17
»Der Mann ist ja verrückt!« brüllte ich und wich dem schwirrenden Thraxter aus. »Er täuscht sich!«
»Ich kenne dich, Chaadur! Ich würde dich im Nebel der Eisgletscher wiedererkennen! Nehmt ihn gefangen! Wächter! Wächter!«
»Nein, nein, du Onker!« brüllte ich. Im gleichen Augenblick stürmten die beiden Pachaks in den Raum. Sie hatten die Schilde gehoben und die Thraxter gestreckt; ihre Schwanzklingen lagen dicht über den flachen Helmen. Wenn ich Pallan Horosh in der nächsten halben Mur nicht zu überzeugen vermochte, daß sich der Kov irrte, würden die beiden angreifen.
»Ich kenne dich, Gul! Sumbakir kennt dich! Du magst nach Ruathytu entwichen sein und dich dort den politischen Guls angeschlossen haben – vielleicht nennst du dich jetzt Horter! Bei Hanitcha dem Sorgenbringer! Ich röste mir deine Leber zum Frühstück und nage zum Abendbrot deine Knochen ab!«
Er war außer sich vor Wut. Wenn man bedachte, daß seine Frau in der Tat getötet worden war – mit ihrem eigenen Dolch durch Floy, das Fristlemädchen, das zu Esmes Chail Sheom gehört hatte –, dann hatte er ein Recht, zornig zu sein. Weil er aber ein niederträchtiger Kov war, der seine Macht vor allem dazu benutzte, anderen Schmerz und Leid zuzufügen, konnte ich keinen Funken Mitgefühl für ihn aufbringen.
Ein letzter Versuch. »Pallan Horosh!« rief ich. »Halte diesen Wahnsinnigen zurück, oder ich bin für die Folgen nicht verantwortlich!«
Ich vermochte den Satz kaum zu beenden, da schleuderte ham Feoste einen Stuhl zur Seite, der ihn behinderte, und stürzte mir mit seinem Thraxter nach. Ich mußte auf das gefährliche Mordinstrument aufpassen und gleichzeitig die Pachaks im Auge behalten. Die Wächter sahen ihren Pallan an und warteten auf seinen Befehl.
Kov Ornol ham Feoste führte schließlich die Entscheidung herbei. »Du kennst mich doch, Hennard! Ich bin der Sohn deines Cousins! Ich bin der Kov von Apulad! Der hier ist ein Gul, ein Cramph, und er nennt sich Horter ...«
Vermutlich war es mein seltsames Verhalten seit meiner Ankunft, das Horoshs Entscheidung auslöste – und die Tatsache, daß ham Feoste ein Verwandter von ihm war.
»Ergreift ihn, Wächter!«
Die Pachaks taten mir leid, als ich nun zu einem Vorgehen gezwungen wurde, das ich eigentlich hatte vermeiden wollen. Sie sanken wie vom Blitz getroffen zu Boden; der eine hatte gerade noch Zeit, ein leises Seufzen auszustoßen, bevor er starb. Jedem der beiden ragte ein Terchik aus dem Auge.
»In Havils Namen!« kreischte der Pallan entsetzt. Er begann nach weiteren Wächtern zu schreien, mit einer bebenden Stimme, die nicht mehr den rechten Tonfall zu finden wußte. Der Kov von Apulad huschte zur Tür. Er begann erst zu schreien, als er sich nach draußen in Sicherheit gebracht hatte, so sehr konzentrierte er sich auf das Laufen. Ich ließ ihn ziehen.
Zum Pallan sagte ich: »Gib mir den Bericht, dann tue ich meine Pflicht. Du wirst eine Erklärung für die toten Wächter finden müssen.« Der Pallan hörte auf zu brüllen und starrte mich verblüfft an. »Es waren gute Männer. Daß sie nicht mehr leben, ist die Schuld dieses niederträchtigen Kov – und die deine!«
»Du ... du ...« Er versuchte zu atmen, versuchte keuchend Luft zu holen. Sein Kopf steckte tief zwischen den Schultern, und er hatte beide Arme auf den Tisch gestemmt. Er starrte mich aufgebracht an, und seine Augen schimmerten rötlich. »Du ... Naghan Lamahan ... du bist ein toter Mann!«
Ich brachte den Bericht an mich. »Noch nicht – und du solltest auf dich achten ... Hennard, nicht wahr? Ein vornehmer Name, fürwahr!«
Draußen blickte ich mich hastig um. Von links näherten sich Soldaten durch das gelbe Gras. An ihrer Spitze der Kov, der noch immer seinen Thraxter schwenkte und mit lauter Stimme Befehle kreischte. Ohne seine Werstings mußte er sich ziemlich nackt vorkommen.
