15
»Ich sehe echt Scheiße aus«, sagte Lena Lindberg und befingerte ihren Nabel. Das Piercing hatte angefangen zu eitern. Sie zog die Hand vom Hemd und roch heimlich an den Fingern. Tatsächlich, entzündet. Verdammt. Schon wieder.
»So schlimm ist es wohl nicht«, sagte Sara Svenhagen und beugte sich über den Schreibtisch nach unten. Ein wenig verwundert vielleicht.
»Ich glaube, es war, als er sagte, er habe es sein ganzes Leben lang ›mit‹ gemacht oder so was in dem Stil. Was hat er damit gemeint?«
Sara lächelte. »Ich habe einmal in einer live gesendeten Pressekonferenz mit Waldemar Mörner gesessen«, sagte sie.
»Man versteht nie, was er meint.«
»Soll man es vielleicht metaphorisch verstehen, dass er es sein ganzes Leben ›mit‹ gemacht hat?«, fragte Lena.
»So würde ich es sehen«, meinte Sara. »Immer geschützt. Mach weiter, statt dir über so was Gedanken zu machen.«
Lena Lindberg nahm das nächste Bild von dem dicken Fotostapel.
»Wer ist das?«, fragte sie und zeigte auf einen kleinen dunklen Typ mit einem winzigen Bündel vor dem Bauch.
»Der neben dir?«
»Aber da ist ja meine kleine Isabel«, stieß Sara Svenhagen aus. »Mit einer Art Anhängsel. Ja, jetzt erkenne ich es. Das ist mein hochverehrter Gatte. Der frustrierte Musiker.«
Lena Lindberg starrte verblüfft auf ihre große blonde Tischnachbarin: »Sag bloß, und ich hatte mich für vorurteilsfrei gehalten. Entschuldigung. Er ist ja eine Legende, fast vom gleichen Kaliber wie Hjelm. Jorge Chavez.«
»Hör doch auf mit dieser Heldenverehrung«, sagte Sara.
»Woher kommt diese Unsitte?«
»Unten beim Fußvolk wird geredet. Daher komme ich. Die A-Gruppe ist so ein bisschen was wie die erste Liga, ob ihr es mögt oder nicht. Ihr werdet wirklich bewundert. Und beneidet. Die, die euch am meisten bewundern, sagen, dass ihr euch für was Besonderes haltet.«
Sara Svenhagen lachte. »Da sieht man’s. Hier oben, auf dem Gipfel des Berges, merkt man davon nichts.«
»Ein Haufen Kinder«, sagte Lena Lindberg und zeigte auf das nächste Bild. »Der Chef der Internabteilung hat mich abgefragt, als wäre ich ein Unterstufenkind unter all den anderen.«
»Er ist zu förmlich, um es zu zeigen, aber er ist wahnsinnig stolz auf die kleine Horde von Kindern. Was du mitgekriegt hast, war wahrscheinlich Niklas Grundströms Art und Weise, die Brieftasche herauszuholen und Familienbilder zu zeigen. Nimm es nicht persönlich.«
»Nein, um Gottes willen«, sagte Lena Lindberg und nahm es persönlich. »Und die zwei kleinen Mädchen da, die Puppen?«
»Viggos kleine Gottesgaben«, sagte Sara. »Charlotte und die kleine Sandra.«
»Norlanders?«, platzte Lena heraus.
»Schwedens am meisten videogefilmte Kinder.«
»Was? Seine Enkel?«
»Nein. Seine Töchter. Das ist eine lange Geschichte. Die erzähle ich ein andermal.«
»Ich will alles hören, alles, alles«, sagte Lena Lindberg und griff zum nächsten Bild. »Das hier ist auf jeden Fall Hultin höchstpersönlich.«
»Ja«, sagte Sara. »Diese Miene! Sonst sieht man in der Regel nicht viel in seinem Gesicht.«
»Außer der Nase.«
»Ja. Außer der. Vermutlich hat er gerade Mörner erblickt. Das ist sein gefühlsgeladenster Moment. Apropos …«
Sara Svenhagen ergriff den ganzen Stapel und blätterte wild darin.
