6. Kapitel
Ross drehte den festen, gelben Umschlag in den Händen. Er trug keinen Absender. Das Papier wirkte wertvoll.
Dear Mr. Ross, stand in grüner Tinte auf der dritten Seite der gefalteten Karte, die er aus dem Umschlag zog, durch einen günstigen Zufall haben wir erfahren, dass Sie in N. Y. sind. Bitte machen Sie uns die Freude und lunchen Sie mit uns am usw., H. F. Whittaker IV. Was für ein seltsamer Text. Handgeschrieben. Schöne Schrift, keine Verschreiber und, soweit Ross erkennen konnte, keine Fehler. Die Frontseite der Karte war farblos geprägt, und Ross musste sie schräg halten, um die Prägung zu erkennen: die Erdkugel mit den amerikanischen Kontinenten und die Worte Great Western Financial Consultants. Das war ebenso aufgeblasen wie nichtssagend.
Er hielt Wyllis die Karte hin. »Kennst du die?«
»Du nicht?« Wyllis roch an der Karte, bevor er die Prägung bemerkte. Ross sah ihm über die Schulter, während er Great Western Financial Consultants googelte, aber sie existierten nicht im Netz und H. F. Whittaker IV auch nicht.
»Was soll sein«, sagte Wyllis schließlich, »Hauptsache, die kennen dich. Geh einfach mit ihnen essen, dann weißt du mehr. Oder ist das ein Problem?«
Ross antwortete nicht. Nein, das ist kein Problem, dachte er, ich habe nur keine Ahnung, wer das sein könnte. Jemand, der mich kannte, bevor ich nach New York kam, schreibt mir. Aber bevor ich nach New York kam, war ich Soldat, und davor habe ich in Texas für eine drittklassige Rockband Bühnen auf- und abgebaut. Niemand, den ich bei der Army kannte oder in Texas oder noch früher, in Backwater, Louisiana, würde mir schreiben. Anrufen, ja, wenn überhaupt. Niemand, den ich kenne, niemand, an den ich mich erinnere, würde die Anrede Dear Mr. Ross verwenden. Und Sätze wie durch einen günstigen Zufall haben wir erfahren und machen Sie uns die Freude … Also? Also was? Etwas beunruhigt mich, dachte Ross beklommen.
Wyllis konnte das Schweigen seines Partners nicht deuten. Ross schien meilenweit und Jahre entfernt zu sein. Wyllis mochte Ross, ohne genau zu wissen, warum. Hätte man ihn überraschend danach gefragt, hätte er ihn wahrscheinlich als Freund bezeichnet. Aber während er darauf wartete, dass Ross etwas sagen würde, wurde ihm klar, dass er ihn kaum kannte und nicht sehr viel mehr von ihm wusste als das, was er selbst miterlebt hatte.
Die Stille wurde ihm unangenehm.
»Alles in Ordnung, Walter?«
Ross sah auf. Wyllis wirkte verlegen.
»Alles in Ordnung, Willy«, Ross lächelte, und Wyllis lächelte erleichtert zurück, »ich überlege nur.«
***
Das Marco’s verbarg sich hinter der unscheinbaren Fassade eines Hauses in TriBeCa. Ross ließ den Taxifahrer einmal um den Block fahren, weil er meinte, zu früh zu sein, und weil er, bis er schließlich ausstieg, nicht sicher war, ob er der Einladung folgen würde. Trotz des Namens war das Marco’s kein Italiener und auch keines der Restaurants, in dem die Angestellten des nahen Finanzdistriktes Salat und Mineralwasser bestellten und achtlos aßen und tranken, ohne die Gespräche mit Kollegen oder Geschäftspartnern zu unterbrechen. Die Gäste wirkten wie Menschen, die selbst über ihre Zeit verfügten und nicht in zwanzig Minuten wieder in einem fensterlosen Büro vor dem Bildschirm sitzen mussten. Nur die Hälfte der schneeweiß gedeckten Tische war besetzt. Musik lief so leise, dass man sich konzentrieren musste, um sie zu hören. Carol würde es hier gefallen, dachte Ross.
Der Maître d’hôtel eskortierte ihn. Als er sich plötzlich mit einer angedeuteten Verbeugung zurückzog, brauchte Ross eine Sekunde, bis ihm klarwurde, dass er am Ziel war, und eine weitere, bevor er begriff, dass er die beiden Männer, die bei seinem Kommen aufgestanden waren, nicht kannte.
»Mr. Ross! Es freut mich, dass Sie kommen konnten.«
Whittaker beugte sich mit weit ausgestrecktem Arm über den Tisch, um bei der Begrüßung auf Augenhöhe mit Ross zu sein.
»Harold Whittaker. Das ist Charles Hauser. Sie erinnern sich?«
Hausers Lächeln war zurückhaltender und sein Händedruck fester. »Sind Sie überrascht?«, fragte er freundlich.
Ross suchte nach Worten. Dann sagte er: »Ich weiß im Moment nicht, woher wir uns kennen. Tut mir leid.«
»Nicht?«, fragte Whittaker ungläubig. »Mr. Ross, Sie haben uns einmal aus einer Gefangenschaft befreit, das werden Sie doch noch wissen, oder?«
Gefangenschaft? Gefangenschaft …? Ach, das. Aber das war vor zwanzig Jahren. Ross sagte: »Doch, ich erinnere mich.«
Mehr oder weniger jedenfalls. Damals, in jener Nacht, war er viel zu überdreht und beschäftigt gewesen, um sich Gesichter zu merken. Ross kramte in seinem Gedächtnis. Die beiden Gefangenen, die er befreit hatte, waren größer als er selbst, und der eine war schmaler und hatte mehr Haare als der andere. Er sah die Männer auf der anderen Seite des Tisches an und dachte, ja, gut, das könnten sie sein. Gewesen sein. Er sagte: »Das ist alles so lange her.«
»Ja, nicht wahr?«, antwortete Whittaker, »aber nehmen Sie doch bitte Platz.«
Ross zögerte. Was soll das, dachte er, weshalb wollen die beiden diese alte Geschichte aufwärmen, nach so langer Zeit? Irgendwie fühlte er sich überrumpelt, aber einen Grund, sich zu verabschieden, hatte er nicht. Er setzte sich. Es ging ja um nichts. Er konnte auch noch später gehen. Jederzeit.