Der Weg zu den Obstgärten war frei; ich wandte mich also nach rechts. Der Bericht, den ich unter mein Hemd gestopft hatte, und die Pasham waren im Augenblick weitaus wichtiger als jeder noch so erfreuliche kleine Schwertkampf. Was den Kov von Apulad anging, so war der Mann ein Störfaktor, doch ich fühlte mich nicht berufen, ihn auszuschalten. Vermutlich würde er die nächste Sklavenrevolte ohnehin nicht überstehen. Bei einem solchen Ereignis halfen ihm auch die hamalischen Gesetze nicht.
Ich rannte so schnell ich konnte.
Als ich die Obstpflanzungen erreichte, hatte ich mir bereits einen Plan zurechtgelegt.
Inzwischen hatten auch einige Armbrustschützen die Verfolgung aufgenommen, und ihre Bolzen zischten durch das Laub. Ich lief im Zickzack und hastete weiter.
Die durchdringende Stimme des Kovs war noch immer zu hören. Sie klang wie die einer keifenden Frau, die die Ruhe eines Zuhauses störte. »Ich erwische dich noch, Chaadur! Du wirst dir wünschen, niemals geboren zu sein. Ich werde ...« Nun, alle seine Drohungen möchte ich an dieser Stelle nun doch nicht wiederholen. Dazu waren sie nicht originell genug.
Die Obstplantage war zur besseren Pflege der Pflanzen in weit voneinander entfernten Reihen angelegt worden. Ich mußte die gebückten Gestalten von Sklaven überspringen, die mit Unkrautjäten beschäftigt waren. Unkraut kostete zuviel Wasser, das auf einem Volgendrin sehr kostbar war. Die Verfolger blieben mir auf der Spur.
Ich hatte keine Chance, Liance zu erreichen. Der Mirvol war sicher sofort von Soldaten umzingelt worden, die jetzt nur darauf warteten, daß ich diese Richtung einschlug. Ich kann mich zwar in solchen Situationen durchaus behaupten, aber so gut ein Mann auch kämpft, letztlich kann er durch schiere Übermacht erdrückt werden.
Das Gras wurde von meinen stampfenden Füßen niedergetreten. Ich trug den Militärstiefel der Horterklasse, hoch, schwarz, blankpoliert, nicht gerade zum Laufen geeignet. Die Bäume wanderten mit hypnotischer Regelmäßigkeit an mir vorbei. Ich mußte schutzsuchend von Reihe zu Reihe hasten, um den Schützen das Zielen zu erschweren, doch schon stellten sich die Swods in breiter Front auf, um in jeder Baumgasse auf mich schießen zu können.
Als sich ein Bolzen vor mir in einen Stamm bohrte und dabei die Rinde zerfaserte, legte ich noch mehr Tempo zu und wechselte blitzschnell durch die Baumreihen, wodurch ich meinen Verfolgern kaum noch ein Ziel bot. Auf diese Weise geriet ich wieder an den Rand des Volgendrin, wo mir ein Zaun den Weg versperrte. Hinter dem Zaun lauerte der Abgrund.
Hinauf auf den Zaun. Ich warf mich herum und ließ mich auf der anderen Seite in die Tiefe. Der Saum war höchstens einen Fuß breit.
Ich blickte hinab.
Kregen lag verdammt tief unter mir.
Ein Fluß, flankiert von Bäumen und dem helleren Grün der offenen Steppe. Ich glaubte einige braune Gestalten zu sehen, aber das konnte eine optische Täuschung sein.
Ich begann an dem Steilhang hinabzuklettern, der meinen Füßen und Händen mit zackigen Spitzen und Kanten Halt bot. Immer tiefer stieg ich, ohne anzuhalten, während ich besorgt nach oben starrte und auf das erste wütende Gesicht wartete, das sich über dem Zaun sehen ließ.
Da hatte ich mich in eine verfluchte Sackgasse treiben lassen! Ich kam mir vor wie eine Fliege, die sich im Honigglas gefangen hat. Und nun wurde ich zum Kletteraffen. Ich wagte es nicht, meine Zukunftsaussichten zu berechnen.
»Beim Schwarzen Chunkrah!« sagte ich laut. »Die Cramphs erwischen mich vielleicht noch, ehe ich ganz außer Sicht bin!«
Doch schließlich sirrten nur drei Armbrustpfeile herab, dann hatte ich eine Vertiefung in der Felswand gefunden. Der Regen hatte in einer weicheren Steinschicht eine Höhle ausgewaschen. Ich krabbelte schleunigst hinein, entspannte meine Muskeln und fluchte ausgiebigst. Sobald ich den Kopf wieder ins Freie steckte, würde man zu schießen beginnen. Irgendein scharfäugiger Swod würde mich schon treffen.
