12. Kapitel
Das Mädchen kannte die Stadt, in die sie fuhren, vom Hörensagen und lotste Ross mit kurzen Anweisungen. Je weiter sie vorankamen, umso verwinkelter und enger wurden die Straßen, durch die sie im Schritttempo krochen und die der Vormittagsverkehr zunehmend verstopfte. Endlich erreichten sie eine Promenade unter gestutzten Platanen, die ein kleines Hafenbecken säumte. Ross war zu müde und zu sehr mit dem Verkehr beschäftigt, um sich dem Anblick zu widmen, und das Mädchen dirigierte ihn sofort in Richtung eines Hotelbaldachins. Das Hotel war ein prächtiges, altes Gebäude aus rotbraunen Ziegeln und beigefarbenem Sandstein, dessen Giebel zum Wasser zeigte. Vor den Fenstern des ersten und zweiten Stockwerks hatte es schmale steinerne Balkone mit plumpen Brüstungen, auf denen Blumenkästen standen. Ross hielt vor dem gelb gestreiften Baldachin. Der Mann am Hoteleingang reagierte überrascht, fast erschrocken auf ihre Ankunft und eilte über den breiten Bürgersteig, um die Wagentür zu öffnen. Als sich das Mädchen aus dem Wagen heraus erhob, schien er neben ihr verschüchtert zu schrumpfen. Ross entriegelte den Kofferraum und folgte ihr in die Lobby, wo er zum zweiten Mal an diesem Tag ihren eigentümlichen Magnetismus miterlebte. Die morgendliche Betriebsamkeit des Personals brach ab, als sie den Raum betrat. Alle Anwesenden bewegten sich wie durch Zauberei und richteten sich auf sie aus, wie Eisenspäne in einem elektrischen Feld. Der Empfangschef eilte dem Mädchen bis zur Mitte der Lobby entgegen, gemeinsam mit einer jungen Frau, die dafür ihren Tresen im Stich ließ. Allen Beteiligten schien das Aufheben um sie völlig normal zu sein, auch ihr selbst. Sie nahm es als selbstverständlich, weder herablassend noch dankbar. Sie lächelte nicht einmal bei ihrer Unterhaltung mit dem Hotelpersonal. Sie wurde umgehend in ein helles Eckzimmer im zweiten Stock geführt, das so groß wie ein Tennisplatz und verschwenderisch mit Antiquitäten möbliert war. Hohe Glastüren führten auf den Balkon zur Hafenpromenade, große Fenster auf eine Seitenstraße. Ein Zimmerkellner brachte eine Flasche in einem Kühler und einen kleinen Korb mit einem dekorativen Sortiment Obst, ein Zimmermädchen Blumen in einer Vase. Ein junger Hoteldiener rollte das Gepäck herein. Danach standen sie mit verschränkten Händen artig nebeneinander an der Tür, bis sie dem Mädchen als das für sie persönlich zuständige Personal vorgestellt worden waren.
Ross’ Zimmer war das nächste auf dem Korridor. Es lag über der Seitenstraße, war kleiner und dunkler als das Eckzimmer, und es hatte keinen Balkon, aber es war noch immer das beste Hotelzimmer, in dem er je gewohnt hatte. Der Hoteldiener brachte seine alte Tasche mit spitzen Fingern, setzte sie mitten im Zimmer ab und wartete er auf der Schwelle zum Korridor. Ross verabschiedete ihn, indem er die Tür vor ihm zustieß. Um die Trinkgelder sollte sich das Mädchen kümmern.
Dann war er allein. Er wanderte durch den stillen Raum, zog die Gardinen auf und warf einen Blick in das geräumige Bad. Zum Zimmer des Mädchens hin gab es eine große zweiflügelige Schiebetür.
Ross traute sich nicht, sich zu setzen, weil er wusste, dass er sofort einschlafen würde. Die Müdigkeit lastete auf ihm wie ein schwerer, steifer Mantel; die Kopfschmerzen waren unverändert. Das Bett war riesig und einladend. Doch bevor er schlafen durfte, musste noch der Wagen versteckt werden – in einem Parkhaus oder einer Tiefgarage, jedenfalls unter einem Haufen Stahl, der hoffentlich die Ortung verhinderte.
Das Mädchen hatte sich schon auf ein Bad und ein richtiges Frühstück eingestellt, aber Ross musste sie nicht wirklich überreden, mitzukommen. Sie besorgte einen Stadtplan an der Rezeption, während er vor dem Eingang unter dem Baldachin darauf wartete, dass der Wagen vorgefahren wurde.
Diesmal stieg sie vorne ein. Sie fuhr ihren Sitz zurück, so weit es ging. Am Rande der Altstadt fanden sie ein Parkhaus und stellten das Auto im Tiefgeschoss ab. Ein Taxi brachte sie zurück ins Hotel.
Ross schlief ein, bevor sein Kopf auf dem Kissen lag.
Als er wieder aufwachte, wusste er nicht, wo er war.
