17 »Dagmar!«

Sofort setzte sich Dagmar aufrecht hin, riss die Augen auf und schrie: »Ich lüge nicht!«

Der große Drache unter ihr seufzte. »Wach auf, du Schlafmütze. Wir sind fast zu Hause.«

Sie gähnte und streckte sich, rieb sich mit den Händen übers Gesicht, und grub dann in ihrem Tornister nach ihren Augengläsern. Sie hatte sie eine Stunde nach Beginn ihres Rückfluges abgesetzt. Zu viele Male war der Drache im Sturzflug geflogen, oder hatte sich mitten im Flug zur Seite gedreht, und Dagmar hatte festgestellt, dass sie, wenn sie sich an seine Mähne klammerte, als hinge ihr Leben davon ab, nicht auch noch gleichzeitig ihre Augengläser festhalten konnte.

Sie setzte sie ordentlich auf, achtete darauf, dass sie sicher saßen, und sah sich um. »Es ist schön hier«, sagte sie schließlich. Alles war voll üppigem Grün und Bäumen mit dicken Blättern.

»Ja. Fast so schön wie ich.«

Die Hände fest in seiner Mähne, beugte sich Dagmar ein wenig vor und schaute auf einen der vielen Seen hinab, die das Land übersäten. »Was ist dort los?«

Der Drache blickte nach unten. »Bei den Göttern, sie haben den alten Mistkerl tatsächlich überredet. Halt dich fest!«

Sie brachte nur ein kurzes Kreischen heraus, bevor sie scheinbar direkt auf den See und die Drachen dort unten zustürzten. Noch furchterregender war der dunkelbraune Drache, der direkt auf sie zusteuerte. Sie schienen auf Kollisionskurs zu sein, und Dagmar konnte nichts tun außer die Zähne zusammenzubeißen und sich darauf vorzubereiten, sich mit einem Sprung in den See zu retten. Natürlich würde sie bei einem Aufprall aus dieser Höhe sterben, doch was hatte sie für eine Wahl?

Aber die beiden Drachen stoppten Nase an Nase.

»Du Vollidiot! Hast du geglaubt, du könntest es mit mir aufnehmen?«, wollte der Dunkelbraune wissen.

»Natürlich kann ich das. Aber ich wollte nicht der Königin erklären müssen, dass ich einen von meinem eigen Fleisch und Blut umgebracht habe.«

Lachend richteten sie sich auf und umarmten sich, wodurch Dagmar vom Rücken des Drachen rutschte und nur deshalb nicht zu Tode stürzte, weil sie sich immer noch an seinen Haaren festklammerte.

»Ich falle!«, schrie sie. »Ich falle! Ich falle! Ich falle!«

»Was?« Gwenvael warf einen Blick zu ihr nach hinten. »Oh!« Er ging wieder in ein horizontaleres Schweben über, und Dagmar ruhte keuchend auf seinem Rücken.

»Entschuldige. Hatte vergessen, dass du da hinten bist.«

»Mistkerl«, murmelte sie.

Der andere Drache flog um ihn herum, um sie anzusehen. »Na, hallo!« Er schenkte ihr ein Lächeln, von dem sie annahm, dass er es für gewinnend hielt, doch bei der Anzahl der Zähne in seinem Maul war es alles andere als das. »Ich bin Fal vom Cadwaladr-Clan. Die mächtigsten Drachen im Land.«

Sie hörte Gwenvael schnauben, ignorierte ihn aber. »Dagmar Reinholdt. Aus den Nordländern.«

»Eine Nordlandfrau? Ho, ho, Vetter! Du hast dich selbst übertroffen!«

»Halt die Klappe.«

Er streckte eine lange, schwarze Kralle aus, und Dagmar hielt sie fest. Eine Art Handschlag zwischen Drache und Mensch. »Ich freue mich sehr, dich kennenzulernen, Lady Dagmar.« Er beugte sich etwas vor und seine Schnauze kam ihr äußerst nahe. »Was auch immer dieser goldene Blödmann dir gesagt hat ist eine Lüge, und ich bin der Hübsche.«

»Das weiß ich schon, und ich bin sicher, dass du das bist.« Sie zwinkerte ihm zu, und Fal lachte.

