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Der Fotograf schloss sich auf dem Weg durch die Korridore einem Paar mit Zwillingskinderwagen an. Sie schienen sich auszukennen.

Der Familienvater, mit seiner schweren Lederjacke wohl eine Spur zu warm angezogen, warf ihm einen Blick zu und nickte kurz. Er war ein großer Mann in den Fünfzigern mit einem in die Länge gezogenen, gelangweilt wirkenden Gesicht. Aus dem Zwillingskinderwagen blickten zwei hübsche Mädchen auf. Sie waren etwa zwei und drei Jahre alt, und beide hatten ihres Vaters lang gezogene Gesichtsform. Es sah ziemlich lustig aus.

»Warte, Viggo«, rief die Ehefrau hinter ihm. Der Mann stöhnte hörbar und brachte das Gefährt mit einer Vollbremsung zum Stehen.

»Wir sind schon zu spät dran«, sagte er ungnädig. »Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Wir müssen die Blumen auswickeln, man soll doch nicht sehen, dass sie aus dem Konsum sind«, sagte seine Frau.

»Es ist noch ein gutes Stück, das kannst du im Aufzug machen.«

»Im Aufzug gibt es Überwachungskameras«, sagte seine Frau und kämpfte mit dem Papier des mittelmäßigen Blumenstraußes. »Warum muss dieses Fest überhaupt im Polizeipräsidium stattfinden?«

»Was ist denn daran nicht in Ordnung?«

»Es ist ein Labyrinth. Niemand findet hin. Sieh doch nur den Mann neben dir.«

Der Mann in der Lederjacke drehte sich um und blickte auf den Fotografen hinunter. »Wollen Sie auch hin?«, fragte er. »Zum Fest?«

»Ja«, nickte der Fotograf. »Ich bin der Fotograf. Ich habe mich wirklich ein bisschen verlaufen.«

»Aha«, sagte der Mann und streckte ihm die Hand hin.

»Sie haben mir den Job abspenstig gemacht. Sonst bin ich der Mann mit der Kamera. Die Kollegen sagten, sie wollten diesmal eine etwas professionellere Arbeit.«

Der Fotograf ergriff die Hand und schüttelte sie, doch bevor er sich vorstellen konnte, rief die Frau: »So, das war’s, ich hoffe nur, er sieht nicht, dass die Tulpen verfault sind.«

»Du meinst ›verwelkt‹. Man sagt ›verwelkt‹ bei Blumen.«

»Nein, ich meine ›verfault‹.«

Nach einer ausgedehnten Wüstenwanderung erreichten sie den Aufzug. Die Kinder starrten den Fotografen misstrauisch an, während er die große Kamera auspackte und das Blitzlicht aufschraubte. Worauf das ältere Mädchen dem jüngeren eine Rassel übers Jochbein schlug und beide ein Heulkonzert anstimmten.

»Charlotte!«, rief der Mann mit untröstlicher Stimme und schnappte sich die Rassel.

Da glitten die Aufzugtüren zur Seite, und zwanzig Augenpaare richteten sich auf sie. Von der Decke des Saals hing ein großes Spruchband herab und verkündete in knallroten Buchstaben: ›Endlich! Hultin geht in Pension!‹ In etwas kleineren, anscheinend vor kurzem erst geschriebenen Buchstaben stand darunter: ›Wie Schwedens Nationalmannschaft!‹

Die brüllende Familie befreite sich aus dem Aufzug, und ein auffallend weißhaariger Mann trat ihnen entgegen; er schien der Einzige zu sein, der sich in ihre Nähe wagte.

»Für mich?«, sagte er in finnlandschwedischem Tonfall und griff nach der Rassel. »Das wäre aber nicht nötig gewesen.«

»Schnauze«, erwiderte der Mann in der Lederjacke und schnappte sich die Rassel wieder.