Ein leichter Überhang ermöglichte mir den Blick nach unten, ohne daß ich riskieren mußte, von oben gesehen zu werden.
Der Boden schien mir keineswegs nähergekommen zu sein, doch nun konnte ich tatsächlich Tiere erkennen, die sich auf den freien Flächen dort unten bewegten. Kregische Rinder, Ordels, um einiges kleiner als irdische, mit kurzen Hörnern und unberechenbarem Temperament.
Der Schatten des Volgendrin, der sich wie ein dunkles Tuch über das Terrain bewegte, schien die Wesen in die Flucht zu schlagen; sie galoppierten dahin und versuchten verzweifelt in der Sonne zu bleiben.
Ich muß zugeben, daß ich meine Lage nicht ohne philosophische Bitterkeit überdachte. Ich ergreife nicht oft die Flucht. Der alte Dray Prescot wäre einfach stehengeblieben, hätte sein großes Langschwert gezückt und den Kampf aufgenommen – bis er einen Schlag auf den Kopf erhielt, die Glocken von Beng Kishi hörte und seinen Arsch in den Eisgletschern von Sicce erfror.
Nun, was hatte ich denn nun erreicht, indem ich geflohen war, um den kostbaren Bericht und die Pashamfrucht in Sicherheit zu bringen?
Meine jetzige Lage war praktisch hoffnungslos, wußte ich doch, was als nächstes kam. Ein Voller würde am Klippenrand entlangschweben, begleitet von einigen Gerawin, und man würde mich einfach mit Pfeilen spicken wie einen Hammelbraten mit Speck.
Der Stand der Sonne hinter der fliegenden Insel verriet mir, daß der Abend noch zu weit entfernt war, um auf den Schutz der Dunkelheit zu hoffen.
Bei meinen Berechnungen übersah ich allerdings den Rachedurst des Kov von Apulad.
Schon wenige Murs später erschien ein Voller in meinem Blickfeld. Er befand sich etwa zehn Fuß unter mir. Ich wich zurück. Vielleicht hatte ich doch noch eine Überlebenschance!
Aber schon war ich entdeckt.
Der Voller rückte näher. Gerawin hielten sich zum Angriff bereit; ihre purpurnen und schwarzen Flugfedern flatterten im Wind. Armbrustschützen drängten sich auf dem Deck des Vollers. Sie hatten kleine Brustwehren errichtet, die die Männer meinen Blicken entzogen, als der Voller in gleiche Höhe mit mir kam; ich vermochte schließlich nur noch die Spitzen der Pfeile zu entdecken, die durch die Schießscharten lugten.
Aus!
Ich knurrte, hob die Hand und zog das Langschwert. Auch wenn ich nichts bewirkte, ich mochte wenigstens nicht ohne Waffe in der Hand sterben. Es handelte sich nicht um eine echte Krozairwaffe; diese Klinge war von Naghan der Mücke mit meiner Hilfe in der Schmiede von Esser Rarioch gefertigt worden, eine hervorragende Waffe nach Krozairvorbild, vollkommen ausbalanciert und mit zwei sehr scharfen Schneiden versehen.
Ich faßte das Schwert mit dem Griff des Krozairkriegers, eine Hand am Quersteg, die andere am Knauf, so daß ich eine große Hebelwirkung erzielen konnte. Dann stellte ich mich am Eingang der kleinen Höhle auf und wappnete mich zum letzten Kampf.
Das Schwert senkrecht vor mich gestellt, konnte ich die heranzischenden Pfeile mit schnellen Handbewegungen zur Seite schlagen. Die Männer schossen, doch die Bolzen schlugen neben mir in den Fels. Steinsplitter spritzten und fielen in die Tiefe.
Von Bord des Vollers tönte plötzlich eine Stimme herüber.
»Chaadur, der du dich Naghan Lamahan nennst! Du hast keine Chance! Ergib dich dem Gesetz, wie es sich gehört!«
Ich überdachte diese Aufforderung. O ja, ich, Dray Prescot, versuchte mir darüber klar zu werden, ob ich in die Gefangenschaft gehen und auf eine spätere Fluchtchance hoffen sollte. Der Kampf der beiden Dray Prescots in meiner Brust fiel ziemlich heftig aus, das kann ich Ihnen sagen.
