33 Gwenvael nahm Dagmars Hand. Er hatte gehofft, sich auf dem Rückweg nach Garbhán Zeit lassen zu können. Er hatte viel mit ihr zu besprechen und wollte nicht, dass die Dramen seiner Familie sie oder ihn selbst davon ablenkten, dass sie ineinander verliebt waren … Zumindest hoffte er, dass das der Fall war, denn er für seinen Teil liebte sie, verdammt noch mal.

Leider würde ihr Gespräch über die Zukunft warten müssen, bis er Dagmar sicher ins Schloss von Garbhán gebracht hatte und der Rest seiner Familie sich mit den Löchern in ihrer Verteidigung beschäftigte.

»Wir müssen mit Ragnar reden«, sagte sie atemlos, während er sie durch die Bäume zu einer Lichtung zerrte. »Herausfinden, wie er hergekommen ist und dann …«

»Ich weiß. Ich weiß. Es wird …«

Der Schwanz traf ihn aus heiterem Himmel. Dagmars warnender Schrei gab ihm gerade genug Zeit, ihre Hand loszulassen, bevor er in hohem Bogen in den Wald geschleudert wurde. Er verwandelte sich mitten im Flug, und als er gegen einen Baum prallte, pflügte er ihn und viele andere einfach um. Irgendwann kam er schlitternd auf dem Rücken liegend zum Halten und sah hinauf in das alte Gesicht von Olgeir dem Verschwender.

»Du.«

Gwenvael grinste und stand langsam auf. »Hallo Olgeir. Wie geht es deinen Enkelinnen? So süße, anhängliche, kesse kleine Schlampen.«

»Wo is’ mein Sohn, Verderber?«

»Er plant, ein Warlord zu werden. Ich habe gehört, er ist recht hübsch. Meine Mutter wird ihm sehr gerne helfen.«

»Da bin ich mir sicher. Und sag mir, Feuerspucker« – er holte seinen Schwanz hinter dem Rücken hervor – »ist das eines deiner Schmusetiere?«

Der alte Dreckskerl ließ die kleine Izzy von seinem Schwanz baumeln.

»Aaah. Ich sehe, das ist sie. Dann wird sie vielleicht jetzt mein Spielzeug.«

»Du kannst kein so großer …« Der Blitzeinschlag in seine rechte Seite ließ Gwenvael noch mehr Bäume ummähen.

Beim Anblick seiner Nichte hatte er vollkommen übersehen, dass Olgeir nicht allein war.

Dagmar stand auf und nahm rasch ihre Augengläser ab, um den Schmutz von ihnen abzuwischen. Sie scheiterte kläglich, aber zumindest entfernte sie genug Erde, dass sie die Schneise sehen konnte, die Gwenvael in den Wald gerissen hatte.

»Sie ist nicht von hier.«

Dagmar schaute hinter sich. Zwei Blitzdrachen beäugten sie genau. Sie waren groß, lila und definitiv echte Nordländer.

»Du bist das Spielzeug von einem von denen?« Es gab Momente in ihrem Leben, in denen sie sich aus fast allem herausreden konnte. Und es gab Momente, in denen sie besser wegrannte.

Sie rannte.

Talaith stand an einem der vielen Seen der Dunklen Ebenen. Sie stand dort und starrte hinaus auf das ruhige Wasser.

»Jetzt kennst du die Wahrheit. Geht es dir jetzt nicht besser?«

Am ganzen Körper angespannt vor Wut, funkelte Talaith zu dem Gott hinauf, der neben ihr stand. »Was kann ich tun, damit du weggehst?«

Rhydderch Hael lachte. »Nichts. Die Pforte ist jetzt offen. Ich kann in dieser und jeder anderen Existenzebene kommen und gehen, wie es mir gefällt.«

»Na, wunderbar.«

»Ist es dir nicht lieber, die Wahrheit zu kennen?«

»Mir wäre es lieber, wenn du verschwinden würdest!«

Sie spürte seine Hand auf ihrer Schulter. »Talaith, ich habe dir nur die Wahrheit gesagt, weil ich das Gefühl hatte, dass du wissen solltest, wie sehr deine einzige Tochter dich liebt. Wie viel sie zu opfern bereit war für …«

Talaiths Faust traf seine Kehle und zerquetschte einen Teil von ihr durch die Kraft des Schlags.

