14

 

Die Finger der linken Hand um den Hals des E-Basses. Ihre Beweglichkeit. Als lebten sie ihr eigenes Leben. Die Kraft bei jeder Bewegung mit den Fingern der Rechten. Das Zusammenspiel der Hände. Das sagenhafte Zusammenspiel mit dem Drummer. Der Druck der Rhythmusgruppe.

Ein Riff mehrmals. Die Wände wurden nach außen gedrückt.

»Jorge«, rief der Mann hinter der Glasscheibe und zog die Schalter am Mischpult herunter, »mach leiser.«

Dann wandte der Mann sich um und schaukelte zwei der drei Kinderwagen, die neben ihm in dem digitalen Ministudio standen. Es befand sich im Flur, außerhalb des eigentlichen Übungsraums. Die Technik hatte sich unbestreitbar weiterentwickelt, seit Chavez aufgehört hatte.

Er blickte sich in dem kleinen, gut isolierten Übungsraum um. Die Anzahl der Musiker stimmte nicht ganz. The Police war ein klassisches Trio. Wie EST, Esbjörn Svenssons Trio, das in den USA vor dem Durchbruch stand. Doch das war Jazz, ein Pianotrio. The Police war eher ein … Basstrio. Mit dem Bass im Zentrum. Ausnahmsweise.

Allerdings waren sie fünf. Trommel, Bass, Gitarre, Keyboard und Gesang. Erweitertes Trio.

Jorge Chavez war der halbe Sting. Der Bassist, nicht der Sänger. Er sang mit dem Bass.

»Ich nehme mich ein bisschen zurück«, rief er. »Aber dass du es nicht wagst, mich in einen verdammten Backgroundbassisten zu verwandeln, Jonte.«

»Bassisten sind immer Background«, rief Jonte zurück und steckte sich eine Fluppe an. »Wo fangen wir an? ›Spirits‹?«

»›Spirits In The Material World‹«, flüsterte der Sänger Robin, ein dreiunddreißigjähriger Webdesigner im Vaterschaftsurlaub, ins Mikro. »Lass es gaaanz leise anfangen, Jonte.«

Jonte winkte bekräftigend hinter der Glasscheibe.

»Pass jetzt auf diesen komischen Takt am Anfang auf, Erik«, sagte der Gitarrist zu dem Brillenträger am Keyboard. »Es ist nur scheinbar eine einfache Akkordfolge. Alles steht und fällt mit dem Takt. Spiel, als ob es Backbeat wäre. So ist die Schleife gebaut.«

Der Gitarrist, ein ehemaliger Studioprofi namens Johan, jetzt Arzt, ebenfalls im Vaterschaftsurlaub, war der Boss. Es war seine Band, er hatte die Annonce aufgegeben: ›Erfahrener Bassist für Amateurrockband mit Jazzeinflüssen gesucht, der Erziehungsurlaub hat und zwischen Jobs spielt.‹ Er bekam zwölf Antworten. Chavez wurde nach altmodischem Vorspielen ausgesucht. Für eine Amateurband. In Schweden wimmelte es von gealterten Halbmusikern der Punkgeneration, die sich an ihre geschwundenen Jugendjahre erinnerten. Die meisten seiner Mitbewerber gehörten dazu. Konnten fünf Bassläufe.

Hinterher hatte Johan gesagt: »Wo bist du mein ganzes Leben lang gewesen, verdammt?«

»Jazz«, sagte Jorge. »Kontrabass.«

»Klasse«, hatte Johan gesagt. »Aber dich hätte ich vor fünfzehn Jahren treffen sollen.«

Danach hatten sie nicht mehr viel miteinander geredet. Wenn das Zusammenspiel klappte, brauchte man keine Worte. Those who talk don’t know, those who know don’t talk.

»Ich kann das«, sagte Keyboard-Erik sauer. Er war Computertechniker von gehobenem Kaliber, ›between jobs‹, wie es in der Branche so schön hieß, in der alle zu taumeln begannen wie die Fliegen im Herbst. Wenn sich jemals einer Sorgen um die Zukunft machte, ließ er sich nach außen nichts anmerken.

»Du kannst es und du spielst richtig, und trotzdem ist es nicht ganz richtig«, sagte Johan. »Und du, Stickanpickan, das Trommelintro. Eine Sekunde Virtuosität. Mehr nicht. Es ist kein Raum für ein Show-off.«

Es zeigte sich, dass Stickanpickan in einem Nachbarhaus in der Birkagata wohnte, nur zwei Haustüren von Chavez entfernt. Es war merkwürdig, als sie sich auf der Straße begegneten und einander anstarrten. Sie waren in ein Café gegangen und bekamen richtig guten Kontakt. Es endete damit, dass Stickanpickan sagte: ›Du bist der klügste Bulle, der mir je untergekommen ist.‹ Abgesehen davon, dass er ein ungewöhnlich vernünftiger Mann war, war er ein verflucht guter Drummer, der in einer der Reggaebands gespielt hatte, die in den frühen Achtzigerjahren auf Södermalm ihr Unwesen getrieben hatten, im alten Mariahissen und in Münchenbryggeriet. Jetzt machte er dann und wann Vertretungen als Hochschullehrer, während er an seiner Doktorarbeit in Philosophie schrieb.