Zuerst versuchte ich bei meiner Geschichte zu bleiben. »Ich bin Naghan Lamahan! Der verrückte Kov muß sich irren. Wer ist dieser Chaadur überhaupt?«
»Ich kenne dich, Yetch!« Das war die Stimme des Kov; dem Klang nach mußte ihm bereits der Schaum vor dem Mund stehen. »Glaubst du, ich könnte dich jemals vergessen?« gurgelte er, halb erstickt vor Wut.
Er hätte noch weitergewütet, doch nun ertönte eine andere Stimme, gefolgt von Geflüster, und schließlich hörte ich gar nichts mehr. Offenbar versuchte man den Kov zu beruhigen, damit der mich nicht zornig machte. Ich hätte am liebsten lauthals gelacht.
»Ergib dich, Chaadur!«
Der Voller kam langsam näher. Noch ein Fuß, dann konnte ich den Abgrund überspringen.
»Erst wenn der verrückte Kov im Irrenhaus sitzt!«
Neue Rufe und Geflüster; der Voller kam immer näher, belauert von den wachsamen Gerawin ...
»Du hast nicht die geringste Chance, Chaadur!«
Meine Gegner hatten erkannt, daß ich keinen Bogen bei mir hatte, und begannen einige Brustwehren herunterzunehmen. Ich entdeckte den Hikdar, der zu mir herüberbrüllte, die dichthockenden Bogenschützen und Kov Ornol ham Feoste, der den Thraxter drohend in meine Richtung schüttelte.
Der Voller kam immer näher ...
Ich durfte die Gerawin nicht vergessen. Sie erkannten bestimmt, daß ich mich in einer aussichtslosen Lage befand, daß ich nicht fliehen konnte. Dennoch entsprach es ihrer Natur, in der Wachsamkeit nie nachzulassen; sie waren bestimmt bereit, beim geringsten Anlaß anzugreifen.
Ich beobachtete sie eine Zeitlang. Als ich den Kopf senkte, sah ich zwei Tyryvols von unten heraufkommen. Weit dahinter erblickte ich andere Flugwesen, die in die Tiefe vorstießen und dabei Flügel ausbreiteten, deren geringe Spannweite ich im ersten Augenblick für einen optischen Irrtum hielt. Die Wesen trugen keinen Reiter auf dem Rücken. Ihre Flügel waren kurz, fächerten jedoch unmittelbar hinter dem Flügelansatz zu erheblicher Breite aus. Die Geschöpfe schienen reglos in der Luft zu schweben. Lange peitschenartige Schwänze verjüngten sich zu Speeren, die starr nach hinten gerichtet waren.
Sie näherten sich einer großen, offenen Stelle zwischen den Bäumen, wo sich das Vieh – wilde Ordels – in einem Gewirr wogender Rücken und emporgereckter Hörner gesammelt hatte.
Mein Blick zuckte wieder hoch, ehe das Ereignis dort unten richtig in Gang kommen konnte: ich blickte auf die Gerawin und wieder auf den Voller. Das Flugboot bewegte sich nicht mehr. Es war zu weit entfernt: ohne Anlauf konnte ich nicht hinüberspringen.
Die Männer an Bord hatten sich von mir abgewandt. Die Gerawin flogen hoch, kamen zusammen und bildeten aus dem Gewirr die V-Formation ihrer Patrouillen.
Niemand brauchte mir zu sagen, was dort unten vorging; immerhin war ich Amak des Paline-Tals, das nördlich der Volgendrins im Schatten der Berge des Westens lag.
Ich hörte energische Stimmen aus dem Voller; offenbar geriet man sich dort in die Haare. Ich brauchte nicht lange zu raten.
Kov Ornol ham Feoste erschien an der Reling. Er hielt eine Armbrust in den Fäusten. Kaltblütig zielte er auf mich. Als sich der Bolzen löste, war ich bereit und schlug ihn zur Seite. Der Voller setzte sich in Bewegung.
Der Hikdar rief: »Der bleibt uns erhalten, Kov! Wir sind bald wieder hier! Nach unten kann er nicht klettern! Und steigt er nach oben ...«
Der Kov von Apulad hatte seine Waffe neu geladen. Er war nicht besonders schnell. Er gab einen zweiten Schuß auf mich ab, den ich wieder abwehrte. Der Voller stieg nun schneller empor und folgte den Gerawin, die über den Volgendrin flogen. Das Flugboot entschwand meinen Blicken.
Ich blieb allein zurück, in einer Falle, aus der es kein Entrinnen gab. Es blieb mir nichts anderes übrig, als auf die Rückkehr der Soldaten und des Gesetzes von Hamal zu warten.