Der Gott beugte sich hustend und lachend vornüber. Sie konnte hören, wie die Knochen und Knorpel, die sie zerquetscht hatte, sofort von selbst heilten. Als sie davonstürmte, konnte er schon wieder sprechen.

»Geh nicht wütend weg, Talaith«, sagte er, immer noch über sie lachend. »Ich wollte doch nur helfen.«

Talaith ging rasch zurück zum Schloss, drängte sich an Soldaten und Dienern vorbei. Sie musste Izzy finden. Sie musste sich entschuldigen, sie anflehen, ihrer dummen Mutter zu verzeihen, dass sie sich schon wieder von einem Gott manipulieren lassen hatte.

Die Menschenmenge ums Schloss bewegte sich viel zu langsam für ihren Geschmack, deshalb nahm sie den Weg hinter den Ställen herum zum Hauptportal, wohin Izzy gerannt war. Sie will sicher zur Finsteren Schlucht. Sie will zu Annwyl. Und Annwyl würde sie dort festhalten, bis Talaith sie fand. Talaith fühlte sich immer verzweifelter und begann zu rennen. Sie war fast um den letzten Stall herum, als etwas mit Wucht gegen sie prallte. Talaith wurden die Füße unter dem Körper weggerissen, und sie stürzte vornüber, doch starke Hände hielten sie an der Taille fest und zogen sie hoch.

»Tut mir leid«, sagte eine Frau freundlich. Talaith sah abgetragene Stiefel voller Matsch und einen noch abgetrageneren braunen Umhang, der auf dem Boden schleifte. Die Kapuze des Umhangs verdeckte das Gesicht der Frau, aber Talaith hatte für eine von Annwyls Kriegerinnen sowieso keinen Blick übrig.

»Alles in Ordnung?«, fragte die Frau. Hätte Talaith einen Augenblick Zeit gehabt, hätte sie die Sorge in der Stimme gehört, doch ihre Tochter war alles, was zählte.

»Mir geht es gut.« Sie schob die Hände weg, die immer noch ihre Taille hielten, und rannte weiter, während eine plötzliche, entsetzliche Angst um ihre Tochter ihr fast die Luft abschnürte.

Gwenvael hatte keine Waffen, keine Rüstung und keinen Stachelschwanz – und falls er überlebte, würde er seinen Brüdern lautstark die Meinung zu diesem Thema sagen –, aber der Blitzdrache, der versuchte, ihn zu töten, besaß das alles.

Er schickte einen Ruf an Addolgar, weil er wusste, dass dieser in der Nähe von Fearghus’ Höhle war, doch er musste sich trotzdem Sorgen um Izzy machen. Er hatte keine Zeit, auf die anderen zu warten, und es blieb ihm nichts anderes übrig, als doch einmal sein hübsches Gesicht aufs Spiel zu setzen.

Das Schwert blitzte auf, und Gwenvael sprang zurück und umklammerte den nächsten Baum. Als die Klinge ihn um Haaresbreite verfehlte, hob er den Baum an und riss ihn aus dem Boden. Er schwang ihn und knallte ihn gegen das Schwert, als es auf dem Rückweg wieder nach ihm schlug. Es durchschnitt den Baumstamm mit Leichtigkeit, und Gwenvael wusste, dass als Nächstes sein Kopf dran war. Also warf er dem Blitzdrachen die Baumhälften ins Gesicht. Der Schuft taumelte kurz rückwärts, und Gwenvael warf sich auf ihn und riss ihn mit sich zu Boden.

Verzweifelt klammerte er sich an den Schwertarm des Blitzdrachen und hielt ihn unten. Daraufhin griff dieser seine Haare und riss seinen Kopf zurück, während seine scharfe Schwanzspitze nach seiner Schnauze zielte.

Unendlich genervt – mehr wegen seiner Haare als wegen seines Gesichts – senkte Gwenvael seinen eigenen Schwanz und betastete die Rüstung des Bastards. Aus seinen Zeiten im Kampf gegen die Blitzdrachen wusste er, dass die einzelnen Teile ihrer Rüstung unten nicht miteinander verbunden waren wie die der Südlanddrachen. Sie waren genau genommen sogar weit offen.