»Und ausgerechnet heute scheidet Schweden gegen Senegal aus«, fuhr der Weißhaarige fröhlich fort. »Das hätte Finnland besser gemacht.«

»Was redest du da?«, murmelte die Lederjacke. »Glaubst du, ich hätte Zeit, mir die Fußball-WM anzusehen? Alles, was ich mache, wenn ich zu Hause bin, ist, Windeln zu wechseln.«

»Wo haben wir denn den Jubilar?«, fragte die Ehefrau hinter seinem Rücken.

»Bist du auch noch da, Astrid?«, fragte der Weißhaarige, schob den Großen zur Seite und umarmte sie: »Was für flotte Tulpen.«

»Still, Arto«, stieß sie hervor. »Glaubst du, er merkt was?«

»Er merkt nichts. Er schwebt auf Champagnerperlen.«

Der Aufzug leerte sich. Der Fotograf blieb allein zurück. Er schoss ein Bild von dem Mann mit dem weißen Haar.

Dieser blinzelte einen Moment geblendet, bevor er sagte:

»Ah, ausgezeichnet. Vom Fotoring? Wir haben schon auf Sie gewartet.«

»Tut mir leid, dass ich ein wenig verspätet bin«, sagte der Fotograf. »Ich habe mich verirrt.«

»Da sind Sie nicht der Einzige. Ich bin Arto Söderstedt, Festkomitee. Jetzt störe ich Sie nicht länger bei der Arbeit. Nur rein ins Getümmel und frisch drauflos mit dem Auslöserfinger.«

Der Fotograf brachte die Kameratasche in Ordnung und stürzte sich ins sogenannte Getümmel.

Nachdem der Geräuschpegel durch die spektakuläre Ankunft des Zwillingskinderwagens vorübergehend gedämpft worden war, stieg er wieder an. Die Gäste standen in kleinen Gruppen zusammen, die sich mit gewisser Regelmäßigkeit auflösten und neu formierten.

Der Fotograf machte eine Reihe von Übersichtsbildern. Bald hatte man sich an seine Blitze gewöhnt und nahm sie als natürlichen Bestandteil des Fests.

Zuerst das Spruchband. Verschiedene Konstellationen unter dem Spruchband, verschiedene Winkel.

Es war nicht schwer, die Person, der zu Ehren das Fest stattfand, zu entdecken. Der Mann stand mit einem Champagnerglas in der Hand da und unterhielt sich mit Gratulanten zur Rechten und zur Linken. In regelmäßigen Abständen schob er die Minibrille hoch, die darauf bestand, auf seiner enormen Nase abwärtszugleiten.

»Die Blumen riechen ein bisschen eigenartig«, sagte er und schüttelte die ausgestreckte Hand der Lederjacke.

»Es sind spezialimportierte holländische Tulpen«, sagte die Lederjacke. »Du kannst jetzt aufhören, misstrauisch zu sein, Jan-Olov. Die Zeit ist vorbei.«

»Und die Streifen verschwinden über Nacht?«

»Es wird gut gehen. Kerstin weiß, was sie tut.«

»Das ist mir klar«, sagte die Hauptperson. »Ich habe sie selbst ausgesucht.«

»Vielleicht nicht ganz allein, oder?«, sagte ein braungebrannter blonder Mann, der von der Seite herantrat und der Hauptperson einen freundschaftlichen Faustschlag auf den Oberarm versetzte.

»Doch«, sagte die Hauptperson sachlich und betrachtete den Oberarm, doch da hatte sich der Blonde, dessen welliges Haar stark an ein Toupet erinnerte, schon der Ehefrau der Lederjacke zugewandt.

»Ich glaube, wir kennen uns noch nicht«, sagte er mit funkelndem Lächeln. »Ich bin Waldemar Mörner, der formelle Chef der A-Gruppe.«

»Astrid«, sagte die Angesprochene. »Ich gehöre zu Viggo Norlander.«

Der Fotograf schoss ein paar Bilder und streifte dann durch den Saal.

