3. Kapitel
Es war noch Nacht, als Ross aufwachte. Eine Minute lang lag er abwartend da, dann schälte er sich vorsichtig, um die schlafende Frau auf der anderen Seite des Bettes nicht zu stören, aus den Laken. Auf dem Weg zur Toilette brauchte er kein Licht. Die Wohnung war schwach erleuchtet von der diffusen Helligkeit der nächtlichen Stadt, und es gab nicht viele Möbel, an denen er sich hätte stoßen können. Auf dem Rückweg las er seine Uhr vom Schreibtisch auf. Es war zwanzig vor drei. Ross wusste, dass er nicht mehr einschlafen würde.
Auf dem Rand des Bettes sitzend gingen ihm die vergangenen Tage durch den Kopf. Fast die ganze Woche war er unterwegs gewesen, um potenzielle Kunden zu treffen. Das Beste, was er erreicht hatte, war, einen Vorstellungstermin bei einer Lagerhausgesellschaft zu bekommen. Ross nahm sich vor, bei den Lagerhausleuten besser vorbereitet und konzentrierter aufzutreten als am Anfang der Woche in Dysons Tiefgarage. Wyllis und er brauchten schnell einen Auftrag, am besten gleich mehrere. Morgen, nein, heute Abend würde er von einem Ex-Kollegen eine Aufstellung von Einbrüchen und Überfällen der letzten Zeit bekommen und dann eine Auswahl der Opfer besuchen. Geschäftsleute, die gerade in eine Pistolenmündung geblickt hatten, oder alte Leute, deren Wohnung vor kurzem verwüstet wurde, waren zugängliche Gesprächspartner und oft leicht zu überzeugen, in ihre Sicherheitsausstattung zu investieren. Und dann gab es alte Kunden, mit denen er sprechen würde. Alte Kunden führten zu neuen Kunden. Irgendetwas würde sich ergeben. Und wenn nicht – darüber würde er nachdenken, wenn es soweit war. Nicht jetzt. Schlaflosigkeit und Pessimismus sind Geschwister. Aus vielen durchwachten Nächten als Soldat, Wachmann und Polizist wusste Ross, dass die Aussichten in den Stunden vor Tagesanbruch nie gut sind. Es ist die ungünstigste Tageszeit, um nachzudenken oder Pläne zu machen. Wachzustand und Traum liegen zu nahe beieinander, die Fantasie nimmt unerwartete Wege, und wenn man nicht aufpasst, kriechen alte, halb vergessene Dämonen aus ihren Winkeln und machen sich über einen her. Je öfter man ihnen erlaubt, sich zu zeigen, umso größer werden sie. Und sie locken neue an. Ross bemühte sich, nicht nur nachts, sich nicht unnötig Gedanken zu machen. Auf sein bisheriges Leben blickte er nur ungern zurück, und auf die Zukunft war er nicht mehr neugierig. Nach dem Ende seiner Ehe hatte er es aufgegeben, mehr als ein paar Wochen im Voraus zu planen. Eigentlich glaubte er gar nicht an Planung. Irgendetwas würde sich ergeben.
Die Frau auf der anderen Seite des Bettes regte sich.
Carol. Ross war ihr zum ersten Mal begegnet, als er noch Polizist war und einen Einbruch in das Antiquitätengeschäft ihres Mannes untersuchte. Achtzehn Monate später hatte er den Dienst quittiert und besuchte das Geschäft noch einmal wegen eines Auftrags. Richard Weisz war nach einem Unfall gelähmt, fast blind und unfähig, verständlich zu sprechen. Seine Frau hatte den Antiquitätenladen gemeinsam mit ihrem Schwiegervater in einen Handel mit mehr oder weniger guten Imitaten verwandelt, und sie fingen gerade an, viel Geld zu verdienen. Carol Weisz hatte keinen Auftrag für Ross, aber sie hielt ihn so lange hin, bis er begriffen hatte, dass sie an ihm interessiert war. Dann kam er ihr bereitwillig entgegen. Sie war eine attraktive Frau; er war geschieden und sein vierzigster Geburtstag nicht mehr weit. Seitdem trafen sie sich drei- oder viermal im Monat. Manchmal gingen sie erst auf einen Kaffee oder einen Drink, bevor sie Sex hatten.
