14. Kapitel

Das Mädchen war sichtlich zufrieden mit sich, mit ihrer Eroberung und beschwingt von den Aussichten für den Rest der Nacht, als sie im Gleichschritt mit dem Jungen durch die stillen, dunklen Straßen zum Hotel schlenderte. Man konnte ihre Stimmung am Schwung ihrer Hüften ablesen, mit denen sie ihren Begleiter bei jedem zweiten Schritt anstieß, während sie an seinem Arm ging. Ross folgte ihnen mit etwas Abstand, wachsam und resigniert zugleich. Von Zeit zu Zeit sah er sich um, registrierte jedes Geräusch und war darauf gefasst, jeden Moment einen Van auftauchen zu sehen. Gleichzeitig wusste er, dass sie hilf- und schutzlos waren, wenn es tatsächlich dazu kam. Er war froh, als sie auf der Hafenpromenade ankamen und das Hotel vor sich sahen, und er atmete auf, als das Paar vor ihm in dem erleuchteten Eingang verschwand. Als er kurz nach ihnen eintrat, warteten sie auf den Fahrstuhl und küssten sich. Er blieb an der Tür stehen, sah ihnen quer durch die Lobby zu – gemeinsam mit dem Nachtportier; sie waren nicht zu übersehen – und fühlte, wie die Spannung der vergangenen zehn Minuten von ihm abfiel. Auch sein Ärger hatte sich gelegt. Die beiden gefielen ihm. Sie waren ein schönes Paar. Sie hatten heute Glück gehabt, dass sie sich über den Weg gelaufen waren, fand er, besonders der Junge. Ob ihm das klar war? Junge, sagte Ross in Gedanken, vermassele es nicht. Aber das Mädchen würde das nicht zulassen. Er hatte sie den ganzen Abend erlebt: Sie war ganz offensichtlich mit der Gabe gesegnet, Glück, das sie erfahren wollte, selbst mitzuerschaffen.

Ross nahm den nächsten Aufzug. Als er sein Zimmer betrat, sah er sofort den schmalen Streifen Helligkeit. Die Schiebetüren waren nicht vollständig geschlossen. Er machte kein Licht, streifte die Schuhe ab und lief lautlos durch den Raum. Auf seiner Seite hatte er die Türen weit offen gelassen, als er zu Beginn des Abends zum Auftritt des Mädchens nach nebenan gegangen war. Die Türflügel auf ihrer Seite waren bis auf einen Zentimeter zusammengeschoben. Ross presste die Fingerspitzen in die Vertiefungen der Polsterung und versuchte, den Spalt zu schließen, aber die Türen rührten sich nicht. Bevor er sich entschließen konnte, sie mit Gewalt zu bewegen und dabei womöglich Lärm zu machen, hörte er das Paar auf der anderen Seite. Der Tonfall ihrer halblauten Unterhaltung und die sie begleitenden Geräusche waren eindeutig. Ross zog sich zurück. Er machte auch keinen Versuch mehr, die Türflügel in seinem Zimmer zu schließen, denn er erinnerte sich, wie sie in ihren Rollen rumpelten. Er zog sein Jackett aus und suchte sich im Dunkeln einen Sessel. Als er sich setzte, fühlte er den Plastikbeutel in der Hosentasche. Shit. Er hatte vergessen, etwas zu besorgen, womit er das Zeug rauchen konnte, ein Stück Alufolie oder Zigarettenblättchen. Zu dumm. Ross warf den Beutel auf den Telefontisch und machte es sich bequem. Es war kurz nach drei. In einer Stunde oder so würde es hell werden. Er war nicht übermäßig müde und richtete sich darauf ein, sicherheitshalber wach zu bleiben, bis der Junge gegangen war.

Eine Zeitlang kam aus dem anderen Zimmer nur hin und wieder ein undeutliches Gemurmel bei Ross an, und er begann zu glauben, dass das auch so bleiben würde. Doch dann schreckte ihn ein überraschter Ruf des Mädchens auf, der erst in ein leises Lachen und dann in einen langgezogenen Seufzer überging. Danach war es wieder still. Ross spielte mit dem Gedanken, sich im Bad einzuschließen; er wollte nicht mitbekommen, wie andere Menschen Sex hatten. Die Zeit und das Schweigen dehnten sich, bis das Mädchen wieder seufzte, erst einmal und dann mehrmals hintereinander. Nach einer Pause sagte sie atemlos etwas auf Französisch und wiederholte es ein paarmal, ehe sie zu keuchen und zu schnaufen begann. Ross war kurz davor, sich die Hände auf die Ohren zu legen, da schrie sie, aber nicht sehr laut und nicht lange; es klang irgendwie triumphierend.

Es dauerte einige Minuten, bevor nebenan wieder gesprochen wurde. Die leise Unterhaltung war von vielsagenden Pausen unterbrochen. Das Bett knackte, die Geräusche von Bewegungen in Laken und Kissen wurden nach und nach immer heftiger und schließlich rhythmisch. Ross stand auf, ging leise zum Fenster und sah in der Hoffnung auf Ablenkung hinaus, aber es gab in der Dämmerung nichts zu sehen. Hinter den Türen nahm der Galopp der Leiber geräuschvoll seinen Lauf und wollte nicht enden. Ross kapitulierte nach einer kurzen Anstrengung und gab den Versuch auf, den leidenschaftlichen Aufruhr im Nebenzimmer aus seiner Wahrnehmung auszublenden. Wehrlos stand er am Fenster, erregt und beschämt zugleich, bis es Tag wurde und das Mädchen drängend und heiser zu rufen und bald darauf wieder zu schreien begann, begeistert, lauter und länger als zuvor. Dann endlich wurde es still. Nach einer Weile kehrte Ross in seinen Sessel zurück und wartete ergeben darauf, dass das Paar in die dritte Runde gehen würde. Er war sich sicher, dass sie noch nicht fertig waren, denn er hatte noch nichts Endgültiges von dem Jungen gehört. Das bedeutet, dachte er mit einer Spur Hochachtung, dass er ein ehrgeiziger und disziplinierter Liebhaber ist. Und das Mädchen ist fair und großzügig und lässt ihn nicht einfach gehen.