Eine unglaubliche Menge Kinder geriet jetzt vor die Linse der Kamera. Wie eine Mischung aus Jugendzentrum und Kindergarten. Er zählte neun etwas kleinere Kinder und zwei etwa sechzehnjährige Mädchen, die für sich an einem Tisch saßen und gelangweilt dreinblickten. Die neun kleineren waren eine gemischte, aber auffallende Schar: vier waren Mulatten, vier kreideweiß, und ein Junge war dunkelhaarig. Er war vielleicht acht Jahre alt und schien sich wie im Paradies zu fühlen, so wie er herumlief und die Mädchen an den Haaren zog. Sie schrien wie auf Bestellung. Wie Orgelpfeifen.

Die Kamera fing jetzt die beiden größeren Mädchen ein. Eines war strohblond und gehörte eindeutig zu den vier kleineren kreideweißen Kindern. Das zweite war dunkelblond und schwerer zuzuordnen.

»Voll ätzend hier, so was Beschissenes«, sagte die Strohblonde.

»Volltrottel«, sagte die Dunkelblonde. »Scheiße, dass mein Alter mich mitgeschleppt hat. Ich muss nett zu ihm sein, jetzt, wo sie sich scheiden lassen.«

»Ich wollte, meine täten es. Dann hätte ich ein eigenes Zimmer.«

Der Fotograf drückte ab. Der Blitz sprang ihnen in die Augen.

»Hau ab«, fauchte die Strohblonde. »Verfluchter Dodel.«

»Oberfreak«, zischte die Dunkelblonde.

Das Kameraauge schwenkte weiter durch den Saal.

Ein sehr großer Mann hob das Champagnerglas in Richtung eines ungleichen Paars um die dreißig und sagte mit Nachdruck: »Mädchen sitzen im Schoß, und Jungen trägt man unterm Herzen.«

Das ungleiche Paar wechselte einen Blick. Die Frau war groß, blond und kurzgeschoren, der Mann bedeutend kleiner, von dunklem Typ und mit halblangem Haar. Vor seiner Brust hing ein Bündel in einem Tragegurt.

Der Fotograf drückte mehrmals ab und kassierte eine Serie wenig freundlicher Blicke. Er behielt die Kamera vorm Gesicht.

»Mädchenbauch«, sagte die kurzgeschorene Frau versonnen. »Du hattest recht, Gunnar.«

»Das ist unfehlbar«, sagte der Riese und streichelte behutsam über die dunklen Haarstoppeln des kleinen Bündels. »Isabel ist ein schöner Name. Wann ist die Taufe, Sara?«

»Das steht noch nicht ganz fest«, sagte der dunkelhäutige Mann mit einem Anflug von Irritation. »Wir diskutieren noch, welche Kirche. Katholisch oder protestantisch.«

»Dass man immer etwas findet, worüber man sich streiten kann«, sagte der Riese bedächtig. »Es ist ein natürliches Bedürfnis. Wir zum Beispiel streiten uns um ein Haus.«

»Ein Haus?«, sagte die Kurzgeschorene.

»Eher eine Hütte. Ein Häuschen. Griechenland oder Italien. Ludmila hat ein kleines Anwesen in Venetien gefunden, vierzig Kilometer von Venedig entfernt. Ich will immer noch auf die Kykladen.«

»Aber wie könnt ihr euch das leisten?«, platzte der Dunkelhäutige heraus.

Der Riese zuckte mit den Schultern. »Tja, Jorge«, sagte er. »Wir haben beide eine ganze Reihe von Jahren unser sparsames Singleleben geführt. Keine wirklichen Ausgaben. Plötzlich können wir es uns leisten. Es war schön, das zu entdecken. Ich hatte nicht einmal mit dem Gedanken gespielt.«

»Wie kann man sich auf der anderen Seite einen neuen E-Bass leisten?«, fragte die Kurzgeschorene. »Mit eben erst gekaufter Wohnung und einem neugeborenen Kind?«

Der Dunkelhäutige gab keinen Mucks von sich. Er war vergrätzt.