»Ich mag sie, Vetter.«

»Griffel weg, Junge. Sie steht unter meinem Schutz.«

»Ach ja?« Fal sah erst sie und dann wieder Gwenvael an. »Ist das nicht das, was die Menschen ›den Bock zum Gärtner machen‹ nennen?«

»Du redest ja immer noch. Ich höre dich immer noch reden.«

Besorgt, die beiden könnten einen freundlichen Familienstreit beginnen, der damit endete, dass sie tot am See lag, schaltete sich Dagmar ein: »Wisst ihr, ich hätte furchtbar gerne noch einmal festen Boden unter den Füßen, bevor ich sterbe.«

»Was?«, fragte Gwenvael. »Oh! Entschuldige. Entschuldige.« Er versetzte seinem Vetter einen Rippenstoß. »Beweg dich, du eingebildeter Trottel. Ich muss Mylady in Sicherheit bringen.«

»Ich würde erst hier haltmachen, bevor ich zum Schloss weiterfliege. Es sei denn, Mylady hätte Angst vor so vielen Drachen an einem Fleck?«

Dagmar schniefte. »Ich ertrage ihn schon länger als ich mir vorstellen konnte. Inzwischen komme ich mit allem klar, da bin ich mir sicher.«

»Was soll das heißen?«

Aber Fal lachte. »Ich mag sie. Sie wird hier schon zurechtkommen. Na los!« Der Braune sank tiefer, und Gwenvael folgte ihm.

»Ich mag deinen Vetter«, sagte Dagmar spontan und war schockiert, als Gwenvael abrupt anhielt.

»Und er ist eine männliche Schlampe, also halt dich von ihm fern.«

»Aber« – Dagmar tippte sich ans Kinn – »Ragnar hat mir gesagt, du seist der Schänder.«

»Es heißt Verderber. Sag es nicht immer falsch! Und für mich gibt es Grenzen. Für meinen Vetter nicht. Also, egal was er dir erzählt, er versucht nur, dir an die Wäsche zu gehen.«

Da sie vorher noch nie vor einem männlichen Wesen gewarnt worden war, lehnte sich Dagmar amüsiert zurück. »Aber was, wenn ich nichts dagegen habe, wenn er mir an die Wäsche geht? Was, wenn es mir sogar gefällt?«

»Wenn du plötzlich beschließt, dass du unbedingt jemanden brauchst, der dir an die Wäsche geht, dann sag mir Bescheid.«

Dagmar verspürte einen kurzen Schauer. Der Drache hatte sie seit damals auf Esylds Bett nicht mehr geküsst oder sonst etwas getan. In den drei Tagen, die sie nun zusammen reisten, war er höflich und beschützend gewesen und außerdem extrem redselig, aber er hatte sie nicht angerührt. Sie hatte angenommen, dass er einfach das Interesse verloren hatte, wie es ihres Wissens nach männliche Wesen sämtlicher Spezies taten, egal, wie schön oder nicht schön eine Frau sein mochte.

»Ich soll dir Bescheid sagen? Und warum?«

»Weil du jetzt bei meiner Sippe in Sicherheit bist, Bestie, und deshalb kann ich mich wieder auf meine eigenen Bedürfnisse konzentrieren.« Er warf einen Blick zu ihr zurück. »Unser beider Bedürfnisse, möchte ich wetten.«

»Bist du dir da so sicher?«

»Eigentlich, Lady Dagmar« – Dagmar quiekte, als Gwenvaels Schwanz ihr auf den Hintern klatschte – »bin ich mir sogar sehr sicher.«

Gwenvael hatte eigentlich vorgehabt, sobald er gelandet war seine Menschengestalt anzunehmen und Dagmar zum Schloss zu bringen, aber seine Familie drängelte sich um ihn, und bevor er es sich versah, konnte er sich kaum vor Umarmungen und Klapsen auf den Rücken retten, die ihm fast das Rückgrat brachen. Einige Verwandte hatte er eine ganze Weile nicht mehr gesehen, was ein Beobachter aber nicht bemerkt hätte, so leicht fielen sie in ihre ungezwungene Kameradschaft zurück.

Während er seine Sippe begrüßte, behielt er Dagmar wachsam im Auge. Auch wenn sie vollkommen fehl am Platz aussah, schienen die Drachen um sie herum sie nicht nervös zu machen oder zu verängstigen. Sie versuchte nicht, sich zu verstecken oder hinter einem Baum in Sicherheit zu bringen. Sie stand einfach da. Sein kleiner, selbstbeherrschter Vulkan.

Fast drei Nächte war er nun allein mit Dagmar gewesen. Fast drei Nächte lang hatte er alles dafür getan, dass sie sich nicht unbehaglich oder unsicher fühlte. Und seit drei Tagen sagte sein Ding ihm immer wieder, was er doch für ein Idiot sei. Doch sie vertraute ihm ihr Leben an, selbst nachdem sie von dem Betrug des Blitzdrachens erfahren hatte.

Ein solches Vertrauen war nicht selbstverständlich, das wusste er.

Er blickte nach unten und sah Dagmar ungezwungen zwischen seinen Verwandten herumgehen, den Blick stets auf den Boden gerichtet. Ab und zu blieb sie stehen, sah etwas an und ging dann weiter. Irgendwann, als er es zum wiederholten Mal beobachtete, machte er sich von einem seiner vielen Vettern los und musste sie einfach fragen: »Was tust du da?«

»Vergleichen.«

»Was vergleichen.«

Sie sah zu ihm auf, die Brauen zu einem leichten Stirnrunzeln zusammengezogen. »Warum unterscheidet sich dein Schwanz von dem der anderen?«

Auch mitten in dieser Gruppe, die niemals schwieg, konnte man plötzlich die Vögel zwitschern hören.

