18. Kapitel
Ross erhob sich ohne Eile erst, als sie die Tür offen war. Zwei Männer warteten auf ihn. Den jüngeren kannte er vom Sehen, den anderen sah er zum ersten Mal. Er sprach Englisch. Er hielt Ross ein dunkles Tuch hin und sagte: »Monsieur Ross, bitte tragen Sie diese Kapuze ab sofort, bis sie Ihnen abgenommen wird. Wenn Sie das nicht wollen, oder wenn Sie die Kapuze während der Fahrt abnehmen, dann müssen wir Sie fesseln und betäuben.« Ross nahm wortlos seine Tasche auf, beugte sich vor und hielt dem Mann den Kopf hin. Um ihn wurde es dunkel. Einer der Männer nahm seinen Ellenbogen und führte ihn, bis er auf den Rücksitz eines Autos bugsiert wurde. Der Wagen schwankte, als die Männer einstiegen und die Türen zuschlugen. Ross hörte die Zentralverriegelung, dann fuhren sie los.
Ross fragte durch den Stoff: »Wo ist das Mädchen?«
»Sie treffen sie am Flughafen. Sprechen Sie ab jetzt nicht mehr, Monsieur Ross.«
Zuerst bewegten sie sich im Schritttempo, und zweimal über kurze Steigungsstrecken. Dann dauerte es noch einmal mehrere Minuten, bis sie scheinbar eine größere Straße erreichten und beschleunigten. Von da an fuhr der Wagen ohne Unterbrechungen mit gleichbleibender Geschwindigkeit, als wäre er alleine unterwegs. Ross vermutete, dass ein Blaulicht ihren Weg frei machte. Die Reise zog sich hin. Eine Weile hörte er zu, wie der Wagen regelmäßig Nähte im Fahrbahnbelag überfuhr, und er versuchte, das leise, rhythmische Klopfen mit Zeit in ein Verhältnis zu setzen, um herauszufinden, wie schnell sie sich fortbewegten. Ross schätzte, dass sie mehr als zwei Stunden unterwegs waren, bevor sich ihre Fahrt verlangsamte, der Wagen immer häufiger Kurven nahm, bremste und beschleunigte, anhielt und wieder anfuhr. Die Fahrt wurde immer langsamer und stockender; irgendwann standen sie. Der ältere Mann sprach einige kurze Sätze; es knackte und rauschte, und über ein Funkgerät kam ein knappe Antwort. Ross rührte sich nicht; die Männer vor ihm warteten einige Minuten, bis das Funkgerät wieder zum Leben erwachte. Der ältere Mann sagte auf Englisch: »Gehen wir.« Ross tastete nach seiner Tasche. Als sich die Wagentüren öffneten, wusste er, dass er auf einem Flughafen war. Von weit her hörte er das Pfeifen von Turbinen, und nach einigen Sekunden drang der Geruch von verbranntem Kerosin durch den Stoff der Kapuze. Wieder wurde er geführt. Sie liefen durch winklige Gänge und stiegen lange Treppen nach oben, in Treppenhäusern, die ihm eng vorkamen und in denen die Luft verbraucht roch. Die Türen, durch die sie gingen, schlugen hinter ihnen schwer und mit metallischem Klang zu. Schließlich fühlte er, wie er in einen Raum geschoben und auf einen harten Stuhl gesetzt wurde. Neben seinem Ohr sagte jemand: »Warten Sie.«
Ross wartete. Um ihn herum waren Schritte und das Rascheln von Kleidung. Das Funkgerät quakte. Er hörte eine Tür, und noch eine, dann wurde es still.
War er allein?
Er lauschte angestrengt. Ja. Nein. Da war noch jemand.
Sein Herz schlug schneller.
Ein Geräusch. Schritte kamen auf ihn zu. Die Kapuze wurde ihm mit einem Ruck vom Kopf gerissen.
»Walter!«
Ross blinzelte in die plötzliche Helligkeit. Vor ihm kniete das Mädchen. Sie war viel zu nah. Die ungleichen Augen. Wieso hat sie Sommersprossen? Ross’ Kehle war eng.
»Walter«, jetzt klang sie besorgt.
Er musste zweimal schlucken, bevor er einen Ton herausbrachte.