Der Riese sagte: »Also dafür nutzt du deinen Erziehungsurlaub, Jorge?«

»Wenn man mit dem Messer an der Kehle etwas Positives über dich sagen müsste, Gunnar, dann dass du billige Pointen in der Regel vermeidest.«

»Ich habe es ganz wörtlich gemeint. Wertfrei. Nutzt du dafür deinen Erziehungsurlaub?«

»Es ist doch nichts, worüber man sich aufregen müsste. Es war eine gute Gelegenheit, wieder mit dem Spielen anzufangen. Wir sind eine Gruppe von Amateuren, die im Erziehungsurlaub sind.«

»Aber E–Bass? Ich dachte, du spielst Jazz?«

»Das eine schließt das andere nicht aus«, sagte die kurzgeschorene Frau mit schmalem Mund. »Er hat auch einen neuen Kontrabass gekauft. Auf Raten.«

»Jetzt wollen wir doch nicht streiten«, sagte der Große väterlich. »Denkt lieber an Henri Camara. Dann haben wir Grund, gemeinsam sauer zu sein. Gemeinsam Trübsal zu blasen.«

»Hör bloß damit auf«, sagte der Dunkelhäutige. »Scheißspiel.«

»Henri Camara?«, fragte die Kurzgeschorene.

»Der Mann hat im Achtelfinale Schweden gegen Senegal zwei Tore geschossen. Henrik Larsson hat eins geschossen, und das war prima. Denkt positiv.«

Es war eine gute Gelegenheit, sich zu entfernen. Der Fotograf feuerte ein paar Prachtblitze ab, und seine Schritte, als er die schwachen Babyschreie hörte, waren eindeutig beschleunigt.

Er machte bei einer anderen Menschentraube halt.

Eine kohlschwarze Frau sagte im Dalarnadialekt: »Wie schön sie spielen. Ich hatte mir ein bisschen Sorgen gemacht, dass es ein Chaos werden würde.«

Der kreideweiße Mann, den der Fotograf am Aufzug getroffen und der sich als Arto Söderstedt vorgestellt hatte, legte den Arm um eine fast ebenso kreideweiße Frau und sagte nachdenklich: »Es erinnert an Schach …«

Der Fotograf drehte sich zu den spielenden Kindern um, die eine Hälfte weiß, die andere schwarz. Er lachte und machte ein paar Bilder.

Die kohlschwarze Frau lachte laut und vernehmlich. »Ja, Wahnsinn«, stieß sie aus. »Das Finale.«

Die Frau in der Umarmung sagte im finnlandschwedischen Tonfall: »Die weißen sind unsere – die Bockige da am Tisch auch –, und die schwarzen sind eure. Das ist nicht schwer zu erkennen. Aber wer ist der Junge, der die ganze Zeit herumläuft und die Mädchen an den Haaren zieht?«

»Der Joker im Spiel«, sagte der weiße Mann.

»Ich weiß es nicht«, sagte die schwarze Frau.

»Aber ich weiß es«, sagte der weiße Mann. »Und wenn man vom Teufel spricht, siehe da, die dritte Mutter. Mama Kommissar.«

Eine kleine dunkle Frau um die vierzig mit einem großen jüngeren Mann im Schlepptau gesellte sich zu der Gruppe.

»So spricht man aber nicht über seine Vorgesetzte«, sagte sie in klassischem Göteborgdialekt.

Der Fotograf konnte noch ein paar Schnappschüsse machen, bevor sie sich zu den Kindern umwandte und schrie:

»Anders! Was fällt dir denn ein! Du sollst die Mädchen nicht an den Haaren ziehen.«

Der Junge lachte laut und zog gleich wieder ein Mädchen an den Haaren.

»Es ist okay«, sagte die schwarze Frau. »Noch finden es die Mädchen ganz lustig.«

»Das Problem ist, dass wir nie aufhören, es ganz lustig zu finden«, sagte die Göteborgerin und streckte die Hand aus.

»Ich bin übrigens Kerstin Holm, und ich tippe mal, du bist Elsa Grundström.«

Die schwarze Frau schüttelte ihre Hand und sagte: »Ja, natürlich. Genau. Du übernimmst den Posten von Jan-Olov. Gratuliere. Oder was sagt man?«

»Das muss die Zukunft erweisen«, lachte die Göteborgerin. »Ja, das kann man sagen. Dies ist übrigens Jon Anderson, unser Neuzugang.«

Der große junge Mann streckte die Hand aus, verneigte sich höflich vor den Damen und nickte dem weißen Mann kurz zu.