»Wissen Sie, Walter – ich darf Sie doch Walter nennen? Wissen Sie, diese Nacht in, ähm …«
»San Isidro«, sagte Hauser.
»San Isidro. Ich glaube, das war die längste Nacht meines Lebens.«
»Ja, sie war lang«, sagte Ross, nur um etwas zu antworten.
Whittaker gab dem Kellner, der in der Nähe gewartet hatte, ein Zeichen. Sie ließen Ross den Vortritt bei der Bestellung der Getränke. Er entschied sich für Bier. Ein Bier würde ihn etwas entspannen. Der Nachmittag war ohnehin gelaufen. Das Marco’s war kein Lokal, in dem viel Bier getrunken wurde, und Whittaker und Hauser wirkten nicht wie Biertrinker, aber sie schlossen sich ihm an.
Als der Kellner gegangen war, sagte Ross: »Wo haben Sie mich eigentlich wiedergesehen?«
»Wie? Ach so, auf dieser Baustelle.«
In Dysons Tiefgarage? Ross dachte an die Bewaffneten und sagte: »Tatsächlich.«
»Wir saßen im Wagen und warteten darauf, dass Will Dyson Zeit für uns haben würde. Sie waren vor uns dran. Wir konnten es erst gar nicht glauben.«
Whittaker hatte eine verworrene Art zu reden, fand Ross. Was konnten sie nicht glauben?
»Aber dann waren wir uns sicher und meinten, also, dass wir den glücklichen Zufall nutzen sollten, um uns bei Ihnen zu bedanken. Ich meine, ohne Sie …«
Und wie hatten sie seinen Namen und seine Adresse herausgefunden? Ross fragte: »Hatten Sie Mühe, mich zu finden?«
»Ach, nein.« Whittaker lächelte sein gewinnendstes Lächeln.
»Ohne Sie würden wir nicht hier sitzen«, sagte Hauser.
»Und auf ein Bier warten«, sagte Whittaker. »Aber da kommt es ja schon.«
Es war gezapftes Bier. Als die beschlagenen Gläser vor ihnen standen, schien keiner der drei Männer zu wissen, was er als nächstes sagen sollte. Dann hob Hauser sein Glas in Ross’ Richtung und sagte: »Cheers, auf die alten Zeiten«, und Ross antwortete, »Cheers, und gut, dass sie vorüber sind.« Über den Rand der Gläser hinweg sahen sie sich kurz an. Hauser blickte gelassen und mit einer Spur freundlicher Neugier, als beobachtete er ein kleines Spiel oder ein harmloses Experiment. Die kalte, bittere Flüssigkeit belebte Ross und er sagte, »Was haben Sie eigentlich dort gemacht … damals?«
»Entwicklungshilfe«, sagte Whittaker.
Bullshit. Ross stellte sein Glas fest auf den Tisch. Er konnte jederzeit gehen. Zum Beispiel jetzt. Er lehnte sich zurück, stemmte beide Hände gegen die Tischkante und sagte: »Hören Sie, Harold, was soll das? Warum sind wir hier?«
»Walter.« Whittaker beugte sich rasch vor, die Ellenbogen aufgestützt, die Handflächen zusammengelegt. Die professorale Zerstreutheit in seinem Benehmen war verschwunden. Er sprach freundlich und eindringlich. »Sie sind ein vorsichtiger Mann. Das ist gut. Sie kennen uns nicht. Aber ich versichere Ihnen, wir sitzen hier ohne verborgene Absichten. Wir waren einfach überrascht und haben uns gefreut, Sie wiederzusehen, schließlich verdanken wir Ihnen unser Leben. Wir haben uns gedacht, wir essen zusammen, trinken etwas, unterhalten uns ein wenig. Aber wir haben auch Grund zur Vorsicht. Auch wir kennen Sie nicht. Was wir damals gemacht haben, war nicht für die Öffentlichkeit bestimmt. Es war und ist juristisch belanglos, aber es könnte uns in ein falsches Licht rücken, verstehen Sie? Auch wenn es lange her ist.«
Ross sagte sich, das ist wahr, es ist lange her. Reg dich ab. Und sei höflich, der Mann bezahlt dein Bier.
Whittaker wollte das Gespräch in Gang halten. Er lächelte. »Das mit der Entwicklungshilfe, das war nicht ernst gemeint.«
Ross lächelte mechanisch zurück. »Ja, klar. Sie waren ganz sicher nicht beim Peace Corps.«
Hauser schmunzelte und trank.