»Sie haben alle so eine scharfe Spitze am Ende«, sagte sie und deutete auf den Schwanz eines seiner Vettern. »Nur du nicht.« Er sah, wie sie mit ihrem typischen boshaften Lächeln rang, als sie fragte: »Bist du schon so furchtbar entstellt geboren worden? Oder fehlen allen Mitgliedern des Königshauses Verteidigungsgrundlagen, mit denen alle anderen Drachen ausgestattet sind?«

Fal beugte sich vor, bevor sein Vetter es tun konnte und begann: »Das, Mylady, solltest du seine Brüder fragen …«

Mit einem festen Griff um eines von Fals Hörnern drehte Gwenvael seinen Vetter herum und riss ihn zurück, sodass er in den See schlitterte.

»Lass uns gehen.« Er machte Dagmar mit der Kralle ein Zeichen.

»Willst du meine total unschuldige Frage nicht beantworten?«

»Nein, du vorlautes Weibsstück.« Er gab ihr mit seinem ›furchtbar entstellten‹ Schwanz einen Klaps auf den Hintern. »Und jetzt los!«

»Gwenvael! Gwenvael!«

Er drehte sich nach der Stimme um, die er so gut kannte, und er hatte schon jetzt ein unangenehmes Gefühl in der Magengrube.

»Hier oben!«

Langsam hob Gwenvael den Blick zum Himmel – und zuckte zusammen. »Iseabail! Was in aller Höllen Namen tust du da?«

Sie grinste. »Ich fliege!«

Ja. Das tat sie allerdings. Und ihre Mutter würde einen Anfall bekommen. Izzy saß nicht etwa auf dem Rücken eines der älteren Drachen, sondern hatte sich mit den Jugendlichen angefreundet … und dann auch noch mit Celyn, dem Sohn von Gwenvaels kampferprobter Tante Ghleanna. Er würde eines Tages ein ausgezeichneter und berühmter Krieger werden, wenn er seine volle Leistungskraft erreicht hatte. Bis dahin war er wie jedes andere männliche Wesen des Cadwaladr-Clans in diesem Alter: lüstern.

»Komm da runter!«

»Was? Ich höre dich so schlecht!«

Er verdrehte die Augen, während Celyn zwinkerte und einen beeindruckenden Sturzflug zum Besten gab, sodass Izzy kreischte und lachte.

»Hör auf, dir Sorgen zu machen, Neffe. Wir lassen nicht zu, dass Briecs Mädchen etwas geschieht.«

Er sah seine Tante Ghleanna an. Ihre schwarzen Haare mit den silbernen Strähnen, die ihr Alter verrieten, waren kurz geschnitten – wie immer bereit für den Kampf. Narben von unzähligen Kämpfen überzogen ihr Gesicht und den Oberkörper ihrer Drachengestalt.

»Ihre Mutter will nicht, dass sie fliegt. Und ich will nicht, dass sie mit Celyn fliegt.«

»Celyn weiß, dass sie zur Familie gehört. Und sie und Branwen sind gute Freunde geworden. Außerdem passen wir auf sie auf.« Sie wedelte ihn mit ihren Vorderklauen davon. »Geh. Bring deine Lady ins Schloss und geh deine Schwester besuchen. Ich weiß, dass sie sich Sorgen um dich macht.«

Er lächelte, neigte sich zu ihr und küsste sie auf die Wange. Bevor er sich wieder zurückzog, flüsterte er: »Sie ist jung, Ghleanna. Zu jung für Celyn.«

»Sie ist nicht so jung, wie du gern glauben möchtest«, flüsterte sie zurück. »Aber ich glaube, wir wissen beide, dass ihr Herz einem anderen gehört.«

Verdutzt neigte Gwenvael sich zurück und fragte: »Ach ja?«

Sie lachte und schubste ihn an der Schulter, sodass er beinahe rückwärts davonflog. »Na geh schon, Junge.«

Gwenvael warf seiner Nichte noch einen letzten Blick zu und zuckte zusammen, als sie die Arme in die Luft riss und jubelte, während sie sich eigentlich mit beiden Händen an Celyns Mähne hätte halten sollen.

Nein. Am besten dachte er nicht darüber nach. Aber er musste Briec Bescheid sagen, damit er sie im Auge behielt. Auf ihn hörte Izzy am ehesten.

»Also gut, Bestie, lass uns gehen.« Er winkte Dagmar mit einer Klaue zu sich heran. »Zeit, dass du die Königin kennenlernst.«

Sie hatten eine ganze Palette von menschlichen Kleidungsstücken direkt vor den Toren der Insel Garbhán gelagert, und dennoch wagte sich kein Bauer oder Reisender in ihre Nähe. Sie schienen alle zu wissen, dass es Kleider für die Drachen waren.