Die Ruhe war tiefer als zuvor und dauerte scheinbar ewig. Auf einmal wurde Ross schlagartig von einem Tumult aufgeschreckt.

Er hatte geschlafen.

Hinter der Tür wurde gekämpft.

Panik überflutete ihn. Er hörte die erstickten Laute von Menschen, die miteinander ringen, einen schmerzlichen Ausruf, das Geräusch von Möbeln, die unter schweren Lasten ächzten und verschoben wurden. Er sprang aus seinem Sessel auf, taumelte zu den Schiebetüren und hatte schon die Finger in den Türspalt gezwängt, um sie weit aufzureißen, als ihm klar wurde, dass es ein ekstatischer Kampf war. Er erkannte die raue, atemlose Stimme des Mädchens und das gepresste Stöhnen des jungen Mannes. Ross ließ von den Türen ab, als wären sie heiß, und zog sich schnell in die Mitte seines Zimmers zurück. Dort stand er mit weichen Knien, sein Herz raste, und seine Hände zitterten. Es dauerte eine Minute, bis er sich wieder beruhigt hatte. Auf der anderen Seite erreichte der scheinbare Kampf seinen Höhepunkt und sein Ende. Das Finale fiel unspektakulär aus, fand Ross ernüchtert und erleichtert, (nach all dem pathetischen Lärm der vergangenen zwei Stunden). Einige laute Seufzer des Mädchens, ein paar Schluchzer des Jungen. Aus.

Männer, dachte Ross in der von neuem einsetzenden Stille, Männer hören sich beim Vögeln entschieden unerotisch an. Frauen dagegen – nun, das Mädchen war außergewöhnlich temperamentvoll. Es gab sicher nur wenige Frauen, die ein so hemmungsloses Geschrei veranstalteten. Die, die Ross kannte, klangen in den Momenten größter Erregung oft eher kläglich. Carol knirschte manchmal mit den Zähnen. Wie sich wohl die dunkelhaarige Frau aus der Bar – Clarice? Louise? Denise … – angehört hätte?

Ross döste in seinem Sessel, bemüht, nicht wieder einzuschlafen, und verfolgte mit einem Ohr die Geräusche im Nebenzimmer. Zunächst war es nur ein leises Gespräch mit langen Pausen, aber nach und nach wurden die Stimmen lebhafter, und er hörte Lachen und Schritte. Minutenlang duschte der Junge bei offener Badezimmertür und unterhielt sich dabei über das Rauschen des Wassers hinweg laut mit dem Mädchen. Ein Korken knallte, Gläser klirrten. Eine halbe Stunde verstrich, bevor die Zimmertür des Mädchens ging. Ross sprang auf, lief leise zu seiner eigenen Tür und öffnete sie vorsichtig einen Spalt. Der junge Mann stand im Korridor. Er lachte er war noch hübscher, wenn er lachte und sprach mit dem Mädchen, das für Ross nicht sichtbar war. Jetzt, bei offener Tür, flüsterten beide. Auf einmal trat sie in den Korridor, packte das Gesicht des Jungen mit beiden Händen und küsste ihn schnell und heftig. Sie war nackt. Ihr Anblick war grandios und schockierend zugleich. Ross wandte den Blick ab. Er hatte sie nackt gehört, deutlicher und ausführlicher, als ihm lieb war, er wollte sie nicht auch noch nackt sehen. In ein paar Stunden musste er wieder mit ihr umgehen und so tun, als ob nichts gewesen war. Als er wieder in den Korridor sah, war sie verschwunden und der junge Mann auf dem Weg. Er lief etwas breitbeinig. Ross musste lächeln. Glückwunsch, mein Junge. Du warst heute Der Auserwählte und hast eine Königin zufriedengestellt. Du kannst stolz sein.

Das Telefon summte.

»Habe ich Sie geweckt?«

»Ehm … nicht wirklich.«

»Gut. Sie können jetzt schlafen.«

»Ja. Okay.« Ross wartete, aber sie legte nicht auf. Sie atmete leise in die Leitung. Er fragte: »Alles in Ordnung?«

»Ja.«

Neben dem Telefon lag der Beutel mit dem Gras.

»Haben Sie noch Zigaretten?«

»Ja.« Sie schien froh, dass er noch etwas gesagt hatte. »Möchten Sie rauchen? Einen Moment.«

Sekunden später hörte er sie an den Schiebetüren. Ross wartete mit dem Hörer am Ohr und hoffte, dass sie nicht immer noch nackt war.