»Eigentlich«, fuhr Whittaker fort, »eigentlich hätte uns die ganze Geschichte gar nicht passieren dürfen. Wir waren damals schon lange keine Anfänger mehr. Die Küstenprovinzen galten als einigermaßen sicher, sogar für Amerikaner, und wir hatten dort jede Menge Kontakte und Partner. Der richtige Krieg fand im Hochland statt, im Cauca-Tal und auf der Amazonasseite. Wegen des Wetters sind wir nicht geflogen, sondern waren mit dem Wagen unterwegs. Irgendwie hatte sich etwas geändert, und Leute, die uns sonst mit offenen Armen empfingen, waren auf einmal nicht mehr zu sprechen, abweisend oder feindselig. Bevor wir uns davonstehlen konnten, hat ein lokaler comandante beschlossen, uns zu Geld zu machen.«
Und, dachte Ross, warum seid Ihr nicht einfach freigekauft worden? Aber er wollte nicht schon wieder eine Frage stellen. Whittaker schien seinen Gedanken erraten zu haben.
»Wir mussten freikommen, bevor die FARC oder die ELN uns in die Hände bekamen. Wahrscheinlich wären wir eher früher als später sowieso bei ihnen gelandet, denn wir hatten damals militärische Ränge. Wir waren zur Botschaft abkommandiert und deshalb eine wertvolle Informationsquelle, für die man ein anständiges Lösegeld bekommen konnte – vorausgesetzt, wir hätten die Befragungen überlebt. Die Leute, die uns festhielten, waren nur Provinzpolizisten und frustrierte Soldaten, die sich bei unserer piñata übergangen fühlten. Unter Druck hätten sie uns sofort an die Guerilla herausgegeben. Glück für uns, dass sie Amateure waren. Sie ließen unseren Fahrer laufen, behielten aber den Toyota, in dem ein Piepser installiert war. Als wir uns zweimal zu vereinbarten Terminen nicht gemeldet hatten, wurde erst der Wagen geortet, und als dann auch noch der Fahrer anrief, die Rettungsaktion organisiert.«
Whittaker schwieg. Hauser sagte zu Ross: »Und dann wurden Sie losgeschickt.«
Das Bier hatte Ross etwas entspannt. Warum nicht, dachte er, eigentlich gibt es ja keine Geheimnisse zu verraten. Whittaker und Hauser saßen aufmerksam und abwartend auf der anderen Seite des Tisches.
Ross sagte: »Wir waren zu viert. Es lief alles ziemlich überstürzt ab. Früh morgens kam ein Mann mit einem Packen Luftbilder und einer Karte. Er zeigte uns eine Küste, eine Flussmündung, an der wir abgesetzt werden würden, und einen Kilometer landeinwärts das Dorf. Drei Dutzend Hütten mit Wellblechdächern an einer Kreuzung von zwei Schotterpisten. Manche Luftaufnahmen des Dorfes waren aus so geringer Höhe gemacht, dass man sogar Leute darauf erkennen konnte. Weil es nur zwei feste Gebäude gab, eine Bar und die Polizeistation, sind wir davon ausgegangen, dass Sie in einem der beiden zu finden wären.«
Hauser sah ihn fragend an, unterbrach ihn aber nicht. Ross sagte: »Ich hätte Sie woanders aufbewahrt. Also, die Einweisung dauerte kaum eine Stunde, dann mussten wir packen, wurden raus aufs Meer geflogen und auf diesem Schiff, diesem Fischerboot, abgesetzt. Bei Einbruch der Dunkelheit waren wir an der Flussmündung, und als wir an Land wateten, wurden wir beschossen. Ich ging in Deckung und verlor die anderen aus den Augen. Das Boot war nach dem ersten Schuss mit voller Kraft raus aufs Meer gefahren, und an einem der vereinbarten Treffpunkte wäre ich frühestens an Mitternacht aufgelesen worden. Also habe ich mein Gepäck in die Mangroven geworfen und bin zum Dorf gelaufen.«
Diesmal war es Whittaker, der ihn fragend ansah.
»Das war nicht besonders riskant«, fuhr Ross fort, »als ich loslief, war es stockdunkel. Die Schießerei war meilenweit zu hören, und wenn es knallt, bleiben Zivilisten zu Hause. Die Uniformierten waren am Meer oder im Dorf beschäftigt auf dem Weg hätte ich niemand getroffen.«
Ross lehnte sich zurück.
Whittaker winkte dem Kellner. Ross hatte keinen Hunger, blätterte achtlos in der Speisenkarte und entschied sich für Steak und Salat. Als der Kellner gegangen war, sagte Hauser: »Haben Sie nicht befürchtet, sich im Dunkeln zu verlaufen?«
»Nein«, sagte Ross, und nach kurzem Zögern: »Ich verlaufe mich nie.«
Einen Moment lang saßen die drei Männer schweigend hinter ihren Gläsern, als dächten sie über die Bedeutung dieses Satzes nach. Dann brachte Whittaker das Gespräch wieder in Gang.
