9. Kapitel

Die Tiefgarage war nur etwa zur Hälfte besetzt. Als Ross im Schritttempo durch die Dämmerung rollte und sich nach einer bequemen Parkmöglichkeit für die übergroße Limousine umsah, begann er zu ahnen, dass er dabei war, einen Fehler zu machen. Seine mühsam kontrollierte Unruhe nahm zu. Er hätte an der Oberfläche bleiben sollen, im Tageslicht, wo es Verkehr und Menschen gab. Die Tiefgarage war eine Mausefalle, und hier unten waren sie alleine, auch wenn es Überwachungskameras gab. Aus eigener Erfahrung wusste er, dass Wachleute nie die Monitore betrachteten, sondern Zeitung lasen oder Sport auf einem mitgebrachten kleinen Fernseher sahen. Vor einer freien Parkbucht an der Rückseite der Fahrstuhlschächte hielt er an. Er konnte jetzt hier einparken oder zurück nach oben zum Eingang der Abflughalle fahren, das Mädchen von dort in die Lounge bringen und das Gepäck ausladen – egal, ob es dort ein Halteverbot gab, egal, ob er andere Autos behinderte, Taxifahrer schrien oder Busse hupten. Sollte doch die Polizei den Wagen abschleppen … oben schützte sie die öffentliche Aufmerksamkeit. Aber wovor? Ross ließ die beiden vorderen Fenster herab und horchte. Er wusste nicht, was er zu hören erwartete, und außer dem leisen Geräusch des Motors und dem Weißen Rauschen der geschäftigen Gebäudemaschine über ihnen war da nichts: kein anderer Wagen, keine Schritte, keine Stimmen, niemand benutzte den Fahrstuhl. Ross ließ zwei Minuten verstreichen. Einmal bewegte sich das Mädchen; ihre Kleidung raschelte, und das Leder ihres Sitzes knirschte unter ihrem Gewicht, bevor sie wieder vollständig still saß. Sie kennt sich aus, dachte er erstaunt. Er schloss die Fenster, parkte vorwärts ein, stellte den Motor ab und zählte im Stillen bis drei. Dann stieg er aus und lief schnell vorne zwischen Kühlergrill und Wand des Fahrstuhlschachtes um das Auto herum, um auf die Seite zu gelangen, auf der das Mädchen saß. Sie sah ihn kommen und öffnete zu früh. Die offene Tür reichte bis zum nächsten geparkten Wagen und versperrte ihm den Weg; er musste warten, während sie ausstieg. Als sie noch dabei war, sich zu voller Größe zu strecken, sah er mit aufsteigendem, kaltem Entsetzen, dass Männer zwischen den Fahrzeugen auf der anderen Seite der Fahrgasse auf sie zugerannt kamen. Das Mädchen bemerkte sie erst, als Ross über die Tür hinweg ihren Ärmel packte und sie wieder auf den Rücksitz schieben wollte. Aber es war zu spät. Die Männer überquerten die Fahrgasse mit großen Sprüngen wie gefährliche Tiere, fielen das Mädchen an, packten ihre Arme und Handgelenke und rissen sie mit sich. Sie folgte ihnen stolpernd und ohne einen Laut von sich zu geben. Von links rollte ein Van heran.

Ross’ unmittelbare Reaktion war der Griff nach der Pistole. Alle gefährlichen Situationen in seinem Leben hatte er mit einer Feuerwaffe bewältigt. Der Griff zum Gürtel ging ins Leere: Er war unbewaffnet. Hinter der immer noch offenen Tür stehend wusste er einen Atemzug lang nicht, was er tun sollte. Die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Am Heck ihres Wagens erschien ein dritter Mann und nahm ohne Eile Maß. Ross blickte in eine Pistolenmündung. In der Fahrgasse rangen die Männer mit dem Mädchen. Sie war zu sperrig für eine unkomplizierte, schnelle Überwältigung, und sie hatte begonnen, sich zu wehren. Zu spät. Das war’s. Ende der Vorstellung.