Er lag wie gelähmt auf dem Rücken, ohne Zeit- und Körpergefühl, und ohne zu begreifen, was er sah. Seine Augen waren nass. Er hatte geträumt. Sehnsüchtig verfolgte er das schwindende Echo des Traums, voll vom unbekümmerten Singsang einer Unterhaltung zwischen Lourdes und Christina. Wie immer, wenn sie unter sich waren, sprachen sie das melodische, sanfte castellano, das Lourdes aus ihrer alten Heimat mitgebracht hatte. Gleich würde das Kind die Tür aufreißen, um ihn zum Frühstück zu holen, und aus der Küche den Duft von Spiegeleiern und frittiertem Püree aus schwarzen Bohnen mitbringen. Die kostbare Täuschung verflog und hinterließ ihn mit einem hohlen Gefühl in der Brust. Am liebsten hätte er weitergeschlafen. Aber dann arbeiteten alle seine Sinne wieder zusammen und beförderten ihn in die Gegenwart. Es war noch Tag. Er erkannte das Hotelzimmer. Die Schiebetüren zum Nachbarzimmer waren einen Spalt weit offen. Ross stand hastig auf. Im Kampf mit seinem verschlafenen Gleichgewichtssinn und den wiederkehrenden Schmerzen streifte er sich ungeschickt Hose und Hemd über und hinkte barfuß durch den Raum. Er schob die schweren Türen weiter auseinander. Sie waren doppelwandig und ihre Innenseiten dick gepolstert. Mit einem Auge blickte er durch die Öffnung. Das Mädchen war nicht da. Das Zimmer sah aus wie nach einer Razzia. Einer der Koffer lag offen auf dem Boden, über alle Möbel waren Kleider verstreut, und ein Teil der Einrichtung war anscheinend verschoben worden. Das Bett war zerwühlt. War etwas passiert?
Ross unterdrückte seine zunehmende Unruhe, um sich entscheiden zu können. Statt einfach das Zimmer zu betreten, würde er erst nach ihr rufen. Vielleicht lag sie ja in der Badewanne
Sie antwortete vom Balkon. In Rock und Bluse, die langen, runden Beine hochgelegt, mit einer Vogue auf dem Schoß und einer Sonnenbrille im Gesicht, saß sie in einem Korbsessel in der Abendsonne. Der Balkon war nur einen Meter tief. Ross trat an die niedrige Brüstung und blickte verständnislos über den kleinen Hafen, dessen Ausgang zum Meer von zwei klobigen mittelalterlichen Türmen flankiert wurde. Er sah große und kleine Yachten und ein paar bunte Ausflugsboote an den Landungsstegen, die halbrunde Promenade um das Hafenbecken mit ihren gestutzten Platanen und die reich verzierten Fassaden alter Häuser an der Straße, die die Promenade begleitete.
Disneyland, dachte er benommen.
Unter ihm zog im freundlichen Licht der späten Sonne eine zwanglose Prozession abendlicher Spaziergänger über die Promenade. Weil kaum Autos fuhren, war das friedliche Geräuschgemenge aus Gesprächsfetzen, Schritten auf dem Pflaster, gelegentlichem Gelächter und Kinderstimmen bis in das zweite Stockwerk zu hören. Wenigstens jedes dritte Haus um den Hafen musste ein Lokal sein, denn der Bürgersteig war mit Tischen von Straßencafés zugestellt, und alle waren besetzt. Man konnte Musik hören.
Ross hatte Mühe, das was er sah, als Realität zu akzeptieren. Er war seit fünfzehn Jahren New Yorker. Außerhalb von Kino und Fernsehen hätte er die Szenerie, die er gerade betrachtete, nicht für möglich gehalten. Das Mädchen holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Sie ließ die daumendicke Zeitschrift neben sich auf den Boden klatschen und sagte energisch: »Ich habe Hunger.«
»Ja. Ich auch. Aber ich muss erst unter die Dusche. Zehn Minuten.«
Sie nahm die Füße von der Brüstung, schob die Sonnenbrille auf die Stirn und begutachtete ihn. »Nehmen Sie sich Zeit.«
Im Bad untersuchte er zum ersten Mal die beiden großflächigen Blutergüsse auf seinem blassen, mageren Körper. Ein Oberschenkel und die ganze linke Hälfte seines Brustkorbs waren angeschwollen und gefährlich rot, violett und schwarz verfärbt. Es würde zwei Wochen dauern, bis die Schwellungen zurückgegangen, und zwei Monate, bis die Verfärbungen verschwunden waren. Auch sein Gehör hatte sich noch nicht ganz erholt, und in seinem linken Ohr rauschte es ununterbrochen. Aber die Kopfschmerzen waren weg.