»Und Sie wussten, wo Sie uns finden würden. Der Generator, nicht wahr?«
Die beiden sind echt, entschied Ross, sie waren dort. Er sagte: »Ja. Ich bin auf das Geräusch zugelaufen.«
»Einfach so?«
Nein, natürlich nicht einfach so. Während er erzählt hatte, hatten sich auf einmal, erst unmerklich, dann überstürzt, Erinnerungen in ihm aufgetürmt, so klar und plastisch, dass Ross fast an ihrer Echtheit zweifelte. Zugleich erreichten ihn die Echos der Empfindungen in jener Nacht: die pausenlose, fast schmerzhafte Anspannung, das Rauschen des Blutes in seinem Gehör und der Geschmack von Schweiß. Das Bocken der Pistole und der scharfe, aufregende Geruch von verbranntem Kordit. Die hellseherische Sicherheit und das fast hysterische Selbstvertrauen, die ihm Die Kapsel verlieh. Bei jedem Einsatz bekamen sie die Kapseln, aber meistens brauchte er sie nicht. Diesmal hatte er drei davon. Als er merkte, dass das Boot weg und er allein war, nahm er sofort die erste. Fünf Minuten kauerte er im Schlamm des Flussufers und lauschte den Geräuschen der tropischen Nacht und den Rufen der Soldaten, die zweihundert Meter weiter draußen auf den Sandbänken hin und her liefen, ihre Lampen schwenkten und ab und zu hinaus aufs Meer schossen. Dann setzte die Wirkung ein. Rock ’n’ Roll. Die Dunkelheit wurde transparent. Er wusste, wo er war und wohin er gehen musste. Er fühlte sich fit und zuversichtlich. Er konnte nicht länger untätig bleiben. Er streifte seinen Rucksack ab und marschierte entschlossen los. Das Geflecht von Pfaden, das durch Buschland und Felder zum Dorf führte, war auch im Dunkeln bequem zu begehen. Ross lief schnell und gleichmäßig. Obwohl die Nacht so nahe am Meer eher kühl war, schwitzte er in Strömen, eine Nebenwirkung der Droge, die ihn anfeuerte. Er bedauerte, die Schussweste anbehalten zu haben. Sie war wirkungslos gegen die Munition der Sturmgewehre, die die Soldaten benutzten, und würde ihn bis zum Morgen wund gescheuert haben. Froh war er, Schweißbänder und fingerlose Handschuhe zu tragen; ohne sie wäre ihm der Schweiß in die Augen gelaufen und das Gewehr aus den nassen Händen gerutscht. Nach zwanzig Minuten Marsch roch er die Holzfeuer und den Abfall des Dorfes. Das lauteste Geräusch in der Nacht war das gleichmäßige Rattern eines kleinen Motors in einiger Entfernung. Ein Motor. Ein Generator? Ein Generator. Irgendwo gab es elektrisches Licht, und dort würden die Gefangenen sein, entschied er, ohne zu zögern. Er genoss die Wirkung der Kapsel. Sie gab einem die Sicherheit, zu entscheiden, und zugleich das Vertrauen in die Richtigkeit der getroffenen Entscheidung – ganz gleich, wie man sich entschied. Zuerst würde er sich die Bar ansehen, denn sie lag auf seiner Seite der Durchgangsstraße. Wenn dort kein Licht war, würde er zur Polizeistation gehen. Weiter dachte er nicht. Als er die ersten Hütten vor sich hatte, machte er einen Moment Pause, um sich zu sammeln und zu orientieren. Okay. Bis jetzt ist alles gutgegangen, sagte er sich, nur nicht leichtfertig werden. Egal, was mir die Kapsel vorgaukelt, der schwierige Teil kommt erst noch.
Dann los.
In der frühen Nacht schienen alle Dorfbewohner auf den Beinen zu sein. Überall waren Stimmen in der Dunkelheit zwischen Herdfeuern und Petroleumlampen. Schatten kreuzten seinen Weg oder liefen an ihm vorbei, während er ohne Deckung und ohne Eile auf stockfinsteren Wegen zwischen den Hütten die letzten hundert Meter bis zur Bar zurücklegte. Niemand rief oder sprach ihn an. Niemand schien ihn zu bemerken, nicht einmal die Hunde. Nur einmal kam er einer Kochstelle zu nahe und stieß fast mit einer kleinen, alten Frau zusammen. Im Schein der Glut sah er, dass sie sich mit gesenktem Kopf bekreuzigte, bevor er an ihr vorüber war. Das Motorengeräusch wurde immer lauter. Der Generator stand tatsächlich hinter der Bar. Als endlich die Rückseite des Hauses nur noch dreißig Schritte entfernt war, blieb Ross im Schatten eines Euphorbienzauns stehen, atmete durch, wischte sich den Schweiß aus dem Gesicht und versuchte, die Finger an seinem Hemd zu trocknen. Dann betastete er prüfend seine Waffen. Er lockerte den Schalldämpfer der Pistole und schraubte ihn langsam wieder fest. Er löste die Magazine aus Gewehr und Pistole und setzte sie sorgfältig wieder ein. Er lud beide Waffen durch, ohne sich um die Patronen zu kümmern, die in den Kammern gewesen waren und nun in die Dunkelheit geschleudert wurden. Der lärmende Generator übertönte die metallischen Geräusche, die er verursachte. Zuletzt befühlte er die Ersatzmagazine in seinen Gürteltaschen und zählte sie lautlos. Nachdem er jedes einzelne berührt hatte, lief er wieder los.
Die Rückwand des roh gemauerten Gebäudes war fensterlos; die Öffnung einer schmalen Hintertür in den schmutzigen Hof war dunkel. Vom Dachüberstand über der Tür baumelte eine schwach leuchtende Glühbirne. Ein Uniformierter saß mit einem Gewehr über den Knien auf der Türschwelle; ein anderer stand ein paar Schritte entfernt mit dem Rücken zum Licht und pisste in den Hof. Wahrscheinlich war er betrunken; er schien nicht überrascht, als Ross aus der Dunkelheit kam und an ihm vorbei dem Mann auf der Türschwelle in die Brust schoss. Er pisste immer noch, als ihn der zweite Schuss in die Stirn traf und seinen Hinterkopf aufsprengte. Für einen Sekundenbruchteil hatte er im Gegenlicht einen Heiligenschein aus zerstäubtem Blut und Hirngewebe, dann fiel er auf den Rücken. Ross war mit wenigen Schritten an dem Toten vorbei und an der Tür. Auch dem ersten Mann, der dort regungslos mit dem Gesicht im Schmutz lag, schoss er in den Kopf, bevor er über ihn hinwegstieg. Auf der Schwelle reckte er sich, zerschlug mit der Pistole die Glühbirne, trat ins Haus und verriegelte die rohe Holztür hinter sich. Der Blick ins Licht, bevor er die Birne zerstört hatte, hatte ihn für kurze Zeit fast blind gemacht. Er stand in einem kurzen, schmalen Korridor, so viel erkannte er im Halbdunkel. Mit zusammengepressten Lidern zählte Ross im Stillen langsam bis zehn und analysierte dabei die Geräusche, die der Generator nicht übertönte, bereit, jeden Moment um sich zu schießen. Wenige Meter entfernt, hinter der Wand, stritten mehrere Männer und schlugen krachend auf die Möbel. Er sortierte die Stimmen. Es waren mindestens drei, vielleicht vier, wenn nicht einer oder mehrere von ihnen schwiegen. Waren auch die Gefangenen auf der anderen Seite der Tür? Gab es noch andere Gäste, die nicht zu hören waren, einen Barmann, Frauen? Vier Patronen hatte er verbraucht, neun waren noch in der Pistole.