»Jethro Tull?«, sagte die schwarze Frau.

»Was?«, sagte der große junge Mann.

»War das nicht der Sänger von Jethro Tull? Der die Flöte spielte und ziemlich pathetisch war? Jon Anderson?«

»Nein, nein, nein«, sagte der weiße Mann ernst. »Der hieß Ian Anderson. Jon Anderson hat in Yes gesungen. Einer anderen bemerkenswerten Dinorockband.«

»Aha«, sagte die schwarze Frau und ließ die Hand des jungen Mannes los.

»Und du bist …?«, fragte er höflich.

»Ja, Entschuldigung. Elsa Grundström, Niklas Grundströms Frau.«

Der große junge Mann machte ein fragendes Gesicht.

Der weiße Mann half ihm auf die Sprünge: »Hüte deine Zunge, Yes. Niklas Grundström ist Chef der Abteilung für Interne Ermittlungen.«

»Yes?«, platzte die weiße Ehefrau heraus. »Ist das nicht ein Spülmittel?«

Der große junge Mann sah jetzt äußerst verwirrt aus.

»Wir nennen ihn Yes«, sagte der weiße Mann. »Nach dem erwähnten Sänger von Yes. Also nicht nach dem Spülmittel.«

»Und du bist …?«, wiederholte Yes, eine Spur weniger höflich, mit dem Blick auf die weiße Frau.

»Anja Söderstedt. Weiße Dame.«

»Und ich bin die schwarze Dame«, sagte die schwarze Dame und zeigte auf die wilde Schachpartie.

Der große junge Mann gab auf. Sein Lächeln, als er die Gesellschaft mit einem Nicken verließ, wirkte ausgesprochen aufgesetzt. Der Fotograf fand es passend, genau in diesem Augenblick abzudrücken. Klick. Geblendet und verwirrt segelte der junge Mann in den Saal hinaus.

»Ein wenig steif vielleicht?«, flüsterte die weiße Frau vorsichtig.

»Ich habe gesagt, dass ihr so etwas nicht machen sollt, Arto«, ermahnte die Göteborgerin. »Wir müssen ihm eine Chance geben.«

»Yes, Sir«, sagte der Weiße.

Sie sah ihn resigniert an und schüttelte den Kopf.

»Ich wusste nicht, dass ihr euch vergrößert habt«, sagte die weiße Dame. »Arto erzählt nichts. Und auch von diesem Fernsehmord höre ich kein einziges Wort.«

»Da brauchst du doch nur irgendeine Abendzeitung aufzuschlagen«, sagte der Weiße mürrisch.

Die Göteborgerin nickte. »Es handelt sich leider nicht um Vergrößerung. Eher um Kompensation. Wir haben ja eine Reihe von Spitzenkräften verloren. Unter anderem an deinen Mann, Elsa.«

Die schwarze Frau nickte.

»Da siehst du«, sagte die Weiße. »Ihr Mann erzählt mal was. Du erzählst mir nichts.«

»Ich dachte, du wolltest es nicht wissen«, sagte der weiße Mann verlegen.

»Jon Anderson ist seit ein paar Monaten bei uns«, sagte die Göteborgerin. »Und wir haben heute Abend noch eine zukünftige Mitarbeiterin unter uns. Irgendwo steckt sie.«

Der Fotograf machte ein letztes Foto von der gemischten Gesellschaft und wanderte weiter. In seinem Sucher zeigte sich jetzt eine ungefähr fünfundzwanzigjährige Frau in kaputter Jeans mit Bauchnabelpiercing unter einem minimalen hellblauen Oberteil. Sie war mit einem Champagnerglas in der Hand unterwegs zu einer Menschentraube, hielt aber mitten im Bild inne und machte ein flehendes Gesicht. Der Fotograf drückte nicht ab, behielt aber die Kamera im Anschlag.

