagt. Jetzt war es am Platz. Punkt.
Das vergangene knappe Jahr war die überwältigendste Zeit ihres Lebens gewesen. Sie hatte ein Kind bekommen. Und das Kind war acht Jahre alt.
Es war viel zu kompliziert für ein armes kleines Hirn, daran zu denken, und so ließ sie die Sache auf sich beruhen.
Sie blickte jedenfalls auf ihre linke Hand und stellte fest, dass die Frühjahrssonne endlich alle Spuren des alten Verlobungsrings ausgelöscht hatte. Sie hatte nicht in ein Solarium gehen wollen. Der weiße Ring auf ihrer Haut musste auf natürliche Weise verschwinden. Es war eine kleine Fixierung. Hoffentlich die letzte.
Sie hatte eine Therapie gemacht. Einen vorsichtigen Versuch. Und es hatte sich gut angefühlt. Wie Pflaster auf Wunden, die auch von allein heilen würden. Um die Bakterien fernzuhalten.
Sogar die Gleichnisse änderten sich, wenn man Kinder bekam. Anders hatte eine Tendenz, sich Schürfwunden an den Knien zu holen. Unfehlbar. Und immer wollte er Pflaster haben, fast so, als holte er sich die Schürfwunden, um die bunten Pflaster betrachten zu können. Pflaster gab es mittlerweile in den abenteuerlichsten Formen und Farben. Das zumindest hatte sie im vergangenen Jahr gelernt.
Er saß auf dem zweiten Stuhl am Schreibtisch und zeichnete. Autos, immer Autos, und immer vor dem Hintergrund einer Stadtsilhouette. In Bewegung. Immer in Bewegung, immer auf dem Weg von einem Ort zum anderen. Zu einer Stadt. Als verarbeitete er seine Erlebnisse.
Aber vielleicht legte sie zu viel hinein.
Was sie aber mit unumstößlicher Sicherheit wusste, war, dass sie ihn liebte. Auf eine Weise, zu der fähig zu sein sie bezweifelt hatte. Vorbehaltlos.
Merkwürdig war, dass er nicht mehr schonisch sprach. Er hatte das Leben gewechselt und die Gelegenheit genutzt, den Dialekt zu wechseln. Sie fragte sich, ob dieser Prozess so unkompliziert war, wie es den Anschein hatte. Sie redeten viel darüber, redeten überhaupt viel miteinander, waren in einem langen und ständig fortgesetzten Gespräch begriffen.
Es war wie der Heilungsprozess selbst. Die Therapie war das Pflaster auf der Wunde.
Um die Gleichnisse nicht zu stark zu variieren.
Sie schüttelte sich und rief sich zur Ordnung. Es war vieles vorzubereiten. Eine kleine Antrittsrede vor der umgebildeten A-Gruppe. Und danach galt es, an dem aufsehenerregendsten Mordfall des Landes seit langem weiterzuarbeiten. Seit den Machtmorden, dem ersten Fall der A-Gruppe, als ein Serienmörder Wirtschaftsgrößen ausgeknipst hatte.
Der jetzige Fall lief unter dem Namen ›Fernsehmord‹ und war, ehrlich gesagt, ziemlich trist. Doch obwohl er im Großen und Ganzen aufgeklärt und erledigt war, nahm der Fall in den Medien einen extrem breiten Raum ein. Ständig brachte die Presse neue Theorien, ständig neue Betrachtungsweisen und Aspekte. Unerschöpflich. Fernsehkritiker ermordet Fernsehchef. Konnte man sich etwas Lukrativeres vorstellen?
Ein paar alte Fälle waren noch nicht abgeschlossen und mussten weiterbearbeitet werden. Sie würde die Arbeit nicht mehr als notwendig beeinflussen. Das Chefideal hatte sie an einer unerwarteten Stelle gefunden. Bei den Schiedsrichtern in den Spielen der gerade stattfindenden Fußballweltmeisterschaft. Die besten Schiedsrichter beeinflussten die Spiele dadurch, dass sie unbemerkt blieben. Die schlechtesten traten aufdringlich in Erscheinung. Und bei den Schiedsrichtern gab es auffallende Niveauunterschiede.
Okay, sie sah sich die Fußball-WM an, ziemlich oft sogar. Jetzt war es raus – jetzt hatte sie es zugegeben. Auch vor sich selbst.