Endlich konnte er wieder einwandfrei sehen. Schwaches Licht drang zwischen den Balken und dem Wellblech des Daches aus den angrenzenden Räumen. Vor ihm lag die Tür zum Gastraum.
Dann los.
Ross öffnete ohne Hast die Tür, machte zwei Schritte und stand hinter dem Tresen. Mitten in dem schäbigen, spärlich möblierten Raum saßen vier Uniformierte um einen kleinen Tisch unter einer Neonröhre und spielten Karten. Sie redeten laut durcheinander und beachteten ihn nicht. Um die Tisch- und Stuhlbeine herum standen Bierflaschen. Die Gewehre der Kartenspieler lehnten neben ihren Ellenbogen an der Tischkante. In der entferntesten Ecke des Raumes saßen zwei Männer mit dem Rücken zur Wand am Boden: die Gefangenen. Sonst war niemand in der Bar. Gut. Gegenüber dem Tresen führte eine große, offen stehende Tür auf die dunkle Straße. Zwei Fenster hin zur Straße waren mit Holzläden verschlossen.
Die leichtesten Ziele zuerst. Ross stützte die Pistolenhand auf den Tresen, um das Gewicht des Schalldämpfers zu balancieren. Er schoss dem Soldaten, der mit dem Gesicht zu ihm saß, hoch in die Brust, dessen Gegenüber zwischen die Schulterblätter und dem Dritten, rechts am Tisch, in den Kopf. Das Stimmengewirr wurde mit jedem Schuss weniger. Mit den fallenden Männern kippten Stühle, Gewehre und Bierflaschen. Für den dritten Schuss musste Ross eine halbe Sekunde zielen. Der vierte Soldat hatte die Reaktion einer Katze. Aber statt sich hinzuwerfen sprang er auf und bot ein leichtes Ziel; Ross feuerte so lange, bis er am Boden lag. Dann ging er hinter dem Tresen in die Knie und tauschte das Magazin der Pistole aus.
Einen Moment später stand er wieder, die Waffe in der ausgestreckten Faust, aber nichts hatte sich verändert. Die beiden Gefangenen verfolgten die Aktion aus ihrer Ecke heraus scheinbar gelassen. Ross ging schnell um den Tresen herum und schoss auf dem Weg zur Tür seinen ersten beiden Opfern in die Köpfe. Der dritte Mann brauchte keine zweite Kugel. Der vierte Mann lebte noch. Er lag flach atmend auf dem Rücken in einer Lache aus Blut und Bier und folgte Ross mit den Augen auf dessen Weg, bis er selbst an der Reihe war. Dann senkte er die Lider, aber nicht schnell genug.
Draußen war es ruhig und niemand war zu erkennen, als Ross vorsichtig aus der Tür sah. Dicht an der Hauswand war ein Landcruiser geparkt. Bei einem der Toten fanden sich die Schlüssel für das Auto und die eine Handschelle, mit der die Gefangenen an Handgelenk und Fußknöchel aneinander gefesselt waren. Sie fuhren unbehelligt aus dem Dorf und einen Kilometer weiter bis zum Fluss, versenkten den Wagen und marschierten durch Maisfelder und Bananenpflanzungen eine Stunde lang flussaufwärts zu einer Landzunge. Bis Mitternacht lagerten sie still im taunassen Gras. Dann wurden sie von zwei schweigsamen Männern mit Restlichtaufhellern vor den Gesichtern in einem schwarzen Schlauchboot abgeholt, zur Flussmündung und dann aufs Meer hinausgebracht. Vor Tagesanbruch erreichten sie das Schiff, von dem das Kommando am Abend zuvor abgesetzt worden war. Die drei anderen Angehörigen des Teams waren schon an Bord. Kurz nach Sonnenaufgang kam ein ziviler Helikopter mit Schwimmkörpern anstelle von Kufen und holte die Befreiten ab.
Während sie am nächtlichen Flussufer auf das Boot warteten, hatte Ross die zweite Kapsel geschluckt – ein Fehler. Auf dem Weg zum Schiff kämpfte er mit Brechreiz und hatte Zitteranfälle; kaum war er an Bord, erbrach er, was er gerade getrunken hatte, und konnte sich nicht mehr auf den Beinen halten. Einen Moment lang war ihm schwarz vor Augen. Als er wieder zu sich kam, hatte man ihn mit dem Gesicht nach unten auf das ölige Deck gelegt, damit er nicht erstickte, wenn er noch einmal kotzte. Der kräftigere der beiden Männer, die er befreit hatte, packte ihn hart an der Schulter und sprach zu ihm. Ross verstand ihn nicht, denn das Blut brauste in seinen Ohren, aber er wusste, was er sagte. Lehrer, Trainer, Ausbilder, Offiziere – alle sagten immer den gleichen beschissenen Satz wenn man fertig war, am Ende. Bist du in Ordnung, Junge?
