19. Kapitel
Während des ganzen Fluges war es nicht dunkel geworden, und sie landeten am frühen Abend in Newark International. Es regnete. Carmen hatte über Skyphone telefoniert. Ein Wagen würde sie erwarten. Beim Zoll wurden sie getrennt. Sie wurde durchgewinkt und verlangsamte nicht einmal ihre Schritte. Bei Ross schlug einer der Hunde an, die die Beamten am Gepäck der Ankommenden auf und ab führten. In einem Nebenraum musste er sich erst bis auf die Unterwäsche ausziehen und saß dann herum und sah zu, wie Uniformierte mit Latexhandschuhen seine Tasche und seine Sachen durchwühlten. Das Taschenfutter seiner Hosen ließen sie noch einmal von dem Hund beschnüffeln. Ross wusste, dass es sinnlos war, sich zu beschweren, und nach den elf Tagen in französischer Gefangenschaft konnte er die paranoiden Autoritäten seines eigenen Landes eine halbe Stunde lang gelassen ertragen. Alles, was ihn störte, war, dass er sich nicht von Carmen verabschiedet hatte. Nach vierzig Minuten durfte er sich anziehen und einpacken. Zu dem Beamten, der ihm dabei zusah, sagte er, schön, wieder zu Hause zu sein. Der Mann zeigte keine Reaktion. Man sah ihm an, dass er seinen Job schon lange machte.
Als Ross aus dem Zollbereich kam und sich in der kleinen Ankunftshalle umsah, fielen ihm sofort drei junge Männer auf, die alle Menschen in ihrer Umgebung überragten. Anglos in teuren, dunklen Anzügen mit Soldaten-Haarschnitten: unübersehbar Hausers Leute. Dann war Carmen noch in der Nähe; sein Herz übersprang einen Schlag. Gleich darauf sah er sie. Sie saß mit dem Rücken zur Fensterfront hinter den Männern, bei einem Wagen mit ihrem Gepäck. Ross durchquerte schnell die Halle. Die Männer machten sich schon bereit, ihm den Weg zu blockieren, als ihnen klar wurde, dass er es war, auf den sie warteten. Carmen erhob sich nicht, als er zu ihr trat; sie sah zu ihm auf und fragte gelassen: »Was war?«
Er packte seine Tasche auf den Gepäckwagen. »Drogen.«
Sie lachte, und er lachte mit ihr, weil er den Eindruck hatte, dass sie etwas demonstrierte. Dann wurde sie offiziell.
»Gentlemen, das ist Mr. Walter Ross. Ray Nash, Duane Young und Mike Stills.«
Ross dachte, einer fehlt. »Hi. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Niemand machte Anstalten zum Händeschütteln. Er spürte, wie sie ihn taxierten. Männer leben in Hierarchien. Wenn sich die Zahl der Mitglieder ändert oder die Zusammensetzung, sortieren sie sich und die anderen neu ein; nach ein bisschen Gerangel wissen sie instinktiv, wem sie sich unterwerfen müssen und wer nach ihnen kommt. Auch wenn sie annehmen mussten, dass Ross ein Profi war, weil man ihm die Tochter eines ihrer Bosse anvertraut hatte, und obwohl er älter war als sie (als Soldaten waren sie gewohnt, Seniorität zu respektieren) wusste Ross, die jungen Männer würden ihn bei nächster Gelegenheit herausfordern.
Carmen erhob sich. Ross fragte: »Wohin fahren wir?«
»Manhattan.«
Young sagte schroff, ohne die Verbindlichkeit eines Untergebenen: »Nein, Miss, Sie fahren nach Long Island.«
Sein Ton und sein Auftreten alarmierten Ross. Wirkte Carmens Zauber nicht bei Hausers Männern? Warum nicht? Oder meinten sie ihn? War das schon die Herausforderung? Jetzt war Eile geboten. Er wollte nicht, dass sich Carmen auf eine Kraftprobe einließ.
Er sagte: »Sie – welcher sind Sie?«
»Young.«
»Young was?«
»Young, Sir!«
Ross dachte, hey, es funktioniert. »Duane richtig?« Doo-wayne. Er ließ Young Louisiana hören, den Hinterwäldler aus den Südstaaten, stur und tückisch. »Sie bringen uns nach Manhattan, Junge, oder Sie fahren das Gepäck nach Long Island.«
In Youngs dummem Gesicht begannen Muskeln zu arbeiten. Er hatte keine Übung in schnellen Entscheidungen. Ross sah Carmen an. »Wir nehmen ein Taxi.«
Als sie sich in Bewegung setzen wollten, versperrte ihnen Nash den Weg. »Miss Whittaker!«
Ross fragte: »Und wer sind Sie?«
»Ray Nash, Sir.«
»Treten Sie zwei Schritte zurück, Ray.« Nash war fast so groß wie Carmen. »Rede ich mit Ihnen oder mit Young?«
»Reden Sie mit mir, Sir. Wir dürfen Miss Whittaker auf keinen Fall unbegleitet lassen. Befehl von Colonel Hauser. Wir sollen sie nach Long Island bringen.«
»Haben Sie auch Befehl, sie nicht nach Manhattan zu bringen?«
»Äh, nicht ausdrücklich, Sir.«
»Gut. Dann machen Sie sich weiter keine Gedanken, Ray. Ich trage die Verantwortung.«
Nash gab nicht auf. Er rief beschwörend: »Aber das ist nicht möglich, Sir!«
Young trat dicht an Ross heran und sagte halblaut: »Wenn ich meinen Job verliere, lege ich dich um.«
Ross sagte: »Ich werde auf dich warten.« Eine Sekunde lang glaubte er, dass Young ihn angreifen würde, aber der war ein disziplinierter Soldat und hatte sich im Griff. Am Ausgang standen zwei Nationalgardisten. Wenn er Ärger machte, würde er festgenommen, und wenn er, wie Ross annahm, bewaffnet war, würde er stundenlang erklären müssen, warum er auf einem Flughafen eine Waffe trug, aber keine Marke oder einen anderen offiziellen Ausweis hatte.