Ich, Kriminalkommissarin Kerstin Holm, sehe ziemlich viel Fußball-WM.
Wie einfach es war.
Im Augenblick lief das prestigeträchtige Achtelfinalspiel zwischen Mexiko und den USA, darauf musste sie verzichten, doch ein wenig später, am Nachmittag, würde sie versuchen, heimlich Brasilien gegen Belgien zu sehen.
In Ermangelung Schwedens, das den gestrigen Vormittag dazu genutzt hatte, gegen Senegal auszuscheiden. Ein Anflug von Staatstrauer hatte das Abschiedsfest zu Ehren von Jan-Olov Hultin begleitet.
Und morgen wartete das Spitzenspiel Südkorea gegen Italien.
Sie machte sich weniger Sorgen um ihre eigene Führungsrolle – sie war schon so lange dabei und kannte die Arbeit der Gruppe in- und auswendig –, sondern um das neue Erscheinungsbild der A-Gruppe.
Der harte Kern von alten Hasen bestand weiter. Gunnar Nyberg, Arto Söderstedt, Viggo Norlander. Und Sara Svenhagen, die aus ihrem Mutterschaftsurlaub zurückgekehrt war.
Raus aus dem Spiel waren Jan-Olov Hultin, Paul Hjelm, Jorge Chavez und – Kerstin Holm. Keiner der vier war leicht zu ersetzen. Alle zählten zu Schwedens hervorragendsten Kriminalisten.
Das alte Gespann Hjelm und Holm, die einst auch ein kurzes, aber intensives Verhältnis gehabt hatten, war nur noch Erinnerung. Manchmal drohte das Gefühl des Verlusts sie zu überwältigen.
Sie gab sich einen Ruck und fuhr fort in ihren Überlegungen.
Zwar hatte Jorge Erziehungsurlaub und würde zurückkommen, doch gerade jetzt kam es ihr so vor, als wären alle Spitzenleute fort. Bis auf Arto Söderstedt, der, wie sie aus der Perspektive der Chefin zugeben musste, ein ganz außerordentlicher Ermittler war. Er würde eine besonders schwere Last zu tragen haben, und das wusste er. Sie hatte ein langes Gespräch mit ihm geführt. Ein erstes Gespräch als Chefin. Wahrscheinlich imitierte sein ironisches Lächeln ihr eigenes.
Es war Söderstedt gewesen, der die Initiative für das gestrige Überraschungsfest zu Ehren von Hultin ergriffen hatte. Wer sonst würde auf den Gedanken kommen, einen provisorischen Festsaal im dritten Stock des Polizeipräsidiums mit einem Spruchband mit dem in knallroten Buchstaben geschriebenen Text ›Endlich! Hultin geht in Pension!‹ zu schmücken?
Es war auch ein sehr gutes Gefühl, Sara wieder in der Gruppe zu haben. Sara schritt von Klarheit zu Klarheit. Nicht zuletzt in ihrem großen Fall, der auf so unheimliche Art und Weise auch sie selbst, Kerstin Holm, einbezogen hatte.
›Auch viele Wasser löschen die Liebe nicht.‹
Sara Svenhagen war dreißig, hatte aber schon eine lange und aufreibende Dienstzeit bei der Abteilung für Kinderpornografie bei der Reichskriminalpolizei hinter sich. Vor einigen Jahren hatten sich ihre Wege mit denen der A-Gruppe gekreuzt, und nicht genug damit, dass sie eine von ihnen wurde, sie heiratete auch noch den berüchtigtsten Junggesellen der Gruppe, den einen Kopf kleineren Jorge Chavez, und hatte jetzt ein Kind mit ihm. Im Mai war sie aus ihrem Mutterschaftsurlaub für die kleine Isabel zurückgekommen. Es war unschätzbar.
Aus der Chefperspektive konnte sie auch zugeben, dass der Ersatz für Paul Hjelm nicht unbedingt ein Volltreffer war. Hjelm zu ersetzen, war ohnehin kaum vorstellbar, aber Jon Anderson war problematisch.