Einfach so.
Whittaker. Ross brauchte einen Augenblick, um zurück in die Gegenwart zu finden. Er sagte: »Irgendwo musste ich anfangen.«
»Ja. Hatten Sie eigentlich Befehl, uns zu erschießen?«
Ups.
Hauser mischte sich ein. »Falls etwas schiefgegangen wäre, in der Bar, auf dem Weg zum Fluss …« Er kannte sich aus.
Ross sagte: »Was spielt das heute noch für eine Rolle? Das ist zwanzig, nein, neunzehn Jahre her.«
»Nur so, aus Neugier. Warum haben Sie es nicht getan, Walter?«
»Wollen Sie alte Rechnungen begleichen?«
»Ach, nein. Der Mann, der damals den Einsatz organisiert hat, der mit den Luftbildern, Donelly, der ist schon tot. Leberzirrhose. Alle diese CIA-Typen in den Tropen saufen. « Whittaker zwinkerte Ross zu. »Das Gewissen. Also?«
Die Kapsel hat euch gerettet, dachte Ross, aber das braucht ihr nicht zu wissen. Die Kapsel hat mich bis zu euch gebracht, und sie hat mich glauben lassen, dass ich auch mit euch am Bein wieder nach Hause komme. »Es war kein Befehl. Es war eine Option.«
Whittaker wechselte das Thema. »Warum sind Sie nicht dabeigeblieben? Fassen Sie das bitte nicht falsch auf, aber Sie waren gut.«
»Ja. Kann sein. Danke. Aber ich war nicht gerne Soldat.«
»Das verstehe ich«, sagte Whittaker.
Er legt es darauf an, mich zu überraschen oder zu verwirren, dachte Ross, indem er immer wieder etwas Unerwartetes sagt, den Tonfall oder die Rolle wechselt. Er sagte: »Und Sie? Sind Sie dabeigeblieben?«
Wieder wurde Ross überrascht, denn Whittaker ging bereitwillig auf die Frage ein. »Gott bewahre, nein.« Er machte eine wegwerfende Handbewegung. »So etwas kann man machen, solange man jung ist. Südlich der Grenze macht man nicht wirklich Karriere und im Staatsdienst auch nicht das Geld, das einen motiviert, Risiken auf sich zu nehmen. Ich war ja schon nicht mehr jung, als wir uns damals begegnet sind, Walter. Ich bin ausgestiegen, ich habe die Kurve gerade noch rechtzeitig gekriegt. Ich habe geheiratet und bin noch Vater geworden, zu spät fast … nein, nicht zu spät. Vorher hätte ich nicht daran gedacht.«
Whittaker wurde versonnen.
»Wissen Sie, Walter, ich habe mich tatsächlich neu kennengelernt, als ich auf einmal Vater war. Und ich finde, es ist nicht falsch, als Vater alt zu sein, ich meine, man schätzt und liebt neues Leben ganz anders, viel mehr, wenn das eigene schon größtenteils vorüber ist.«
Was redet er denn da, dachte Ross. Selbst Hauser schien peinlich berührt zu sein.
»Sind Sie verheiratet Walter? Haben Sie Kinder?«
»Ehm … eine Tochter.«
»Eine Tochter! Ich auch! Ist das nicht schön, sagen Sie mal selbst! Das ist auch etwas, was ich gelernt habe: Dass es viel schöner ist, eine kleine Tochter um sich zu haben, als eine Handvoll Söhne. Also, was ich sagen will, ich habe nie den Wunsch nach einem sogenannten Stammhalter gehabt, Sie wissen schon. Und Sie und Ihre Frau, wollen Sie einen Sohn?«
»Ich bin geschieden.«
»Oh, das tut mir leid.«
»Schon okay.«
»Wie? Ach so, ich auch. Ehrlich gesagt, ich war erleichtert, als ich meine Frau wieder los war. Man sollte Kinder ohne das Zutun von Frauen bekommen.«
So hatte Ross das noch nie gehört.