Er brauchte länger als zehn Minuten. Später, im Spiegel des Hotelfahrstuhls, konnte er sehen, dass Dusche und Rasur seine Erscheinung nur unwesentlich aufgebessert hatten. Das Denim-Hemd und die Khakis, die er aus seiner Tasche herausgezogen hatte, waren rettungslos zerknittert. Die Allen-Edmonds, die er immer zu seinem Anzug getragen hatte, weil er meinte, dass sie sein bescheidenes Outfit aufwerteten, hatte er gegen Bootsschuhe eingetauscht. Die wirkten auch im gnädigen Licht des Fahrstuhls noch außergewöhnlich schäbig. Das Mädchen sah wie immer untadelig aus, diesmal in einer weißen Hemdbluse, traditionellen Fünfhunderteinsern und roten Ballerinas. Sie trug weder sichtbares Make-up noch Schmuck, nicht einmal eine Uhr. Sie stand hinter ihm und beobachtete im Spiegel mit ihrem Katzenblick, wie er sich und sie betrachtete. Ihr Ausdruck änderte sich auch nicht, als sich ihre Blicke trafen. Wie schon im Auto, blickte Ross zuerst weg.
Sie mussten das Hotel nicht verlassen. Im Erdgeschoss gab es ein Restaurant, das von der Lobby aus zu erreichen war. Am Eingang wurden sie von einer kleinen Kellnerin erwartet. Das Restaurant war gut besucht. Alle Gäste saßen in Gruppen zusammen, und auch die, die gerade aßen, unterhielten sich lebhaft. Der Geräuschpegel war ziemlich hoch; er sank nur kurz ab, als sie den Raum durchquerten und das Mädchen wieder einmal alle Blicke auf sich zog.
Die kleine Kellnerin war jung, fast noch ein Kind, mit Sommersprossen, einem schönen, rotbraunen Lockenkopf und lustigen Augen. Sie trug ein kleines goldenes Namensschild an ihrer schneeweißen Bluse. Als sie bemerkte, dass Ross kein Französisch verstand, wechselte sie umstandslos ins Englische und wurde ihm augenblicklich sympathisch. Statt sich durch die Speisekarte zu rätseln, ließ er sich ein Menü empfehlen: Suppe, Salat, gegrillten Fisch und Weißwein. Einen trockenen Weißwein; es war die Art von Abendessen, die Carol hier gewählt hätte. Er hielt die Kellnerin noch einen Moment auf, dankte ihr für die Empfehlung, komplimentierte ihre Sprachkenntnisse und fragte sie über ihren Job aus. Als sie schließlich schwungvoll davoneilte, sah er ihr nach und nahm sich vor, großzügig Trinkgeld zu geben.
»Gefällt Ihnen die Bedienung, Mr. Ross?«
Überrascht wandte er sich dem Mädchen zu. Ihr Gesicht war nicht mehr so ernst, und sie erschien nicht mehr so unnahbar wie noch vor einigen Minuten. Die ungleichen Augen glitzerten belustigt. Der Wandel in ihrem Auftreten und die Frage überrumpelten ihn ein wenig, aber er war ausgeschlafen, und die Kellnerin hatte ihn in eine gute Stimmung versetzt. Er sagte: »Nathalie. Sie macht ihre Sache gut. Sie ist nett. Und hübsch.«
Sie sahen sich über den Tisch hinweg an, und Ross wartete, was sie als nächstes sagen würde.
Auf einmal lächelte sie.
Verblüfft stellte er fest, dass er sie zum ersten Mal lächeln sah. Es war ein großzügiges, gewinnendes Lächeln, das ihr sonst so beherrschtes Gesicht von innen heraus erleuchtete. Sie hatte einen schönen Mund, makellose Zähne, und sie hatte diesen sexy Liv-Tyler-Überbiss. Das ist wohl der Grund, dachte er, warum sie die Lippen immer so grimmig aufeinanderpresst. Er lächelte überrascht und erfreut zurück. Vielleicht war jetzt ein guter Moment.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte er vorsichtig, »möchte ich Sie nicht weiter misswhittackern.«
Keine gelungene Ansprache. Er stellte sich auf eine herablassende Zurückweisung ein, während sie ihre typische Pause machte, bevor sie antwortete. »María del Carmen. Carmen.« Sie sprach ihren Namen spanisch aus.
»Mucho gusto. Ich bin Walter. Oder einfach Ross. Wie Sie wollen.«
»Sprechen Sie Spanisch, Walter?«
Ross hatte beim Militär Spanisch gelernt. Er sagte: »Es geht. Ich war mal mit einer Latina verheiratet.«
»Felicidades. Latinas sind die besten Ehefrauen der Welt.« Sie überging lässig, dass Ross’ Ehe offensichtlich keinen Bestand gehabt hatte. »War sie aus Kolumbien?«
»Aus Queens.«
»Sie sind witzig«, sagte sie ungerührt. »Haben Sie Kinder?«
»Eine Tochter.«
»Das dachte ich mir. Ist sie so alt wie ich?«
»Viel jünger.«
»Lebt sie bei Ihnen?«
»Bei ihrer Mutter.«
»Sehen Sie sie oft?«
»Nein.« Nie.