»Carmen.«
»Walter, geht es dir gut?«
»Ja. Ja, es geht mir gut.«
»Wirklich? Du siehst mitgenommen aus. Komm, wir müssen los, in zehn Minuten geht unser Flug.«
Der kleine, fensterlose Raum hatte zwei Türen. Eine davon ließ sich öffnen. Mit wenigen Schritten waren sie in der riesigen Abflughalle eines internationalen Flughafens. Nach Tagen – oder Wochen? – der Isolation war Ross überwältigt. Ihm war, als hätte man ihn auf einen anderen Planeten gebeamt. Die Menschen, das Gedränge, Glas, Stahl, Lichter, Lärm, Stimmen und unverständliche Durchsagen, das Schnurren der Trolleys auf dem genoppten Bodenbelag, Musik, Läden und Cafeterias, riesige bunte Werbetafeln … Der ganze Überfluss an Eindrücken und Reizen stürzte auf ihn ein, aber er verwirrte ihn nicht, im Gegenteil, er belebte ihn wie eine Dusche. Und es gab Tageslicht. Durch getönte Panoramafenster sah er das Vorfeld, geparkte Flugzeuge und eine Startbahn, wo gerade eine Maschine die Nase hob. Es war Tag, die Sonne schien, und Wolken standen am Himmel. Tageslicht hatte er am meisten vermisst.
Ross trabte hinter Carmen her, ihren geraden Rücken fest im Blick, und vertraute darauf, dass sie wusste, wohin sie zu gehen hatten. Vor ihrer Größe und ihrem Schwung teilte sich die Menschenmenge wie das Rote Meer vor Charlton Heston; sie kamen ungehindert voran. Direkt hinter ihnen wurde die Tür des Flugzeugs verriegelt. Eine Flugbegleiterin brachte sie rasch zu ihren Plätzen wenige Reihen hinter dem Cockpit. Sie waren noch dabei, sich anzuschnallen, als die Maschine ruckte, anrollte und sich auf den Weg zur Startbahn machte. Angespannt saßen sie nebeneinander, die Hände auf den Armlehnen. Er blickte geradeaus und sie aus dem Fenster, während das Flugzeug beschleunigte, mit einem Pochen und einem Stoß abhob und mit voller Kraft brausend in den Himmel stieg. Nach drei Minuten legte es sich in eine Kurve und für kurze Zeit war im Fenster nur das Blau des Sommerhimmels. Dann flogen sie wieder geradeaus und der Steigwinkel wurde flacher.
Als die Anzeige erlosch, öffnete Carmen sofort ihren Gurt und brachte ihren Sitz und ihre langen Glieder in eine bequemere Position. »Geschafft!«, sagte sie triumphierend, »wir haben es geschafft, Walter!« Sie beugte sich zu ihm, um ihn anzusehen. Ihr Gesicht wurde ernst. »Oh, Walter. Es tut mir leid.«
»Was tut dir leid?«
»Haben sie dich … ich meine … bist du?«
Er lächelte. »Nicht wirklich. War nicht so schlimm. Ich war selbst schuld.«
»Ehrlich?«
»Ehrlich.«
»Das ist gut. Das freut mich. Aber trotzdem du siehst aus, als könntest du Urlaub brauchen.«
»Ich fühle mich auch so.« Er sah sie an, wie sie ihn ansah. »Du siehst gut aus.« Das stimmte. Sie hatte schon früher eine gesunde Gesichtsfarbe gehabt, aber jetzt war sie auch noch deutlich gebräunt. Und sie hatte abgenommen. »Aber du bist dünner geworden.«
Das gefiel ihr. Ihre Miene hellte sich auf. »Das Essen war eine einzige Schweinerei«, sagte sie, »manchmal habe ich vierundzwanzig Stunden nichts herunterbekommen.«
»Warst du in der Sonne?«
»Mir war so langweilig. Fernsehen war noch schlimmer als Essen. Und ich konnte auch nicht dauernd lesen. Von meinem Fenster aus habe ich diesen alten Sportplatz gesehen, alles rostig und überall Moos und Unkraut, aber die Vierhundertmeterbahn war noch brauchbar. Sie haben mir eine Sprengfessel um den Knöchel geschnallt, dann durfte ich laufen. Ich lief immer, wenn ich Langeweile hatte oder ungeduldig wurde. Zuletzt kam ich auf dreißig Runden, jeden Tag.«
»Warte mal, warte mal. Ein Fenster? Du konntest lesen, laufen, fernsehen?«
»Du nicht?«
Ross schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht mal, wie lange wir eingesperrt waren.«
»Elf Tage. Ich glaube, wir waren auf einer verlassenen Militärbasis, irgendwo auf dem Land.«
Wir? »Hast du gewusst, wo ich war?«
»Also ich dachte immer, du wärst in der Nähe. Wo warst du?«
»Keine Ahnung. Was ist denn eine Sprengfessel?«
»Eine Fußfessel, so ein dünner Schlauch, mit Sprengstoff gefüllt. Sie sagten, wenn ich mich mehr als zweihundert Meter vom Gebäude entferne oder das Ding abmachen will, dann explodiert es und reißt mir den Fuß weg.«
Ross dachte, so etwas gibt es?