»Die Tür klemmt«, sagte sie über das Telefon, aber im selben Moment knackte es laut, und die Flügel rollten polternd auseinander. Das Hotel hatte tatsächlich einen Bademantel in ihrer Größe aufgetrieben, ein riesiges Teil aus dickem, weißem Plüsch. Sie warf Ross von der Tür aus Zigaretten und Streichhölzer zu und sagte: »Ich werde auch noch eine Zigarette rauchen, Walter, warten Sie auf mich. Ich dusche schnell.«

Die Tür rumpelte, und sie war weg. Ross rollte nacheinander fünf Zigaretten zwischen den Händen, um die Füllung zu lockern, und klopfte und stocherte den Tabak dann aus den Hülsen. Auf einem Blatt Hotelschreibpapier mischte er ihn mit den klebrigen Krümeln des Marihuana. Dann füllte er die Mischung mit einem zur Rinne gefalteten Stückchen Papier in die Hülsen und verdichtete sie mit einem Streichholz und indem er die Filter auf die Tischplatte stieß. Den letzten halben Zentimeter jeder Hülse ließ er leer und zwirbelte ihn zu einem kleinen Schwänzchen zusammen.

Den fünften Joint zündete er gleich an. Der erste Zug machte ihn schwindelig; er hatte schon lange keinen Tabak mehr geraucht und vielleicht zu viel davon mit dem Gras gemischt. Er hatte auch schon lange kein Gras mehr geraucht. Ross zog, inhalierte und hielt die Luft an. Okay. Jetzt roch und schmeckte der Rauch, wie er ihn in Erinnerung hatte. Okay. Noch etwas, das ich öfter tun sollte, dachte er. Gleich würde die Wirkung einsetzen.

Die Tür rumpelte wieder, und das Mädchen war zurück, immer noch in ihrem Super-XL-Bademantel. Ihre Flipflops machten p’lit-p’lat. Sie brachte die Gerüche von teurer Seife und Körperpuder mit. In der Mitte des Raumes ließ sie achtlos das Handtuch fallen, mit dem sie ihr feuchtes Haar gerubbelt hatte, und sah sich um. Sie hatte wieder ihre echten Augen.

»Brennt hier irgendwas?«

Ross hielt ihr den glimmenden Joint hin. Sie setzte sich ihm gegenüber auf die Bettkante. »Was ist das? Haschisch?«

»Fast. Marihuana.«

»Riecht gut. Was tut es?«

»Probieren Sie, wenn Sie wollen.«

»Wie macht man das?«

»Ziehen, inhalieren, Luft anhalten, solange Sie können. Und senkrecht halten, sonst fällt die Glut ab.«

Sie nahm den Joint und tat ohne zu zögern, was er gesagt hatte. Ross zündete sich einen anderen an. Nach ein paar Sekunden atmete sie hustend aus. »Und? Werde ich jetzt süchtig?«

»Nein. Das Schlimmste, was Ihnen passiert, ist, dass Sie einen trockenen Mund kriegen.«

Die Glut der Joints knisterte leise. Beide hielten sie die Luft an.

»Ich merke nichts«, sagte das Mädchen nach einer Weile. Alle sagen das beim ersten Mal. »Was müsste ich fühlen?«

»Ich weiß nicht. Ist bei jedem ein bisschen anders.«

»Wie ist es bei Ihnen?«

»Es beruhigt mich. Ich nehme Töne und Farben intensiver wahr. Wenn wir Musik hätten, würde ich Musik hören. Es gibt Filme, die man sich am besten nur bekifft ansieht.«

»Das ist alles? Farben, Musik?«

»Manchmal meint man, den tieferen Sinn oder eine verborgene Bedeutung in dem zu erkennen, was man hört oder sieht. Oder man findet irgendwas Banales auf einmal rasend komisch oder tieftraurig.«

»Traurig auch?«

»Kommt auf die persönliche Grundstimmung an.«

»Aha, die persönliche Grundstimmung.« Sie nahm einen Zug.

»Ja. Es gibt auch Leute, die werden redselig. Und welche, die kriegen einen Heißhunger.«

»Oh, das bin ich!« Sie kicherte. »Im Ernst, ich habe einen Mörderhunger. Ich habe nichts gegessen, bevor wir gestern ausgegangen sind, damit mein Bauch nicht so vorsteht. Ich könnte … Oh, Walter, rufen Sie den Zimmerservice!«

»Es ist noch zu früh.«

»Frühstück«, sagte sie sehnsüchtig, »Orangensaft, Kaffee, Toast, Rührei, Croissants mit Butter und Marmelade! Und Sie?«

»Frittiertes Bohnenpüree und ein Spiegelei.«

»Was? Wirklich? Schwarze Bohnen? Ihre Frau ist aus Mexico, nicht wahr?«

»El Salvador.«

»Ich wette, ihr Vorname fängt auch mit María an.«

»María Lourdes«, sagte Ross widerwillig. »Lo-ur-des. So haben sie das ausgesprochen. Ich habe leider nie gefragt, was der Name bedeutet.«

»Das ist so ein Wallfahrtsort hier in Frankreich. Carmen kommt auch von einem Ort, einem Berg im Heiligen Land. Glaube ich. Und Guadalupe das ist irgendwo in Mexico. Finden Sie nicht auch, dass es in Lateinamerika die abgefahrensten Vornamen für Frauen gibt? Meine Mutter heißt Asunción, Himmelfahrt. Es gibt Dolores, Schmerzen; Inmaculada, die Unbefleckte; Rosario, Rosenkranz; Mercedes, Gnaden; Socorro, Rettung; Soledad, Einsamkeit; Consuelo, Trost; Esperanza, Hoffnung; Milagros, Wunder; Amparo, Schutz; Concepción, Empfängnis. Empfängnis! Stellen Sie sich das mal auf Englisch vor, Walter. Ich meine, ich gehe auf eine Party, ich treffe einen heißen Typen, ich sage: ›Hi, mein Name ist Empfängnis.‹Shit!«