Carmen war schon auf dem Weg. Ross eilte hinter ihr her. Außerhalb des Gebäudes war es überraschend kalt, und es regnete in Strömen.
Auf der Fahrt saßen sie schweigend nebeneinander und sahen durch die beregneten Fenster in die vorzeitige Dämmerung. Irgendwo vor ihnen musste es einen Unfall oder eine Baustelle geben, denn das Taxi kam nur langsam voran. Ross störte sich nicht daran. Er hatte es nicht eilig. Einmal wandte er sich um und versuchte, durch die beschlagene Heckscheibe zu sehen, wer hinter ihnen war. Er glaubte, einen großen Mercedes Benz zu erkennen; Hausers Männer.
Ross fragte: »Sind die alle so?«
»Die meisten.«
Ehe sich die Stille zwischen ihnen wieder verdichten konnte, fragte er: »Wohin fahren wir?«
»Zu meinem Vater.«
»Warum willst du nicht nach Long Island?«
»Warst du mal da draußen?« Ihre Laune hatte sich seit der Unterhaltung im Flugzeug nicht gebessert. »Das ist am Ende der Welt, noch hinter Amagansett. Sibirien. Die laden mich dort ab und vergessen mich, und ich komme da nie wieder weg. Nein. Wenn schon New York, dann Manhattan. Mein Vater unterhält am Central Park ein paar Apartments für Klienten von außerhalb, damit sie nicht in ein Hotel müssen. Eines davon will ich. Und Geld und Kreditkarten. Ich brauche ein komplettes neues Outfit; fast alles für mich muss maßgeschneidert werden. Und ein Auto.«
»In Manhattan fährst du besser Taxi.«
»Einen gottverdammten Range Rover!«
»Einen Range Rover. Okay.«
Nach einer Weile fragte sie: »Was bekommst du?«
»Tausend pro Tag.«
Sie schüttelte angewidert den Kopf und sah wieder aus dem Fenster in den Regen, wo die Streben der Hochstraße vorbeizogen. Sie brauchten zwanzig Minuten bis zum Holland-Tunnel und noch einmal zehn, bevor sie im Häusergebirge Manhattans wieder an die Oberfläche kamen. Eine Weile schaukelte das Taxi scheinbar orientierungslos durch TriBeCa und SoHo, dann trieben sie langsam, wie unter Wasser, auf einer der Avenues im dichten Verkehr nach Norden. Ross hatte nicht das Gefühl, wieder daheim zu sein. Sein New York lag auf der anderen Seite des East River, und selbst Jersey City und Newark waren ihm vertrauter als Manhattan. Südlich der Hundertzehnten hatte er geschäftlich nie zu tun, und wenn er dort privat unterwegs war, was selten vorkam, dann mit Carol und wie ein Tourist.
Auf einmal waren sie da. Das Taxi hielt vor dem imposanten Portal eines Gebäudes, dessen oberste Stockwerke in den Regenwolken verschwanden. Ross hielt Carmen zurück, als sie aussteigen wollte, denn er hatte nicht genug Geld, um das Taxi zu bezahlen. Sie überließ ihm ihre Handtasche und sprang mit wenigen langen Schritten durch den dichten Regen in den Schutz des Eingangs. Er bezahlte den Fahrer durch das Seitenfenster des Wagens. Bis er den Bürgersteig überquert hatte, waren Schultern und Rücken seines Jacketts durchnässt, und kaltes Wasser lief ihm aus den Haaren in den Kragen.
Carmen wartete in der monumentalen Eingangshalle. Um sie herum standen die Männer, die sie am Flughafen abgehängt hatten. Die drei beobachteten, wie Ross ihnen entgegenkam. Er konnte ihre Feindseligkeit aus der Entfernung spüren. Als er bei ihnen ankam, hielt er Carmen wortlos die nasse Tasche hin. Die jungen Männer sahen verächtlich auf ihn hinab; er musste ihnen jämmerlich erscheinen, frierend, mit angeklatschten Haaren und nassen, formlosen Klamotten, wie er eine Damenhandtasche apportierte. Ross achtete nicht auf sie. War jetzt ein passender Moment, um sich zu verabschieden?
Komm noch mit nach oben, Walter.
Hatte sie zu ihm gesprochen? Oder bildete er sich das nur ein? Im nächsten Moment war sie mit ihren drei Bewachern auf dem Weg, und Ross lief, wie an Fäden gezogen, hinter ihnen her.