Es musste seltsam für die Menschen der Südländer gewesen sein, wurde Dagmar bewusst, plötzlich festzustellen, dass so selbstverständlich Drachen unter ihnen lebten. Dagmar selbst hatte sich noch nicht ganz daran gewöhnt. An die Existenz eines Wesens zu glauben, war doch etwas anderes als herauszufinden, dass man zumindest von einem in den letzten zwanzig Jahren unterrichtet worden war.

Gwenvael zog seine Kleider an, und sie betraten Garbhán durch das massive Eisentor. Hier entschied Dagmar, dass sie wohl bei der Wahl ihrer Verbündeten eine gute Entscheidung getroffen hatte. Sie wusste nicht aus eigener Erfahrung, wie Garbhán unter dem Regiment des ehemaligen Warlords gewesen war, aber jetzt war es eine blühende Stadt, die vor Macht pulsierte – und vor Soldaten. Händler verkauften alles von Obst, Gemüse und Fleisch über Felle und Schmuck bis hin zu mehr Waffen als sie sich je hätte vorstellen können. Waffen nicht nur für Menschen, sondern auch für Drachen. Eigentlich schien es sogar genauso viele Waren für Drachen wie für Menschen zu geben, von ganzen gehäuteten Kühen und Rehen für das Abendessen bis hin zu riesigen Lanzen aus dem feinsten Stahl für den Kampf.

»Es ist toll, oder?«, fragte Gwenvael, die Hand an ihrem Rücken, während er sie durch die Menge der Soldaten, Reisenden, Händler und Bauern führte.

»Das ist es.«

»Ich hoffe, meine Familie war nicht zu viel für dich dort am See«, murmelte er, während er sie behutsam um zwei streitende Händler herumführte.

»Ich finde es lustig, dass du fragst, nachdem du meine Verwandtschaft kennengelernt hast.«

Er kicherte, die Hand an ihrer Taille, als er sie aufhielt. »Aber bevor wir reingehen …«

»Gwenvael!« Der dreifache Schrei erschreckte Dagmar, und sie drehte sich gerade rechtzeitig um, um zu sehen, wie sich drei junge und ziemlich attraktive Frauen auf den Goldenen warfen und ihm die Arme um Hals, Schultern und Brust schlangen. Sie quiekten noch einmal und bedeckten sein Gesicht mit Küssen.

Dagmar sah sich um und vermutete schnell, dass sie sich in einem Teil des Marktes befanden, wo Sex verkauft wurde. Sie verdrehte die Augen und fragte sich, warum der Idiot keinen weniger anstößigen Ort für einen Plausch hatte wählen können.

Gwenvael erinnerte sich an die Namen aller Frauen, begrüßte sie freundlich und küsste jede auf die Wange. Er fragte nach ihren Kindern und dem Geschäft und überraschte Dagmar mit seinem Wissen über ihr Privatleben. Ihre Brüder kannten kaum die Namen der Lagermädchen, ganz zu schweigen davon, ob sie Kinder hatten oder nicht.

Dagmar drehte sich um, als jemand sie am Ärmel zog; ein Mann stand neben ihr. »Ja?«

»Na, wie viel für die Blonde?«

Dagmar blinzelte und warf einen Blick zu Gwenvael und den drei Mädchen, bevor sie fragte: »Wie bitte?«

»Die Blonde. Wie viel kostet die Blonde? Die Größere. Nur für eine Stunde oder so?«

Natürlich. Es war klar, dass Dagmar niemals eine der Huren sein konnte … sie musste diejenige sein, die die Huren verkaufte.

»Fünf Kupferstücke die Stunde«, antwortete sie. »Jede Minute länger kostet extra.«

»Eine Stunde reicht.« Er griff in seine Tasche und reichte ihr fünf Kupferstücke. Sie ließ sie in ihren Tornister fallen, tippte Gwenvael auf die Schulter und sagte: »Er hat dich für eine Stunde Sex gekauft. Viel Spaß.«

Sie ging davon, auf ein anderes Tor zu, hinter dem sie an weiteren Ställen und Soldatenquartieren vorbei über einen Haupthof schließlich zum Schloss der Königin gelangte. Sie lachte, als der Mann hinter ihr herschrie: »He, Moment mal, verdammt!«

Warum war sie eigentlich die Böse in dieser Geschichte? Warum war sie diejenige, über die sich jeder empörte, wenn sie doch nur ihre einzige Tochter beschützen wollte?

Seit drei Tagen hörte sie nichts anderes als Plädoyers für Izzy, als hätte Talaith ihre Exekution angeordnet. Es war unfair, und sie hatte genug davon. Sie hatte vor allem genug von ihrem Gefährten. So sehr sie ihn liebte: Es gab Tage, an denen sie gute Lust hatte, ihn mit bloßen Händen zu erwürgen.

