5. Kapitel

Hinter Amagansett bogen sie zuerst auf eine Seitenstraße und dann auf einen asphaltierten Privatweg ab, der in eine grasbedeckte Dünenlandschaft führte. Weil sie langsam fuhren, ließ Whittaker sein Seitenfenster herunter und konnte sofort das nahe Meer riechen. Als die öffentliche Straße hinter ihnen außer Sicht war, erreichten sie eine Schranke. Jenseits von ihr stand, etwas abseits vom Weg, ein kleines Holzhaus. Die Schranke hob sich selbsttätig, noch ehe Hauser den Wagen zum Stehen bringen musste. Aus dem Haus trat eine kräftige junge Frau und überquerte mit energischen Schritten den Weg, um sich auf der Fahrerseite des Wagens zu postieren. Als der Lexus langsam passierte, salutierte sie, und Hauser nickte ihr zu. Der zweite Wagen blieb zurück.

Whittaker erinnerte sich nicht, wann die militärische Begrüßung bei ihren Leuten gebräuchlich geworden war. Tatsächlich salutierten sie nur vor Hauser. Als das erste Mal einer vor ihm, Whittaker, salutierte, hatte er das sofort verboten. Zwar war er, wie Hauser, als Oberst verabschiedet worden, doch der Rang bedeutete ihm wenig, und sentimentale Erinnerungen an seine Jahre als Soldat hatte er nicht. Auch Hauser, das wusste er, war weder eitel noch nostalgisch. Die Piloten und die acht ehemaligen Soldaten und Unteroffiziere, die für sie arbeiteten, sollten sich militärisch benehmen, damit sie weiter militärisch dachten und handelten. Die Piloten flogen den Gulfstream. Die Soldaten dienten als Fahrer, Laufburschen und Aufpasser, manchmal auch als Kellner oder Sekretäre. Wenn der Anlass es erforderte, waren sie routinierte Bodyguards, und falls es jemals zum Äußersten kam, eine funktionierende Kommandoeinheit. Vier- oder fünfmal im Jahr flogen sie mit ihm oder Hauser in den kleinen Jet gepfercht zu einem Provinzflughafen in der Karibik oder in Mittelamerika. Sie landeten immer kurz vor Einbruch der Dunkelheit. Während er oder Hauser in einem abgelegenen Hangar oder Lagerschuppen in der Nähe der Rollbahn Berge von Dollarscheinen sortierte, zählte und packte, gemeinsam mit den Männern, die das Geld in Koffern oder Säcken gebracht hatten, patrouillierten die Soldaten draußen mit H&Ks, Nachtsichtgeräten und in Kevlar schwitzend durch die tropische Nacht. Was sie bewachten, erfuhren sie nicht. Einen Zwischenfall hatte es noch nie gegeben. Meistens wurden nach ein paar Stunden die Zähl- und Sortiermaschinen wieder abgebaut, und sie flogen mit dem Geld, das dann ordentlich in Alu-Kisten verstaut war, in den Sonnenaufgang. Manchmal konnten sie nicht vor Tagesanbruch verschwinden und mussten mit dem Abflug bis zum folgenden Abend warten. Dann kampierten sie einen Tag lang in einem abgedunkelten, heißen Gebäude und warteten wie Vampire darauf, dass die Sonne unterging.

Der Asphaltweg, auf dem Whittaker und Hauser fuhren, weitete sich zu einer Auffahrt zum Portal eines großen, alten Hauses. Zwei junge Männer öffneten die Wagentüren, als der Lexus ausgerollt war. Zwei ältere Asiaten, ein Mann und eine Frau, warteten auf dem Treppenabsatz vor dem Eingang. Sie verbeugten sich lächelnd vor den Ankömmlingen, die Handflächen vor der Brust aneinandergelegt. Whittaker erwiderte mit einer Verbeugung, als er an ihnen vorbeiging. Hauser blieb am Fuß der Stufen stehen, um auf Augenhöhe mit dem zwergenhaft kleinen Paar zu sein und ein paar Sätze in ihrer Muttersprache mit ihnen zu wechseln, bevor er Whittaker folgte. Die jungen Männer am Wagen beobachteten die Unterhaltung mit respektvoller Neugier. Sie kannten niemanden, der eine exotischere Sprache als Spanisch beherrschte.