Sie lachte los und warf sich rückwärts aufs Bett. Sie lachte, bis sie außer Atem war und Tränen über ihr Gesicht liefen. Sie richtete sich mühsam halb auf, sah, dass Ross auch lachte, und begann prustend von neuem. Lange konnte sie nicht aufhören. Manchmal wieherte sie hysterisch, manchmal gluckste und kicherte sie. Ihr großer Körper bebte und zuckte minutenlang in dem gigantischen Bademantel, bevor sie sich wieder unter Kontrolle hatte. Endlich lag sie schwer atmend auf dem Rücken und sagte, gegen die Zimmerdecke gerichtet: »Versprechen Sie mir, dass Sie nicht lachen, wenn ich Sie wieder ansehe.«

»Einen Moment noch«, sagte Ross mit erstickter Stimme.

»Okay … okay. Hey, mein Joint ist weg.«

»Haben Sie ein Loch in mein Bett gebrannt?«

»Ich glaube nicht. Ich glaube, er war schon alle. Geben Sie mir noch einen. Oder ist das schon eine Überdosis?«

Eine Zeitlang rauchten sie schweigend.

»Wissen Sie, Walter«, sagte das Mädchen dann, »seit ich mit Ihnen unterwegs bin, geht richtig etwas ab in meinem Leben. Ich meine, in den letzten drei Tagen habe ich mehr erlebt, als vorher in Jahren.«

Ich auch, dachte Ross. Er sagte: »Aber Sie hatten doch auch Spaß in New York. Mit Hausers Leuten.«

»Ja, doch, sicher. Aber das war nicht dasselbe. Das war wie Kindergeburtstag. Dagegen, jetzt … Überlegen Sie mal«, sie hob einen Finger, »ich habe gekämpft, richtig, in echt.«

»Wie ein Mann.«

»Ich bin nicht besiegt worden«, sagte sie stolz. Sie hob den zweiten Finger. »Ich habe eine Eroberung gemacht. Einen süßen Jungen. Drittens hatte ich einen One-Night-Stand. Das habe ich vorher noch nie gemacht. Ich schwöre es. Viertens, ich bin zum ersten Mal geleckt worden.«

»Carmen. Bitte.«

»Fünftens«, sie hielt den Joint hoch, »fünftens, das ist mein erster Joint. Also, mein zweiter, aber das erste Mal. Alles in zwei, drei Tagen. Alles zum ersten Mal. Jetzt sagen Sie mal selbst!«

Sie zog, inhalierte und hielt die Luft an.

Ross sagte bedächtig: »Okay, das sind eine Menge erste Male. Für drei Tage.«

Sie hustete lange, bevor sie weiterreden konnte. »Die Mädchen aus meiner Schule, die es angeblich schon mal getan … bekommen haben, haben immer schwer davon geschwärmt, aber ich finde es gar nicht so ungeheuer aufregend. Ich meine, klar, es ist irgendwie nett, sehr zärtlich und so, aber …«

Zärtlich? »Marihuana?«

»Lecken.«

»Carmen. Bitte. Ich will keine Einzelheiten aus Ihrem Sexleben wissen.«

»Nicht?«, fragte sie verwundert. Sie wälzte sich auf dem Bett hin und her, um sich im Zimmer umzusehen. »Niemand anderes ist hier, mit dem ich reden könnte. Also müssen Sie das jetzt aushalten.«

»Sie kennen mich doch überhaupt nicht.«

»Menos mal. Sie sind prüde, das ist das Problem! Sie sagen nicht Titten. Sie sagen Busen. Seit ich Sie kenne, haben Sie kein einziges Mal fuck oder shit gesagt, oder motherfucker oder so was. Das ist nicht normal. Sind Sie so ein Wiedergeborener?«

»Nein.«

»Ein Mormone!«

»Nein. Ich gehöre keiner Kirche an. Ich bin auch nicht religiös.«

»Gut. Dann sagen Sie jetzt mal fuck.«

»Fuck.«

Sie kicherte. »Fuck. Sie würden sich gar nicht so anstellen, wenn Sie wüssten, wie erbärmlich das Sexleben von einem zwei Meter großen, übergewichtigen Mädchen ist, das alle zwei Jahre das Internat wechselt. Ich bin zwanzig Jahre alt und kann die Jungs, mit denen ich was hatte, an einer Hand abzählen, den von heute Nacht schon mitgerechnet. Und dann sind immer noch Finger frei.«

»Zwei Meter«, sagte Ross schläfrig.