»Sie ist ein so liebes, intelligentes und hübsches Kind, meine Kleine. Sie lässt einen vergessen, wer ihre Mutter ist.«
Whittaker wurde unterbrochen. Das Essen kam auf einem Servierwagen unter silbernen Glocken. Ross aß lustlos. Whittaker und Hauser dagegen ließen sich Zeit beim Essen, und es störte sie anscheinend nicht, dass Ross lange vor ihnen fertig war und ihnen zusah. Hauser leerte seinen Teller methodisch und ohne Eile, als würde er Treibstoff bunkern. Ohne zu wissen, warum – Hauser hatte tadellose Tischmanieren –, sah Ross ihn plötzlich vor sich, fünfunddreißig oder vierzig Jahre jünger, im dämmerigen asiatischen Dschungel, bei strömendem Regen unter einen olivgrünen Armeeponcho gekauert, wie er mit der Messerklinge eine C-Ration löffelte. Whittaker provozierte solche Assoziationen nicht. Er aß langsam und machte immer wieder kurze Pausen, in denen er sich zurücklehnte und kauend in die Luft sah, trank oder seine Serviette benutzte. Er hatte perfekt gepflegte Hände, wie eine Frau, bemerkte Ross. Aber sie passten zum Rest seiner Erscheinung, seiner schlanken Größe, seinem lässigen, aristokratischen Benehmen und dem dichten dunkelblonden Haar, das genau an den richtigen Stellen silbern geworden war. Das Oxford-Hemd, das er trug, und das Tweed-Sakko, das über seiner Stuhllehne hing, wirkten dagegen seltsam nüchtern, beinahe unpassend für ihn. Ross sah ihn in einem Kaschmir-Blazer vor sich, ein Tuch im offenen Hemdkragen. Er musterte Hauser. Auch dieser war schlicht gekleidet, aber was er trug, passte zu ihm. Auch seine Hände waren professionell gepflegt, aber man sah ihnen an, dass sie einmal Werkzeuge gewesen waren, vielleicht sogar Waffen, denn seine Knöchel waren verformt, wie von lang vergangenen Faustkämpfen . Hauser war ebenso groß wie Whittaker, aber kräftiger gebaut, fast athletisch, trotz seines Alters. Er war beinahe kahl, und das farblose Haar, das ihm geblieben war, war millimeterkurz geschoren und lag wie Raureif auf seinem kantigen, braungebrannten Schädel. Man hätte ihn für einen wohlhabenden Rancher halten können, aber seine Sonnenbräune hatte er sich wohl auf dem Golfplatz geholt. Whittaker hatte ihre militärischen Dienstgrade erwähnt. Das passt, entschied Ross. Sie waren Offiziere, hohe Offiziere, und er spürte, dass er wieder unruhig wurde. Waren sie noch aktiv? Sicher nicht. Sie waren wenigstens fünfzehn, vielleicht sogar zwanzig Jahre älter als er und bestimmt längst pensioniert.
Während des Essens war kein Wort gefallen. Auch als abgetragen war, saßen die drei Männer noch minutenlang scheinbar entspannt und wortlos da, ehe Whittaker das Schweigen brach. »Noch einen Drink, oder vielleicht Kaffee?«
Ross wollte keinen Drink, aber, ja, Kaffee wäre gut.
»Und, Walter, was machen Sie heute so, beruflich?«
»Ich bin Partner in einer Sicherheitsfirma.«
»Läuft das Geschäft?«
Ross zögerte einen Moment, bevor er sagte: »Nicht besonders.«
»Das tut mir leid. Ich bin sicher, es wird irgendwann besser. Sicherheit ist ein Wachstumsmarkt. Dyson sagte uns, dass Sie ihm etwas verkaufen wollten.«
»Wir haben ein sich selbst steuerndes Überwachungssystem für große, unübersichtliche Räume entwickelt, mit dem man Dysons Tiefgarage einfach und billig kontrollieren könnte.«
»Funktioniert es? Ich meine, ist es gut?«
»Selbstverständlich.«
Whittaker und Hauser sahen sich an. Dann sagte Whittaker: »Es kann sein, dass wir Dyson frisches Geld beschaffen, und wenn wir das tun, haben wir Einfluss darauf, was er damit macht. Wenn Sie wollen, versuchen wir ihn davon zu überzeugen, Ihnen Ihr Dings abzukaufen oder Ihnen wenigstens noch einmal bis zu Ende zuzuhören.«
Das ist die Chance, die wir brauchen, dachte Ross. Beinahe hätte er sich bedankt, aber er hielt sich zurück. Noch war er den beiden nichts schuldig. Er sagte so gleichmütig, wie es gerade noch höflich war: »Wenn es Ihnen keine Umstände macht.«
»Bestimmt nicht. Und, wo wir gerade dabei sind, vielleicht können Sie auch etwas für mich tun, Walter.«
Nichts ist umsonst.
»Eine Kleinigkeit. Natürlich bezahle ich für Ihre Zeit. Rechnen Sie in Tagessätzen ab?«
»Tausend«, sagte Ross und bereute sofort, dass er nicht fünfzehnhundert gesagt, und gleich darauf, dass er überhaupt den Mund aufgemacht hatte. Er hatte praktisch zugesagt, ohne zu wissen, was Whittaker wollte. »Plus Spesen.«
»Klingt vernünftig. Halten Sie sich die erste Juliwoche frei. Meine Tochter ist in einem Internat in der Schweiz. Tun Sie mir den Gefallen, holen Sie das Kind ab und begleiten Sie es hierher.«
Ross sagte schnell: »Wir machen keinen Personenschutz.«
»Personenschutz? Was meinen Sie? Ich bitte Sie nur um einen Gefallen, Walter. Ich würde selbst fliegen, aber wir haben in dieser Woche ein paar unaufschiebbare Termine. Ich könnte auch meine Frau, also meine Ex-Frau bitten, aber wissen Sie … Natürlich könnte die Kleine auch alleine fliegen, aber es ist so eine Art Geschenk, und ihr liegt viel daran, vor den Augen ihrer Freundinnen von einer Limousine abgeholt zu werden. Verstehen Sie das?«
Ross starrte Whittaker ungläubig an. Er wusste nicht, was er sagen sollte. Whittaker wurde ungeduldig. »Kommen Sie Walter, Sie wissen doch, wie das ist, Sie sind doch selbst Vater. Geben Sie sich einen Ruck. Was ist denn schon dabei. Es ist doch ganz einfach: Sie fliegen für mich in die Schweiz, und ich rede für Sie mit Dyson.«
Bang. Sogar Hauser war überrascht.
Ross konnte nicht glauben, was er hörte. Jetzt war der Moment gekommen, um aufzustehen und zu gehen. Vielleicht die letzte Gelegenheit, um zu sagen, Mr. Whittaker, ich arbeite nicht für Sie, mir gefällt nicht, dass Sie mich unter Druck setzen, ich traue Ihnen nicht, und überhaupt. Vielen Dank für die Einladung. Leben Sie wohl, und hoffentlich begegnen wir uns nicht mehr wieder.