Die Kellnerin unterbrach sie. Als sie wieder gegangen war, hatte das Mädchen Ross’ Einsilbigkeit anscheinend gedeutet, denn sie wechselte das Thema.
»Meine Eltern sind auch geschieden.«
»Ja. Ihr Vater hat so was erwähnt.«
»Ach, wirklich …? Eigentlich waren sie ja nie ernsthaft verheiratet. Mit Liebe und so. Meine Mutter hat meinen Vater geheiratet, weil sie die Staatsbürgerschaft wollte. Mein Vater hat meine Mutter geheiratet, weil sie die Eintrittskarte zu unserer Familie war. Kaum hatten beide, was sie wollten, da haben sie sich schon wieder getrennt. Zwischendurch bin ich zur Welt gekommen.«
Immerhin. Ross sagte: »Was ist das für eine Familie? Was macht sie?«
»Was Familien so machen. Alles Mögliche.«
»Nein, ich meine, wovon leben sie?«
»Leben? Sie meinen, geschäftlich. Kaffee, Hotels, Kühlhäuser, solche Sachen, ich weiß auch nicht so genau. Politik. Eigentlich sind wir zwei Familien: die, aus der meine Großmutter kommt, und die von meinem Großvater. Bei uns gibt es so viele Offiziere, Richter und Minister, dass wir einen eigenen Staat aufmachen könnten. Einen Bischof haben wir auch.« Sie machte eine kleine Pause für den Effekt. »Und einen Drogenbaron.«
Ross ging nicht darauf ein.
»Und Ihr Vater? Womit verdient er sein Geld?«
»Wie, verdient? Er ist reich. Warum wollen Sie das alles wissen?«
»Ich denke, wenn ich etwas über Ihren Hintergrund weiß, bekomme ich vielleicht einen Hinweis darauf, wer Sie entführen will.«
»Und was würde das nützen?«
Eine berechtigte Frage. Er war schließlich kein Polizist mehr. Ross ließ einen Moment verstreichen und sagte dann, um ihre Erzählung wieder in Gang zu bringen: »Bis Sie zwölf Jahre alt waren, haben Sie also in Kolumbien gelebt.«
»Meistens bei meinen Großeltern. Meine Mutter hat wieder geheiratet, noch zwei Mal. Ich habe drei Halbgeschwister. Von meiner Mutter. Ich glaube, mein Vater hat auch noch Kinder aus einer anderen Ehe. Dann starb meine Großmutter, ich wurde schwierig, keiner wollte mich haben, und ich bin ins Internat abgeschoben worden.«
Die unbekümmerte Gesprächigkeit des Mädchens überraschte Ross, aber sie gefiel ihm auch. Sie würden sich nicht die nächsten fünfundvierzig Minuten einsilbig und befangen gegenübersitzen, und er musste nur zuhören und brauchte selbst nicht besonders unterhaltsam zu sein. Bereitwillig gab er ihr das erwartete Stichwort. »Schwierig?«
»Ich war die gringa mit dem Auge, und mit zwölf Jahren schon über einsachtzig groß. Einmal haben mich ein paar Jungs gehänselt, von denen habe ich einen ohne Schneidezähne, einen anderen mit einer Hodenquetschung ins Hospital geschickt. Da war mein Schicksal besiegelt.«
Ihr Lächeln war wieder eine kleine Sensation. Dieses Mal war es besonders breit und hatte etwas Verwegenes, Schadenfrohes. Ross sah sie vor sich, wie sie auf das Telefon in der Tankstelle eindrosch.
Er sagte: »Sie waren gut in der Tiefgarage.«
»Oh, vielen Dank!«
Sie freute sich! Einen Moment lang strahlte sie und gab zu erkennen, dass sie nicht so unabhängig vom Urteil ihrer Umgebung war, wie es aussah. Es war kein Lapsus, im Gegenteil; sie machte sich nicht die Mühe, zu verheimlichen, dass sie geschmeichelt und empfänglich für Komplimente war. Es ist wahr, dachte Ross, keiner kriegt jemals genug Anerkennung, egal, wie viel er davon bekommt.
»Wenn Sie nicht zwei Angreifer beschäftigt hätten«, sagte er, »hätte ich zwei Bewaffnete gegen mich gehabt.«
Er erfuhr nicht mehr, ob sie begriffen oder überhaupt gehört hatte, was er sagte, denn die Kellnerin erschien mit dem ersten Gang des Abendessens. Augenblicklich verlagerten sich das Interesse und die Aufmerksamkeit des Mädchens vollständig auf ihren Vorspeisenteller. Beim Essen erinnerte sie mehr denn je an ihren Vater. Wie er ließ sie sich Zeit, wählte scheinbar sorgfältig ihre Bissen vom Teller, kaute lange und lehnte sich dabei hin und wieder zurück, die Serviette in beiden Händen. Ihr Besteck gebrauchte sie auf europäische Weise. Wie ihr Vater hatte sie schöne, gepflegte Hände, mit kurz geschnittenen, schimmernden Fingernägeln. Wie ihr Vater und Hauser ignorierte sie ihn, als er lange vor ihr fertig war und ihr zusah, bis sie ihren Teller geleert hatte. Sie ließ tatsächlich keinen Rest.