Also ließ Gwenvael seinen Schwanz unter die Rüstung des Blitzdrachen und direkt zwischen seine Beine gleiten.

Panisch versuchte dieser, sich zu befreien, doch Gwenvael hielt ihn fest; er wickelte seinen Schwanz um das Glied des Bastards – und riss daran.

»Du verdammter …«

Er ließ sie nicht frei. Offensichtlich hatte er vor, sie einfach in seinen Schwanz gewickelt herumzutragen wie einen Leckerbissen oder sein Lieblingshaustier.

Der Blitzdrache schnüffelte in die Luft und kräuselte die Lippen. »Ich rieche hier nur verdammte Feuerspucker. Als wären sie überall.« Er drehte den Kopf und bewegte den Schwanz, den er um ihre Taille gewickelt hatte, näher an sich heran. »Also, wo is’ mein Sohn, Kleine?«

»Ich weiß nicht, was du meinst. Ich …«

Der Schwanz knallte Izzy zweimal auf den Boden und hob sie wieder in die Höhe. »Lüg mich nicht an, Weib! Wo ist er? Sag es mir, sofort!«

Benommen schüttelte Izzy den Kopf.

»Willst du es mir nicht sagen?«

Ihm was sagen? Von wem redete er? Wo war sie überhaupt? Oh, schau mal … was für hübsche Farben!

»Lass mich raten. Dieser Goldene war ein paar Mal mit dir im Bett, und jetzt glaubst du, dass er dich liebt? Dass er dich beschützen wird?« Sein Schwanz rollte sich auf, und Izzy fiel mehrere Fuß tief hart auf den Boden. Die Farben vervielfachten sich, und sie konnte nicht mehr durch sie hindurchsehen. »Ihr Menschen seid so jämmerliche Dummköpfe.« Er schnappte mit dem Schwanz nach ihrem Schwert und schleuderte es in die Bäume.

»Glaubst du wirklich, eine kleine Hure wie du wäre für irgendeinen Drachen wichtig genug?«

»Sie ist nicht irgendeine kleine Hure«, sagte ihre Mutter vom Fuß des Hügels, über den sie in dem Moment gekommen war, als Izzy ihre Sinne mit überwältigender Klarheit wiedererlangte. »Sie ist Iseabail, Tochter von Talaith und Briec.«

Der Blitzdrache grinste anzüglich auf Talaith hinab. »Bist du auch ein Haustier?«

»Ich bin ihre Mutter.« Talaith hob ihre rechte Faust. »Die gefährlichste Schlampe, die du je kennenlernen wirst.« Sie öffnete die Hand, und weiße Flammen schossen aus der Handfläche und trafen den Drachen ins Gesicht.

Er schrie und barg den Kopf in den Klauen, während Izzy eilig auf die Füße kam.

»Izzy!«, schrie ihre Mutter. »Lauf!«

»O nein!« Der Drachenschwanz knallte vor Izzy auf den Boden. »Du gehst nirgendwohin, kleine Hure!«

Seine Schuppen von den Flammen ihrer Mutter versengt, wirbelte er zu ihr herum und sein Schwanz schlug nach Talaith.

Sie sah, wie sich sein Maul öffnete und schwang augenblicklich den Schild, den sie immer noch auf den Rücken geschnallt trug, vor ihren Körper. Blitze züngelten aus seinem Mund und bohrten sich in das Metall.

Izzy kreischte; die Macht des Blitzes hob sie von den Füßen und ließ sie rückwärts in den Wald schnellen, während die Blitze zu ihrem Besitzer zurückprallten.

Dagmar rannte und ließ sich von ihrer Erinnerung an die Landkarten der Dunklen Ebenen leiten, die sie für sich selbst gezeichnet hatte. Sie wusste, sie hätte es nie nach Garbhán zurück geschafft und hätte nicht riskiert, die Hordendrachen zu Fearghus’ Höhle und den Zwillingen zu führen. Sie hatte schon einmal fast ihren Tod verursacht; das würde sie nicht noch einmal tun. Also steuerte sie auf einen kleinen See zu, den Gwenvaels Sippe aus Angst, er könnte verunreinigt sein, nie nutzte.