»Jonte«, rief Stickanpickan, »ich schlag im Intro ziemlich hart drauf.«

Jonte, einst schwedischer Juniorenmeister im Weitsprung und Produzent bei Sveriges Radio, war kürzlich gefeuert worden, als der Reichsrundfunk sein großes Sparpaket realisiert hatte. Ein Vollblutprofi an einem Minipult im schäbigen Übungsraum einer Amateurband. Er schien sich wohlzufühlen wie ein Fisch im Wasser.

»Okay«, sagte Jonte und streckte den Daumen in die Höhe. »Any time.«

Stickanpickan schlug viermal die Trommelstöcke aneinander und schickte das minimale Trommelintro auf den Weg. Der seltsame rückwärts gewandte Rhythmus setzte ein. Chavez fiel in die hypnotisch schnelle, umgekehrte Bassschleife. Robin näherte sich dem Mikro. Seine Stimme war nicht Stings Halbfalsett, kam ihm aber erstaunlich nah.

»There is no political solution / To our troubled evolution / Have no faith in constitution / There is no bloody revolution.«

Dann der Refrain. Kurze Befreiung. Ein fetziger Trommelwirbel markierte den Übergang. We are spirits in the material world. Basslauf und Gesang fielen für einen kurzen Augenblick zusammen. Blickkontakt zwischen Jorge und Robin.

»Our so-called leaders speak / With words they try to jail you / To subjugate the meek / But it’s the rhetoric of failure.«

Wieder der Refrain. Der Rhythmus gradliniger. Das sagenhafte Miteinander von Bass und Trommeln. Dieses Zusammenspiel im Rhythmus, das alle Worte übersteigt. We are spirits in the material world. Dann ein Break. Keyboard-Erik arbeitete mit mehreren Klaviaturen gleichzeitig und trieb das kurze Riff voran. »Where does the answer lie? / Living from day to day / If it’s something we can’t buy / There must be another way.«

Refrain. Langes Ausklingen am Ende. We are spirits in the material world. Are spirits in the material world. Ausklang nach weniger als drei Minuten. Effektive kleine Stücke.

Dann war Schluss. Ein kurzes, intensives, prägnantes Stück. Kein richtiger Höhepunkt, aber ein guter Anfang einer ordentlichen Session. Auch ziemlich gut gespielt. Alle schienen richtig zufrieden zu sein, als sie sich auf Sofa und Fußboden ausstreckten.

Gitarren-Johan boxte Keyboard-Erik gegen den Arm.

»Jetzt hat es gesessen«, sagte er.

»Ja«, sagte Erik. »Es ist ganz richtig. Es ist ein verdeckter Backbeat. So einfach, dass er schwer wird.«

»Oder so schwer, dass er einfach wird. Los, fahr mal ab, Jonte.«

»Warte«, sagte Jonte und wedelte mit den Händen vor seiner Nase. »Jorge, deins schreit. Es riecht nach Kacke.«

Chavez öffnete die Tür zum Glaskäfigflur und fuhr Jonte durch das zottige Haar. »Du kannst sie doch auch mal wickeln«, sagte er. »Das ist eine gute Übung.«

»Wofür?«, fragte Jonte und betätigte seine Schieber. »Für das Alter in Einsamkeit? Damit man sich selbst die Windeln wechseln kann, während man verfault?«

»Du bist der Typ, der massenhaft Kinder kriegt«, sagte Jorge. »Gib’s nur zu.«

»Du kannst mich mal«, sagte Jonte und brüllte: »Jetzt kommt es, ihr Coverclowns!«

Hinter seinem Rücken wechselte Jorge Isabels Windel. Gleichzeitig setzte die Musik ein. Tatsächlich, es hatte funktioniert. Der Introwirbel, die pseudomechanischen Synthesizerakkorde, der Bassgroove. Ein Wahnsinnsgroove, dachte er zufrieden, während er konstatierte, dass Isabel Durchfall hatte. Nicht einmal der Umstand, dass seine Finger von braunem Brei trieften, konnte die Freude beeinträchtigen, die er empfand. Die Freude an der Musik. Das Glück des Musizierens. Es gab nichts Besseres. Vielleicht sollte er Profi werden?

»Meine Fresse, stinkt das«, sagte Jonte und wedelte frenetisch mit den Händen vor der Nase.

Jorge legte Isabel zurück in den Wagen. Sie schrie nicht. Ein bisschen Schaukeln nur, und sie schlief. Als hätte sie die Musik tatsächlich im Blut. Er ging hinter Jonte zurück in den Übungsraum.

»Hör ich da ein bisschen Rauschen, du Kasper?«, sagte Johan und trank einen Schluck Bier.

»Das Rauschen ist nur in deinem Gehirn«, entgegnete Jonte und nahm einen Joint, den Robin gedreht und angezündet hatte. Er nahm einen tiefen Zug und reichte ihn weiter an Jorge.

Jorge Chavez nahm einen kleinen Zug und ließ sich von der Musik erfüllen. Ganz und gar. Das hier war das Leben.

Ausnahmsweise dachte er nicht, ›was für ein Glück, dass ich nicht im Dienst bin‹, als er den widerstrebenden Rauch einsog.

Johan klatschte in die Hände und klopfte Stickanpickan ein paar Mal auf den Kopf. Ein kurzer Trommelwirbel.

»Kommt, wir machen weiter«, rief er. »Das hier wird ein verdammt herrlicher Tag. Was haltet ihr von ›Voices Inside My Head‹«?

»Absolut«, sagte Chavez, denn das war es, was die Stimmen im Kopf schrien.