Warum wollte sich niemand erinnern? Izzy war ihr einziges Kind und würde auch ihr einziges Kind bleiben. Den Nolwenn-Hexen von Alsandair erlaubten die Götter nur ein Kind. Das war der Preis, den ihre Vorfahren für ihr langes Leben und ihre Macht vereinbart hatten.

»Ich will nicht mehr darüber reden«, schnauzte sie Briec an und stürmte an ihm vorbei aus ihrem gemeinsamen Zimmer.

»Du kannst nicht ewig vor diesem Gespräch davonlaufen«, rief er ihr nach. »Du wirst dich damit auseinandersetzen müssen. Und ich glaube, du wirst das sogar sehr bald tun müssen.«

»Es gibt nichts zum Auseinandersetzen. Sie kann hierbleiben und diese Grenzen schützen. Es ist erst sieben Monate her, dass wir angegriffen wurden.«

»Das war eine völlig andere Situation, und das weißt du auch. Außerdem will sie nicht hierbleiben.«

Talaith marschierte durch den Rittersaal und drängte sich an irgendeiner Reisenden mit traurigem Gesicht und grauem Umhang vorbei, die herumstand und verwirrt und verloren dreinblickte. Normalerweise hätte sie sich Gedanken über die Anwesenheit von Fremden gemacht, aber sie war zu verärgert, um es wirklich zu registrieren und ging direkt weiter nach draußen, Briec immer noch auf ihren Fersen.

»Sie ist noch ein Kind«, erinnerte sie ihren Gefährten zum vielleicht zehnmillionsten Mal.

»Sie ist eine Kriegerin. Oder wird eine sein.«

»Sie ist ein Kind.« Ihr Kind, verdammt, aber das vergaßen ja alle ständig. »Es ist mir egal, wie gut sie mit dem Schwert ist oder mit dem Speer oder mit sonst etwas, womit sie ausgebildet wurde. Eine echte Schlacht ist etwas anderes als gegen jemanden anzutreten, der Schutzpolster trägt.«

»Das weiß ich. Aber sie wird nie lernen, wie man in einer echten Schlacht überlebt, ohne je in einer gewesen zu sein. Und wo zum Teufel gehst du überhaupt hin?«

»Seit drei Tagen ist deine Familie jetzt unten am See, und keiner hat sie bisher angemessen begrüßt. Ich habe Fearghus gesagt, dass ich mich darum kümmere, da ja anscheinend keiner von euch …« Briec schnappte sie am Arm und drehte sie so schnell um, dass sie nicht einmal ihren Satz zu Ende sprechen konnte.

»Er hat was?«

Bevor Talaith ihrem Gefährten sagen konnte, er solle seine verdammten Finger von ihr nehmen, kam Gwenvael auf sie zu. »He, Bruder!«

»Halt die Klappe!«, knurrte Briec und wandte seine Aufmerksamkeit sofort wieder ihr zu.

»Ja, ich bin auch so froh, wieder hier zu sein!«, redete Gwenvael fröhlich weiter. »Und es bedeutet mir so viel, dass alle sich so große Sorgen gemacht haben, weil ich Schmerzen leiden musste und fast gestorben wäre, während ich versucht habe, unsere Geheimnisse zu schützen.«

»Wir haben keine Geheimnisse, du Idiot!«

Talaith entriss Briec ihren Arm und stellte sich auf die Zehenspitzen, um Gwenvaels täuschend lieb ausehendes Gesicht zu küssen. »Hallo, Hübscher.«

»Meine süße, süße Talaith. Hast du mich vermisst?«

»Jeden Tag und jede Nacht, mein Liebster.«

Gwenvael war ihr mehr ans Herz gewachsen als jedes andere sexbesessene männliche Wesen je zuvor. Es steckte viel Herz hinter so viel Idiotie.

»Morfyd wartet auf dich«, blaffte Briec. »Und jetzt verpiss dich.«

Talaith kniff Briec in den Arm.

»Au!«

»Sei nett! Und hör auf zu knurren und alle anzuschnauzen! Was ist bloß los mit dir?«

»Schrei mich nicht an!«

»Ich schreie dich nicht an! Glaub mir«, schrie sie, »du würdest es merken, wenn ich schreie!«

Sie stapfte davon, Briec hinterher, und sie ignorierten beide Gwenvaels ahnungsvolle Drohung: »Ich würde an eurer Stelle nicht runter zum See gehen.«

»Talaith, bleib stehen!«

»Nein. Ich bin fertig mit diesem Gespräch und mit dir.«

Sie trat durchs erste Tor, stemmte sich gegen den Strom der Fußgänger auf dem Markt, bis sie es durchs zweite Tor hinaus in den Wald geschafft hatte. Sie steuerte auf den größten See zu, der Garbhán am nächsten lag. Fearghus hatte ihr gesagt, dass sie dort seine Familie finden würde.