Die Blitzdrachen lachten und stürzten ihr hinterher, wobei sie eine Schneise in den Wald rissen.

»Komm her, kleine Menschliche«, sagte einer von ihnen, und sie spürte, wie seine Kralle niedersauste, um nach ihr zu greifen. Sie duckte sich, wechselte die Richtung und steuerte auf einen dicken Baum zu, eine ihrer »Test«-Verteidigungsvorrichtungen, gegen die Brastias sich so gewehrt hatte.

Dagmar lief um den Baum herum und knotete rasch das Seil von dem Metallbolzen los, der im Holz steckte. Als die Drachen in Reichweite kamen, löste sie das Seil einer ihrer Lieblings-Verteidigungsanlagen und der riesige Baumstamm schwang frei herum.

Die Blitzdrachen waren schnell, drehten rechtzeitig die Köpfe und sprangen beide zurück, während der Baumstamm an ihnen vorbeischwang.

Unbeeindruckt sahen sie zu, wie er vor- und zurückschwang und schließlich zum Stillstand kam.

Einer von ihnen schnaubte. »Das kannste ja wohl nicht ernst meinen, Kleine. Glaubste wirklich …«

Der Boden sank unter ihnen weg, und beide Drachen schrien erschrocken auf, als sie in die tiefe Grube fielen.

Dagmar beugte sich nieder und grub in der weichen Erde neben dem Baum herum. Sie brauchte länger als ihr lieb war, doch schließlich fand sie die kleine Schachtel, die sie dort versteckt hatte und drückte sie an die Brust. Sie atmete erleichtert auf, dann ging sie zum Rand der Grube hinüber und schaute hinein.

»Du verrückte Schlampe!«, schrie einer zu ihr herauf.

Sie konnten nicht herausklettern; es gab nichts zum Festhalten. Und fliegen war unmöglich geworden wegen des Öls, in das sie gefallen waren. Eine Spezialmischung, die Talaith eines Nachmittags nach Dagmars Anweisungen entwickelt hatte und die die beiden durchtränkte, sodass ihre Flügel nur noch schlaff auf ihrem Rücken hängen konnten.

Dagmar kauerte sich neben die Grube. »Wisst ihr, was mein Lieblingswort des Tages ist, Mylords? ›Fuge‹.«

Sie öffnete die kleine Schachtel und zog eines der einfachen, kleinen Hölzchen heraus, die Morfyd ihr gegeben hatte. »Und zwar, um genau zu sein, im Sinne von ›die Fugen zwischen den Schuppen eines Drachen‹.«

Dagmar hielt das dünne Hölzchen hoch. »Das habe ich von einer Hexe. Sie kennen alle möglichen Dinge. Es ist wirklich erstaunlich, was man alles lernt, wenn man ein … wie habt ihr mich noch gleich genannt?« Sie strich den etwas dickeren Kopf des Hölzchens über einen Felsen, und eine kleine Flamme zischte auf. »Ach, richtig: wenn man ein ›Haustier‹ ist.«

Dagmar hielt das brennende Hölzchen über die Grube.

»Nicht«, flehte einer von ihnen.

»Aber als Landsleute aus den Nordländern … wisst ihr schon, dass ich es tun werde.« Sie öffnete die Hand und das kleine Hölzchen fiel. Es berührte leicht die Grubenwand – die ebenfalls ölgetränkt war –, und die winzige Flamme führte zu einer Explosion, die sich die Wand hinab bis zum Boden der Grube zog.

Die Drachen schrien, als die Flammen dem Öl unter ihren Schuppen zu dem brennbaren Fleisch darunter folgten.

Es war schwierig, bei dem Geschrei etwas anderes zu hören, doch das Knistern sagte ihr, dass sie schnell sein musste, und zwar sehr schnell.

Dagmar stand auf und stolperte rückwärts über den Saum ihres Kleides.