Ein Lift katapultierte sie in den dreißigsten Stock und in eine andere hallenartige Lobby. Ein vierter von Hausers Soldaten empfing sie an der Fahrstuhltür. Auf der anderen Seite der Lobby, gegenüber den Fahrstühlen, standen hohe Türen zu einem festlich erleuchteten Saal halb offen. Ross hörte das vielstimmige Geraune einer größeren Menschenansammlung und einen Redner, der über eine Lautsprecheranlage einen Vortrag hielt. Am Eingang standen noch zwei von Hausers Truppe, ein junger Mann und eine stämmige junge Frau, die sich beide bemühten, zivil zu erscheinen. Carmens Eskorte wandte sich nach links vom Saaleingang weg und lotste sie rasch durch die Lobby, und durch andere offene Türen in einen großen Raum zu einer Sesselgruppe um einen niedrigen Tisch, weit entfernt vom Eingang. Ross blieb an der Tür zurück. Er sah sich um. Der Raum war fensterlos und trübe beleuchtet; ein kleiner Saal, wenn der Abstand zwischen der vertäfelten Decke und dem rostroten Teppichboden größer gewesen wäre. Etwa dreißig Personen, überwiegend Männer, saßen und standen in kleinen Gruppen herum. Ross beobachtete, wie wieder einmal alle, Carmen nachsahen, als sie den Raum durchquerte. Einige unterbrachen dabei die Unterhaltung, die sie gerade führten. Einmal war es für kurze Zeit völlig still, und man konnte nur die Geräusche aus dem angrenzenden Festsaal hören. Ein Mann hielt sein Mobiltelefon in der ausgestreckten Hand so, wie man einem Dämon ein Kruzifix entgegenhält, und folgte Carmen damit. Ross rätselte einen Moment über diese Geste, bevor ihm aufging, dass sie fotografiert oder gefilmt wurde. Unruhe beschlich ihn. Er musterte das Publikum. Unter den Frauen war keine, die so etwas wie brasilianisches Haar hatte. Einige waren offenbar Sekretärinnen oder die bessere Version davon, Assistentinnen. Die übrigen waren kostbare Kreaturen, wie man sie für Geld bekommt. Man sah es nicht ihnen an, dass sie Huren waren, sondern ihren Begleitern. Nach der Aufmachung zu urteilen, gehörte etwa die Hälfte der anwesenden Männer zu den Gästen, die aus dem Festsaal gekommen waren, um zu rauchen oder zu telefonieren. Manche saßen und waren deshalb nicht leicht einzuschätzen. Wenigstens zehn, stellte Ross bei genauerem Hinsehen fest, waren Bodyguards und Sicherheitsleute. Bei dreien bemerkte er, dass sie Waffen trugen. Keiner von denen gehörte zu Hausers Truppe.
Wieder einmal hatte Ross das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben und in eine Falle gelaufen zu sein. Sein letztes Telefongespräch mit Hauser kam ihm in den Sinn. Auf der anderen Seite des Raumes saß Carmen jetzt in einem der Sessel. Ihre Bewacher standen beisammen und beratschlagten; sie schienen sich über irgendetwas uneinig zu sein. Schließlich lief einer von ihnen eilig los und an Ross vorbei in die Lobby. Die anderen verteilten sich und postierten sich einige Schritte von Carmen entfernt um sie herum. Ross durchquerte den Raum, wand sich an Nash und Stills vorbei, die sich ihm entgegenstellten, und ließ sich in einen Sessel neben Carmen fallen.
»Carmen, was ist das hier? Was tun wir hier?«
»Wir sind in einem Hotel, Walter. Einmal im Jahr veranstalten mein Vater und Onkel Charles eine Party oder so was Ähnliches für die Leute, mit denen sie Geschäfte machen. Wir warten. Einer der Jungs ist unterwegs zu meinem Vater.«
Ross entschied, dass sie mit drei Beschützern sicher war. Er sagte: »Ich sehe mich mal um. Okay? Ich bin gleich zurück.«
Sie nickte geistesabwesend.
Ross schlenderte an der Peripherie des Raumes entlang und versuchte wie beiläufig, die Türen, an denen er vorbeikam, zu öffnen. Alle waren verschlossen bis auf die Notausgänge zu den Feuertreppen. Er öffnete sie und fand dahinter jedesmal leere Korridore. Bewegungsmelder aktivierten die Beleuchtung. Über den Türen am anderen Ende mit der Aufschrift Fire Exit hingen Kameras. Ross erwartete, in der Lobby mehr Kameras zu finden, aber gegenüber den Fahrstühlen, unter der hohen Decke, sah er nur die Halterungen und lose Kabel. Sie waren abmontiert. Wer immer mit den Lifts kam oder ging, wurde nicht aufgezeichnet. Whittaker und seine Gäste mochten es diskret.
Am Eingang zum Saal versperrten ihm die Aufpasser den Weg. Ross wanderte weiter durch die Lobby und in Gänge, die von ihr abzweigten. Gegenüber der Rückseite der Fahrstuhlschächte fand er eine Tür, die sich öffnen ließ, und gelangte in den Servicetrakt. In engen Durchgängen, zwischen überfüllten Anrichten, Schränken und Stapeln von Kartons, drängten und lärmten Küchenpersonal und Kellner. Es war heiß. Die Klimaanlage arbeitete nicht für das Personal. Es stank; überall stand und lag gebrauchtes Geschirr und Küchengerät herum, dazwischen angebrochene Packungen und offene Lebensmittel. Alle Oberflächen waren verdreckt. Ross suchte sich einen Weg durch das Chaos. Niemand achtete auf ihn. In einem Labyrinth von Küchen-, Kühl- und Arbeitsräumen fand er zwei andere Notausgänge, die erstaunlicherweise freigehalten waren, und die Service-Aufzüge. Er prägte sich ihre Lage ein und wie er zu ihnen gefunden hatte. Auf dem Weg zurück in die Lobby verfolgte ihn im Gedränge einige Schritte weit ein bleicher, schwitzender Mann im Smoking. Er trug ein Headset und ein Clipboard und schrie ihm durch den Lärm nach: »Wo ist das Eis, wo ist das Eis, haben Sie das Eis?«
In weniger als zehn Minuten hatte Ross einen Überblick über den Ort, an dem er sich befand. Er hatte alle offenen Zu- oder Ausgänge lokalisiert, kannte die kürzesten Wege zu ihnen, und er wusste, wohin er laufen würde, wenn es galt, schnell zu verschwinden. Er machte sich auf den Rückweg.