»Ich möchte gern wissen, ob es was geworden ist«, sagte sie kryptisch.
»Ich glaube, ich weiß, woran du denkst.«
Sara schlug mit der Hand auf den Schreibtisch: »Ha, hier ist es. Ich dachte doch, ich hätte einen Blitz gesehen. Guck mal.«
Das Bild stellte den Abteilungschef Waldemar Mörner dar, formell Chef der Spezialeinheit für Gewaltverbrechen von internationalem Charakter bei der Reichskriminalpolizei, die normalerweise als A-Gruppe bezeichnet wurde. Er lag der Länge nach in der Luft, und sein Gesicht drückte die reinste Verblüffung aus. Über ihm schwebte ein großer Tisch. Und neben ihm in der Luft flatterte – wie eine Schwalbe, die vor schlechtem Wetter warnt – ein blondes Toupet.
»Jesses«, sagte Lena Lindberg.
»Da haben wir die seit langem ersehnte Antwort«, sagte Sara Svenhagen. »Es ist ein Toupet. Die Zeit der Wetten ist vorbei. Sie standen sowieso schlecht.«
»Aber was ist ihm eigentlich passiert?«
»Ich habe ihn heute Morgen im Korridor gesehen. Er sah so aus wie immer. Als wäre nichts geschehen. So etwas rinnt von ihm ab wie Wasser von einer Gans. Wahrscheinlich hat er es schon vergessen.«
Sie lachten eine Weile. Eine gute Weile. Mit langsam zunehmender Lautstärke.
Das Haustelefon summte. Eine Frauenstimme sagte:
»Sara? Im Vernehmungsraum ist alles klar.«
Sara Svenhagen gelang es, ihre Stimme unter Kontrolle zu bringen. Sie sagte: »Okay, Kerstin. Wir kommen.«
»Kann ich die Fotos durchsehen, während ihr sie verhört?«
»Ja, sicher. Bring Anders mit. Es gibt eine ganze Reihe Leckerbissen dabei. Besonders einen.«
»Darauf habe ich gewartet«, sagte Kerstin Holms Stimme.
Sara und Lena mussten ihr Denken neu kalibrieren. Das dauerte eine Weile. Es war Zeit für einen radikalen Stimmungswechsel.
Sie traten in den Korridor hinaus.
Lena Lindberg sagte: »Wie wollen wir es angehen?«
»Wir werden so nett sein wie möglich«, sagte Sara Svenhagen.
»Was glaubst du? Ist sie schuldig?«
»Alles andere wäre reichlich abwegig. Die Frage ist vor allem, wessen sie schuldig ist. Aber wir müssen unvoreingenommen an die Sache herangehen. Hast du die Papiere?«
Lena wedelte kurz mit Bengt Åkessons Mappe. Sie waren da. Einen Augenblick blieben sie vor dem Vernehmungszimmer stehen.
»Nach dir«, sagte Sara und öffnete die Tür.
In dem engen Raum saß ein zartes dunkles Mädchen, das keinen Tag älter als achtzehn zu sein schien. In Wirklichkeit war sie dreiundzwanzig. Seit einigen Monaten hieß sie Rosa Beckman. In den über zweihundertfünfzig voraufgegangenen hatte sie Naska Rezazi geheißen.
Sara Svenhagen fragte sich, ob sie allein auf den Namen gekommen war. Rosa Beckman.
Sie traten ein und begrüßten die junge Frau. Sie sah unendlich traurig aus. Als trüge sie an einer schweren Trauer, einer von der Art, die weit über den reinen Verlust hinausgeht.