Flammen schossen in den Himmel hinauf, und sie drehte sich um, um wezuglaufen, doch schuppige Unterarme schnappten sie um die Taille und zogen sie eng heran.

»Kopf runter, Liebes«, befahl Addolgar, und dann legte er seine Schwingen um sie, während er sich umdrehte und alles in der Grube in einem Flammen- und Blitzregen explodierte.

Talaith war nicht überrascht, dass Izzy sich so schnell wieder aufrappelte. Sie war glücklicherweise nach ihrem leiblichen Vater und seiner Seite der Familie geraten, die alle recht robust waren. Doch der Anblick der aufspringenden Izzy machte den alten Drachen umso wütender, da er seinen eigenen Blitzen, die von ihrem Schild zu ihm zurückgeworfen worden waren, nur knapp hatte ausweichen können.

Jetzt wollte er sie beide töten, und während er Izzy mit seinem Schwanz angriff, schleuderte er weitere Blitze auf Talaith. Sie hob die Hand und der Schutzzauber kam wie von selbst. Er war nicht so mächtig wie sie es gern gehabt hätte und absorbierte die Blitze nur, statt sie zu ihrem Absender zurückzuschicken. Sie hatte allerdings keine Zeit, sich Gedanken darüber zu machen, sondern zog ihren Dolch, den sie an den Schenkel geschnallt trug. Oh, wie sehr sie sich wünschte, ihrer Tochter sagen zu können, dass sie weglaufen und sich verstecken sollte, doch diesen Luxus konnte sie sich schlicht nicht erlauben.

Der Drache schlug mit der Kralle nach Talaith, und sie duckte sich darunter weg. Er ging wieder auf sie los, und Talaith wich geschickt mit einem Schritt zur Seite aus.

Sie war jetzt neben ihm und konnte sehen, wie Izzy mit aller Kraft auf den Drachenschwanz trat. Mit dem schweren Schild fest in den Händen, sah Izzy ihre Mutter an.

Talaith nickte einmal und schrie zu dem Drachen hinauf: »War das alles, du alter Dreckskerl? Mehr hast du nicht zu bieten?«

Der Drache schwang die Faust gegen Talaith, während Izzy seinen Schwanz lange genug festhielt, um mit der scharfen Kante ihres Schildes zustoßen zu können, sodass die drei Fuß lange, scharfe Metallspitze des Schwanzes von dem schuppigen, muskulösen Teil abgetrennt wurde.

Der Drache brüllte. Seine Faust verfehlte Talaith bei Weitem. Außer sich vor Wut schlug er seinen blutenden Schwanz wieder und wieder auf den Boden und versuchte, Izzy zu zerquetschen, die im Zickzack davonrannte.

Talaith dachte, dass er seine volle Aufmerksamkeit auf Izzy richtete, doch er war nicht dumm. Er streckte wieder die Klaue nach Talaith aus. Während sie über ihren nächsten Schritt nachdachte, sah sie Izzy die Spitze des Drachenschwanzes aufheben, um das spitze Stück als Waffe zu benutzen.

Beeindruckt brüllte sie: »Izzy!« Dann lehnte sie sich eilig zurück, als ein Schlag der Klaue viel zu dicht an sie herankam und eine Krallenspitze ihr Kinn streifte. »Renn und spring!«

Gwenvael riss dem Blitzdrachen das Schwert aus der Klaue und stand auf, den Schwanz immer noch um das Glied des Mistkerls gewickelt. Mit ihm schleuderte er ihn quer durch die Schlucht. Dann stürmte er ihm nach, stieg in die Luft und ließ sich mit dem Schwert in beiden Klauen fallen. Die Klinge bohrte sich durch den harten Schädel seines Gegners und kam durch den Rücken wieder heraus.

Mit einer Drehung riss er sie wieder heraus und rannte zurück zu Izzy und Talaith, um sie zu retten.

Doch als er schlitternd und stolpernd neben Addolgar und seinen Vettern zum Stehen kam, blieb ihm der Mund offen stehen. Er hätte bereitwillig zugegeben, dass er das, was er jetzt sah, nicht erwartet hatte. Genauso wenig wie seine Sippe – nach dem zu urteilen, wie sie zusahen, ohne einzugreifen.