Der Knall des Schusses war furchtbar, schmerzhaft wie ein harter Schlag mit der flachen Hand ins Gesicht. Ross hatte nicht erwartet, ihn noch zu hören. Es hieß immer, wenn man tödlich getroffen wurde … Vor ihm, auf der Höhe seines Brustbeins, hatte das Fensterglas der Wagentür einen tellergroßen, milchigen Fleck Panzerglas. Reflexartig duckte er sich und entkam der nächsten Kugel, die über die Tür hinwegging, wo gerade noch sein Kopf gewesen war, in die Betonwand des Fahrstuhlschachts einschlug, wie eine Miniaturgranate eine kleine Wolke aus Staub und Splittern aufwarf. Wieder traf ihn der Schall wie ein Hieb. Taub und benommen blinzelte er durch das dicke, grünliche Glas und sah den Mann herankommen. Immer noch geduckt klammerte sich Ross an den Türgriff, weil er glaubte, dass der Angreifer die Tür schließen würde, um auf ihn zu schießen, aber der machte sich nicht die Mühe. Er hob die Pistole mit nach unten gerichteter Mündung über den Rahmen. Ross erkannte die Bewegung in der Entstehung; er griff aus seiner gebückten Haltung heraus mit beiden Händen nach dem Arm über ihm und warf sich mit aller Kraft gegen die schwere Tür. Der heftige Zusammenstoß nahm dem Angreifer für einen Moment das Gleichgewicht, und er ließ die Pistole fallen. Die Waffe schlug auf den Betonboden auf und ging los; Der Rückstoß trieb sie kreiselnd unter das Auto. Ross warf sich augenblicklich auf Hände und Knie und suchte den Boden ab: die Pistole! Wo war die verdammte Pistole? An der Wand des Fahrstuhlschachtes! Auf allen Vieren krabbelte er in panischer Hast zum vorderen Ende des Wagens und in die Lücke zwischen Stoßstange und Wand. Er konnte fühlen, dass ihm der Mann auf den Fersen war. Ein schwerer Schlag oberhalb des linken Knies lähmte sein Bein.

Die Pistole. Die Pistole.

Ross packte zu wie ein Stürzender und rollte sich auf den Rücken. Ein Tritt in die Rippen ließ seinen Herzschlag und seine Atmung aussetzen und betäubte die ganze linke Seite seines Oberkörpers. Lichter tanzten vor seinen Augen; gleich würde er ohnmächtig werden. Der Mann über ihm holte zu einem Stampftritt aus, der ihn wehrlos machen oder umbringen würde. Ross drückte ab, ohne zu zielen. Den Schuss spürte er nur noch, statt ihn zu hören, und der Rückschlag entriss ihm fast die kostbare Waffe. Der Angreifer machte einen kurzen Satz nach hinten. Ross war nicht sicher, ob er getroffen hatte, bis der Mann an sich hinunterblickte, die Hände übereinander auf den Bauch legte, bevor er auf die Knie sank, in eine Pose absurder Demut, und danach zur Seite fiel.

Ross hatte Mühe, wieder auf die Beine zu kommen. Nicht alle Teile seines Körpers gehorchten ihm gleichmäßig. Sein Herzschlag ging stolpernd, er atmete angestrengt und flach, und seine Wahrnehmung war unscharf. Teile seines Brustkorbs und sein linkes Bein waren taub. Aber noch hatte er keine Schmerzen. Noch nicht. Die würden später kommen. Auf. Der Besitz der Waffe und der sterbende Mann beflügelten ihn. Und er hatte keine Zeit. Das Mädchen.

Endlich stand er.

Sie war noch da. Es war noch nicht vorbei. Sie hatten es tatsächlich noch nicht geschafft, sie in den Van zu verladen und zu verschwinden. Auf die Limousine gestützt humpelte Ross in Richtung Fahrgasse und sah, zuerst überrascht und dann mit ungläubiger Verwunderung, dass sich das Mädchen nicht einfach ziellos gegen die Angreifer sträubte, sondern dass sie systematisch und gekonnt austeilte – mit Ellenbogen, Knien, Füßen und sogar mit ihren Mädchenfäusten. Ihr Zopf hatte sich aufgelöst, und das lange, dichte Haar flog ihr bei jeder schnellen Bewegung wild um den Kopf. Ross konnte erkennen, dass die Angreifer noch bemüht waren, sie möglichst unverletzt zu bändigen. Wenn der Kampf andauerte, hatte sie keine Chance. Bald würde ihr einer ein Knie zertreten oder die Nieren, um sie wehrlos zu machen, aber vorläufig behauptete sie sich entschlossen und machte durch Reichweite und Gewicht wett, was ihr an Schlagkraft und Kampferfahrung fehlte. Die Angst hatte ihre Kräfte vervielfacht. Ross wagte nicht, auf einen der Männer zu schießen, auch nicht, als er nur noch drei Meter von ihnen entfernt war, weil er befürchtete, in seiner unsicheren Verfassung das Mädchen zu treffen. Stattdessen feuerte er einen Schuss in die Beifahrertür des Vans. Von seinem Standort aus konnte er keinen Fahrer sehen, aber der Van fuhr mit durchdrehenden Rädern an. Die Männer, die mit dem Mädchen beschäftigt waren, mussten ihre Ohren versiegelt haben, denn sie achteten nicht auf den Schuss; aber sie wurden aufmerksam, als sich der Van entfernte. Sie lösten sich irritiert von ihrer Beute.