Als er aus der Lobby kam, sah er von der Tür aus zwei Personen, die er noch nicht kannte, einen kleinen älteren Mann und eine junge Frau. Sie standen wartend einige Meter vor Carmen, weil Young und Nash sie offenbar daran gehindert hatten, näher zu treten. Während sich Ross noch wunderte, drehte sich der kleine Mann abrupt um und ging. Die junge Frau folgte ihm. Auf dem Weg zum Ausgang kamen sie an Ross vorbei. Beide waren Asiaten und so, wie sie gekleidet waren, Gäste aus dem angrenzenden Festsaal. Das Gesicht des Mannes war wie aus Stein; die junge Frau wirkte verschüchtert.
Ross setzte sich wieder zu Carmen. Er fragte: »Wer war das?«
»Keine Ahnung.«
»Was wollten sie denn?«
»Er wollte, dass ich aufstehe.«
»Und?«
Sie antwortete nicht.
Ross sagte: »Wir sollten so schnell wie möglich von hier verschwinden.«
»Sobald ich mit meinem Vater gesprochen habe …«, sagte sie, und dann, plötzlich freudig überrascht: »Hey, da sind ja Randy und Winston!«
Was? Wer?
»Die, von denen ich dir erzählt habe!« Farbe stieg in ihr Gesicht, ihre Augen glänzten. »Die, die immer mit mir ausgegangen sind!« Sie sprang auf und lief zwei Männern entgegen, die von der Tür kamen. Ross sah staunend zwei der gutaussehendsten Typen, die ihm jemals unter die Augen gekommen waren, einen Schwarzen und einen Weißen. Alles an ihnen und an ihrer Aufmachung schien perfekt, von den Haaren bis zu den Schuhen, und gleichzeitig waren sie von einer selbstverständlichen, maskulinen Lässigkeit, für die zu erlernen selbst Denzel Washington und George Clooney noch Geld ausgegeben hätten. Beide waren ebenso groß wie Carmen. Zu dritt erschienen sie Ross wie Angehörige einer überlegenen, außerirdischen Rasse, die sich nur vorübergehend und zufällig auf einem zweitklassigen Planeten aufhielten. Er sah zu, wie sie sich überschwenglich begrüßten, und fand, dass Hauser gut gewählt hatte. Randy und Winston waren zweifellos wunderbare Partner für Das Volle Programm, wie Carmen es lachend genannt hatte. Ross sah sie vor sich, vier oder fünf Jahre in der Vergangenheit, ein moppeliges, übergroßes Schulmädchen, das keine Tanzpartner fand und natürlich auch niemanden, mit dem sie ihre stürmische Sexualität ausleben konnte. Und dann waren da auf einmal diese beiden unverschämt gutaussehenden Jungs, die ihr jeden Wunsch erfüllten. Selbstverständlich hatten sie nicht auf eigene Faust die Tochter des Chefs gevögelt, warum auch. Hauser hatte sie abkommandiert. Ross malte sich aus, wie er Randy und Winston kommen ließ und sagte: »Meine Herren, ich erwarte, dass Miss Whittaker eine gute Zeit mit Ihnen hat. Wie Sie sehen, ist sie kein Kind mehr, wenn Sie verstehen, was ich meine. Haben Sie ein Problem damit?« »Nein, Sir!« »Gut! Dann tun Sie, was nötig ist, wenn es nötig ist.« »Jawohl, Sir!« »Aber tun Sie es wie Gentlemen. Ich will keine Klagen hören. Ich verlasse mich auf Sie.« Als Hauser dafür sorgte, dass Carmen mit seinen Männern – handverlesen, immerhin – ins Bett ging, war das wohl in erster Linie eine Sicherheitsmaßnahme. Aber vielleicht war es auch ein Akt der Fürsorge. Ross traute Hauser zu, dass er auf eine verdrehte, soldatisch-onkelhafte Art Verständnis gehabt hatte für die sexuellen Nöte einer Sechzehnjährigen, weshalb er ihr mit Randy und Winston aushalf. Das war zwar nicht gerade romantisch, aber Hauser hatte alles unter Kontrolle, Carmen erhielt, was sie brauchte, und so wie es aussah, waren sie und die beiden Männer auch noch Freunde geworden. Richtige Romanzen, fand Ross, bringen gewöhnlich viel schlechtere Ergebnisse.
Dann kam Hauser. Ross fühlte ihn den Bruchteil einer Sekunde früher als er ihn sah, als würde ihm eine Schwingung vorauseilen. Randy und Winston strafften sich unwillkürlich und traten von Carmen zurück. Irritiert vom plötzlichen Wechsel der Stimmung sah sie sich um, aber da war Hauser schon fast bei ihr. Er erwiderte ihre überraschte Begrüßung nur flüchtig und ohne zu lächeln, legte einen Arm um sie, nahm sie zur Seite und redete mit ernstem Gesicht auf sie ein. Ross beobachtete, dass sie Hauser weder widersprach noch sich dagegen wehrte, von ihm wie ein Haustier umhergeführt zu werden. Sie hielt sich gerade, und ihr Gesicht war ausdruckslos, aber mehr denn je war ihre Haltung als Pose zu erkennen und als das Einzige, was sie Hausers Autorität entgegenzusetzen hatte. Randy und Winston, Stills, Young und Nash sahen es auch, wahrscheinlich nicht zum ersten Mal, und Ross verstand, warum Carmen keine Macht über Hausers Männer hatte. Ärger und eine undeutliche Enttäuschung stiegen in ihm auf.
Hausers Runde mit Carmen endete nach einer Minute bei den Sesseln. Er nötigte sie sanft, aber unmissverständlich, sich zu setzen und stand über ihr, während er weiter halblaut auf sie einredete. Sie hörte aufmerksam und höflich zu. Das Auge glitzerte wie Eis. Als Hauser mit ihr fertig war, bemerkte er Ross. Einen Moment lang schien er nicht zu wissen, wen er vor sich hatte. Dann sagte er nachsichtig: »Gehen Sie nach Hause, Walter. Wir schicken Ihnen einen Scheck.«
Er drehte sich um und ging. Randy und Winston folgten ihm, ohne sich noch einmal umzusehen. Young trat Ross in den Weg, als er den Platz wechseln wollte, und sagte leise: »Du hast den Colonel gehört. Verpiss dich.«
Ross sagte: »Rühr mich an, und du bist deinen Job los.«
Die Erwähnung seines Jobs hielt Young gerade so lange auf, wie Ross brauchte, um sich neben Carmen zu setzen.