Es störte sie, dass sie nicht an der Besetzung der Stelle beteiligt worden war. Hultin musste schon damals gewusst haben, dass sie in absehbarer Zeit das Ruder übernehmen würde, und da hätte sie wohl damit befasst werden sollen. Stattdessen kam es als Überraschung. Ein dürrer und sozial leicht behinderter Fünfundzwanzigjähriger ohne größere Meriten, der aus Uppsala rekrutiert worden war. Und dabei hatte Hultin früher bei der Rekrutierung für die A-Gruppe ein so großartiges Fingerspitzengefühl bewiesen.
Sie hatten in der Übergangsphase ein langes Gespräch über dieses Thema geführt, hier in diesem Zimmer. Sie hatten auf Hultins inzwischen abtransportiertem, aufgrund seines Widerwillens gegen vertrauliche Gespräche so gut wie unbenutztem Sofa gesessen. Sie erinnerte sich an fast jedes Wort.
»Ich weiß, Kerstin«, hatte Hultin gesagt und die kleine Eulenbrille in die Stirn geschoben. Und weil bei diesem Manöver eine ansehnliche Strecke zu bewältigen war, dauerte es eine gute Weile.
»Deine späte Einsicht soll mich also trösten?«, hatte Kerstin Holm grimmig entgegnet. »Willst du das sagen?«
»In gewisser Weise«, sagte Hultin unparteiisch. »Aber wenn es sich um späte Einsicht handelt, dann ausschließlich in Bezug darauf, dass du an der Entscheidung hättest beteiligt werden müssen. Aber das war im November. Ich war nicht sicher, ob Paul die Stelle bei der Internabteilung bekommen würde. Und noch weniger sicher, dass du meine Stelle bekämst. Da hätten alle damit befasst werden müssen, und ganz so demokratisch bin ich nun doch nicht. Ist die Polizei nicht. Warum wird er übrigens ›Yes‹ genannt? Was ist das für ein Quatsch?«
»Das ist eine lange Geschichte«, sagte Kerstin Holm, die mit ihren Gedanken woanders war. »Aber ich kann dir garantieren, dass es vollständig harmlos ist.«
»Na dann«, sagte Hultin erleichtert. »Ich bedaure auf jeden Fall, dass du bei der Entscheidung nicht mitreden konntest.«
»Deine nachträgliche Einsicht betrifft also nicht Jon Anderson selbst? Was hast du an ihm gesehen, was ich nach einem halben Jahr noch nicht sehe?«
»Was der A-Gruppe gefehlt hat.«
»Und was ist das?«
»Ich sollte wohl antworten: Das musst du selbst herausfinden. Es ist die Sache jedes Chefs, aus seinen Mitarbeitern das Bestmögliche herauszuholen.«
»Aber so antwortest du nicht.«
»Nein«, sagte Jan-Olov Hultin. »Ich antworte gar nicht.«
Kerstin Holm, frischgebackene Kriminalkommissarin, lehnte sich in dem sonderbaren IKEA-Ledersofa zurück und sagte nachdenklich: »Jon Andersons Persönlichkeit unterscheidet sich drastisch von dem informellen und ziemlich legeren Stil, der bisher in der A-Gruppe geherrscht hat. Er hat einen Metallspieß im Hintern. Hat dir das vorgeschwebt? Mehr Spieße?«
Hultin kicherte tatsächlich. Das nachsichtige Kichern eines Pensionärs. Aber er sagte kein Wort. Er ließ sie nur weiterreden.
Und das tat sie: »Ihm scheint die Fähigkeit abzugehen, selbstständig zu denken. Er hat einen viereckigen Kopf. Hat dir das vorgeschwebt? Mehr square heads?«
»Absolut«, sagte Hultin unparteiisch.