»Zwei Jahre. Das erste Mal haben sie mich rausgeworfen, als ich ein Wochenende lang unerlaubt weggeblieben war. Das war noch in den USA. Da war ich fünfzehn. Die Schule schrieb meinem Vater, dass sie nicht mehr für meine Sicherheit garantieren würde, weil ich nicht kooperierte. Ich wechselte nach England. Ein Albtraum. Das Essen war schauderhaft, nicht nur im Internat, überall! Nicht einmal für viel Geld hat man irgendwo etwas Genießbares bekommen. Aber immerhin, ich war noch nie so dünn wie in England. Weil ich groß bin, und weil ich schwierig war, musste ich in die Volleyballmannschaft der Schule. Mannschaftssport ist für Engländer die Standardantwort auf jede erzieherische Herausforderung. Ich hasste es. Ich hasste Stretchpants auf meinem dicken Hintern. Ich hasste das Gehopse und das Geschrei. Unsere Trainerin war so eine fitte Lesbe, sie sah aus wie die Frauen, die im Shopping-TV Sportgeräte verkaufen: null Körperfett, Sixpack und alles. Irgendwann stieß sie mich mal beim Training in die Rippen, weil ihr meine Aufstellung nicht passte. Ich stieß zurück, eins kam zum anderen, zuletzt blutete ihre Nase, und ich musste wieder packen.«

Ross brummte leise.

»Danach kam ich zu den Nonnen, wo Sie mich vorgestern abgeholt haben. Weil ich katholisch aufgewachsen war, meinte mein Vater wohl, dass ich Nonnen respektieren oder wenigstens nicht blutig schlagen würde. Oder dass sie, als Nonnen, duldsam genug wären, um mich nicht gleich wieder wegzujagen. Natürlich habe ich keine von denen geschlagen, ni quiera Diós! Aber duldsam waren die nicht. Sie hatten nur eiserne Nerven.« Das Mädchen hielt einen Augenblick inne und fuhr dann in verändertem Tonfall fort. »Bin ich froh, dass das endlich vorbei ist. Ich bin gespannt, wie es jetzt weitergeht. Ich meine, wohin. Am liebsten würde ich einfach so weitermachen, so wie gestern und heute. Reisen. Geld ausgeben, essen, tanzen. Sex bis die Sonne aufgeht. Ein paar Joints vor dem Frühstück. Und Sie passen auf mich auf, Walter. Damit mir nichts passiert. Was sagen Sie dazu?«

Ross war in seinem Sessel zusammengesunken, das Kinn auf der Brust. Er atmete fast geräuschlos. Das Mädchen rollte sich schwerfällig auf den Bauch, kroch auf allen Vieren langsam über das Bett und beugte sich vor, um zu sehen, ob seine Augen geschlossen waren.

»Schlafen Sie, Walter?«

Ross reagierte nicht.

»Habe ich Sie ins Koma gelabert?«

Sie manövrierte vorsichtig ihre Beine über die Bettkante, ihre Füße in die Flipflops und stand auf. Den Weg zum Fenster lief sie langsam mit gesenktem Kopf und betrachtete jeden einzelnen ihrer Schritte. Sie öffnete beide Flügel. Kalte, saubere Luft stürzte an ihr vorbei in das verqualmte Zimmer. Die Klänge der frühen Stadt, des Hafens und die Rufe der Möwen versammelten sich zu einem Konzert von erstaunlicher Fülle und Tiefe. Das Mädchen konnte jedem Geräusch mühelos eine Entfernung zuordnen. Zwei Stockwerke tiefer schlug jemand den Takt. Sie lehnte sich über die breite Fensterbank; ihr Bademantel öffnete sich, und der Wind kühlte ihre Brüste. Unten fegte ein Junge in Hoteluniform energisch den Bürgersteig, während Wasser aus einem Schlauch darüberlief und dem Asphalt jeden Moment neue Muster und Farbschattierungen verlieh. Nach einer Weile spürte der Junge, dass er beobachtet wurde. Seine Bewegungen wurden unregelmäßig und schwächer, bis er schließlich anhielt und nach oben sah. Das Mädchen lächelte zu ihm hinab. Er lächelte verwirrt und schüchtern zurück. Ehe er den Blick senkte, sah sie, wie er tief errötete. Unbeholfen nahm er seine Arbeit wieder auf, und rechts und links an seinem Kopf leuchteten seine großen roten Ohren.

***

Ross erwachte, weil er aus dem Sessel zu rutschen drohte und vom langen Sitzen heftige Schmerzen in seinem verletzten Bein hatte. Eines der Zimmerfenster stand offen. Er war allein. Er sah auf die Uhr; es war früher Nachmittag. Weil er nicht wusste, wie man von Zimmer zu Zimmer telefonierte, klopfte er erst gegen die verschlossenen Schiebetüren und dann, als er keine Reaktion bekam, im Korridor an die Zimmertür des Mädchens. Entweder schlief sie wie ein Stein oder sie war weg. Er rief die Rezeption an und erfuhr, dass Mademoiselle ausgegangen war und ihn in einem Restaurant am Hafen, in der Nähe des Hotels, erwartete.

Mademoiselle ist ausgegangen. Was war aus den Sicherheitsvorkehrungen geworden, die sie vereinbart hatten? Ross machte sich eilig auf den Weg. Im verspiegelten Fahrstuhl stand er sich wieder einmal selbst gegenüber. Er sah genau so aus, als hätte er die Nacht durchgemacht und wäre bekifft und in Kleidern in einem Sessel eingeschlafen. Sein neuer Anzug unterschied sich schon fast nicht mehr von seinem alten. Ich hätte mich rasieren sollen, dachte er, oder wenigstens die Zähne putzen. Immerhin, der Haarschnitt und die Hände hatten die Nacht gut überstanden.