»Carmen. Was ist los?«
In der Nähe konnte Ross ihre Anspannung fühlen. Ihr ausdrucksloses Gesicht war unter der Sonnenbräune blass.
»Carmen?«
»Sie fliegen mich aus.«
»Was? Wieso?«
»Der Helikopter, der sie abholen soll, kommt früher. Für mich.«
»Huh? Carmen, bitte. Eins nach dem anderen.«
Sie holte tief Luft. Es klang wie ein Schluchzer. »Onkel Charles sagt, ich sei hier nicht sicher. Er sagt, sie könnten mich nicht schützen.«
Ross dachte, er hat es mir am Telefon gesagt, und ich habe nicht hingehört.
»Ich verstehe das nicht«, sagte sie leise. »Wie können die Leute, die mich in der Schweiz entführen wollten, auf einmal hier sein?«
»Hat er das gesagt?« Ross dachte, ich bin schuld, wenn ihr etwas zustößt. Ich habe sie hierhergebracht.
»Das ist wie ein schlechter Traum, Walter. Überall, wo ich hinkomme, sind meine Entführer schon da.« Sie flüsterte fast. »Ich kann einfach nicht glauben, dass mein Vater und Colonel Hauser mich nicht schützen können, mit all ihrem Geld und ihren Männern.«
Ross dachte, die sind voll damit beschäftigt, sich selbst zu schützen.
»Walter?« Sie sah ihn argwöhnisch an. Ross dachte, shit, habe ich laut gedacht? Liest sie meine Gedanken?
Sie fragte: »Weißt du was, das ich nicht weiß? Du würdest es mir doch sagen, oder?«
»Ja«, log er, »aber ich weiß auch nicht mehr als du, Carmen.« Ich habe ein paar Vermutungen, aber die helfen uns jetzt auch nicht mehr. »Es tut mir leid.«
»Es tut dir leid?«, sagte sie verständnislos, und dann, aufgebracht: »Was tut dir leid?!«
Alles. »Ach, nichts. War nur so dahingesagt. Vergiss es.« Ich sollte gehen, dachte er, ich kann nichts mehr tun. Ich sollte aufstehen und mich verabschieden. Er brachte es nicht über sich. Er schob das Unvermeidliche vor sich her, bis der Impuls abgeklungen war. Dann saß er da, ließ die Zeit verstreichen und sah den Leuten zu, die aus dem Saal herüberkamen, Zigarren aus Zellophanhüllen nestelten, Zigaretten und ihre Black Berrys hervorkramten, wie sie in Grüppchen zusammenstanden und durcheinanderredeten oder über ihre Telefone gebeugt monologisierend umherwanderten. Die Sicherheitsleute warfen misstrauische Blicke in die Runde und pressten hin und wieder Fingerspitzen an ihre Ohren. Die Huren, die aussahen wie Schönheitsköniginnen aus dem Mittleren Westen, lächelten tolerant über die schlechten Manieren ihrer Begleiter und lachten routiniert über ihre schlechten Witze. Die Assistentinnen und die Sekretärinnen bauten einige Notebooks auf. Als die Bilder der Wirtschaftskanäle und bunte Kolonnen aus Zahlen und Buchstaben auf den Displays erschienen, versammelten sich ein paar Männer davor, Gläser und Zigarren in den Händen, und blickten versonnen hinein wie in ein Lagerfeuer. Auch zwei der Huren interessierten sich für die Börse. Sachkundig und nüchtern studierten sie die leuchtenden Tabellen, scrollten einige vor und zurück und gingen dann beiseite, jede für sich, um zu telefonieren. Carmen ließ den Jungen, der den ganzen Abend noch nicht den Mund aufgemacht hatte, Stills, für sich und Ross etwas zu trinken besorgen. Wenn es gelegentlich leiser im Raum wurde, konnte man aus dem Festsaal das Rauschen vieler Stimmen hören, Musik und eine Sängerin, Applaus, einen Conférencier, Gelächter.
Irgendwann rauchte Carmen.
Ross fragte: »Hast du noch eine für mich?«
»Das war die letzte.«
Sie reichte ihm die halb gerauchte Zigarette. Er nahm einen tiefen Zug, und noch einen, dann wurde ihm schwindelig. Durch seine Benommenheit hindurch hörte er, wie sie plötzlich sagte, es ist so weit. Es geht los.
Ross sah sich verwirrt um. Hauser war zurück. Er hatte den schwarzen Partner des Duos Randy und Winston mitgebracht und versammelte Nash, Stills und Young um sich. Ross konnte nicht hören, was er sagte, aber er sah, dass Hauser Befehle gab.
Mit einem Mal schien die Zeit schneller zu vergehen. Ross stand rasch auf und wandte sich Carmen zu. Wieder fehlten ihm die Worte, und er musste sich anstrengen, um ihren Namen aussprechen zu können. »Also dann … Carmen.«
Sie lächelte ihn aus ihrem Sessel heraus an und nahm eine seiner Hände in ihre. Es war das erste Mal, dass sie ihn berührte. Ihr Griff war fest und trocken. »Geh noch nicht, Walter.« Er nickte unbeholfen. »Komm noch mit aufs Dach.« Sie stand auf. Hauser und seine vier Männer umringten sie.