»Nicht mich«, flüsterte sie ihm zu. »Mir war nicht klar, dass man ordentlich gekleidet sein sollte. Es ist schon so peinlich genug.«

Der Fotograf blickte sich im Saal um. Das Bekleidungsniveau war zweifellos eine Spur höher. Er nickte. Sie dankte ihm schweigend, bahnte sich einen Weg durch den Kinderschwarm und schloss sich mit einem frischen »Hallo, hier komme ich« der Gruppe an.

Die Gruppe verstummte und sah sie abwartend an.

»Ich weiß nicht, ob ich jemanden von euch kennen sollte«, fuhr sie ein wenig angestrengt fort. »Ich habe die A-Gruppe bisher nur auf Bildern gesehen. Aber ich glaube nicht, dass ich hier jemanden erkenne. Müsste ich das?«

»Das kommt ganz darauf an, wer du bist«, sagte ein strammer, äußerst gut gekleideter Mann und fixierte sie.

Sie erwiderte seinen Blick, ohne mit der Wimper zu zucken.

»Ich nehme an, du hast schon eine Reihe von Schlussfolgerungen gezogen, was mich betrifft«, sagte sie. »Junges Ding mit zerrissener Jeans und Bauchnabelpiercing. Eine Spionin aus der Unterwelt, die auf einer Bananenschale hereingerutscht ist? Ein angeheuertes Callgirl? Eine Überraschungsstripperin?«

Ein Mann lachte laut hinter ihrem Rücken. Laut und herzlich. Sie drehte sich um. Die Blitze aus ihren Augen erloschen, als sie den dunkelblonden Mann mit einem roten Mal auf der Wange und einer trendgerechten Plastikbrille auf der Nase sah.

»Ich glaube, ich weiß, wer du bist«, sagte er ruhig. »Kerstin hat von dir erzählt. Schade, dass ich nicht mehr die Chance bekomme, mit dir zusammenzuarbeiten.«

»Dann bist du Paul Hjelm!«, rief die Frau aus. »Die Brille hat mich getäuscht. Du siehst aus wie ein Verwaltungsmensch.«

»Was ich inzwischen bin«, sagte der Mann und befingerte seine Leichtgewichtbrille. »Bald schaffe ich mir auch eine Armbanduhr an, dann ist die Verwandlung perfekt.«

Die junge Frau reichte ihm die Hand und schien plötzlich die Sprache verloren zu haben. »Paul Hjelm«, sagte sie nur.

Der Mann namens Paul Hjelm schüttelte ihre Hand und sagte: »Weil es keinen aus der A-Gruppe hier gibt, ist es wohl am besten, dass ich dich allen vorstelle. Hört mal alle her. Dies ist Lena Lindberg, der jüngste Neuzugang der A- Gruppe. Ihr erster Arbeitstag ist …«

»Morgen. Und entschuldigt meinen Aufzug. Ich wusste nicht, dass es ein so formelles Fest ist.«

»Das ist es auch nicht«, sagte Hjelm. »Für die meisten ist es einfach nur die richtige Art und Weise, einen Mann zu feiern, dem wir vieles verdanken.«

»Ich habe gehört, dass Hultin ein guter Chef war …«

»Erst jetzt, wo ich selbst Chef bin, weiß ich, wie gut. Der stramme und gut gekleidete Mann, dem du eben auf den Schlips getreten bist, ist Polizeiintendent Niklas Grundström, Chef der Abteilung für Interne Ermittlungen, also ein Mann, dem man tunlichst nicht auf den Schlips treten sollte. Dann haben wir Ludmila Lundkvist, Dozentin für slawische Sprachen und die Frau deines zukünftigen Kollegen Gunnar Nyberg.«

»Lebensgefährtin«, korrigierte eine dunkle kleine Frau mit schwachem russischen Akzent und nickte der jungen Frau zu. »Gunnar ist der große Kerl dort hinten.«

Der Fotograf machte ein paar Bilder. Die Blitze zuckten durch den Festsaal, als wäre ein mächtiges Gewitter im Anzug.