Ross’ Gedanken wanderten. Andere junge Frauen in ihrem Alter trainierten und hungerten sich auf Modeldimensionen herunter, aber dieses Mädchen leckte praktisch ihren Teller ab. Ihre Kleidung kaschierte mehr oder weniger ihre Figur, und sie war nicht nur sportlich, sondern auch in Haltung und Bewegung elegant, aber es war unübersehbar, dass sie nicht gerade schlank war. Trug sie nur den Rest ihres Babyspecks mit sich herum, der von selbst wegschmelzen würde, oder war sie dabei, sich in eine groteske, fette Riesin zu verwandeln? Nein, entschied Ross, Frauen wie sie werden nicht fett. Für die Angehörigen ihrer Kaste gibt es kosmetische Chirurgie, Spa-Aufenthalte, persönliche Trainer, Therapeuten und Tabletten ohne Ende.
»Was trinken Sie, Walter?«
»Wie? Eh, Wein.«
»Wein?«
Er hob die Flasche aus dem Kühler und ließ sie das Etikett lesen.
»Chablis.« Sie hielt ihm ein leeres Glas entgegen. »Wie war Ihre Suppe?«
»Die Suppe?« Ross blickte in seinen leeren Teller. »Gut.«
»Sie machen sich nichts aus Essen, oder?«
»Doch, doch.«
»Alleine wegen des Essens möchte ich in Europa bleiben.«
»Kommen Sie nicht zurück?«
»Nein. Meine Schulzeit ist vorüber. Ich war wegen meiner vielen Wechsel eh länger in der Schule als die meisten anderen. Verschwendete Zeit.«
»Und? Was machen Sie jetzt?« Es war diese Erwachsenenfrage, die implizierte, dass man nach der Schule etwas Ernsthaftes vorhaben musste. Ross fügte schnell hinzu: »Fahren Sie nach Hause? Ich meine, nach Kolumbien?«
»Ach, Kolumbien.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. »Ich weiß nicht. Seit sie mich ins Internat gesteckt haben, war ich nie mehr länger als ein paar Wochen im Jahr dort. Natürlich, meine ganze Verwandtschaft ist da. Ich habe mindestens eine viertel Million Cousinen, aber mit denen ist nichts los. Die spielen den ganzen Tag mit ihren Telefonen, oder sie lassen sich aus geschlossenen Wohnvierteln in bewachte Malls fahren und shoppen, bis sie ohnmächtig werden. Die einzige Steigerung, die sie sich vorstellen können, ist, dasselbe in Miami zu tun. Wenn sie nicht shoppen, dann sind sie in einem Schönheitssalon oder beim Friseur und tratschen: Wer es mit wem treibt, wer seine Unschuld verloren oder wer mal wieder abgetrieben hat. Und Schönheits-OPs. Alle lassen sich die Nasen und die Möpse machen. Und heiraten, darauf sind sie ganz wild. Bis sich ein Dummer findet, der es mit ihnen aushält und ihnen ein paar Kinder macht, studieren sie irgendwas Anspruchsloses. Kommunikationswissenschaft oder so. Kennen Sie Kolumbien, Walter?«
Er schüttelte den Kopf.
»Da ist Krieg. Da will keiner hin. Alle wollen weg. Meine ganze Sippe würde sofort in die USA übersiedeln, wenn sie nur dürften. Staatsbürgerschaft ist auch ein großes Thema bei denen. Nur ich, meine Mutter und ihre anderen Kinder, mein Cousin Raoul und seine Familie haben die Staatsbürgerschaft. Die anderen sitzen fest. Immerhin hat sich mein Großvater in Costa Rica eingekauft, das ist auch ein sicheres und sauberes Land.«
Ross erinnerte sich, dass er etwas Ähnliches schon einmal von Lourdes gehört hatte. Nicht nur die Armen wollen in die USA, dachte er verwundert, auch die Reichen. Vielleicht gerade die Reichen. Das war ihm vorher noch nie aufgefallen.
»Eigentlich«, sagte das Mädchen in seine Gedanken, »gefällt mir Europa. Die Leute hier sind ziemlich entspannt. Man kann rauchen, und keiner fragt, ob man einundzwanzig ist, wenn man einen Drink bestellt. Es gibt diese coolen Städte, Barcelona, Amsterdam, Reykjavík. Alles funktioniert. Es gibt keine Armen, und fast überall kann man sich unbewaffnet und zu Fuß bewegen. Sogar nachts.«
»Dann bleiben Sie doch hier.«
Sie zuckte mit den Schultern.