»Ich kann das machen«, verlangte Briec schroff.

»Nein, Briec, das kannst du nicht. Gwenvael war fast zwei Wochen in gefährlichen feindlichen Gebieten unterwegs, er ist mit allen möglichen Narben übersät, und trotzdem hast du es nicht geschafft, höflich mit ihm zu sprechen. Also werde ich mich darum kümmern, und du verziehst dich!«

Talaith stampfte zwischen den Bäumen hindurch auf die Lichtung am See. Der Cadwaladr-Clan hatte es sich recht gemütlich gemacht. Sie hatte noch nie so viele Drachen sowohl in menschlicher als auch in Drachengestalt herumliegen sehen. Sie schienen alle gleichzeitig zu reden. Oder stritten sie? Es war wirklich schwer zu sagen, denn anscheinend schrien sie alles, was sie sagten. Sie erinnerten sie an einen Baum voller Krähen. Schwatzhafte, schnatternde Krähen.

»Ich rede mit ihnen«, sagte Briec und versuchte, sich an ihr vorbeizudrängen.

»O nein!« Sie hielt ihn am Arm fest und trat vor ihn hin, um ihn aufzuhalten, den Rücken den Drachen zugewandt. »Fearghus hat ausdrücklich gesagt, dass du nicht mit ihnen reden sollst.«

Seine veilchenblauen Augen verengten sich. »Seit wann seid ihr zwei so gute Freunde?«

»Hör auf, mich anzubellen!«

»Ich belle dich an, wann ich will! Und noch was: … Ich … ich …« Sein Blick war an ihr vorbeigewandert – und nach oben.

»Was ist los?« So einen leeren Ausdruck hatte sie noch nie auf seinem Gesicht gesehen. Als wüsste er nicht, was er davon halten sollte, was auch immer er da sah.

»Bitte«, sagte er ruhig – zu ruhig. »Um alles, was heilig ist, dreh dich nicht um.«

Das klang nicht im Entferntesten gut, also tat Talaith genau das.

Ihr suchender Blick schweifte über die Menge der Drachen, doch sie sah nichts. Dann hörte sie es. Dieses Kichern, das sie erst seit kurzer Zeit kannte, das sie aber mehr als alles andere auf der Welt zu lieben gelernt hatte. Talaith hatte entsetzliche Angst davor, was sie sehen würde, wusste aber, dass sie es sehen musste und hob den Blick zum Himmel. Ihr Mund blieb offen stehen, und sie sah schreckerstarrt, wie ihre Tochter – noch einmal: ihre einzige Tochter – auf dem Rücken irgendeines Drachen entlangrannte, den Talaith noch nie gesehen hatte und der durch die Luft schoss. Und zu allem Überfluss und zu Talaiths Grausen hörte Izzy nicht auf zu rennen. Nein, sie rannte einfach weiter. Über den Rücken und Hals des Drachen, bis sie seinen Kopf erreichte … und dann sprang sie hinunter.

Und gerade, als Talaith annahm, ihre Tochter begehe eine Art rituellen Selbstmord, stürzte sie auf einen weiteren Drachen, der unter dem ersten hindurchgetaucht war. Leider saß sie nicht richtig und rutschte ab. Sie schnappte nach seiner Mähne und hielt sich fest, während er kreuz und quer durch die Luft flog.

All das allein war wirklich schon albtraumhaft genug. Doch die Tatsache, dass Izzy lachte und den Drachen noch anstachelte, machte es nur noch furchterregender. Nun ja, zumindest furchterregend für Talaith.

Denn niemand, der klar bei Verstand war, konnte so etwas genießen. Briec musste immer noch Wege finden, Talaith für einen einfachen Flug zu seiner Höhle durch Tricks auf seinen Rücken zu locken.

Ein dritter Drache flog unter dem durch, an den Izzy sich klammerte, und in diesem Moment ließ Izzy die Mähne los. Ihr Körper fiel auf den nächsten Drachen zu, doch einer von ihnen musste sich verrechnet haben, denn sie knallte gegen seine Seite und prallte ab. Sie stürzte trudelnd auf die Erde zu, bis eine schwarzhaarige Drachin heranraste und Izzy mit ihren Klauen schnappte.

Nun schrie Izzy doch. Allerdings nicht aus Angst oder in Panik – was Talaith in diesem Augenblick ehrlich zu schätzen gewusst hätte, denn es hätte ihr bewiesen, dass ihre Tochter zumindest ein Fünkchen gesunden Menschenverstand besaß –, sondern aus unverfrorenem Vergnügen. Aus reiner, ungetrübter Freude an dem, was sie da tat.