Der Mann mit der Plastikbrille fuhr fort: »Dann haben wir den Abteilungsdirektor Waldemar Mörner, den formellen Chef der A-Gruppe.«

Der Fotograf erkannte den Mann mit den an ein Toupet erinnernden blonden Locken und ließ einen weiteren Blitz los, dass es um das kreideweiße Lächeln Funken sprühte wie von Wunderkerzen.

»Entzückend«, sagte der Toupetmann und buckelte wie ein Lakai am Hofe Ludwigs XIV.

»Da sieht man’s«, sagte die junge Frau und hielt die Erscheinung mit dem Blick fest. »Worüber habt ihr gesprochen, bevor ich hereingeplatzt bin?«

Die Mitglieder der Clique beobachteten einander vorsichtig, um zu sehen, ob jemand sich erinnerte.

Die kleine dunkle Frau mit dem russischen Akzent sagte schließlich: »Kinder, glaube ich.«

»Genau«, sagte der Toupetmann. »Ich habe zurzeit eine Vaterschaftsklage am Hals. Oder wo man sie hat, vielleicht etwas weiter unten.«

»Weiter unten?«, fragte die junge Frau unbedacht.

»Ich habe nicht gesagt, weiter unten am Hals. Weiter unten als am Hals, habe ich gemeint. Falls es stimmt, habe ich irgendwo in Dalsland einen fünfundzwanzigjährigen Sohn. Ein interessanter Gedanke für einen Mann, der es eigentlich sein Leben lang ›mit‹ gemacht hat.«

Die junge Frau erkannte, dass sie keine höheren Wellen verursacht hatte, als sie hereingestürmt war. Hier wehte bereits ein frischer Wind. Äußerst sonderbare Bilder traten vor ihr inneres Auge.

Die Übrigen blieben ungerührt – sie kannten offenbar den Toupetmann und seine Schrullen. Der Fotograf machte noch ein Bild. Von dem verblüfften Gesicht der jungen Frau. Sie hatte nichts dagegen.

»Nein«, sagte die russische Frau in sachlichem Ton. »Ich glaube, das Gespräch fing damit an, dass ich zugab, wie mir Kinder fehlen. Vor allem jetzt, wo ich ein paar erwachsene Plastikkinder als Zugabe bekommen habe.«

»Plastikkinder?«, sagte die junge Frau.

»Ist das falsch?«, fragte die Russin besorgt. »Kann man das nicht sagen?«

Der gut gekleidete stramme Mann griff ein: »Da unsere familiären Verhaltensmuster dazu geführt haben, dass Begriffe wie ›Plastikpapa‹ und ›Plastikmama‹ in den Wortschatz aufgenommen worden sind, müsste man auch ›Plastikkind‹ sagen können. Obwohl ich glaube, dass das Wort in Schweden noch nie benutzt worden ist. Jedenfalls nicht in dieser Bedeutung.«

»Was ist denn ein Plastikpapa?«, fragte der Toupetmann und schien zu befürchten, selbst einer zu sein.

»Mamas neuer Freund«, sagte die Russin bestimmt.

»Aha«, seufzte der Toupetmann erleichtert. »Ja, von Frauen mit Kindern hält man sich natürlich fern. Das ist eine Binsenwahrheit.«

»Obwohl ich glaube«, sagte der Stramme und Gutgekleidete, »dass die Diskussion ganz woanders anfing. Ich glaube, sie begann bei Heim Waldemar Mörners absoluter Unfähigkeit, an genetische Codes zu glauben.«

»Nun wollen wir mal nicht so sein«, sagte der Toupetmann gutmütig.