Das Mädchen war nicht schon von Weitem zu sehen, wie er es als selbstverständlich angenommen hatte, er musste sie suchen. Sie saß unter einem grünen Sonnenschirm in der hintersten Reihe voll besetzter Tische vor einem Restaurant und war so tief in ihren Stuhl gerutscht, dass sie zwischen den anderen Gästen unauffällig blieb. Sie grüßte nicht und gab auch sonst nicht zu erkennen, dass sie seine Ankunft bemerkt hatte. Durch eine große Holly-Golightly-Sonnenbrille beobachtete sie die Straße und die Hafenpromenade. Ross drängte sich auf einen Stuhl und bestellte Kaffee. Er saß eine Weile neben ihr und blinzelte in den sonnigen Nachmittag, als er sie auf einmal wahrnahm. Zuerst war es nur eine Ahnung, dann wurde es eine deutliche Empfindung, wie in der Nacht im Wagen, nur dass er keinen Ärger empfand, sondern Unruhe. Er wandte sich ihr zu. Sie saß bewegungslos da und schien ihn zu ignorieren. Als er sie ansah, wurde das Gefühl so stark, dass er sie ansprach. »Was ist mit Ihnen?«

Sie änderte ihre Haltung nicht. »Wie lange wirkt das Zeug, das wir geraucht haben?«

»Vier, fünf Stunden.«

»Kriegt man davon auch Halluzinationen?«

»Gewöhnlich nicht.« Nicht von zwei kleinen Joints. »Haben Sie welche?«

»Entweder das, oder ich habe die Frau gesehen.«

Die Frau? Welche Frau? »Die aus der Bar?«

»Aus der Bar? Aus der Tiefgarage!«

Ross verstand nicht. Wen meinte sie? Ist sie irgendwie besonders sensibel und das Kiffen hat ihr geschadet? Wo bekomme ich jetzt schnell ein paar Valium her?

»Sie haben keine Ahnung, wovon ich spreche, nicht wahr?«

»Ehm … nein.«

»Am Steuer des Vans in der Tiefgarage saß eine Frau …«

Ross fühlte, wie sich sein Magen zusammenzog.

»… und die habe ich vor ein paar Minuten unter den Bäumen vorbeigehen sehen.«

Er starrte sie bestürzt an. Shit, dachte er, das kann doch gar nicht sein. Die schaffen es nicht, mich zu erschießen und das Mädchen zu verschleppen, aber sie finden uns nach achtundvierzig Stunden in fünfhundert Kilometern Entfernung. Das passt nicht zusammen. Sie muss sich getäuscht haben, sagte er sich und verwarf den Gedanken sofort wieder. Sicher waren sie nur, wenn sie sich so verhielten, als ob die Kidnapper tatsächlich in der Nähe waren. Aber was sollten sie tun? Verzweifelt bemühte sich Ross um eine Idee, aber alles, was ihm einfiel, war, was er falsch gemacht hatte. Statt einen anderen Wagen zu besorgen oder einen Bahnhof oder Busbahnhof zu finden, statt Ziele und Fluchtwege zu bestimmen, statt Straßenkarten oder Fahrpläne zu studieren, statt Fahrkarten zu besorgen … hatte er einen Tag verschlafen und einen zweiten verplempert. Und jetzt?

Ich wünschte, ich hätte eine Pistole, dachte er. Er sagte: »Wir müssen los.«

»Wohin?«

Wohin? »Zuerst ins Hotel. Wenn wir verschwinden, ohne zu zahlen, haben wir auch noch die Polizei an den Hacken.«

Sie schob die Brille ins Haar und sah ihn über den kleinen Tisch hinweg an. »Und dann?«

Warum nicht, dachte er, reden wir. Solange wir hier sitzen und reden, passiert nichts Schlimmeres. Und es hilft mir beim Denken.

»Dann gibt es zwei Möglichkeiten. Wir lassen uns vom Hotel einen Leihwagen besorgen. Das kann uns wertvolle Zeit kosten, und einer von uns muss eine Kreditkarte dafür hinlegen. Aber wenn wir schnell sind und nicht schon überwacht werden, dann könnten wir mit einem Leihwagen ziemlich weit kommen, bevor man uns wieder findet.«

»Wir werden nicht beobachtet«, sagte das Mädchen, »sonst hätte ich die Frau nicht gesehen. In der Tiefgarage haben wir sie auch erst bemerkt, als sie fast bei uns waren.«

Das ist nicht logisch, dachte Ross, wenn wir die Frau nur bemerken, weil sie keinen Grund sieht, sich zu verstecken, dann versteckt sie sich nicht, weil sie meint, dass wir nicht hier sind. Aber warum ist sie dann hier?

Das Mädchen musste sich getäuscht haben.

Sie sagte: »Und die zweite Möglichkeit?«

»Wir nehmen wieder unseren Wagen.«

»Das wäre Ihnen lieber.«

»Ja. Er ist gepanzert. Wenn wir erst einmal drinsitzen, sind wir unverwundbar und kaum aufzuhalten.«

»Aber?«

»Ich fürchte, dass er einen Peilsender trägt oder über das Navigationssystem lokalisiert werden kann.«

»Oh.«

Oh. Ross merkte, dass er gehofft hatte, dass sie etwas zur Lösung ihrer Probleme – seiner Probleme – beitragen würde, wenn er mit ihr sprach. Durch eine gute Idee, ein Wort oder eine Geste. Aber sie saß nur still da. Er sah auf und begegnete wieder einmal ihrem Katzenblick, diesmal ohne einen Spiegel als Mittler. Einen Augenblick lang hatte er das Gefühl, dass sie seine Gedanken las.