»Was ist mit New York? Die Mitte der Welt.«
»In New York ist mein Vater.«
Was immer das hieß. Ross sagte: »Oder Kalifornien? Da sind alle so wie Sie.«
»So wie ich?«
Ach, shit. »Verstehen Sie mich nicht falsch.«
Wieder wurden sie von der Kellnerin unterbrochen. Als die Teller vor ihnen standen und die Gläser nachgefüllt waren, sagte das Mädchen: »Ich verstehe Sie nicht falsch, Walter. Waren Sie mal in Kalifornien? Aber ich. Glauben Sie mir, da sind alle Leute so wie Sie.«
Dann stach sie zielstrebig auf ihren Seafood-Salat ein. Wieder ließ sie sich Zeit, und wieder sah Ross zu, wie sie selbstvergessen ihren Teller leerte. Aber sie musste nachgedacht und einen Entschluss gefasst haben, denn als abgetragen war, lehnte sie sich zurück und kam direkt zur Sache. »Und Sie? Was ist mit Ihnen?«
Sie wollte wissen, wen sie vor sich hatte. Gewohnheitsmäßig wich er aus.
»Wie, was ist mit mir?«
»Stellen Sie sich vor. Erzählen Sie. Wer Sie sind, was Sie machen, woher Sie meinen Vater kennen und so. Bis jetzt weiß ich nur, dass Sie mal verheiratet waren und eine Tochter haben. Also?«
»Fragen Sie.«
»Zum Beispiel, was machen Sie beruflich?«
»Ich bin Partner in einer Sicherheitsfirma.«
»Sie sehen nicht aus wie ein Bodyguard.«
»Wir machen auch keinen Personenschutz. Wir beraten Privatpersonen und Firmen mit Sicherheitsproblemen, und wir liefern und installieren Ausrüstung.«
»Und woher kennen Sie meinen Vater?«
Ross dachte einen Moment nach. »Ich war mal Soldat.«
Es entstand eine Pause, und das Mädchen wartete darauf, dass er weitersprach. Schließlich sagte sie ungeduldig: »Mein Gott, sind Sie zäh. Eine Unterhaltung mit Ihnen ist echt harte Arbeit.«
»Vor langer Zeit hatte ich mal mit Ihrem Vater zu tun. Danach haben wir uns aus den Augen verloren. Erst vor kurzem sind wir uns wieder begegnet. Ihr Vater hat mitbekommen, dass wir uns bei einem Neubau, in den er vielleicht investiert, um einen Auftrag bemühen. Er hat mir versprochen, uns zu helfen, den Auftrag zu bekommen, wenn ich dafür seine Tochter von der Schule abhole.«
»Sind Sie Freunde, mein Vater und Sie?«
»Nein. Ich kenne ihn eigentlich gar nicht.«
Das gab ihr zu denken. Nach einer Weile sagte sie: »Anscheinend kennt er Sie besser als Sie ihn.« Er schwieg unbehaglich, und sie fuhr fort: »Sie machen keinen Personenschutz, und Sie kennen meinen Vater eigentlich gar nicht, aber er engagiert Sie, um mich vor Kidnappern zu schützen.«
Nun, von Kidnappern war nicht die Rede. Aber im Grunde, sagte sich Ross, hätte ich wissen müssen, wohin die Reise geht, als ich bei Marco’s vom Tisch aufgestanden bin.
»Und Sie, warum machen Sie das?« Sie machte eine vage, alles das umfassende Handbewegung.
Tja, wieso eigentlich. Ross sah Dyson vor seinem inneren Auge, Wyllis und seine Tracker, die Respekt gebietende Myra, Whittaker, der von seiner kleinen Tochter schwärmte, und Hauser: Wir verlassen uns auf Sie, Walter. Es ist ein Job, sagte er sich ohne Überzeugung, mehr nicht, aber er sprach es nicht aus. Er fürchtete, dass das Mädchen seine Antwort unfreundlich oder zynisch finden würde, und hörte sie wieder fragen: Sind Sie ein Spezialist?
Doch sie war mit ihren Gedanken schon woanders. »Komisch«, sagte sie, als ob es ihr gerade wieder eingefallen wäre, »wenn man mich vor einer Woche gefragt hätte, hätte ich gesagt, dass es meinem Vater egal ist, ob ich gekidnappt werde.«
Sie sah ihn an, und Ross fragte sich, ob sie vielleicht einen Kommentar von ihm erwartete, so etwas wie Nein, das dürfen Sie nicht denken, Ihr Vater liebt Sie und sorgt sich um Ihre Sicherheit. Stattdessen sagte er: »Warum haben Sie das gedacht?«
»Das hat meine Mutter einmal gesagt, als ich damals nicht ins Internat wollte: Wenn ich in Kolumbien bleibe und entführt werde, würde niemand für mich zahlen, schon gar nicht mein Vater.«
»Und das haben Sie geglaubt.« Kein Wunder, dass sie keine hohe Meinung von ihren Eltern hatte.