»Ich bin Sara Svenhagen«, sagte Sara und setzte sich, »und das ist meine Kollegin Lena Lindberg. Wir sind Inspektorinnen bei der Reichskriminalpolizei.«
Die junge Frau blickte zu ihnen auf und sagte: »Ich weiß nicht mehr, wie ich mich vorstellen soll. Es muss wohl ein dritter Name sein. Damit ich nicht im Gefängnis ermordet werde.«
»Warten wir erst einmal ab, was mit dem Gefängnis wird«, sagte Sara. »Keine voreiligen Schlussfolgerungen. Ist es in Ordnung, wenn wir dich Naska nennen?«
»Warum nicht? Es gibt zwei Sorten Namen: solche, die man ist, und solche, die man hat. Ich habe mehr als zwanzig Jahre lang geglaubt, ich wäre Naska. Jetzt weiß ich, dass das ein Irrtum war. Ich werde nie mein Name sein.«
»Was hat dazu geführt, dass du den Namen wechseln musstest?«
»Das steht doch wohl alles in euren Papieren.«
»Es ist besser, du erzählst es selbst.«
»Ich habe versucht, Schwedin zu werden. Ich mag meine kurdischen Wurzeln, aber es sind eben Wurzeln. Jetzt lebe ich in Schweden. Und es war nicht meine Entscheidung, hierherzuziehen.«
»Ein Mann ist für dich ausgesucht worden?«
»Ein vierzigjähriger kurdischer Bauer, der gerade erst nach Schweden gekommen war. Es war unmöglich. Da fing mein Vater an, mir zu drohen. Und er bekam Nedim auf seine Seite.«
»Deinen älteren Bruder?«
»Ein Jahr älter als ich. Wir waren mehr wie Zwillinge.«
»Nachdem Nedim dich misshandelt hatte, bekamst du eine neue Identität, nicht wahr? Das war im Januar, zu Hause in Norrköping?«
»Was ist geschehen, Naska?«
»Er hat mich mit dem Messer geschnitten und mir gedroht. Schnittwunden auf den Wangen. Streifen. Man kann sie noch sehen. Aber der Arzt hat gesagt, sie würden verschwinden. ›Die Zeit heilt alle Wunden‹, hat er gesagt.«
»Im Winter bist du nach Tensta gekommen und hast eine Arbeit als Reinigungskraft gefunden.«
»Ich wollte an der Uni anfangen, aber ich habe so schlechte Noten. Ich hatte nie die Möglichkeit, zu Hause zu lernen. Immer musste etwas anderes getan werden. Jetzt habe ich wieder im Gymnasium angefangen. Als Rosa Beckman. Aber Rosa bekommt nie ein Abschlusszeugnis.«
»Was willst du werden, Naska?«
»Ich möchte Tierärztin werden«, sagte Naska, und das erste schwache Lächeln huschte über ihre Lippen. »Ich habe Tiere gern.«
»Und gestern früh bist du nach Hause gegangen und hast dich an den Küchentisch gesetzt und nachgedacht. Und du bist darauf gekommen, dass der einzige Ort, an dem du Ruhe hättest, Tiermedizin zu studieren, das Gefängnis wäre. Dass es am einfachsten wäre zu gestehen.«
Naska Rezazi sah zu Sara Svenhagen auf. Ihre Augen waren offen, nackt. Aber auch enttäuscht. Doch enttäuscht auf die richtige Art und Weise.
»Ich weiß nicht, wovon du redest«, sagte sie.
Sara lächelte und warf einen Blick zu Lena Lindberg hinüber. Lenas Augen sahen ungefähr so aus wie Naskas. Möglicherweise noch etwas erschrockener.
Sara Svenhagen musste zugeben, dass es kein guter Schachzug gewesen war. Ein Test. Alle Möglichkeiten, an dem Fall weiterzuarbeiten, hätten zerstört werden können. Aber wenn jedes Vertrauen verschwunden wäre, hätte Naska einfach dicht gemacht. Die Worte ›Ich weiß nicht, wovon du redest‹ waren fast eine Einladung zur Fortsetzung des Gesprächs.