Ross konzentrierte sich.

Dem Ersten, der sich weit genug von dem Mädchen entfernte, schoss er zwischen die Schulterblätter; er fiel mit ausgebreiteten Armen aufs Gesicht. Der zweite Mann hatte Zeit zu reagieren, ehe Ross ihn anvisieren konnte. Er sprang das Mädchen an, um sie als Deckung zu benutzen. Sie empfing ihn mit waagerecht angewinkeltem Arm. Als er in Reichweite war, stieß sie ihm mit einer viertel Körperdrehung und mit aller Kraft den Ellenbogen ins Gesicht. Blut quoll aus seiner Nase. Er taumelte und schüttelte benommen den Kopf, aber er war immer noch geistesgegenwärtig genug, unter seine Jacke nach einer Waffe zu greifen. Ross hielt die Pistole in der ausgestreckten Faust auf den Mann gerichtet und folgte ihm damit auf seinem kurzen Weg, bis er ein sicheres Ziel bot. Er ließ ihn noch ziehen, dann krümmte er ohne Eile den Finger. Er sah, wie die Kugel ein Loch in das Hemd des Mannes schlug, der Einschlag einen Schock durch seinen ganzen Körper sandte, wie er stürzte und auf dem Rücken liegen blieb.

Ross empfand keinen Triumph, nicht einmal Erleichterung. Das Adrenalin erlaubte ihm keine Pause. Der Mann, der auf dem Gesicht lag, war noch nicht tot; eines seiner Beine zuckte krampfartig. Ross hinkte um ihn herum, um ihn in den Kopf zu schießen. Bevor er abdrücken konnte, nahm er aus dem Augenwinkel eine Bewegung des Mädchens wahr und sah sich zu ihr um. Ihre Blicke begegneten sich. Sie stand schwer atmend da, leicht vornübergebeugt, die Hände auf die Ohren gepresst, und starrte ihn mit offenem Mund an, erschrocken und zugleich erwartungsvoll. Das blasse Auge flackerte in ihrem erhitzten Gesicht. Dreh dich um, dachte Ross, schau weg. Sie rührte sich nicht. Er nahm vorsichtig den zitternden Finger vom Abzug. Dann eben nicht. Die Männer waren tot oder gerade dabei zu sterben. Die Kugeln mussten große Austrittswunden gerissen haben, denn obwohl sie erst wenige Sekunden lagen, sickerte reichlich Blut unter ihren Körpern hervor. Scharfer Gestank machte sich breit; die Schließmuskeln der Sterbenden hatten sich gelöst.

Ross sah sich rasch um. In dreißig Metern Entfernung stand der Van in der Dämmerung. Der Fahrer hatte den Fuß auf der Bremse und markierte überdeutlich die Rückseite des Fahrzeugs durch ein Dreieck aus Bremsleuchten. Der Idiot. Ross feuerte wütend auf den Van und verschoss seine letzte Patrone. Nach dem Schuss blieb der Verschluss der Pistole offen. Zitternd stand er zwischen den Toten und sah die Bremslichter erlöschen; der Van fuhr an und entfernte sich.