Das Innere des Hauses war luxuriöser, als es die von der Seeluft gebleichte, etwas vernachlässigte Fassade vermuten ließ. Die Räume mit ihren polierten Hartholzböden, Balkendecken und getäfelten Wänden ähnelten den Kajüten alter Schiffe. Das weitläufige, fast labyrinthische Gebäude verschluckte die beiden Männer für einige Stunden, bis sie das Abendessen in einem großen, hellen Raum auf der Seeseite des Hauses wieder zusammenführte. Sie aßen schweigend. Die Sonne stand noch am Himmel, die Fenster waren geöffnet, um die Brandung zu hören. Als die Asiatin abgetragen hatte, nahm Whittaker übergangslos das Gespräch wieder auf, das sie auf der Herfahrt geführt hatten.

»Um wie viel geht es denn?«

»Ungefähr neun.«

»Ach ja, ich erinnere mich. Nun, das ist ja nicht so viel. Innerhalb von zwei Wochen könnten wir das bar auf den Tisch legen.«

»Das schon. Aber willst du denn wirklich die Schrottaktien zurückkaufen?«

»Nein, natürlich nicht. Aber ich will vorbereitet sein, falls uns keine andere Wahl bleibt. Die Frage ist, wie lange sich die Koreaner hinhalten lassen.«

»Sie haben den Broker verbrannt, um uns zu beeindrucken, und mir die Dolmetscherin geschickt, damit wir den Hinweis nicht übersehen. Das heißt, sie warten auf eine Reaktion, und das verschafft uns etwas Zeit, wenn auch nicht viel.«

»Ja. Die zweite Frage ist, was passiert, wenn ihnen klar wird, dass wir nicht zahlen werden. Wenn sie statt Geld nur noch Blut sehen wollen, dann ist die dritte Frage, wo wir sie erwarten müssen, wo sie glauben, dass wir angreifbar sind.«

Es entstand eine Pause.

»Ich würde jemanden kidnappen, um uns unter Druck zu setzen«, sagte Hauser nach einer Weile. »Nicht gerade einen von uns beiden. Wenn sie anfangen zu planen, werden sie merken, dass sie nicht an uns herankommen. Und selbst wenn: Sie können nicht sicher sein, dass einer von uns für den anderen zahlt. Eher entführen sie Leute, für die wir verantwortlich sind oder von denen sie annehmen, dass sie uns nahestehen. Mitarbeiter. Verwandte, Kinder, Enkel.«

Whittaker sagte: »Kinder? Ich weiß nicht einmal, ob ich überhaupt Enkel habe.«

Hauser war Witwer. Seine Söhne lebten mit ihren Familien auf Militärstützpunkten im Ausland. Er fragte: »Und was ist mit Carmen?«

»Ach ja, Carmen.«

Wieder schwiegen sie einige Zeit.

»Nehmen wir mal an«, sagte Hauser dann, »wir zahlen für Carmen nicht.«

Whittaker überlegte, ehe er antwortete: »Emilio und Raoul würden es verstehen. Sie würden auch nicht zahlen. Entführungen sind in ihrem Land eine Industrie. Wer Lösegeld zahlt, ist anschließend Freiwild.«

»Die Koreaner wissen nicht, dass wir für Carmen nicht zahlen werden.«

Whittaker zuckte die Achseln. »Wir müssen für Carmen nur irgendetwas tun, bevor ihr etwas zustößt. Emilio und Raoul sind Familienmenschen, oder wenigstens sehen sie sich so. Emilio wird es uns definitiv übelnehmen, wenn wir nichts für die Sicherheit seiner Enkelin tun, bevor sie entführt wird.«

Hauser erwiderte: »Wir haben niemanden übrig, um Carmen zu schützen. Wir brauchen alle unsere Leute für uns selbst.«

»Nun, bis zum Ende des Schuljahres soll sich das Internat um ihren Schutz kümmern. Die werden ja dafür bezahlt. Später sehen wir weiter.«

Whittaker erhob sich und trat ans Fenster. Draußen färbte die sinkende Sonne Dünen und Meer abendlich ein. Der menschenleere Strand war jetzt, bei Ebbe, zweihundert Meter breit. »Wir können nicht arbeiten, wenn wir dauernd über die Schulter sehen müssen«, sagte er, »wir müssen die Koreaner so schnell wie möglich loswerden.«

»Ich bereite alles vor. Aber wir können nichts tun, bevor sie uns nicht angegriffen haben. Es sieht sonst so aus, als brächten wir unsere Klienten schon bei Meinungsverschiedenheiten um.«

»Ja. Und wir müssen warten, bis sie das Land verlassen haben.« Auch Hauser war aufgestanden. Er wollte vor Einbruch der Dunkelheit noch einen Spaziergang machen. Hauser war ein Bewegungsmensch. Whittaker begleitete ihn, ganz gegen seine Gewohnheit, denn Spaziergänge mit Hauser waren eigentlich rasche, mehr oder weniger anstrengende Fußmärsche; er verstand es nicht, zu schlendern. Als sie das Haus verließen und zum Strand hinabstiegen, folgten ihnen zwei ihrer Männer in dreißig Metern Abstand. Fünf Minuten liefen sie nebeneinander durch den lockeren Sand. Dann nahm Hauser das Gespräch wieder auf. »Der Mann in der Tiefgarage … ich habe den Bericht über ihn bekommen.«