Sara war erleichtert. Sie konnten weitermachen.
»Wir gehen ein wenig zurück«, sagte sie. »Wie kam es dazu, dass deine neue Identität aufgedeckt wurde?«
»Nedim rief an.«
»Wann war das?«
»Am Abend vorher. Gegen acht Uhr.«
»Also vorgestern Abend? Was hat er gesagt?«
»Nicht viel. Seine Worte waren falsch. Er wollte nicht reden. Es war nicht seine Redestimme. Die hatte er auch. Früher einmal. Wir redeten sehr viel miteinander, als wir klein waren. Aber seine Redestimme verschwand. Als er groß wurde und die ›Last der Verantwortung‹ spürte, wie er sich ausdrückte. ›Generationen von Verantwortung‹.«
»Was hat er gesagt, als er anrief?«
»Er hat gesagt: ›Wir müssen uns treffen, Naska.‹ Und ich habe gesagt: ›Ich heiße nicht Naska. Ich heiße Rosa.‹ Da sagte er: ›Es gibt ein Vereinsheim in deiner Nähe. Die niedrigen Gebäude. Weißt du, was ich meine?‹ Ich sagte: ›Ja. Ich mache einen Kurs da. Willst du wissen, was für einen Kurs ich mache, Nedim?‹ Er sagte: ›Wir sehen uns im Innenhof bei dem Vereinslokal heute Nacht um halb drei. Wir müssen reden.‹ Ich sagte: ›Einen Selbstverteidigungskurs für Frauen.‹ Aber da hatte er schon aufgelegt.«
»Warum hast du nicht die Polizei angerufen, Naska?«
»Daran habe ich auch gedacht. Ich hatte schon den Hörer in der Hand. Aber dann dachte ich: Man kann nicht das ganze Leben lang fliehen. Das halte ich nicht durch. Es muss ein Ende haben.«
»Auf welche Weise sollte es ein Ende haben?«
»Ich hoffte, ich könnte ihn dazu bringen, mit mir zu reden. Ich hoffte, ich könnte seine Redestimme wieder hervorlocken. Sie konnte nicht gestorben sein. Sie war nur verschüttet unter all den Trümmern.«
»Und trotzdem hast du das kleine Schweizer Klappmesser in die Tasche gelegt?«
»Ich habe es gekauft, als ich den Kurs in Selbstverteidigung anfing. Sie warnten mich vor allem, was Männer sich einfallen lassen. Ich hatte nicht die Absicht, es gegen meinen Bruder einzusetzen. Ich glaubte ja, dass ich ihn nie wieder treffen würde. Und das stimmte ja.«
»Ich glaube, jetzt bringst du die Dinge durcheinander, Naska. Du hast ihn ja doch getroffen. Bevor du ihm das Messer ins Herz gestoßen hast.«
»Richtig, ja«, sagte Naska und bekam wieder diesen großen, nackten Blick.
»Du bist zum Treffpunkt gegangen, um zu versuchen, ein für alle Mal mit ihm zu reden. Als ob Worte tatsächlich einen Austausch zwischen zwei Menschen beinhalteten. Und doch hast du das Messer mitgenommen.«
»Das waren die beiden Möglichkeiten, die es gab. Gewalt oder Worte.«
»Man kann wohl sogar sagen, dass es die beiden Möglichkeiten sind, die es überhaupt gibt. In der Welt. Gewalt oder Worte.«
»Ja«, nickte Naska. »So ist es. Wenn es richtige Worte sind. Sonst sind sie auch Gewalt.«
»Aber du wusstest doch, wie Nedims Messer aussieht. Es war groß. Und er hatte es vorher schon benutzt. Du hattest es aus nächster Nähe gesehen. Du hast noch die Spuren davon als Narben auf den Wangen. Was sollte dein Taschenmesser gegen dieses Riesenmesser ausrichten?«
»Ich habe auf ein Wunder gehofft.«
»Wenn er dich zuerst angegriffen hat, ist es Notwehr. Dann kommst du nicht ins Gefängnis.«
»Er hätte mich angegriffen, wenn er eine Chance gehabt hätte. Ich bin ihm zuvorgekommen.«
Sara betrachtete ihre Kollegin. Lena Lindberg hatte dichtgemacht. Sie nickte ihr nur kurz zu. ›Mach weiter.‹ So sah es auf jeden Fall aus.