Und jetzt? Los! Zeit! Wie lange hatte das Ganze gedauert? Drei, vier Minuten? Zwei? Eine? Die Schießerei musste noch zwei Etagen über ihnen zu hören gewesen sein. Nichts wie weg von hier. Jeden Moment konnten Streifenwagen die Rampen herunterkommen. Ross drehte sich zu dem Mädchen um und griff einen ihrer Ärmel, um sie zum Wagen zu ziehen. Sie reagierte mit einer brüsken Bewegung, und er zuckte in Erwartung eines Schlages zurück, aber er ließ nicht los. Sie folgte ihm nur wenige Schritte weit, bemüht, nicht in die Blut- und Urinlachen zu treten, die sich schnell ausbreiteten. Dann wollte sie sich auf einmal von ihm losmachen. Dabei erwischte sie einen Moment, in dem er sein verletztes Bein belastete, und warf ihn fast um. Er schrie auf vor Schmerz und Überraschung und kämpfte schwankend um sein Gleichgewicht. Über das monotone Singen in seinem mißhandelten Gehör und wie durch eine Wattierung hörte er sich selbst nur dumpf und das Mädchen überhaupt nicht, als sie sich zu ihm beugte und etwas sagte. Ihr Mund formte ein M und ein Sch. Er hielt ihren Arm fest, bis sie das Auto erreicht hatten, und riss die hintere Wagentür auf, die mit der Einschussstelle in der Scheibe. Sie kroch ohne zu zögern mit dem Oberkörper voran auf die Rückbank und zog schnell die langen Beine nach. Die Innenseite ihrer bestrumpften Schenkel war nass. Ihre Schuhe hatte sie verloren, und die Rückennaht ihres Blazers und eine Seitennaht des Rocks waren aufgeplatzt. Ross warf die Tür zu und umrundete den Wagen so schnell er konnte, torkelnd wie ein Krüppel, die leer geschossene Pistole mit beiden Händen haltend wie einen Talisman. Als er sich in den Fahrersitz fallen ließ, meldeten sich erste Schmerzen in der tauben Hälfte seines Brustkorbs; die Luft blieb ihm weg, und er musste gegen aufsteigende Übelkeit ankämpfen. Jetzt nicht, dachte er, jetzt noch nicht; hoffentlich ist kein lebenswichtiger Teil von mir verletzt, hoffentlich habe ich keine inneren Blutungen. Jetzt nicht! Sein ganzer Körper pulsierte; seine Hände flatterten, während er mit dem Schlüssel hantierte. Im Mund hatte er den metallischen Geschmack, der die Adrenalinflut begleitete. Das war angenehm. Das war gut. Das hieß, dass er noch Reserven hatte. Er drängte Brechreiz und Schmerz zurück, zwang sich, nicht in seinen Körper hineinzuhorchen und seine Hände zur Ruhe, konzentrierte sich auf das Auto. Schlüssel, Starterknopf, Reverse – langsam!

Der Wagen rollte rückwärts an. Im Außenspiegel erschienen die beiden Erschossenen. Ross stampfte auf die Bremse. Sie lagen im Weg. Er starrte in den Spiegel und wusste, dass er nicht wieder aussteigen würde, um sie beiseitezuräumen. Nicht in meinem Zustand, dachte er. Das schaffe ich nicht. Ich habe keine Zeit dafür. Er drehte sich zu dem Mädchen um. Sie achtete nicht auf ihn; sie saß vornübergebeugt und war dabei, ihr Haar im Nacken zu bündeln. Los. Langsam. Ross glaubte, eine Erschütterung zu spüren, als die Räder des schweren Fahrzeugs die Beine des ersten Toten zermalmten. Der fühlt nichts mehr, sagte er sich, der ist hin. Im Vorbeifahren warf er einen schnellen Blick auf den anderen, der auf dem Rücken lag. Sein Mund und seine Augen waren weit geöffnet, als das Auto langsam über seine Füße fuhr. Bewegte er sich? Bewegte ihn das Rad? Vorbei. Im Rückwärtsgang rollten sie die Fahrgasse entlang, bis sie die Rampe zur Oberfläche erreichten. Ross wendete und sah am anderen Ende der Tiefgarage die Rückfahrscheinwerfer des Vans der Angreifer. Er wollte auch verschwinden. Oder ihnen folgen? Die Toten einsammeln? Egal. Nichts wie weg. Vor ihnen: Tageslicht.

Draußen war alles wie vorher. Der freundliche Tag, der Verkehr, die Menschen. Keine besondere Unruhe, keine Blaulichter, kein Auflauf, niemand zeigte mit dem Finger auf ihren Wagen oder schaute ihnen nach. Es war vorbei. Sie hatten es überstanden. Sie waren am Leben, frei und außer Gefahr – für den Moment wenigstens. Für dieses Mal.