»Na ja, ich wusste nicht, was ich glauben sollte. Als Kind in Kolumbien kannte ich meinen Vater kaum. Getroffen habe ich ihn nur selten und nur für Minuten, wenn er gerade bei meinem Großvater zu tun hatte. Ich hatte immer den Eindruck, dass ich ihm gleichgültig bin. Später habe ich ihn jedes Mal am Ende der Ferien eine Woche lang in New York besucht, aber so richtig um mich gekümmert hat sich dann Onkel … Colonel Hauser. Bei seinen Männern sind welche, die sind so groß wie ich, richtig gutaussehende Jungs. Die mussten ran, wenn ich in der Stadt war: Sightseeing, Shows, Kino, shoppen, tanzen, alles, das volle Programm. Besonders tanzen. Ich hatte jedes Mal eine Menge Spaß. Vor dem Tanzen hätten sie sich manchmal gerne gedrückt. Aber nix, Hauser hat sie sogar Kurse machen lassen.« Sie lachte entzückt über irgendetwas in ihrer Erinnerung und machte sitzend mit dem Oberkörper und mit abgewinkelten Armen ein paar Tanzbewegungen. Ross konnte spüren, wie sie unter dem Tisch auch die Füße bewegte. »Tanzen Sie, Walter?«
Lourdes hatte ihm mühsam das Nötigste beigebracht. Ehe er antworten konnte, war die Kellnerin wieder da. Noch immer in Tanzpose sprach das Mädchen sie an, und sie führten eine gutgelaunte, schnelle Unterhaltung. Mitten im Gespräch lachten sie gemeinsam über irgendetwas, über das sie sich einig zu sein schienen, wie Freundinnen. Ross verstand kein Wort.
»Die angesagten Clubs«, sagte das Mädchen anschließend, »liegen alle in den Außenbezirken. Aber hier in der Nähe, in einer Nebenstraße, gibt es eine Bar, da kann man auch tanzen.«
Ross wollte etwas sagen, aber es war schon zu spät. Sie war wieder ins Essen vertieft und sah aus, als wäre sie in nächster Zeit nicht ansprechbar. Er wartete geduldig, bis sie fertig war, sich zurücklehnte und ihn wieder ansah.
Er sagte: »Haben Sie vor, tanzen zu gehen?«
»Oh, bitte! Sagen Sie jetzt nicht, dass das nicht geht. Meinen Sie wirklich, das ist gefährlich? Ich will ja nicht alleine gehen. Sie kommen natürlich mit.«
»Aber …«
»Soll ich die ganze Zeit im Hotel rumsitzen? Ich sterbe vor Langeweile!«
»Nur bis Freitag.«
»Bis Freitag!« Sie änderte ihren Auftritt. »Wenn ich alleine in meinem Zimmer bin«, sagte sie mit bebender Stimme und beugte sich zu ihm über den Tisch, »dann erlebe ich den Überfall immer wieder von neuem. Immer wieder. Ich schreie im Schlaf. Ich wache schweißgebadet auf. Ich bin traumatisiert, Walter, ich brauche Ablenkung, positive Erlebnisse, affektiv affirmative Rückkopplung, oder ich ende in Therapie. In einer Anstalt.«
Wie ihr Vater schauspielerte sie. Sie sah ihn mit feuchten Augen und schlaffem Mund vorwurfsvoll an, bis er sagte: »Welche Rückkopplung?«
Sie lachte und lehnte sich wieder zurück. »Okay, war nur ein Test. Aber glauben Sie im Ernst, dass da draußen jemand auf uns wartet? Dass die Typen aus der Tiefgarage nach ihrer so gründlich verunglückten Aktion noch einmal antreten? Dass sie überhaupt wissen, wo wir sind?«
Wenn Hauser mich nicht gewarnt hätte, würde ich mir jetzt gar keine Gedanken machen, dachte Ross. Das Entführerteam hatte wahrscheinlich aus sieben oder acht Leuten bestanden, überlegte er. Denen aus der Tiefgarage, ein oder zwei Fahrern von anderen Flucht- oder Transportfahrzeugen und ein oder zwei Leuten, die beim Versteck warteten. Drei hatte er erschossen. Die restlichen mussten erstens neue Leute rekrutieren, zweitens herausfinden, wo ihr Opfer war, drittens dort hinreisen, viertens ein Haus oder eine Wohnung als Versteck auftreiben und herrichten, zwei oder drei Autos und vielleicht neue Waffen besorgen und fünftens die eigentliche Entführung besser planen und durchführen als beim ersten Mal. Das alles würde Wochen dauern. Oder? Oder die Entführer arbeiteten für eine große Organisation. Dann gab es ein B-Team, keine logistischen Probleme, und der nächste Überfall fand statt, sobald sie gefunden waren. Aber die Angreifer in der Tiefgarage waren einfach nur Kriminelle, entschied Ross, keine Profis, sonst hätte der erste Versuch gleich geklappt. Profis hätten dreißig Sekunden später angegriffen, auf halbem Weg zwischen Auto und Fahrstuhl. Sie hätten gewusst, dass das Mädchen schwierig zu handeln war, und sie beide mit der Impfpistole oder Spray betäubt; oder ihm aus nächster Nähe in den Kopf geschossen und dafür eine diskrete Zweiundzwanziger benutzt, nicht diese klobige Artillerie, deren Einzelteile er zwischen die Felsen am Meer geworfen hatte.