Whittaker konnte nicht sofort folgen. »Der, der uns damals aus San Isidro rausgeholt hat«, sagte Hauser. »Er ist harmlos. Er war nicht wegen uns in der Tiefgarage. Er hat sich um einen Auftrag bemüht, ganz wie wir es gehört haben. Er ist Partner in einer kleinen Sicherheitsfirma.«

»Seltsam«, sagte Whittaker nach einer Pause, »wenn du mich nach ihm gefragt hättest, bevor er uns über den Weg gelaufen ist, hätte ich gewettet, dass er bei einer Spezialeinheit ist und Taliban jagt oder so ähnlich.«

»Erinnerst du dich an die Nacht?«

»Als ob es gestern gewesen wäre. Ich frage mich immer noch, warum er nicht auch uns umgebracht hat. Er hätte nur zwei Schuss mehr abfeuern müssen, um ungestört zu verschwinden. Allein waren seine Chancen viel besser als mit uns zusammen.«

»Du hättest uns erschossen.«

»Du nicht?«

Die Sonne war hinter den Dünen untergegangen. In der Dämmerung wurde das Wasser schwarz und der Strand fahl. Der tintenblaue Himmel hatte einen goldorangenen Rand am westlichen Horizont. Whittaker war stehen geblieben, die Hände in den Hosentaschen und den Kopf in den Nacken gelegt, und sah zu, wie über ihm die ersten Sterne erschienen.

»Was weißt du noch über ihn?«

»Er war nie etwas Besonderes. Kein Green Beret, kein Ranger, kein Seal, nicht einmal ein Marine. Er war einfach ein regulärer Infanteriesoldat und ist in seiner sechsjährigen Dienstzeit nur einmal befördert worden.«

»Was machte er dann bei verdeckten Einsätzen?«

»Tja, das waren die Achtziger. Wahrscheinlich ist er ausgeliehen worden. Er hatte wohl keine Angehörigen. In seiner Akte kommen diese Einsätze auch nicht vor. Nachlesen kann man, dass er in der Grundausbildung auffiel, weil er im Gelände außergewöhnlich gut zurechtkam und ein guter Schütze war.«

»Ein Redneck.«

»Ja, er stammt aus einer abgelegenen Gegend in Louisiana.

»Und sonst?«

»Wie gesagt, nichts Besonderes. Ein Job als Wachmann nach der Militärzeit, er geht zur Polizei, Heirat, Kind, Scheidung – das Übliche. Als Polizist machte er mal den Helden und wurde befördert, aber dann holten sie ihn von der Straße und parkten ihn im Innendienst.«

»Den Helden?«

»Da war er noch Streifenpolizist. Bei einem Überfall wurde sein Partner angeschossen. Bis Verstärkung anrollte, stand unser Mann über dem Verwundeten und feuerte alles, was er hatte, in den Laden, in dem sich die Gangster verbarrikadiert hatten. Einen hat er erwischt. Alle Videokameras in der Nachbarschaft nahmen die Show auf, und eine Stunde später war sie in den Nachrichten.«

»Gibt es noch mehr Leichen?«

»Als Detective hat er auch einmal jemanden erschossen. Danach wollten ihn seine Vorgesetzten wohl loswerden, bevor er mal einen Falschen umlegt. Oder gar einen Kollegen. Er bekam einen Schreibtischjob, und aus dem hat er sich dann verabschiedet.«

Whittaker rechnete. »Vier Tote bei unserer Befreiung und zwei als Polizist. Nicht schlecht. Dann gibt es bestimmt noch einmal so viele, von denen wir nichts wissen.«

Hauser sagte »Du willst ihn für einen Job, nicht wahr? Okay, vielleicht schießt er gut und hat eine geringe Tötungshemmung. Aber er ist kein Spezialist. Als Spezialist hätte er Geld. Oder er wäre noch beim Militär. Oder bei einer der Agenturen.«

»Keine Anzeichen dafür?«

»Keine. Nicht damals und nicht heute.«

Als sie die Überprüfung in Auftrag gaben, hatte Hauser die Ermittler extra angewiesen, nach Spuren einer doppelten Existenz zu suchen. Er und Whittaker hatten den Mann bei einer verdeckten Operation kennengelernt, und auch wenn das lange her war: Die Erfahrung zeigte, dass aus der Sphäre der geheimen Dienste kaum jemand tatsächlich und endgültig ausschied. Der Bericht überraschte Hauser dann ein wenig, und er war fast enttäuscht, als er las, dass aus dem kaltblütigen Kommandokrieger, den er gekannt hatte, ein Nachtwächter, Polizist und Verkäufer von elektronischem Spielzeug für verängstigte Rentner geworden war.