Hauser sagte zu Carmen: »Mr. Young, Mr. Stills, Mr. Nash und Mr. Church bringen dich jetzt zum Helikopter.«
»Wo ist mein Vater?«
»Er hat zu tun.«
Young sagte: »Sir?« und, als er Hausers Aufmerksamkeit hatte, mit einer Kopfbewegung in Ross’ Richtung: »Was ist mit ihm, Sir?«
Carmen sagte: »Mr. Ross kommt mit.«
Hauser zuckte mit den Schultern. »Bis aufs Dach, nicht weiter. Nur Mr. Church fliegt mit dir.«
Die vier Männer nahmen Carmen in ihre Mitte, Hauser führte den kleinen Zug an, und Ross lief hinterher. Die Unterhaltungen um sie herum wurden leiser, und wieder blickte ihnen jeder im Raum nach. Der Mann, der Carmen bei ihrer Ankunft fotografiert hatte, folgte ihnen bis zum Ausgang und hantierte dabei hektisch mit seinem Telefon. Hauser führte sie durch die Lobby und durch Türen, die Ross vor einer Stunde noch verschlossen gefunden hatte, zu einem Aufzug, den er nicht kannte. Es war keiner der geräumigen, verspiegelten und mit Teppichen ausgelegten Lifts, in denen man zu leiser Musik auf und ab laufen konnte. Die Kabine war abgenutzt und ziemlich klein; es war anscheinend der Fahrstuhl, den die Fensterputzer und die Techniker für die Antennen und die Klimaanlagen benutzten. Hauser fuhr nicht mit. Er hielt die Tür auf, als Carmen, Ross und seine Leute eingestiegen waren, und sagte: »Sie wissen, was Sie zu tun haben. Mr. Young, Mr. Stills, Mr. Nash?«
»Ja, Sir.«, antworteten sie im Chor.
»Gut. Wir sehen uns gleich wieder. Mr. Church?«
»Ja, Sir.«
Hauser ließ die Tür los. Die Kabine war groß genug für sechs Personen, aber sobald sie fuhren, fühlte Ross sich beengt. Young und Nash manövrierten ihn mit kleinen Bewegungen immer weiter in eine Ecke, bis er sich fast nicht mehr rühren konnte. Sie wandten ihm dabei den Rücken zu und blickten zur Decke. Ross entschied sich gegen eine Rempelei; auf dem Rückweg, wenn Carmen und ihr Trostpreis abgeflogen waren, würde es ohnehin Ärger geben. Young konnte es kaum erwarten. Nash würde ihm helfen; Stills würde sich raushalten. Ross wusste, dass er keine echte Chance hatte; sie waren zu zweit, größer, jünger und schwerer als er, und sie waren durchtrainiert. Aber Young war dumm, und Ross fürchtete den Kampf nicht. Er hatte in den vergangenen zwei Wochen mehr als genug eingesteckt, jetzt freute er sich geradezu auf die Gelegenheit, auszuteilen. Auch wenn er unterlag, er würde Young ein Andenken mitgeben. Ross nahm sich vor, ihn möglichst schwer zu verletzen.
Der Lift hielt. Ross hörte die Türen und einen überraschten, protestierenden Laut von Carmen. Die Männer vor ihm, die ihm die Sicht versperrten, schwankten und stampften. Die Liftkabine vibrierte an ihren Seilen. Dann hörte er das vertraute Geräusch von schallgedämpften Pistolenschüssen.
Ffapp. Ffapp. Ffapp. Ffapp.
Ross duckte sich instinktiv. Aus dem Augenwinkel sah er, wie über ihm Nashs Hinterkopf aufplatzte und eine Fontäne aus Blut und zerfetztem Gewebe ausspie.
Ffapp ffapp.
Nash und Young stürzten rückwärts und begruben Ross unter sich. Der Schock und das Gewicht der Erschossenen machten ihn panisch; er wand sich und stemmte sich gegen die schweren Körper. Dann fühlte und hörte er, ffapp-ffapp, wie in die Toten, die auf ihm lagen, noch zwei Kugeln abgefeuert wurden. Ross fürchtete und hasste das nasse Geräusch der Einschläge; es brachte ihn zur Vernunft. Er erstarrte und hielt die Luft an. Sein Herz raste. Sein Blut brauste, Lichter tanzten vor seinen Augen. Stress und Adrenalin trieben ihn, sich zu bewegen, aber Furcht und Erfahrung hielten ihn zurück. Er wartete. Er hörte, dass vor dem Lift wortlos gekämpft wurde. An ihrem Atem erkannte er Carmen; sie lebte. Fast hätte er geschrien; stattdessen zählte er schweigend mit, wie sich die Tür des Lifts halb schloss, gegen ein Hindernis fuhr und mit einem kleinen Klingeln wieder aufging. Nach dem zehnten Klingeln war der Kampf vorbei. Männer schnauften schwer und redeten in kurzen atemlosen Sätzen. Ist sie noch da? Oh, Fuck, die Fotze hat mir das Knie ruiniert. Ist sie noch da? Ja. Scheiße, ist die schwer.
Eine Tür ging, dann war es still.
Ross begann sofort wie rasend zu schieben und zu strampeln, um sich von dem leblosen Körper zu befreien. Keuchend kam er frei und kauerte zitternd auf Händen und Knien zwischen den Toten, in ihrem Blut, das den Boden der Kabine bedeckte. Blut, fettige Hirnsubstanz und Knochensplitter klebten in seinem Gesicht und seinen Haaren. Denk, schrie er sich innerlich an, denk nach! Okay, sagte er sich, okay ich bin am Leben, ich bin nicht verletzt. Was tue ich jetzt? Was tue ich als Erstes? Was ist wichtig? Eine Waffe – und Zeit. Wie viel Zeit habe ich, wie lange ist sie noch in Reichweite? Eine Minute? Fünfundvierzig, dreißig Sekunden? Dann los. Er startete einen mentalen Countdown.