Ross konnte fühlen, dass sie nicht mehr schlief. Er wartete regungslos. Nach einer Weile fragte sie: »Warum bist du wach?«
»Nur so.«
»Wie spät ist es?«
»Gleich drei.«
Sie streckte sich und stand auf. Er schaute ihr nach, wie sie nackt, blass und schmal durch den halbdunklen Raum in die Küche ging. Sie war zwei oder drei Jahre älter als er und Mutter zweier fast erwachsener Kinder, aber sie hatte den Körper einer Fünfundzwanzigjährigen. Als er ihr einmal ein Kompliment gemacht hatte, hatte sie ihm freimütig erzählt, dass sie ihre Figur der plastischen Chirurgie verdankte. Während ihr Mann im Koma lag und klar war, dass er, wenn er überhaupt wieder aufwachte, ein hilfloser Krüppel sein würde, hatte sie all ihre Kreditkarten ausgereizt und zehn Wochen in einer Klinik in Kalifornien verbracht. Danach, meinte sie, lief alles wieder irgendwie besser.
»Wie, alles?«, hatte er gefragt. »Na ja, alles eben, irgendwie«, hatte sie geantwortet und gelacht.
Ross konnte die Tür des Kühlschranks und das Klicken eines Feuerzeugs hören. Sie kam mit einem Glas und einer brennenden Zigarette zurück. Sie setzte sich neben ihn, ohne ihn zu berühren.
»Ich muss los.«
»Okay.«
»Dann bin ich zu Hause, bevor er wach wird und der Pfleger für die Tagschicht kommt.«
»Sicher.«
Sie trank das Glas aus und schnippte die Zigarettenasche hinein.
»Die Anwälte meinen, dass sie bis zum Jahresende einen Vergleich mit den Versicherungen hinkriegen. Sobald ich das Geld habe, kommt Richard in eine Einrichtung.«
Sie saßen schweigend nebeneinander, bis Carol die Zigarette geraucht hatte. Dann suchte sie, ohne Licht zu machen, ihre Unterwäsche aus ihrer über das Zimmer verstreuten Kleidung zusammen und ging ins Bad. Gleich darauf hörte Ross die Dusche.
Lourdes war nie nackt durch die Wohnung gelaufen. Wenn sie das Bett nackt verließ, dann nur, um den Kimono zu erreichen, den sie statt eines Morgenmantels trug. Nachdem das Kind geboren und sie rundlicher geworden war, nahm ihre Scheu womöglich noch zu. In den Kissen und in seinen Armen dagegen war sie unbefangen und in den schönsten Momenten so bedingungslos und fremdartig hingebungsvoll, dass sie Ross Ehrfurcht einflößte. Vor ihr hatte er nicht viele Frauen gekannt. Es erschütterte ihn immer wieder tief, wenn Lourdes manchmal kurz vor dem Orgasmus in Tränen ausbrach. Carol war anders, und natürlich weinte sie nicht. Mit fest geschlossenen Augen zerrte sie keuchend an den Laken, bis sie sich mit einigen empört klingenden Rufen entspannte.
Lourdes. Manchmal sprach Ross im Geist mit seiner ehemaligen Frau, wie man es mit Verstorbenen tut. Lourdes. Ich habe fast vergessen, wie ihr ausgesehen habt, du und Christina. Christina. Würde ich sie erkennen, wenn ich ihr begegnete? Kinder verändern sich schneller und gründlicher als Erwachsene. Würde sie mich erkennen?
Das Geräusch der Dusche brach ab. Ross streifte Hose und T-Shirt über und ging in die Küche.
Während sie am Fenster standen und heißen, starken Kaffee tranken, zog die Dämmerung auf. An der Wohnungstür küsste ihn Carol flüchtig aufs Gesicht.
»Wir telefonieren.«