Aber ehe ich das tat, wollte ich mir die Falle doch noch einmal ansehen. Ich konnte hinabsteigen und von der Unterseite des Volgendrin in die Tiefe stürzen. Ich konnte nach oben steigen und mich dort von den Wächtern gefangennehmen lassen, sobald ich über den Zaun kletterte.
Tiefe Glockentöne erklangen. Gleich darauf übernahmen andere Volgendrins den Alarm. Die Luft hallte wider von den tiefen Tönen. Im Paline-Tal hatten wir ebenfalls unsere Alarm-Gongs gehabt, und Wächter mit Hämmern und kräftigen Armen.
Als ich dann mit zusammengekniffenen Augen in den grellen kregischen Himmel blickte, sah ich die näherkommenden schwarzen Flecken. Diese Seite des Volgendrin lag im Licht der beiden Sonnen. Die Helligkeit des Himmels war daher kaum erträglich. Ja. Ja, dort flogen die Wilden aus den Unbekannten Gebieten! Sie hatten viele Namen, meistens obszöne Schimpfnamen. Meine Faust ballte sich um das Langschwert. Die Wesen dort oben ähnelten jenen, die das Paline-Tal zerstört hatten. Sie waren in den seltensten Fällen menschenähnlich; die meisten hatten eine gewisse Ähnlichkeit mit den gefürchteten Crofermwesen, die in den Randbezirken der Stratemsk von Turismond leben.
Mein Platz war an der Seite der Männer, die ihr Leben und ihren Besitz gegen die Wilden verteidigten. Statt dessen hockte ich hier in einem Loch in der Flanke einer fliegenden Insel!
Mit einem Makki-Grodno-Fluch auf den Lippen spuckte ich in die Hände, verstaute das lange Schwert auf meiner Schulter und setzte meine Kletterei fort.
Ich kletterte nach unten.
Ich faßte den Entschluß, mir den Kampf der Hamaler gegen die Wilden der Berge aus dem Kopf zu schlagen; es war in diesem Augenblick wichtiger, daß ich meine Suche nach dem Geheimnis der Voller fortsetzte, eine Suche, die immerhin Vallia nützen sollte.
Nachdem ich nun eine zweite Chance erhalten hatte, bewegte ich mich mit äußerster Vorsicht. Ich sah mich vor, damit ich mich an den spitzen Vorsprüngen nicht verletzte. Meine Stiefel litten allerdings sehr bei der Kletterei, und ich streifte sie schließlich ab und ließ sie in die Tiefe fallen. Es dauerte wohl verflixt lange, ehe sie unten anlangten.
Ich sah eines der geheimnisvollen Flugwesen auf einen der Stiefel zustürzen. Es verfehlte sein Ziel und segelte dann weiter; die kleinen Flügel, die einen stämmigen Ansatz an den Schulterblättern hatten, waren starr ausgestreckt.
Wenn das die Exorcs waren, von denen die Soldaten angewidert gesprochen hatten, schien es sich um ziemlich ungeschickte Wesen zu handeln.
Ich legte dreihundert Fuß zurück. Zuletzt wurde mein Abstieg außerordentlich schwierig, da der Überhang der Insel zunahm. Im Laufe der Jahre waren hier alle scharfen Kanten und Vorsprünge abgeschliffen worden, und ich mußte mir schließlich auch den kleinsten Spalt zunutzemachen und Knie, Ellbogen und Fingerspitzen zu Hilfe nehmen, um mich festzukrallen. Von Zeit zu Zeit mußte ich innehalten, um mir mit meinem alten Seemannsmesser einen Griff für die Hand zu schaffen. O ja, ich kämpfte mich verbissen voran, doch meine Ausdauer wurde schließlich belohnt. Der Schweiß rann mir über die Stirn. Meine Arme fühlten sich an, als wären sie längst aus den Schultergelenken gerissen worden und würden nur noch durch das Hemd am Körper gehalten. Dieses Hemd, das grüne Cape, der dunkle Mantel – alles war zerrissen und mit Felsstaub und den schimmeligen Ausscheidungen der Woflovols bedeckt, die in jedem Spalt nisteten.
Doch endlich sah ich, worauf ich gewartet hatte.