Neben ihnen erschien eine Stewardess. Carmen sagte: »Champagner. Und Wodka-Bitter-Lemon. Kein Tonic.«
Ross sagte: »Machen Sie den Wodka doppelt, Miss.«
Carmen sah aus dem Fenster, und Ross beobachtete sie, bis die Drinks kamen. Er wandte seinen Blick auch nicht ab, als sie sich wieder zu ihm umdrehte.
»Was ist?«
Er erwiderte ihr Lächeln. »Nichts.«
Sie sagte: »Das ist gut, darauf trinken wir.«
Er hatte nichts im Magen und fühlte den Wodka im Kopf, noch bevor er sein Glas halb geleert hatte. Eine angenehme Leichtigkeit erfasste ihn. Geschafft. Jede Minute im Flugzeug entfernte ihn weiter von den Ereignissen der letzten Tage, und wenn er wollte, konnte er sie mit einem zweiten und dritten Wodka komfortabel bis zur Unwirklichkeit vernebeln. Neben ihm in Reichweite – er brauchte nicht einmal den Kopf zu wenden, um sicher zu sein, saß Carmen, um die er sich bis in seine Träume hinein gesorgt, und wegen der er sich Vorwürfe gemacht hatte. Sie war unversehrt, unerschüttert und unverändert so imposant, wie er sie vor zwei Wochen kennengelernt hatte. Ihr war nichts zugestoßen, was sie nicht als eine Art Abenteuer verbuchen würde – seit ich mit Ihnen unterwegs bin, Walter, geht richtig was ab in meinem Leben, – nichts, wofür er sich schuldig fühlen musste.
Er leerte sein Glas. »Bist du nicht verhört worden?«
»Nur am Anfang. Über mich wollten sie gar nicht so viel wissen. Und als ich sie davon überzeugt hatte, dass ich meinen Vater kaum kenne und dass ich seit Jahren nicht mehr länger in Kolumbien war, ging es nur noch um dich.«
Ross fragte: »Hat Reno dir die Aufnahmen gezeigt?«
»Reno? Welche Aufnahmen?«
Also nicht. »Was hast du erzählt?«
»Die Wahrheit.«
Die Wahrheit?
»In möglichst einfachen Worten. Wie du gesagt hast. So wie sie fragten, hielten sie dich für ziemlich gefährlich. Ich konnte es ihnen nicht ausreden. Dann ließen sie mich in Ruhe, und am vierten Tag kamen sie und sagten, ich könnte gehen, aber du müsstest bleiben. Ich wollte aber erst mit dir reden und sagte, ich würde nur gehen, wenn du einen Anwalt und jemanden von der Botschaft gesehen hättest. Sie ließen sich nicht darauf ein und meinten, dann müsste ich eben auch bleiben. Aber sie waren sehr höflich. Ich dachte mir, hey, ich bin in Frankreich, hier werden Frauen immer zuvorkommend behandelt, und ich fing an, sie mit Wünschen zu traktieren. Ich bekam Bücher, einen Fernseher, Mikrowellenmenüs statt Dosenfutter, und als ich meine Koffer hatte, habe ich meine Sportklamotten rausgesucht und bin gelaufen. Ein paarmal habe ich mit den Jungs von der Nachtschicht bis morgens gepokert.«
Sie erriet seine nächste Frage. »Natürlich wurde ich ungeduldig. Es ging dauernd hin und her: Sie sagten, ich könne gehen, ich wollte nicht; sie drohten, mich irgendwo auszusetzen, und ich, dass ich zur Botschaft gehen und einen Riesenwirbel machen würde. Sie warnten mich, dass sie mich unbegrenzt festhalten könnten, und ich behauptete, dass meine Familie wüsste, dass ich in Frankreich bin, und nach mir suchen würde.«
»Das haben sie geglaubt?«
»Sie wussten, dass ich nach Kolumbien und Costa Rica telefoniert hatte. Vom Hotel aus, am ersten Tag. Als du geschlafen hast. Weil, weißt du, eigentlich will ich gar nicht nach New York. Ich dachte …« Sie zögerte. »Ich habe niemanden erreicht, meine Mutter nicht und auch nicht meinen Großvater. Ich habe mich mit Hausangestellten und Sekretären unterhalten.«