Da begriff Kerstin Holm, wohin der Hase lief. Sonderbarerweise. »Da brat mir einer ’nen Storch«, sagte sie. »Du bezweifelst also meine Fähigkeit, Ordnung zu halten? Zu strukturieren?«
»Du warst damals nicht da. Es war im November.«
»Sei nicht albern, Jan-Olov. Natürlich war ich da. Paul war der einzige Bewerber für den Posten bei den Internen. Du kannst dir doch nicht Viggo als Nachfolger vorgestellt haben. Also kann es nur auf das eine, und wirklich nur auf das eine, hinauslaufen: dass du besser darin bist als ich, am Flipchart ein Schema zu zeichnen. Du musstest jemanden haben, der in der Lage ist, ein Schema zu zeichnen.«
Hultin beugte sich vor und sagte vertraulich: »Ihr habt nie geglaubt, dass ich Ordnung hielte. Ihr habt geglaubt, meine Papierstapel wären Attrappen. Surrogat für Polizeiarbeit von anno dazumal. Aber eigentlich habe ich verflucht gut Ordnung gehalten. Ich habe hinter euch aufgeräumt. Tagtäglich. Ihr habt so viele Dienstvergehen begangen, dass ich euch ständig retten musste. Nicht zuletzt dich, Kerstin. Nicht zuletzt in unserem jüngsten Fall. Meinem letzten.«
Kerstin Holm nickte empört. Sie versuchte, ihre Empörung als Intensität zu tarnen, aber vermutlich gelang ihr das ziemlich schlecht. »Du hast also einen Aufräumer eingestellt«, sagte sie mit heiserer Stimme.
»Er ist ein gut strukturierter Kriminalbeamter mit ungewöhnlichen Erfahrungen. Genau solchen, wie ihr sie braucht.«
»Du redest mit einer Chorsängerin.«
Da machte der Alte tatsächlich ein ganz, ganz leicht erstauntes Gesicht. Das kam nicht alle Tage vor. Anderseits konnte er sich jetzt auch mal einen Gefühlsausdruck leisten.
Offensichtlich verstand er einfach nicht, was sie meinte.
»Chöre sind große Kollektive«, verdeutlichte sie. »Die Männer sind entweder gesetzte Familienväter, chorgeübte Schuljungen, Männchen auf der Jagd oder Homosexuelle. Die Kategorien kann man auch kombinieren.«
»Könnte es sein, dass sie einfach gern singen?«
»Dies hier ist ein vertrauliches Gespräch, nicht wahr? Also können wir die politische Korrektheit beiseite lassen. Sozusagen von Mann zu Mann – wie ihr sagen würdet. Ich glaube, dass ich einen Salonschwulen erkenne, wenn ich einen sehe, und der Teufel soll mich holen, wenn Jon Anderson nicht so einer ist. Widersprich mir. Provoziere meine Vorurteile. Sind nicht das seine ›ungewöhnlichen Erfahrungen‹?«
»Könnte es sein, dass sie einfach gern singen?«, wiederholte Jan-Olov Hultin ruhig, aber überaus deutlich.
»Natürlich. Und wenn es viele tun, dann bekommt man am Ende einen Querschnitt durch die Gesellschaft. In der fünf Prozent homosexuell sind. Einer von zwanzig. Wenn man vielen Menschen begegnet, lernt man, sie zu erkennen.«
»Und wie? Kraniologie? Schädelform?«
Kerstin Holm seufzte vernehmlich. »Trotz allem Guten, was man über dich sagen kann, Jan-Olov, gehörst du zu einer älteren Generation von Polizeibeamten. Die sind in der Regel der Auffassung, dass ein Schwuler oder eine Lesbe sich ganz klar abheben. Wenn du dann wirklich einen Schwulen triffst – und vermutlich hast du in deinen Papieren–die-selbstverständlich-keine-Attrappen-sind gelesen, dass er einer ist – und mit ihm redest wie mit jedem anderen Menschen, dann findest du das äußerst seltsam. Es ist ungefähr das gleiche Aha-Erlebnis, wie Auge in Auge mit einem Orang-Utan zu sitzen und zu merken, dass er eine Menge Interessantes zu sagen hat.«
»Ein Orang-Utan braucht kein Mann zu sein«, sagte Jan-Olov Hultin.
»Was?«, sagte Kerstin Holm.
»Du hast gesagt ›ei‹. Als ob der Orang-Utan per definitionen ein Männchen wäre. Ich würde tippen, dass ungefähr fünfzig Prozent Weibchen sind.«
»Aha.«
Es war ein reichlich kompliziertes Gespräch.