Die gewaltige Masse aus Ranken und Ästen, die unter den Volgendrins wuchs und in unserem Falle sogar zwei Inseln miteinander verband, war hier am Rand nur ein dünner, brüchiger Bewuchs. Die meisten Stränge waren abgestorben. Ich mußte mich also sehr vorsehen, daß ich mich nicht auf einen toten Ast verließ. Die kregische Oberfläche wäre ein außerordentlich harter Landeplatz gewesen. Doch sehr schnell nahm die Rankenmatte an Dichte zu, und frische Pflanzen mit grünen Blättern tauchten auf, einige sogar mit orangeroten und schmutzigweißen Blüten. Die Wurzeln dieser Vegetation mußten mehrere Fuß tief im Fels stecken, um genug Nahrung und Feuchtigkeit aus den Ritzen zu ziehen.
Nun kam ich viel schneller voran.
Auch Tiere bewohnten die Ranken. Ich focht einen kurzen, energischen Kampf mit einem Spinnenwesen, das Saugnäpfe an den Beinen hatte. Das Gewirr der Äste wurde immer dichter, und die Insekten machten sich immer störender bemerkbar. Endlich glaubte ich mich am Ziel. Später werden Sie erfahren, was sich noch in diesem Dschungel unter den Volgendrin befand, doch im Augenblick war ich an einer weiteren Erforschung nicht interessiert.
Ich suchte mir einen soliden Ast, dick wie der Körper eines Rostons, und arbeitete daran, bis ich mir ein bequemes Nest geschaffen hatte. Dann setzte ich mich in meine luftige Zuflucht, blickte hinab und sah die Oberfläche tief unter mir vorbeiwandern; die stetigen fünf Knoten führten uns über Flüsse, Seen und Wälder, trugen uns in südöstlicher Richtung auf der weiten Kreisbahn der Volgendrin dahin.
Die ersten paar Dutzend Fuß waren schnell beisammen; ich zerrte die Ranken einfach zu mir heran und prüfte jedes Stück sorgfältig. Einige Pflanzen ließen sich mit einiger Mühe mitsamt den Wurzeln herausziehen. Ich kroch durch das undurchdringliche Gewirr, meistens mit dem Rücken nach unten, und hackte mit Dolch oder Messer drauflos, um die gewünschten Stücke freizubekommen. Mein »Seil« wurde immer länger. Ich legte schließlich meine Sachen ab, bis ich nur noch einen blauen Lendenschurz trug. Langschwert, Hemd, Cape, Rapier und Mantel wurden zusammengerollt und am Ende der Ranke festgemacht.
Dann senkte ich mein Werk in die Tiefe, bis die lange Ranke im Wind baumelte. Zurück an die Arbeit; weitere Stücke wurden abgeschnitten, herangeholt und festgebunden, auf daß sie das Seil verlängerten. Dabei verwendete ich Seemannsknoten; ich sorgte mich nicht etwa darum, daß die Knoten aufgehen könnten; vielmehr hatte ich Angst, daß doch ein Strang zu dürr war und brechen könnte.
Die Länge mußte ich sorgfältig berechnen. Wenn sich das Bündel in einem Baum verfing, war ich nicht nur meine wertvolle Habe los, sondern die Ranke mochte an jeder beliebigen Stelle reißen.
Endlich steckte ich Dolch und Messer fort – keines von beidem war gebrochen, wofür ich Zair dankbar war – und wickelte mir ein etwa fünf Faden langes Rankenstück um die Schultern.
Dann tat ich einen tiefen Atemzug.
Tausend Fuß, die ich langsam in die Tiefe stieg, während meine Füße sich um die Ranke krampften! Ein weiter Weg. Ein verdammt weiter Weg! Doch tief unter mir schwankte und kreiselte mein Bündel, scheinbar frei in der Luft fliegend, da die Ranke auf diese Entfernung kaum noch sichtbar war.
Ich kletterte verbissen tiefer und tiefer. Dabei atmete ich immer heftiger; Schweiß bedeckte meinen Körper. Ich zog die Luft tief in die Lungen und legte immer öfter eine Pause ein. Der Wind ließ mich herumschwingen. Ich kreiste in schwindelnden Pirouetten und flehte innerlich, daß die Knoten über mir halten würden. Ein Rostonstamm ist ziemlich dick, doch immerhin belastete ich den Strang sehr. Immer weiter stieg ich hinab, und der Boden hob sich mir langsam entgegen.
Wieder pausierte ich und zerrte große Mengen Luft an meinen aufgerissenen Lippen vorbei in die Lungen, fuhr mir mit dem Handrücken über Stirn und Augen und starrte hinab, betrachtete die Landschaft.
Bäume, ein Fluß, braunrückige wilde Ordels, Gras, immer wieder Bäume. Ich wollte mir den richtigen Landeplatz aussuchen. Einige Fuß tiefer, und meine Beine wickelten sich um das Bündel. Ich hob den Kopf. Was für ein monströser Anblick! Ein massives ovales schwarzes Gebilde, frei am Himmel schwebend, sich dem Zug der Schwerkraft widersetzend! Volgendrin!