»Walter?«
»Nein«, sagte er, »das glaube ich nicht.«
»Gut. Gut!«
Blieb noch die Polizei. Aber gegen die brauchte er das Mädchen nicht zu schützen. Wenn die Polizei uns sucht, dachte er, wird sie uns auch finden.
»Wir gehen aus!«, sagte das Mädchen triumphierend. Ihr Gesicht war gerötet, und ihre Augen glänzten. Die Weinflasche war leer.
»Aber nicht mehr heute.«
»Nein. Okay. Ich muss sowieso erst mal einkaufen und mich überholen lassen, damit nicht jeder merkt, dass ich gerade von einer Nonnenschule komme. Sie auch. Sie brauchen einen neuen Anzug und einen Haarschnitt. Sonst kommen Sie an keinem Türsteher vorbei.«
»Und es gilt weiter, was wir heute morgen ausgemacht haben.«
»Ja, sicher. Was war das noch mal?«
»Sie tun alles, was ich sage.«
»Ach ja. Klar. Was ist mit Kreditkarten?«
»Auf keinen Fall.«
»Was?! Und wie soll ich dann einkaufen?«
»Ich habe Bargeld.« Ihm fiel ein, dass er ihr immer noch nicht den dicken Umschlag gegeben hatte. »Ich glaube, ich habe auch Bargeld für Sie.«
»Gut. Sehen Sie irgendwo unsere Kellnerin?«
Bei einer Tasse Kaffee wurde Ross Zeuge, wie dem Mädchen am Tisch über einer Spiritusflamme hauchdünne Pfannkuchen gebacken, zusammengefaltet, mit Cognac begossen und in Brand gesetzt wurden. Mit ihrem Kaffee nach dem Dessert bekam sie auch eine Packung Zigaretten und ein Heftchen Streichhölzer. Sie trank ein paar Schlucke, öffnete die Packung und klopfte eine Zigarette heraus. Dann sah sie sich um, sagte: »Ich glaube, hier kann man nicht rauchen«, stand auf und ging.
Wieder einmal blieb Ross verdutzt zurück. Bis er die Rechnung abgezeichnet hatte und in die Lobby kam, hatte das Mädchen ihre Zigarette aufgeraucht. Sie erhob sich aus einem Sessel und sagte: »Okay, gehen Sie vor.« Vor? Nach draußen? Ross hatte Hemmungen, das Gebäude zu verlassen. So wie er das Auto als Schutzpanzer empfand, war das Hotel für ihn Zuflucht, ein Schlupfwinkel. Draußen war er ohne Deckung, taktisch im Nachteil. Überall konnte alles passieren.
Aber natürlich passierte nichts. Nach ein paar Minuten legte sich seine Unruhe, und er kam sich albern vor, wenn er sich alle zwanzig Schritte umwandte oder vorbeifahrende Autos und andere Spaziergänger misstrauisch musterte. Was konnte er schon tun, wenn sie wirklich überfallen wurden? Eine Stunde lang hinkte er in einigen Metern Abstand hinter dem Mädchen her durch die laue Nacht, um den Hafen herum und in die malerische Altstadt, wo sie ohne Eile die Schaufenster schon geschlossener Geschäfte inspizierte.
Kurz nach Mitternacht waren sie zurück im Hotel.
Ross stand in der Mitte des Zimmers, als das Mädchen den schweren Umschlag öffnete, den er ihr gebracht hatte, und den Inhalt auf ihr Bett ausleerte. Es war Geld. Sie setzte sich neben den Geldhaufen und sortierte geistesabwesend die braunen, grünen und graugrünen Päckchen, die von unbedruckten Banderolen zusammengehalten wurden. Ihre gute Laune vom früheren Abend war verflogen. Ross sah ihr regungslos zu, bis sie plötzlich den Kopf hob und ihn anfuhr. »Was?!«
»Nichts. Gute Nacht.«
Als er an der Tür war, sagte sie hinter ihm her: »Walter, was bedeutet das?«
Er drehte sich zu ihr um.
»Warum habe ich ein schlechtes Gefühl? Wieso kommt mir das hier vor wie ein Trostpreis? Oder soll ich mein Lösegeld zur Entführung gleich selbst mitbringen?«
Er antwortete nicht.
»Morgen gebe ich das ganze Scheißgeld aus!« Sie hielt ihm ein Bündel Dollars entgegen. »Wollen Sie etwas davon?«
Er schüttelte den Kopf.
Sekundenlang suchte sie nach Worten. »Walter? Was Sie mir am Meer gesagt haben, heute morgen …«
»Ja?« Es war eine Frage. Er forschte in ihrem sauberen, ernsten Gesicht. Was wollte sie wissen? Das bleiche Auge verriet es ihm.
»Machen Sie sich keine Sorgen, Carmen«, sagte er. »Das gilt. Bis Sie sicher zu Hause sind.«