Sara wollte, dass es so aussah.
»Weißt du, was ich glaube, Naska?«, sagte sie schließlich.
»Nein.«
»Ich glaube, du bist eine sehr, sehr intelligente Frau mit einem raffinierten Plan, der aber von einer falschen Voraussetzung ausgeht. Nämlich der, dass das Gefängnis der einzige Ort ist, wo du Ruhe und Frieden findest. Es gibt andere und bessere Möglichkeiten.«
»Die haben wir schon ausprobiert«, sagte Naska und blickte tief in Saras Augen. Da war eine Widerstandskraft. Stärker als Sara sie jemals gesehen hatte. Aber gut versteckt. Und nicht stark genug, um dem großen Messer in der Hand des zornigen Mannes zu widerstehen. Sie war stärker als das Messer. Wenn auch auf einer ganz anderen Ebene. Auf einer Ebene, die Bruder Nedim überhaupt nicht kannte. Oder für die er sich blind gemacht hatte. Blind gemacht worden war. Von der mystischen Kraft, die unter dem Decknamen Tradition läuft.
Sara sagte: »Du willst ein Jahr Ruhe im Knast haben, im Höchstfall zwei. Welches Verbrechen bringt dir das ein? Nicht Mord, das gibt mehr. Nicht Notwehr, das gibt überhaupt nichts. Also sollen wir glauben, du wärst hingegangen und hättest gehofft, mit deinem Bruder reden zu können: Das Verbrechen ist nicht vorsätzlich. Dagegen können wir nicht akzeptieren, dass Nedim zuerst zugestoßen hat: Dann liegt überhaupt kein Verbrechen vor. Am besten wäre es, wenn du zugestoßen hast, weil du glaubtest, er würde zustoßen. Dann ist es Totschlag. Eine angemessene Zeit im Knast. Du machst das Abi nach. Dann brauchst du nur noch ins Tierarztstudium einzusteigen, wenn deine Strafe verbüßt ist.«
Der Blick, der Sara traf, war zerstört, vollkommen zerstört.
»Sag so was nicht«, sagte Naska.
»Okay«, sagte Sara. »Dann sag ich so was nicht. Stattdessen sage ich Folgendes: Es gibt ein anderes und viel schlimmeres Szenario. Du hast einen Mittäter darauf angesetzt, deinen Bruder zu ermorden – einen Liebhaber oder einen bezahlten Mörder. Alles, damit du dein freies Jahr im Knast verbringen kannst. Denn man hat ja gehört, wie locker es zugeht in schwedischen Gefängnissen. Wie ein Jahr im Hotel, und alles bezahlt. Klingt doch riesig. Zeit genug. Wie eine lange Charterreise, gratis. Und dann kann der Staat noch einmal eine Million aufbringen, um dir eine weitere geschützte Identität zu beschaffen, während du studierst und Krafttraining machst und dich in Solarien aalst und fernsiehst und dein Leben wie geschmiert läuft.«
»Aber zum Teufel noch mal!«, platzte Lena Lindberg heraus.
Sara Svenhagen nahm sie gar nicht zur Kenntnis. Sie war völlig auf Naska Rezazi fixiert. In Naskas Augen war die Kraft wieder erwacht, die Widerstandskraft, aber sie sah jetzt anders aus. Als wäre sie zum vergeblichen, aber urgewaltigen Widerstand des Todeskampfs geworden.