Achtundzwanzig, siebenundzwanzig …
Young und Nash lagen auf dem Rücken, Schusswunden in den Gesichtern. Ross zerrte an ihren Jacketts, bis die Knöpfe abrissen Sie trugen M-Neun-Berettas. Er trocknete seine klebrigen Hände. Als er die schweren, matt glänzenden Pistolen hielt, spürte er Erleichterung und Zuversicht. Er wurde ruhiger und seine Bewegungen sicherer. Er ließ die Magazine aus den Griffen fallen.
Zweiundzwanzig, einundzwanzig …
Sie waren voll. Dreißig Schuss, genug für ein kleines Feuergefecht. Rasch schob er die Magazine wieder ein. Die Auszieherkrallen zeigten ihm, dass Patronen in den Lagern steckten; trotzdem zog er die Schlitten, bis er sie sehen konnte.
Siebzehn, sechzehn …
Dann bemerkte er, dass Church noch lebte. Er saß an die besudelte Wand gelehnt und atmete schnappend. Schauer liefen durch seinen Körper. Eine Kugel war in sein rechtes Auge eingeschlagen und über dem Ohr auf derselben Seite des Kopfes wieder ausgetreten. Das andere Auge war halb geöffnet. Ross kniete sich zu ihm und fragte: »Bist du Randy oder Winston?« Elf, zehn, neun … »Es tut mir leid, Mann, hörst du? Es tut mir leid. Ich würde es dir gerne leicht machen, wirklich, aber wenn die draußen den Schuss hören, dann wissen sie, dass ich komme.« Fünf, vier, drei … »Ich muss los. Das verstehst du doch.« Der Sterbende reagierte nicht. Ross sprang auf, stieg über Stills hinweg, der auf dem Gesicht lag, den Oberkörper außerhalb des Fahrstuhls und den zerschossenen Kopf in einer Blutlache, und rannte durch den Vorraum des Lifts zu einer Metalltür, die ins Freie führte. Lange zurückliegendes Training und gute Gewohnheit hielten ihn davon ab, einfach nach draußen zu stürmen. Er stellte sich neben die Tür und stieß sie auf, nichts passierte. Er sah raus und zog den Kopf schnell wieder zurück, niemand schoss. Er schlüpfte nach draußen, warf die Tür zu, trat drei Schritte zur Seite und hockte sich an die Wand. Es war Nacht geworden, und es regnete noch immer in Strömen, womöglich stärker als vor einer Stunde. Das Wasser stand zentimeterhoch auf dem Asphalt des Daches. Wo Licht hinfiel, sah man, wie der aufschlagende Regen zu einem kniehohen, schimmernden Nebel zerstob. Ein Dutzend starker Scheinwerfer erhellten das Dach, aber die Aufbauten über den Treppenhäusern und Aufzugschächten, die Antennen und die monumentalen Gehäuse der Klimaanlagen warfen undurchdringliche Schatten. Ross starrte suchend in das Labyrinth aus Licht und Dunkelheit. War er allein? Dicke Tropfen, die sein Gesicht trafen, und Wasser, das ihm in die Augen lief, erschwerten ihm die Sicht. War er womöglich zu spät? Im stetigen Rauschen des Regens und über dem seismischen Rumpeln der Klimaanlagen heulte eine Turbine. Ross hörte das hudd-hudd-hudd eines Helikopterrotors im Leerlauf.
Sie waren noch nicht weg.
Er erhob sich und lief rasch an der Wand entlang auf das Geräusch zu. Er erreichte eine Ecke; eine große freie Fläche lag hell erleuchtet vor ihm, und dahinter Landeplattform auf vier Meter hohen Stahlpfeilern. Ein weißer Helikopter wartete mit kreisendem Rotor. Und da waren sie: Am Fuß der Treppe zur Plattform rangen zwei Männer mit Carmen, schlugen und traten auf sie ein. Ein dritter umkreiste die ineinander verklammerte Gruppe und versuchte, in den Kampf einzugreifen.