»Was du sagst, ist alles richtig«, sagte Hultin nach einer angestrengten Pause und fügte nach einer noch angestrengteren hinzu: »Ich werde die Wahl meiner Nachfolgerin wohl nicht bereuen müssen.«
Dann fasste er sich und fuhr fort: »Jon Anderson ist, wie er ist, weil er in seiner Zeit in Uppsala groben schwulenfeindlichen Schikanen ausgesetzt war. So grob, dass zwei der Kollegen entlassen wurden. Und wir reden nicht von Kinkerlitzchen, wenn wegen eines schwulen Bullen in diesen Zeiten absoluten Polizeimangels zwei tüchtige Kollegen entlassen werden. Sein IQ zeigt die höchsten Werte, die gemessen worden sind, seit es solche Messungen gibt, aber es ist eine Intelligenz, die noch nicht die Chance hatte, in die Praxis umgesetzt zu werden. Eine Art von reiner, geschützter Intelligenz, und du, Kommissarin Holm, wirst die Chance haben, sie zu formen. Und ja, er ist äußerst gut strukturiert. Lass ihn auf dem Flipchart zeichnen, damit ein wesentlicher Teil der Tradition nicht vernachlässigt wird.«
»Es ist nicht die Praxis der A-Gruppe, Neuankömmlinge anzulernen.«
»Eine Praxis ist keine Praxis, wenn sie nicht jederzeit angepasst werden kann. Veränderungen sind nicht per se von Übel. Auch wenn ich weitgehend mit dir darin übereinstimme, dass die A-Gruppe mit Paul Hjelm stand und fiel. Aber das würde ich nie vor jemand anderem als dir zugeben. Außerdem hast du ja eine ganz eigene Wahl treffen können. Lena Lindberg.«
»Dein Tonfall entgeht mir nicht«, sagte Kerstin Holm.
Hultin kicherte. »Ich habe wirklich geglaubt, es wäre ein Scherz«, sagte er. »Bauchnabelpiercing und zerrissene Jeans. Als wäre sie über einen Stacheldrahtzaun geklettert, runtergefallen und auf einer Heftzwecke gelandet. Ich hoffe, du weißt, was du tust.«
»Ich brauchte den Gegenpol zu Jon Anderson«, sagte Kerstin Holm. »Erfahrung pur. Sie gehörte zehn Jahre lang zur Einsatztruppe der Citypolizei. Schwedens härtester Job. Massenweise Auszeichnungen. ›Nettester Polizist des Jahres‹ unter anderem.«
»Gibt es so eine Auszeichnung?«
»Wird von Stockholms Einzelhandel vergeben. Hast du das nicht gewusst?«
»Hat sie noch etwas anderes als reine Polizeierfahrung? Ist sie überhaupt Kriminalistin?«
»Frischgebackene Kriminalinspektorin. Und du kannst mir glauben, wenn ich dir sage, dass sie gut ist. Vor allem bei Vernehmungen, wo wir jetzt gewisse Lücken haben. Ich glaube, dass sie und Sara ein gutes Paar werden können. Dem Anschein nach süß.«
»Süß?«
»Süße kleine Mädchen.«
Das war das letzte ernsthafte Gespräch, das sie mit Jan-Olov Hultin geführt hatte. Und jetzt war er fort. Friedlich angelnd am See Råvalen ein Stück nördlich von Stockholm. Sie hatte das nun leere Zimmer übernommen.
Leer bis auf einen Sohn.
Sie betrachtete ihn. Er zeichnete eifrig. Sie hatte ihn nie in den Kinderhort gesteckt, weil sie so viel wie möglich mit ihm Zusammensein wollte. Es war möglich gewesen, weil sie nach dem letzten Fall aus Krankheitsgründen vorübergehend auf Teilzeit gesetzt worden war. Das brachte es mit sich, dass sie den Sommer über keine Betreuung für ihn hatte. Sie musste unbedingt etwas in dieser Angelegenheit unternehmen. Obwohl sie eigentlich keine Sekunde ohne ihn sein wollte. Das war der nicht ganz tadellose Anlass dafür, dass er hier saß und zeichnete.
Jetzt nahm sie ihn an der Hand und zog ihn mit zur sogenannten Kampfleitzentrale, in der niemals irgendeine Kampfleitung stattgefunden hatte. Dagegen eine ganze Menge kollektiver Gedankenarbeit.
Als sie die Hand auf den Türgriff legte, schoss ihr der Gedanke durch den Kopf, wie sehr Paul Hjelm ihr fehlen würde.
Dann trat sie ein.
In ihr neues Leben.