»Nein«, sagte sie nur.
»Dochdochdoch«, polterte Sara weiter. »Statt dich an die Polizei zu wenden, als Nedim angerufen hatte, hast du deinen Liebhaber angerufen und ihn deinen Bruder abmurksen lassen. Du hattest einen sicheren Ausweg. Und weißt du, woher ich das weiß?«
Schweigen. Zum ersten Mal Schweigen. Ein verstohlener Blick unter den Tisch. Die Weigerung zu antworten.
»Weißt du, was eine Akelei ist?«, fragte Sara.
Naska blickte auf und betrachtete sie. Mit – Interesse. Als wäre sie an gerade dieser Frage interessiert.
»Ja«, sagte sie erstaunt. »Es ist eine Blume.«
»Es ist eine Blume, die nicht in Tensta wächst. Auf jeden Fall nicht da, wo du deine Mittsommerblumen gepflückt hast. Woher hast du sie?«
»Was weißt du von meinen Mittsommerblumen?«
»Ich glaube, dass du sie wegen des Wunders gepflückt hast. Auf das du gehofft hast. Ein Zeuge hat dich auf dem Weg zum Vereinslokal gesehen. Er hat gesehen, wie du Blumen gepflückt hast. Komm schon, Naska. War dein Mittäter da und hat dir die Blume gegeben? Hatte er Nedim schon getötet? Und gab dir zum Trost eine kleine Blume?«
»Es gibt keinen Mittäter«, sagte Naska ruhig. »Ich kann mich auf keinen Mann verlassen.«
»Okay. Wir sagen, dass du keinen Mittäter hattest. Du bist selbst hingegangen. Wir wissen, dass es sich nicht um Notwehr gehandelt hat. Du kannst dich unmöglich so erfolgreich gegen das große Messer in der Hand des großen Mannes gewehrt haben. Nicht einmal eine Schramme hast du abbekommen. Du kannst ihn auch nicht überrascht haben, weil der Messerstich im Herzen saß. Mit Präzision genau von vorn ausgeführt. Du musst erzählen, was am Treffpunkt passiert ist. Was ist passiert? Nun komm schon. War er eingeschlafen? Saß er da und schlief, und du hast die Gelegenheit ergriffen und das Messer in die schlafende Gestalt gestoßen? Hatte er selbst die Akelei und gab sie dir? Als Todeskuss? Um sie mitzunehmen in die nächste Welt? Was ist passiert, Naska?«
Naska blickte zu ihr auf. »Er hielt das Messer«, sagte sie entschlossen.
Mehr nicht.
Sara war einigermaßen zufrieden. Jetzt wussten sie, wo sie einander hatten. Beim nächsten Mal würde sie weiterkommen.
»Du warst ein bisschen voreilig, Naska«, sagte sie.
Naska starrte unverwandt auf die Tischplatte.
»Es ist noch nicht richtig Mittsommer«, sagte Sara Svenhagen.
Die junge dunkle Frau blickte auf mit diesem offenen, nackten Blick. Sie sagte: »Aber es ist nicht mehr lange.«
Sie kamen in den Korridor hinaus. Sara Svenhagen lehnte sich schwer gegen den Türpfosten. Sie fühlte sich vollkommen ausgelaugt. »Du hättest mich unterbrechen sollen«, sagte sie.
Lena Lindberg betrachtete sie ernst und sagte: »Das hätte ich bestimmt nicht getan.«
Sara begegnete ihrem Blick und lachte. »Nicht diesen Blick«, sagte sie.
»Wieso, welchen?«, sagte Lena.
»Den bewundernden. So gut ist es nicht gelaufen.«
»Ich frage mich nur etwas.«
»Was?«
»Ob wir wirklich so nett wie möglich waren.«
Sara drückte den Rücken durch und streckte die Arme zur Seite aus. »Ich finde, schon«, sagte sie.