Auf einmal war sie verstimmt. Sie blickte an ihm vorbei, ihre dicken Lider mit den dichten Wimpern zu Schlitzen verengt. Zwischen ihren dunklen Brauen stand eine Falte. Ross starrte sie an. Die Leichtigkeit, die ihm der Wodka verliehen hatte, verflog. Plötzlich war ihm, als öffnete sich sekundenkurz eine Tür zwischen ihnen und erlaubte ihm einen Blick auf ihr Leben. Zugleich wurde ihm klar, dass sie nicht einfach wegen ihm in der Gefangenschaft geblieben war, und in Frankreich nicht nur, weil Hauser es so gewollt hatte. Dann sah sie ihn wieder an und sah, was er sah. Sie wurde verlegen, ohne jedes äußere Anzeichen, nur das blasse Auge verriet etwas davon. Ross suchte nach Worten; er wollte sie nicht durch Mitgefühl zusätzlich kränken. Er sagte: »Du hast geblufft«, und er hoffte, dass das gut genug war.
Carmen zögerte, dann lächelte sie schief. »Nicht mit Absicht. Weißt du, die Franzosen dachten, meine Verwandten wären alle Drogengangster oder Terroristen. Ich habe das nicht begriffen, bis ich zufällig einmal Ingrid Betancourt erwähnte.«
Sie brach ab. Entweder, sie hatte erzählt, was es zu erzählen gab, oder sie hatte keine Lust mehr, weiterzureden. Ross kannte keine Ingrid Betancourt. Er fragte nicht nach. Er sagte dem Mädchen auch nicht, dass er es für einen riskanten Fehler hielt, dass sie geblieben und den Franzosen auf die Nerven gegangen war. Das hätte auch schiefgehen können – ein scheinbar banaler Unfall, eine Überdosis von irgendwas in einem Hotelzimmer … niemand hätte lange nachgeforscht. Aber jetzt war kein guter Zeitpunkt, um sie zu kritisieren. Und überhaupt: Er war der Letzte, der Grund dazu hatte – er war ja durch sie freigekommen.
Sie fragte: »Ich hätte gehen sollen, nicht wahr?«
Er antwortete nicht.
»Wärst du gegangen?«
»Das ist nicht dasselbe. Das weißt du doch.«
»Für mich schon!«
Ihr Tonfall warnte ihn, und er wiegelte ab. »Es ist vorbei. Es ist nicht mehr wichtig. Was zählt ist, dass wir davongekommen sind. Von daher war alles, was du getan hast, richtig.«
Sie antwortete nicht. Er hätte gerne weiter mit ihr gesprochen oder ihr einfach nur zugehört, aber sie schwieg, und ihm fiel nichts ein, womit er die Unterhaltung wieder in Gang bringen konnte. Sie erschien zunehmend in sich gekehrt, und er fragte sich unbehaglich, ob er ihr zu nahe gekommen war. Zog sie sich zurück, weil sie die Vertrautheit bedauerte, die sich zwischen ihnen eingestellt hatte? Schämte sie sich für ihr vermeintliches Eingeständnis von Verletzlichkeit?
Ross begriff, dass der Abschied begonnen hatte. Die Zeit lief. Ganz gleich was er tat oder sagte, sie entfernten sich jeden Augenblick etwas weiter voneinander, und das Flugzeug trug sie unaufhaltsam dem Moment entgegen, in dem sie sich nach einem ungeschickten Händedruck und ein paar Floskeln trennen würden. Oder würde sie vor ihm ein Stück in die Knie gehen wie vor der Nonne, nur freundlicher, und sich von ihm mit Wangenküssen verabschieden? Ehe er den Gedanken zu Ende gedacht hatte, fühlte er sich ertappt. Er wandte sich um und erschrak. Carmen betrachtete ihn. Drei, vier Atemzüge lang sahen sie einander an, beide warteten darauf, dass der andere etwas sagen, und Ross hoffte, dass sie lächeln würde. Endlich hielt er ihren Blick nicht mehr aus; er holte Luft, räusperte sich und schlug vor, eine zweite Runde Drinks zu bestellen.