»Talaith?« Sie spürte Briecs Hand an ihrem Rücken. »Talaith, Liebling, du hast aufgehört zu atmen. Du musst atmen.«

»Ich …« Sie deutete auf seine Sippe. »Du …«

»Ich rede mit ihnen.«

Sie nickte, immer noch unfähig zu sprechen oder einen zusammenhängenden Gedanken zu formen. Dann drehte sie sich um, stolperte zum Schloss zurück und bemühte sich den ganzen Weg über, sich nicht zu übergeben.

Dagmar wanderte durch das Schloss, denn sie war nicht in Stimmung, auf Gwenvaels Erscheinen zu warten. Vor allem, da ein Teil von ihr sich Sorgen machte, dass er gar nicht auftauchen könnte, und der Gedanke an ihn mit diesen Frauen verdarb ihr die Laune.

Sie bemerkte sofort, dass nichts an diesem Ort königlich wirkte. Es gab teure Wandteppiche hier und da und Marmorböden in manchen Fluren. Doch ansonsten … Es erinnerte Dagmar an das Haus ihres Vaters. In fast jedem Raum, fast jeder Ecke lagen Waffen bereit. Und ein paar Waffen zierten die Wände, aber Dagmar musste lächeln, als sie sah, dass an einigen davon noch getrocknetes Blut klebte. Eine durchaus Furcht einflößende Art, seinen Feinden zu drohen, auch wenn die mit den Waffen abgeschlagenen Köpfe mittlerweile nur noch zerbröselnde Knochen waren.

Sie hatte außerdem bemerkt, dass alle eher … zwanglos schienen. Dagmar hatte von der Königin der Dunklen Ebenen und ihrem Königshof viel mehr Glanz und Gloria erwartet. Viel mehr herumwuselnde Diener und geflüsterte höfische Dramen. Nichts davon schien es hier zu geben.

Je mehr sie herumwanderte, desto mehr interessierte es sie tatsächlich, die berüchtigte Blutkönigin kennenzulernen. Doch als Erstes musste sie Gwenvael ausfindig machen. Sie musste sich säubern, bevor man sie einer Königin vorstellen konnte. Sie war mit dem Schmutz der Reisenden bedeckt, und ihr armseliger Umhang und das Kleid mussten gründlich geschrubbt werden. Grinsend fragte sie sich, ob sie für ihre gerade verdienten fünf Kupfermünzen wohl ein fertig genähtes Kleid bekommen konnte. Nichts Ausgefallenes natürlich, aber ein weniger schwerer Stoff, mit dem sie sich bei ihrem ersten Erscheinen bei Hof sehen lassen konnte.

Dagmar ging an einem Raum vorbei und blieb abrupt stehen. Sie kehrte um und warf einen Blick hinein. Die Bibliothek. Eine sehr hübsche noch dazu, wenn auch klein. Sie ging hinein und begann, die Bücher auf den Regalen zu studieren. Viele erfundene Geschichten. Nicht ganz Dagmars Geschmack, aber normalerweise las sie alles, was sie in die Finger bekommen konnte. Sie bog um eine Ecke und fand Bücher über Geschichte und Philosophie. Das war definitiv eher ihr Lektüregeschmack, vor allem, als sie eine seltene Ausgabe der Kriegskünste des Dubnogartos entdeckte. Er war einer der bedeutendsten Warlords der längst erloschenen Westlichen Armeen gewesen. Und auch wenn einige seiner Methoden heute überholt waren, konnte sie es sich einfach nicht entgehen lassen zu wissen, wie der Mann gedacht und Strategien entworfen hatte.

Sie nahm das Buch aus dem Regal und begann vorsichtig darin zu blättern. Es war alt, aber sehr gut gepflegt, also suchte sie nach einem Stuhl, auf den sie sich setzen konnte, um ein paar Seiten zu lesen … oder ein paar Kapitel. Nur ein paar. Sie ging tiefer in die Bibliothek hinein und war überrascht, als sie entdeckte, dass sie nicht sehr breit war, aber schrecklich tief. In der Nähe der Rückwand, wohin das Tageslicht von den Vorderfenstern nicht mehr kriechen konnte, folgte Dagmar dem Kerzenlicht. Als sie um eine Ecke bog, sah sie sie. Eine Frau saß an einem Tisch, die Ellbogen auf das Holz gestützt; Gesicht, Brust und Arme waren alles, was man in dem gedämpften Kerzenlicht erkennen konnte. Sie hatte ein in der Mitte aufgeschlagenes Buch vor sich liegen, und mehrere brennende Kerzen standen auf dem Tisch. Doch sie las nicht … sie weinte.

Da sie sie nicht unterbrechen wollte – oder dazu gezwungen sein, sie zu trösten –, begann Dagmar einen lautlosen Rückzug. Doch sie trat auf ein loses Bodenbrett, und die Frau hob mit einem Ruck den Kopf.