Sie sagte, »Wohin fahren wir?«

Ross antwortete nicht. Er wusste es nicht. Er wusste nicht einmal genau, wo sie waren.

»Warum fahren wir nicht einfach zum nächsten Flughafen?«

Was? »Morgen telefoniere ich wieder mit Hauser.«

»Warum morgen? Warum nicht heute?«

Sie hat recht, dachte er.

»Vielleicht weiß er heute schon, was er Ihnen morgen erzählen will. Und wenn er meint, wir sollten nicht fliegen – er kann uns nicht daran hindern. Wir können tun, was wir wollen, Walter.«

»Ja«, sagte er, »das stimmt.« Und wenn die Polizei auf uns wartet, dachte er, dann ist verhaftet immer noch besser als erschossen.

»Der nächste Flughafen ist in Bordeaux. Zweihundert Kilometer von hier.« Sie griff ihre Tasche und wollte aufstehen.

Er hielt sie zurück. »Moment noch. Wie sieht die Frau aus? Auf was muss ich achten?«

»Ein heller Hosenanzug, brasilianische Haare. Schlank, fast so groß wie Sie.«

Brasilianische Haare? Ross sagte: »Okay, sehen Sie sich noch mal um. Sehen Sie sie irgendwo? Nicht? Ganz sicher? Dann gehen wir jetzt zum Hotel. Nicht nervös werden. Vor all den Leuten hier wird nichts passieren.«

Sie stand auf und blickte aus ihrer erhabenen Höhe zu ihm hinab. »Ich bin nicht nervös.«

»Gut. Dann los.«

Ross sah sich auf den dreihundert Metern zum Hotel nicht um. Er war sich nicht nur sicher, dass sie auf der belebten Promenade vor zig Zeugen nicht überfallen werden würden, er glaubte auch nicht, dass das Mädchen tatsächlich gesehen, was sie ihm erzählt hatte. Er überlegte. In der Tiefgarage war der Van in sechs oder sieben Metern Entfernung an ihm vorbeigefahren, als er in die Pistolenmündung blickte. Er musste den Fahrer wahrgenommen haben, wenigstens unbewusst. Und wenn es eine Frau gewesen war, dann würde er sich bestimmt an sie erinnern. Aber nichts. Doch das kann alles heißen, dachte er: dass es die Frau nicht gibt, dass ich mich einfach nicht erinnere, oder dass mein Hirn nach den Joints am Morgen noch nicht zum Normalbetrieb zurückgekehrt ist. Das verdammte Gras. In ein paar Minuten würde er seine ganze Geistesgegenwart brauchen, wenn er wieder mit Hauser telefonierte. Er würde sich nicht noch einmal überrumpeln lassen, nahm er sich vor, als sie die Hotellobby durchquerten, nein, er würde offensiv in das Gespräch gehen, Inhalte und Tempo selbst bestimmen und keine Fragen beantworten. Ja. Genau: offensiv. Kontrolle.

Im Fahrstuhl sprach er zum Spiegelbild des Mädchens. »Wir nehmen nichts mit außer Flugkarten, Pässen und Geld. Werfen Sie alles aus Ihrer Tasche, was Sie nicht dringend brauchen, damit das Geld reinpasst.« Er sah auf ihre Sandalen. »Und ziehen Sie geschlossene Schuhe an.«

»Ach. Werden wir zu Fuß flüchten?«

Ross sagte: »Nachher bezahlen Sie unsere Rechnung, und ich telefoniere.«

Sein Zimmer war aufgeräumt und gelüftet, sein Bett gemacht. Der Aschenbecher, in dem die Stummel der Joints gelegen hatten, war leer und sauber. Der Beutel mit dem Marihuana lag ordentlich auf dem Schreibtisch. Ross packte hastig und stellte seine Tasche verschlossen auf den Boden. So alt und schäbig sie auch war, er ließ sie ungern zurück. Sie war sein ältester Besitz und begleitete ihn, seit die Armee ihn vor mehr als zwanzig Jahren nach Panama geflogen hatte. Lange Zeit hatte alles, was ihm gehörte, in diese Tasche gepasst. Vielleicht konnte er später dafür sorgen, dass er sie wiederbekam. Dieses Hotel warf vergessenes Gepäck sicher nicht weg, und weder die Tasche selbst noch der Inhalt verlockten zum Diebstahl. Er warf das Marihuana und die Tabletten von der Tankstelle in die Toilette und drückte mehrmals die Spülung. Je ein Päckchen europäische Fünfziger und Hundertdollarscheine steckte er ein, den Rest des Geldes trug er in dem Kuvert, in dem er es erhalten hatte.

Auf dem Korridor wartete das Mädchen schon auf ihn.

Er sagte: »Das ging aber schnell.«

»Was ging aber schnell?«

»Haben Sie nicht gepackt?«

Sie hatte sich nur umgezogen. Im Fahrstuhl hielt sie ihre Tasche auf, und Ross schüttete das Geld aus seinem Umschlag zu dem, das sie schon bei sich trug. Als sie im Erdgeschoss ankamen, blickte er zu ihr auf und fragte: »Alles klar?«

Sie nickte.

Von einem öffentlichen Telefon aus, in einer ruhigen Ecke der Lobby, sah er eine Minute lang geistesabwesend zu, wie das Personal an der Rezeption um das Mädchen herumwuselte; dann wählte er.

»Vermittlung.« Es war dieselbe ruhige Frauenstimme wie bei seinem ersten Anruf.