Ross dachte: Okay, es geht los. Ich sehe drei, aber wahrscheinlich sind es mehr. Als Erstes brauche ich sichere Ziele. Er trat ins Licht, feuerte aus beiden Pistolen mehrmals auf den Helikopter und sah, wie einige der Geschosse Funken schlugen. Beim Klang der Schüsse brach der Kampf ab. Carmen und die Männer standen eine Sekunde lang wie eingefroren. Dann ließ sie sich zu Boden fallen. Sie hat es nicht vergessen, dachte Ross triumphierend, sie hat es nicht vergessen. Im Schatten unter der Plattform sah er Mündungsfeuer; etwas riss an ihm, und er hörte das harte, echolose Krachen eines Schrotgewehrs. Noch einer, dachte er. Ich bin getroffen. Sein linker Arm und sein halber Brustkorb waren taub. Seine Beine gaben nach. Er lehnte sich an die Wand, rutschte zu Boden und setzte sich ins Wasser. Als er saß, fühlte er sich besser. Mach nicht schlapp, sagte er sich, es ist noch nicht vorüber. Wieder krachte das Gewehr; heiße Finger strichen über sein Gesicht und durch sein Haar, und ein Schauer von Putzteilchen ging auf ihn nieder. Sitz nicht rum und warte auf deinen Tod, sagte er sich. Er streckte den noch funktionierenden Arm und zielte sorgfältig auf den Mann, den er am besten sah. Er hielt tief; zwanzig Meter Entfernung und schlechte Sicht sind keine guten Bedingungen für einen Kopfschuss. Er drückte ab. Der Mann zuckte wie unter einem Schlag und stolperte, aber dann straffte er sich, hob seine Pistole und gab zwei Schüsse in Ross’ Richtung ab. Er trägt eine Weste, dachte Ross. Er sieht mich nicht richtig, er hat das Licht und den Regen im Gesicht. Zum dritten Mal hörte er das Gewehr. Um ihn herum spritzte das Wasser auf, und er fühlte die Treffer wie Hiebe an seinen Beinen. Ross ließ sich zur Seite fallen und machte sich so flach wie möglich. Liegend sah er durch den Wassernebel und den vom Licht versilberten Regen, wie der Mann, auf den er geschossen hatte, näher kam, und mit ihm ein zweiter, ein Gewehr im Anschlag. Ross zielte im Liegen auf den Mann mit dem Gewehr, den gefährlichsten seiner Gegner, aber er schoss nicht sofort, er ließ die beiden herankommen. Er durfte sie nicht verfehlen. Er zielte noch tiefer als zuvor; die handelsüblichen Westen reichen selten über den Gürtel. Er drückte ab, fast schon zu spät. Der Mann ließ das Gewehr fallen, griff sich mit beiden Händen in den Schritt und sank auf die Knie. Zu tief getroffen. Egal. Ross feuerte auf den anderen, dessen Kugeln jetzt um ihn herum einschlugen, vier, fünf Mal, bis er auch diesen getroffen hatte und er zu Boden ging. Ross wartete, aber es kam niemand mehr über den Platz. Wo ist Carmen?, dachte er. Der Helikopter war noch da. Der Rotor drehte sich immer langsamer. Auf. Ross stemmte den gesunden Arm gegen den Boden und schaffte es, sich aufzurichten und sich wieder an die Wand zu lehnen. Blut füllte seinen Mund, Blut färbte sein nasses Hemd und das Regenwasser um ihn herum. Schmerzen und Übelkeit begannen, sich in ihm breitzumachen. Ihn schwindelte; er schloss die Augen und spürte, wie er auf die große Dunkelheit zutrieb. Erschrocken riss er die Augen wieder auf; noch nicht, dachte er, noch nicht. Ich bin noch nicht so weit. Zehn Meter entfernt kniete der Mann, dem er in den Schritt geschossen hatte, die Fäuste zwischen den Schenkeln, und glotzte ihn an. Sein Gesicht war eine Grimasse des Entsetzens: Er hatte die schlimmste aller Verwundungen. Mit einem Mal begann er blökend zu schreien und hörte nicht mehr auf. Er unterbrach sich nur, um Luft zu holen. Ross tastete nach der Beretta; sie lag außer Reichweite. Er hatte sie losgelassen, als er sich aufsetzte. Die andere war ihm schon aus der Hand gefallen, als er das erste Mal getroffen wurde. Jetzt fehlte ihm die Kraft, eine der beiden Pistolen zu erreichen und den Schreienden zu töten. Resigniert ließ er seinen Kopf auf die Brust sinken und ergab sich dem monotonen Geheul. Dann hörte er ein scharfes Klatschen, und der Verstümmelte schwieg. Ross merkte, dass sich jemand über ihn beugte. Jemand packte sein Kinn und hob es an.
»Walter! Oh, mein Gott!«
Sie sah furchtbar aus. Das nasse Haar klebte an ihrem Schädel. Das blasse Auge war dabei, zuzuschwellen, Blut lief aus ihrer deformierten Nase, ihrem zerschlagenen Mund und aus einer Platzwunde auf dem Jochbein. Carmen, dachte Ross, sie haben dein schönes Gesicht zerstört. Eine tiefe, vorher nie gekannte Traurigkeit erfasste ihn. Er wollte die Augen schließen, aber sie schüttelte ihn und sprach in sein Ohr.
»Das wird wieder, Walter. Nicht weinen.«
Ich weine nicht. Es ist der Regen.
»Ich hole Hilfe. Aber du musst die Augen offen halten, hörst du? Du musst wach bleiben.«
Er packte sie mit der unverletzten Hand.
»Was ist? Was hast du?«
Ross schluckte das Blut in seinem Mund und nahm alle ihm verbliebene Kraft zusammen. Er flüsterte.
»Was!?« Sie hielt ihr Ohr an seinen Mund.
Er holte Luft und spürte, dass es in seinem Brustkorb blubberte. »Gib mir die Pistole. Bitte.«
Sie sah sich nach der Pistole um. »Sie sind weg, Walter, abgehauen. Es ist vorbei.«
Er machte eine schwache Bewegung in Richtung der beiden Männer, die er niedergeschossen hatte.
»Leben die noch?« Sie hob die Pistole auf und schüttelte das Wasser aus dem Lauf. »Warte.«
Er hielt sie fest. Nein. Nicht du.
Sie legte die Pistole in seine Hände und stand auf. »Halt durch! Bitte!«, rief sie beschwörend, während sie sich entfernte. »Ich bin gleich zurück.«
Lass dir Zeit. Ich gehe nirgendwo hin.
Dann war er allein. Er horchte auf die Schmerzen in seinem Körper. Sie waren schlimm, aber auszuhalten. Der Regen und die Kälte betäubten sie ein wenig. Er würgte und spuckte gestocktes Blut auf seine Brust. Was für eine Sauerei, dachte er. Diesmal habe ich wirklich zu viel abbekommen. Er ließ sich zur Seite sinken, schob den unverletzten Arm unter den Kopf und lag einigermaßen bequem. Es störte ihn nicht, dass es in sein Ohr regnete. Wenn es nur nicht so kalt wäre, dachte er. Jemand sollte hier sein, der mir jetzt eine Zigarette gibt. Wofür habe ich überhaupt aufgehört zu rauchen.
Für Christina.
Christina.
Lourdes, bist du hier?
Lourdes.
Er riss den Vorhang zur Seite.
Carmen.