Er spürte ein leichtes Tippen am Bein und sah zu Dagmar hinab. Ihre Kleider waren voller Ruß, was ihm selbst bei ihr merkwürdig vorkam, und sein Schwanz wickelte sich automatisch um ihre Beine, während sie eine seiner Krallen hielt. Gemeinsam standen sie alle da und sahen zu.

Talaith hielt Olgeirs Kralle fest, die versuchte, sie aufzuschlitzen. Ihren Dolch hatte sie zwischen die Zähne geklemmt. Als dem Blitzdrachen klar wurde, dass etwas an seiner Klaue hing, hob er sie an, um genauer hinzusehen, und Talaith ließ sich von seiner Kralle auf seine Schnauze fallen. Sie landete auf den Knien und hieb kraftvoll mit ihrer Klinge in die Stelle, wo zwei seiner Schuppen aufeinandertrafen. Nur ein Mensch, der so gut ausgebildet war wie Talaith, konnte so eine Stelle treffen – und der Blitzdrache schrie vor Schmerz auf und bäumte sich auf die Hinterbeine. Talaith schaffte es gerade noch, auf seiner Schnauze zu bleiben, indem sie sich an dem Dolch festhielt, mit dem sie ihn durchbohrt hatte.

Da rannte Gwenvaels Nichte den Rücken des Blitzdrachen hinauf. Zwar rutschte sie wieder hinab, als er sich aufbäumte, stürmte aber erneut los, als er sich wieder auf alle Viere fallen ließ. Sie rannte, bis sie es auf den Kopf des Blitzdrachen geschafft hatte. Dort angekommen, stieß sie sich mit dem rechten Fuß ab und sprang. In der Luft drehte sie sich, holte mit dem Arm aus und warf ihn dann nach vorn, auf das Gesicht des Drachen zu. War das etwa eine …? Ja. Es war die Schwanzspitze eines Drachen – die Schwanzspitze dieses Drachen. Und mit ihr stach sie in Olgeirs Auge; sein Gebrüll ließ alle Drachen in einem Radius von achtzig Wegstunden mitleidig zusammenzucken.

Doch Izzy hatte immer außergewöhnliche Kraft und Stärke besessen, und diese setzte sie nun ein, um die Schwanzspitze durch sein Auge in den harten Drachenschädel zu treiben, direkt in Olgeirs Gehirn.

Die Schreie erstarben abrupt, und der Blitzdrache schien benommen. Er taumelte zuerst vorwärts, dann rückwärts, dann fiel sein großer Körper um. Und Izzy und Talaith standen immer noch am höchsten Punkt.

Gwenvael wollte sie auffangen, doch Addolgar hielt ihn zurück. Zum Glück. Ansonsten hätte er verpasst, wie Mutter und Tochter elegant von Olgeir absprangen. Talaith wartete, bis der Drache dem Boden nahe genug war, bevor sie hinuntersprang, sich mühelos abrollte und auch schon wieder aufrecht stand. Noch beeindruckender war, dass sie immer noch ihren Dolch in der Hand hielt, den sie im letzten Augenblick aus ihm herausgezogen hatte.

Izzy war etwas extravaganter: Sie ließ die Drachenschwanzspitze los und ließ sich fallen. Als ihre Füße auf Olgeirs Unterarm trafen, stieß sie sich ab und vollführte einen Rückwärtssalto von dem Drachen weg. Von seinem Knie stieß sie sich erneut ab, drehte sich noch einmal in der Luft und traf beinahe mit dem Kopf voraus auf dem Boden auf. Doch sie war ein schnelles Mädchen, landete auf den Händen und stieß sich abermals ab. Drei weitere Rückwärtssalti, und sie stand neben Gwenvael.

Keuchend lächelte sie zu ihm hinauf. Und natürlich winkte sie. »Hallo Gwenvael.«

Er strahlte zurück; er liebte seine kleine Nichte mehr als er für möglich gehalten hätte. »Na, Izzy, hast du einen schönen Tag?«

Sie linste zu ihrer Mutter hinüber, und als Talaith ihr eine Kusshand zuwarf, wurde ihr Grinsen noch breiter. »Er wird besser.«