»Hallo. Wir haben vergangenen Dienstag telefoniert, erinnern Sie sich?«

»Rufen Sie von einem öffentlichen Telefon aus an?«

»Ja.«

»Bleiben Sie dran. Es kann dauern.«

Es dauerte. Ross hörte mehrmals Schaltgeräusche in der Leitung. Dann sprach Hauser. »Was gibt’s?«

Er klang so nahe und so klar, als stünde er in der Telefonbox nebenan.

»Was haben Sie für mich?«

»Sie rufen zu früh an.«

Ross antwortete nicht.

»Wir wissen noch nichts Genaues.«

»Sagen Sie mir, was Sie nicht genau wissen.«

»Warum so dringend? Gibt es ein Problem?«

Ross antwortete nicht.

»Sie haben viel Aufregung verursacht, und eine Menge Leute rätseln darüber, was sich in der Tiefgarage eigentlich abgespielt hat. Und vor allem, warum. Aber offiziell ist Totenstille, und es ist auch nichts in die Medien gelangt. Wir wissen noch nicht, ob nach Ihnen gesucht wird.«

Also keine reguläre polizeiliche Fahndung, dachte Ross, ist das gut oder schlecht?

Hauser sagte: »Sind Sie noch dran?«

»Ja.«

»Alles okay bei Ihnen?«

Ross antwortete nicht.

»Wissen Sie jetzt, was Sie wissen wollten?«

Ross sagte: »Wir kommen rein.«

Hauser hielt sich nicht mit Umschweifen auf. »Nein. Bleiben Sie, wo Sie sind. Wir können das Mädchen hier nicht brauchen. Nicht jetzt.«

Hab ich dich, dachte Ross. »Warum?«

»Das muss Sie nicht interessieren.«

»O doch. Wir sind nicht mehr beim Militär, Hauser. Wenn ich meinen Hals für Sie riskieren soll, dann müssen Sie mir mehr bieten als ein Das-muss-Sie-nicht-interessieren.«

Hauser lenkte sofort ein. Er hatte trotz eines langen Lebens als Offizier nicht das Gespür dafür verloren, wann er Unterlingen entgegenkommen musste. Er plädierte. »Hören Sie, Walter, wir haben hier im Moment eine schwierige und unübersichtliche Situation, eine Art Belagerungszustand. Wir haben schon Mühe, uns selbst zu schützen. Mit dem Mädchen hätten wir nicht nur zusätzlichen Sicherheitsaufwand, das verrückte Kind ist an sich schon ein Risiko. Sie kennen sie ja jetzt ein paar Tage. Sie können bestimmt ein Lied davon singen.«

Was? Die abfällige Bemerkung überraschte Ross. Irgendwie hatte er bisher geglaubt, dass Hauser das Mädchen mochte. Die Unterstellung, dass er und Hauser einer Meinung über sie seien, irritierte ihn. Du falscher Bastard, dachte er, ja, ich kenne sie jetzt ein paar Tage. Sie ist ein nettes Mädchen.

Hauser sagte: »Sind Sie noch da?«

Ross hängte ein. Als er sich umdrehte, stand sie vor ihm. Sie fragte: »Wer war dran?«

»Hauser.« Er nahm den Hörer wieder von der Gabel und hielt ihn ihr hin. »Möchten Sie noch mal randalieren?«

»Nein danke. Vielleicht später. Was hat er gesagt?«

»Nichts Wichtiges. Wir fahren zum nächsten Flughafen.«

»Au-kay«, sagte sie, indem sie seine Südstaatler-Aussprache imitierte, »dann laus.« Sie blinzelte ihm mit dem blassen Auge zu, als er sie überrascht ansah.

Sie verließen das Hotel durch das Restaurant, in dem sie zu Abend gegessen hatten und dessen Haupteingang in einer Seitenstraße lag. Ein Taxi brachte sie zu dem Parkhaus, in dem sie ihr Auto gelassen hatten. Für einen Extrazehner fuhr der Fahrer sie ins Untergeschoss und lud sie direkt vor der Limousine ab. Ross war darum bemüht, nicht nervös oder hastig zu erscheinen, aber er verschwendete keine Zeit auf dem Weg hinter das Steuer. Auch das Mädchen trödelte nicht. Sie warf sich in den Beifahrersitz und brachte den ganzen Wagen zum Schaukeln. Gleichzeitig schlugen sie die Türen zu, und Ross drückte sofort die Zentralverriegelung. K-lunk.

Sie waren in Sicherheit.

Pop. Tsss.

Ross steckte den Zündschlüssel, und die Anzeigen erwachten zum Leben. Die Skalen und Lichter des Armaturenbrettes gerieten in Bewegung und schaukelten sanft durch sein Blickfeld. Er hatte das Gefühl, langsam zu fallen. Das Lenkrad, an dem er sich festhalten wollte, schien unerreichbar weit entfernt. Um das Gleichgewicht wiederzufinden, stemmte er sich gegen die Rückenlehne seines Sitzes.

Tsss.

Das Mädchen sagte: »Walter?«

Sie klang alarmiert. Er hatte nicht mehr die Kraft, ihr zu antworten. Seine ganze Aufmerksamkeit richtete sich auf einige Männer, die vor und neben dem Wagen aufgetaucht waren und ihn durch das dicke Glas der Fenster interessiert und abwartend betrachteten. Dann versank er. Durch den Sitz, den Wagenboden, den Beton des Parkhauses in die Mitte der Welt.

Tsss.