Zu Willy würde er morgen sagen, dass er ein paar Leute getroffen hatte, die er aus der Army kannte, und Willy wäre zwar neugierig, aber er würde nicht fragen und sich wieder über seine Schaltungen beugen und das wär’s oder? Oder konnte er zu Willy sagen, zwei reiche Typen haben mir ein Angebot gemacht, aber ich habe es nicht angenommen, weil ich ihnen nicht traue, aber ich kann dir nicht erklären, warum – oder vielleicht haben sie mir nur einen Job angeboten weil ich mal für sie getötet habe?
Nein. Besser den Mund halten.
Aber, wenn er und Willy pleite gingen oder wenn sie sich nur immer weiter von einem Hungerleiderjob zum nächsten hangelten, wenn Willy das Geld für die Patentanwälte und für das College seiner Kinder nicht zusammenbekam oder die Hypothek auf seinem Haus nicht mehr bezahlen konnte, dann vielleicht, weil er, Ross, übertrieben empfindlich und nicht in der Lage war, eine Chance zu ergreifen. Schuldete er Willy etwas? Willy war ein anständiger Typ und ein guter Partner … ein Freund? Mindestens das, was einem Freund am Nächsten kam. Er hatte es jedenfalls nicht verdient, hängengelassen zu werden. Und natürlich ging es nicht nur um Willy: Er selbst brauchte auch Geld. Er lebte praktisch von der Hand in den Mund und hatte keine Rücklagen. Er konnte es sich nicht leisten, einen Job abzulehnen, ganz und gar nicht.
Ich müsste Zeit zum Nachdenken haben, dachte Ross. Ich bin zu langsam.
»Nun?«
Die Zeit war um.
»Ich muss mich jetzt entscheiden, oder? Ich meine, ich kann nicht noch mal drüber nachdenken?«
Whittaker sagte nichts.
Also gut. »Okay. Ich fliege in die Schweiz, und Sie reden mit Dyson.«
»Gut. Ich weiß das zu schätzen, Walter, glauben Sie mir.«
Hauser, der die ganze Zeit geschwiegen hatte, sagte: »Wir verlassen uns auf Sie, Walter.« Ja, dachte Ross, der Mann ist Offizier. Immer dieser pathetische Appell, bevor sie dich den Hügel hinaufschicken.
Und damit war das Treffen auch schon beendet. Ross saß mit dem Rücken zum Raum und konnte nicht erkennen, wem Whittaker ein Zeichen gab. Er spürte, wie hinter ihm Bewegung aufkam. »Bleiben Sie, wenn Sie wollen, Walter«, sagte Whittaker, »trinken Sie Ihren Kaffee, lassen Sie sich noch einen Drink bringen, Sie sind unser Gast, wir müssen leider los.« Aber Ross stand mit ihnen auf. Vier große, junge Männer in dunklen Anzügen warteten in der Mitte des Restaurants. Zwei von ihnen eilten voraus nach draußen, bevor sich alle auf den Weg zum Ausgang machten. Im Foyer verabschiedete sich Whittaker von Ross und wechselte noch ein paar Worte mit dem Maître d’hôtel, bevor einer der jungen Männer wieder hereinkam und nickte. Ross wurde in der Tür zurückgehalten, bis Whittaker und Hauser den Bürgersteig überquert hatten und jeder für sich, jeweils in Begleitung von einem ihrer Männer, in einen von zwei identischen Lincolns gestiegen war, die in der zweiten Reihe warteten. Als sich die Wagen in Bewegung setzten und in den Nachmittagsverkehr einreihten, fuhr ein dritter Lincoln vor, nahm die beiden letzten Männer auf und folgte den anderen. Ross blieb auf dem belebten Bürgersteig zurück und sah den Wagen nach. Als er angerempelt wurde, trat er aus dem Menschenstrom heraus an den Bordstein. Es war sonnig und warm. Er zog sein Jackett aus und versuchte, seine Gedanken zu ordnen.
Drei Wagen, vier Begleiter. Bodyguards? Jedenfalls Soldaten. Die jungen Männer machten sich nicht die Mühe, das zu verheimlichen, sie schienen sogar stolz darauf zu sein und trugen auch zu ihren teuren Anzügen noch militärische Haarschnitte. Mit den Fahrern also sieben Männer. Wozu der Aufwand, dachte Ross. Limousinen, Fahrer, Leibwächter, die Tochter in einem Internat in der Schweiz: Whittaker muss sehr reich sein, nicht einfach nur reich. Warum schickt er zur Begleitung seiner Tochter nicht seine eigenen Leute? Oder beauftragt eine der vielen Agenturen, die auf Personenschutz spezialisiert sind? Warum soll ausgerechnet ich das Kind von der Schule abholen?
Mit dem Jackett über dem Arm stand er am Rand des Bürgersteigs, bis ihm zu warm wurde und er auf die schattige Straßenseite wechselte. Es ist sinnlos, mir jetzt noch Gedanken zu machen, sagte er sich, es gibt eine Abmachung, und ich werde meinen Teil davon einhalten. Natürlich konnte er einen Rückzieher machen, zumindest bis er im Flugzeug saß, aber er wusste, dass das eine theoretische Erwägung war. Ein Deal ist ein Deal. Hoffentlich dachten die anderen auch so.
Auf einmal hatte er das Bedürfnis, mit Wyllis zu reden. Er würde ihn in seiner Entscheidung bestärken. Ross fischte in der Jackentasche nach seinem Telefon und versuchte zu erraten, wo sich die nächste U-Bahn-Station befand.