Der Gutgekleidete ignorierte ihn und wandte sich lächelnd der jungen Frau zu. »Wir können ja die Gelegenheit nutzen und die Überraschungsstripperin testen.«

»Sag bloß, Niklas«, platzte der Mann namens Hjelm heraus, »du warst die ganze Zeit auf Rache aus.«

»Nur ein bisschen«, gestand der Gutgekleidete und ließ ein unerwartet helles Jungenlachen hören. »Aber es ist auch ein Spiel, ein Detektivspiel. Die Fähigkeit, Anhaltspunkte aufzuschnappen. Denn es hat schon ein paar gegeben. Dies hier ist auch einer.«

»Okay«, sagte die junge Frau ruhig. »Die Überraschungsstripperin ist bereit.«

Der Gutgekleidete fixierte sie und wählte seine Worte sorgfältig: »Welches oder welche von den Kindern sind meine?«

Die junge Frau sah ihn überrascht an und blickte dann in den Saal. Der Fotograf folgte ihrem Blick. Es waren viele Kinder, aber sie waren ziemlich leicht zu sortieren. Ein kleiner dunkelhaariger Junge von etwa acht Jahren. Vier braune Kinder, deren schwarze Mutter leicht zu erkennen war. Vier sehr blonde, hellhäutige Kinder. Nein, fünf, wenn man das große Mädchen mitzählte, das mit einem ungefähr gleichaltrigen dunkelblonden Mädchen an einem Tisch saß und maulte. Dazu ein kleines Bündel auf dem Bauch eines dunkelhäutigen Mannes sowie zwei kleine Mädchen mit länglichen Gesichtern, die umhertapsten und mit Rasseln aufeinander einschlugen.

Die junge Frau beobachtete die Kinderschar eine ganze Weile und überlegte. Der Fotograf knipste ein Bild. Mit der verschmitzt lächelnden Gruppe im Hintergrund. Es wurde das drittbeste Bild des Tages.

Dann drehte sie sich um und sagte: »Das Mädchen am Tisch. Die Dunkelblonde, die so sauer ist.«

Der Gutgekleidete klatschte triumphierend in die Hände.

Der Mann namens Hjelm schob die Plastikbrille in die Stirn und sagte: »Auf gewisse Weise ist es richtig. Da und nirgendwo sonst hat diese Diskussion angefangen. Nämlich mit meiner Prahlerei, dass es mir gelungen ist, meine Tochter Tova mitzubringen. Eine unwahrscheinliche Leistung.«

Die junge Frau beobachtete ihn und runzelte die Stirn. Dann wandte sie sich fragend an den Gutgekleideten, der sich noch immer erfreut die Hände rieb. Er betrachtete sie eine Weile – lange genug, um sie dazu zu bringen, erste Anzeichen von Irritation zu zeigen.

Das war das Signal.

»Es sind die kleinen schwarzen«, sagte er.

Da lachten sie laut. Allesamt.

Sie lachte am lautesten von allen.

»Dann ist jetzt der Zeitpunkt für etwas ganz anderes gekommen«, sagte der Toupetmann und faltete ein zerknittertes Papier auseinander, das er aus seiner Tasche gefischt hatte. »Jan-Olov!«, rief er unnötig laut. »Es ist an der Zeit, dass ich ein paar passende Worte sage! Als Dank für die gemeinsamen Jahre!«

Die Kamera war jetzt auf die Hauptperson des Abends gerichtet und holte den Jubilar mit dem Zoom heran, wie er, den Arm um eine gut erhaltene ältere Frau gelegt, zehn Meter entfernt unter dem Spruchband stand. Es wurde ein Foto der wahrlich entlarvenden Gesichtsausdrücke.

Das zweitbeste Bild des Tages.

Selten war eine so große Nase so gerümpft.

Der Toupetmann stieg geschmeidig auf einen Stuhl, um von da aus weiter auf den Tisch zu klettern. Leider stand eines der Stuhlbeine auf einem kleinen Feuerwehrauto, sodass der Stuhl rasant zur Seite glitt. Das rechte Bein des Mannes war bereits auf dem Tisch, und das linke rutschte zurück, sodass er in einer Position landete, die man als Spagat bezeichnen musste. Da zog er das linke Bein an sich, bekam es unter den Tisch und riss es heftig hoch. Der ganze Tisch hob ab und schwebte einen Augenblick direkt über ihm, während er waagerecht in der Luft lag.

In dem Moment machte der Fotograf das beste Bild des Tages.