Carmen wollte erst essen. Er schloss sich ihr an. Tatsächlich hatte auch er Hunger, und außerdem, entschied er, war es besser, vor dem nächsten Wodka etwas im Magen zu haben. Sie aß alles auf, was sie vorgesetzt bekam, doch als sie fertig war, sah sie unzufrieden aus. Ross, der immer noch Gesprächsstoff suchte, fragte: »Das war nichts, wie?«
»Ich fürchte, ich werde nie wieder gut essen«, sagte sie resigniert.
»Warum nicht? In ein paar Stunden sind wir in New York. Da kriegst du alles, was du willst.«
»Ich will aber nicht wieder dicker werden.«
»Du warst nicht dick.«
»Dicker!«, sagte sie missmutig.
Ross dachte, es hat keinen Sinn.
Sie fragte: »Und du? Was machst du, wenn du wieder in New York bist?«
Ross war auf die Frage nicht gefasst. New York war noch so weit entfernt. »Das Übliche. Was man so macht.«
Sie gähnte. »Und was ist das?«
Ja, was. Würde er einfach dort weitermachen, wo er vor zwei Wochen aufgehört hatte? Wollte er das überhaupt? Einschneidende Erlebnisse oder dramatische Ereignisse, hatte Ross gehört oder gelesen, setzen angeblich psychische Energien frei, die es einem möglich machen, sein Leben zu ändern. Die vergangenen beiden Wochen waren dramatisch genug gewesen, fand er, und, ja, er fühlte, dass etwas anders werden musste. Etwas. Als Erstes fiel ihm Carol ein. Er wusste, er würde sie anrufen und sich mit ihr verabreden, sobald er gelandet war und dreißig Sekunden Zeit hatte. Sein Bedürfnis nach Sex, nein, nach einem besinnungslosen, restlos erschöpfenden Fick war nach fünf Wochen Abstinenz, wenn er gerade daran dachte, geradezu schmerzhaft. Aber er würde sich von Carol trennen. Ross hatte keine Angst vor dem Alleinsein und war zuversichtlich, dass er nicht alleine bleiben würde. Es gab vier Millionen Frauen in New York; es würde eine geben, die zu ihm passte und mit der man mehr tun konnte, als nur zu vögeln. Eine Frau, die sich nicht vor Spareribs ekelte, eine Frau, die auch mal ein Bier trank und nicht nur Wasser oder ausländischen Wein. Eine Frau, die nicht überall Muskeln hat, dachte er, lieber ein bisschen Cellulitis. Und echte Brüste. Eine Frau, mit der er lachen konnte.
Er konnte auch wieder heiraten. Nein, besser nicht.
Aber er würde nach Arizona fliegen, um Lourdes und Christina wiederzusehen. Selbst wenn es vielleicht nur von weitem war. Er würde sich nicht in Lourdes neues Leben drängen, wenn sie wieder geheiratet hatte. Bestimmt hatte sie wieder geheiratet. Es gefiel ihr, verheiratet zu sein, erinnerte er sich. Es passte zu ihr. Latinas sind die besten Ehefrauen der Welt, hatte Carmen einmal gesagt.
Und, wenn er schon mal dabei war, sein Leben zu ändern, fand Ross, dann sollte er sich auch einen anderen Job suchen. Er war nicht gut in dem, was er tat, das wusste er selbst. Vielleicht, wenn sie wirklich einen Auftrag von Dyson bekamen, dann würde er den noch abwickeln und sich dann von Wyllis auszahlen lassen. Bis dahin fiel ihm bestimmt etwas ein, das er tun konnte.
Auf der anderen Seite des Ganges, schräg vor Ross, sah sich ein Mann auf einem Bildschirm in der Rückenlehne des Vordersitzes einen Film an. Ross erkannte Tom Cruise, der für seine Rolle graue Haare trug. Die wenigsten Kinofilme vertragen es, im Fernsehen abgespielt zu werden, dachte Ross, nicht einmal die alten, schwarzweißen. Ich sollte wieder öfter ins Kino gehen, so wie früher, bevor ich verheiratet war. Kino kann viel gutmachen, wenn man mit seinem Leben nicht zufrieden ist.
Er sagte: »Weißt du, ich werde mal wieder ins Kino gehen«, und sah sich nach Carmen um. Sie war eingeschlafen.