Ein ungeheures Gewicht, das sich leicht wie eine Feder durch die Luft bewegte.
Ich bemerkte den Wind auf meinen Wangen, blickte schräg nach vorn und suchte mir eine geeignete Stelle aus. Der Knoten, mit dem ich die Ranke von meiner Schulter mit dem Hauptstrang verband, wurde sorgfältig geknüpft. Ich wollte nicht noch im letzten Augenblick einen verhängnisvollen Fehler machen. Das Bündel wurde abgeschnitten. Ich hielt mich fest, bis wir über einen Baum getrieben worden waren, dann ließ ich die fünf Faden hinab.
Das Ende berührte den Boden nicht. Der Winddruck trieb die Ranke zur Seite. Ich fluchte, konnte aber nichts dagegen tun. Ich mußte hinab ...
Ich konzentrierte mich dermaßen intensiv auf den Rest der Ranke, auf mein Bündel und den vorbeiziehenden Boden, daß mich der Angriff der Exorcs völlig überraschte.
Mein Kopf ruckte hoch.
Ein Wesen wie eine Katze, etwa so groß wie ein Schäferhund, mit grüner lederiger Haut, Krallen, spitzen, stachligen Ohren, einem klaffenden roten Maul, bewehrt mit vier mächtigen Reißzähnen und Augen wie roten Schächten, warf sich wütend auf mich. Ich hob den linken Arm, und das Geschöpf wirbelte kreischend zur Seite. Ich war erstaunt, in meiner Faust den linkshändigen Dolch zu entdecken.
Die Flügel des Exorcs wirkten geradezu verkümmert. Dicke Stränge sprießten beiderseits des Rückgrats unterhalb der Schulterblätter, die von ihnen ausgehenden Flügel verästelten sich fast wie ein Hirschgeweih. Das Geschöpf konnte nicht zu mir emporfliegen. Es segelte kreischend davon, und ein zweites Wesen folgte zischend. Ich sah die peitschenähnlichen Schwänze, die mit Widerhaken versehen waren, zum Zuschlagen geringelt, doch die Entfernung war zu groß.
Die Exorcs waren bloße Gleitflieger; sie konnten sich von den Volgendrins in die Luft stürzen, vermochten aber nicht zurückzukehren. Damit war die Bemerkung der Männer über die »Kühe« erklärt.
Ich packte das Seil fester, steckte mir die Main-Gauche zwischen die Zähne und rutschte den Rest des improvisierten Seils hinab. Jetzt wollte ich so schnell wie möglich festen Boden unter den Füßen haben.
Fast wäre ich noch an einem Baum gescheitert, doch ich stemmte mich mühsam wieder hoch, streckte die Beine waagrecht aus und kam gerade noch darüber hinweg.
Die Lichtung war zu Ende, doch schon tat sich eine andere auf. Obwohl meine Geschwindigkeit nur fünf Knoten betrug, hatte ich das Gefühl, über den Boden dahinzurasen. Ein Fluß erschien und verschwand wieder. Ich ließ mich noch weiter hinabsinken und bereitete den Absprung vor. Eine innere Stimme riet mir, mich zu entspannen. Unten glitt Gras vorbei. Ein wilder Ordel raste erschreckt vor mir davon, dann eine ganze Herde, die in panischem Entsetzen davonstob. Ich war inzwischen fast unten, doch die blöden Viecher wollten mir keinen Platz machen! Plötzlich kam mir der Boden ruckhaft entgegen. Ich sparte mir den Blick nach oben; irgendwo war die Ranke gerissen. Ich stürzte ab! Etwa vier Fuß tief stürzte ich und landete auf dem Rücken eines galoppierenden Ordels.
Das Wesen spürte mich auf seinem Rücken und drehte durch. Ich klammerte mich an seiner Mähne fest. Wie ein bockendes Jungpferd trug es mich ziellos über die Lichtung.
Bäume tauchten vor mir auf. Meine Hände verkrampften sich noch mehr, ich nahm die nackten Hacken zusammen, brüllte dem Ordel etwas zu und zog ihn an der Mähne von den Hindernissen fort. Im nächsten Augenblick flog ich durch die Luft, überschlug mich und rollte Hals über Kopf durch das Gras, erschöpft und zerschunden, doch am Leben!
Ich richtete mich auf.