»Gut.«

Hauser ließ nicht locker. »Wir haben psychologische Profile von ihm: Der Mann ist undurchsichtig, er hat Probleme mit Autorität und paranoide Charakterzüge.«

»Er passt zu uns.«

»Er wäre ein Risiko.«

»Er ist ein Held«, sagte Whittaker.

»Das meinst du nicht ernst.«

»Ernst schon, aber nicht wörtlich.«

Hauser antwortete nicht mehr. Er hatte alles gesagt, was er sagen wollte. Er würde irgendwann erfahren, was Whittaker meinte oder wollte, und dabei herausfinden, ob ihr Gespräch praktische Folgen hatte. Entscheidungen trafen sie immer gemeinsam. Das war ein nie umstrittener oder gar verletzter Grundsatz ihrer Partnerschaft.

Während sie sich unterhalten hatten, war das letzte Licht am Horizont verschwunden. Die Temperatur fiel schnell. Whittaker hatte den vorigen Abend noch in tropischem Klima verbracht und fröstelte; Hauser ignorierte Kälte und Hitze gleichermaßen. Die Männer, die ihnen die ganze Zeit gefolgt waren, schlossen auf. Auf dem Rückweg lief die kleine Truppe nahe an der Wasserlinie, wo der Sand festgespült war und sie schnell vorankam. Erst als sie auf der Höhe des Hauses war, bog sie landeinwärts ab.

Das Personal hatte vorgesorgt. Ein Kaminfeuer brannte, Tee und Drinks warteten auf Whittaker und Hauser. Mit einem Glas in der Hand blätterte Whittaker zwanzig Minuten in dem Bericht der Ermittler. Beim zweiten Drink war er so weit, das Gespräch fortzusetzen.

»Es ist nichts an ihm auszusetzen. Er ist nicht vorbestraft und hält sich fit. Wir haben ihn erlebt. Wir wissen, dass man sich auf den Mann verlassen kann.«

Hauser war immer noch skeptisch.

Whittaker sagte: »Weißt du, ich glaube, das, was an ihm undurchsichtig und eigenwillig erscheint, ist einfach nur eine spezielle Art von Einfältigkeit, die uns nicht geläufig ist und die wir deshalb falsch deuten. Er ist ein Redneck, ein Hinterwäldler. Solche Leute, jedenfalls die guten unter ihnen, gleichen ihre intellektuellen Schwächen durch Loyalität aus, und ihren Mangel an Gewandtheit durch Zähigkeit. Also, ich denke, wir werden ihm Carmen anvertrauen.«

Ach ja: Carmen. Na gut. Warum nicht. Hauser sagte: »Aber warum sollte er für uns arbeiten?«

»Nicht für uns. Für Geld.« Whittaker deutete auf den Bericht. »Der Mann braucht Geld. Wir engagieren ihn als Begleiter für Carmen, er holt sie in der Schweiz ab und eskortiert sie hierher. Oder meinetwegen nach Bogotá. Ein Drei-Tage-Job. Wir zahlen gut, aber nicht übertrieben: alles völlig harmlos. Kein Grund, abzulehnen. Er weiß nicht, was wir wissen, und dass wir ihn überprüft haben. Er muss nichts über uns wissen, nichts über den Hintergrund seines Auftrags, und höchstwahrscheinlich passiert überhaupt nichts. Dann erfährt Emilio nie, dass seine Enkelin in Gefahr ist oder war. Und auch nicht, dass wir unter Druck stehen. Und wenn doch …« Er zuckte die Schultern.

Und wenn doch etwas passiert, dachte Hauser, dann wissen wir, woran wir sind. Dann können wir die Scheißkoreaner bei nächster Gelegenheit zur Hölle schicken. Er sagte: »Wir brauchen einen Vorwand, um unseren Mann zu kontaktieren, einen harmlosen Grund dafür, warum Carmen begleitet werden soll, und einen Köder, falls er unwillig oder misstrauisch sein sollte.«

»Misstrauisch?«

»Bestimmt.«

»Kein Problem«, sagte Whittaker gutgelaunt.

Er hatte die Heftklammern und die Plastikdeckblätter des Berichts gelöst und sortierte die Seiten aus, auf denen Namen, Adressen und Telefonnummern standen. Den restlichen Packen Papier warf er in das Kaminfeuer.