Die Ordels hatten sich zwischen den Bäumen in Sicherheit gebracht. Sobald sie zum Grasen wieder hervorkommen mußten, konnten sich die Exorcs von neuem auf sie stürzen. Ich blickte auf. Der Volgendrin war bereits ein Stück weitergezogen. Schon sah er aus wie eine schwarze Wolke am Himmel; andere fliegende Inseln waren links und rechts erkennbar und verschafften mir endlich einen Eindruck von den wahren Größenverhältnissen.
Ich hielt es für geraten, mich schleunigst wieder anzukleiden, das Cape überzustreifen, den Mantel locker über den linken Arm zu nehmen und mich um Rapier und Main-Gauche zu kümmern und schließlich das Langschwert im Krozairgriff zu packen.
Und gerade noch rechtzeitig!
Die Exorcs schwebten zum Angriff heran.
Zischend bestürmten sie mich mit aufgerissenen Mäulern; ihre rubinroten Augen schimmerten wie Höllenschlünde.
Das Langschwert wurde mühelos mit ihnen fertig; die Klinge trennte Flügel, Köpfe und Beine ab. Vier Beine hatten diese Wesen, lederige Beine mit gefährlich gekrümmten Klauen. Ich mußte Wunden hinnehmen; meine Kleidung wurde zerrissen, Blut strömte über meine Brust. Doch das Schwert schuf einen Ring aus Stahl um meinen Kopf, und tote und verwundete Exorcs bedeckten bald den Boden. Ich sah sie auf allen vieren davonhuschen, wie Katzen nach dem Kampf mit einem Hund; sie hasteten zu den monströsen »Kühen«, die herbeigeflogen kamen und diese Geschöpfe aufnahmen. Dies waren große Tiere, die wirklich fliegen konnten und mit diesen kleinen Räubern in Gemeinschaft lebten. Die Exorcs klammerten sich an der Unterseite ihrer »Mutterschiffe« fest, die breiten Flügel rauschten, und schon kehrten die ungleichen Paare zu den Nestern unter den Volgendrin zurück, von wo aus die Kleinen wieder starteten, um neue Beute zu finden. Die Großen folgten ihnen, um sich mit an der Beute schadlos zu halten.
Blutbesudelt, zerkratzt, erschöpft, so sah ich den Schwarm der Exorcs endlich dünner werden. Der Volgendrin war schon zu weit entfernt; sie griffen nun eine Gruppe kurzhörniger Rinder auf der nächsten Lichtung an. Ich richtete die Spitze meines Langschwerts auf den Boden und stützte mich keuchend auf den Knauf.
Ein vierarmiger Djang hätte sich an meiner Stelle vermutlich frisch und kampfbereit gefühlt. Ich aber, das muß ich zugeben, war völlig erschöpft. Die Kletterpartie an der Ranke hatte mich ausgelaugt, der anschließende Kampf zehrte die letzten Kräfte auf. Schließlich bin ich auch nur ein Mensch.
Ich hörte ein Rauschen und hob den Kopf. Es war, als hätte sich mir ein ganzer Volgendrin in den Nacken gesetzt.
Die Gerawin taktierten wirklich sehr gekonnt.
Sie landeten in einem Ring um mich.
Sie besaßen Armbrüste. Ihre Dreizacke schimmerten im Sonnenlicht.
Der Anführer näherte sich mit wehenden Federn.
»Du kämpfst gut, Dom.«
»Aye«, sagte ich und ärgerte mich über den keuchenden Ton meiner Stimme. »Möchtest du herausfinden, wie gut ich kämpfe?«
»Ich glaube nicht. Wenn du es vorziehst, möchte ich dich lieber mit zwanzig Pfeilen spicken!«
»Das wäre sicher besser für dich.«
Er kicherte. Die Gerawin sind gute Kämpfer, geschmeidig und raubtierhaft. Aus unerfindlichen Gründen halten sie Tyryvols für die besten Flugtiere Havilfars. Meine Djangs und ihre Flutduins waren da völlig anderer Meinung.
Sie griffen von vorn an, und ich hob das Langschwert, bereit, einigen Gerawin die Köpfe abzuschlagen. Die Dreizacke bewegten sich, wurden aber zurückgezogen. Der Anführer brüllte: »Genarnin der Chank!«
Behäbig drehte ich mich um. Die Eisenglieder schlugen mich zu Boden. Die Ketten umschlangen mich. Das Langschwert wurde davongewirbelt. Ich hockte auf Händen und Knien, und Kette um Kette wickelte sich um mich. Dann spürte ich das Gras an der Wange. Ich begrüßte die Avancen Notor Sans, doch nur um vor mir selbst zu verbergen, wie fürchterlich dumm und einfältig ich gewesen war.