Dagmar zuckte zusammen. Die arme Frau weinte wohl schon eine ganze Weile. »Es tut mir leid. Ich wollte nur …«

»Schon gut.« Die Frau wischte sich das Gesicht mit den Händen ab. »Es geht schon wieder.« Während sie sich mit dem Handrücken über die tropfende Nase rieb, fragte sie: »Was liest du da?«

»Oh. Äh … Die Kriegskünste des Dubnogartos

Ihr Gesicht hellte sich auf, und Dagmar sah plötzlich all die Narben, die die schummrige Beleuchtung bisher verborgen hatte. »Tolles Buch«, schwärmte sie. »Sein Kampf gegen die Zentauren in Hicca … verflucht genial zu lesen.«

Sie deutete auf einen Stuhl. »Du kannst dich setzen, wenn du möchtest. Ich bin fertig mit meinem Heulkrampf, glaube ich.«

Dagmar ging langsam zu dem Tisch hinüber. »Einen schweren Morgen gehabt?«

»Das kann man wohl sagen.«

Dagmar zog den Stuhl gegenüber der Frau unter dem Tisch hervor, setzte sich und legte das Buch auf den Tisch.

Sie sah zu, wie die Frau einen Seufzer ausstieß und ihren Nacken streckte. Doch erst als sie noch einmal die Hände hob, um sich übers Gesicht zu wischen, sah Dagmar sie – von den Handgelenken bis zum Ellbogen, an beiden Armen.

Die Frau hob eine Augenbraue. »Stimmt etwas nicht?«

»Äh …« Dagmar konnte nicht aufhören zu starren, und schließlich platzte sie heraus: »Du bist Königin Annwyl. Oder?« Wenn auch sonst nichts, so verrieten sie die Drachenbrandmale auf ihren Armen. Nur eine Monarchin wäre mutig genug, diese Male für alle sichtbar zu tragen.

»An manchen Tagen. Aber du kannst mich Annwyl nennen.«

Diese leise schluchzende Frau war die Königin der Dunklen Ebenen?

Und Dagmar begann sich zu fragen, ob ihr arrangiertes Bündnis mit dieser Monarchin nicht ein wenig übereilt gewesen sein könnte. Ihr Vater brauchte eine starke Anführerin als Verbündete, kein Häufchen Elend, das sich in einer Bibliothek versteckte. Es stimmte zwar, das wusste sie, dass schwanger zu sein für jede Frau hart war, aber selbst Dagmars Schwägerinnen verbargen ihr Elend besser.

»Und du bist …?«

»Dagmar«, sagte sie rasch, als ihr klar wurde, dass sie jegliche Enttäuschung, die sie im Augenblick verspüren mochte, verbergen musste. »Dagmar Reinholdt.«

Die Königin runzelte die Stirn. »Ich erkenne dich nicht wieder, aber dieser Name kommt mir schrecklich bekannt vor.«

»Dagmar Reinholdt. Die Einzige Tochter Des Reinholdts.«

»Dagmar? Ein ungewöhnlicher Name.«

Sie musste lächeln. »Ja. Ich werde in manchen Gegenden auch Die Bestie genannt.«

»Ich wusste nicht, dass Der Reinholdt überhaupt eine Tochter hat.« Sie beugte sich ein bisschen vor. »Wie bist du hierhergekommen?«

»Oh. Gwenvael hat mich hergebracht.«

Es war merkwürdig anzusehen, wie dieses weiche, angenehme, narbenbedeckte Gesicht so plötzlich und brutal hart und sehr, sehr wütend wurde.

Die Faust der Königin sauste auf den dicken Holztisch herab, und Dagmar spürte, wie er sich unter dem Aufprall bog, hörte das splitternde Geräusch.

»Dieser Idiot!«

Sie brauchte eine Weile, um ihre Körperfülle von ihrem Sitz zu wuchten, doch sie schaffte es ohne jede Hilfe – ihre Wut verlieh der Königin eine Geschmeidigkeit, die ihr ansonsten in letzter Zeit meistens versagt blieb, nahm Dagmar an. Dann trampelte sie davon, während Worte aus ihrem Mund sprudelten, die Dagmars Brüder eher wie heilige Priester als wie die rauen Krieger des Reinholdt-Clans erscheinen ließen.

Sie blieb noch einen Augenblick sitzen und atmete langsam aus. »Das ist also die Blutkönigin.« Sie wusste jetzt, dass die Gerüchte stimmten … Diese Frau war vollkommen wahnsinnig.

»Oh.« Sie schlug die Hand vor den Mund, als ihr bewusst wurde, was sie getan hatte. »Gwenvael!«

Dann war sie auch schon aufgesprungen und rannte los.

»Stimmt etwas nicht mit dir? Ich meine, abgesehen davon, was wir schon wissen?«

Gwenvael sah seine Schwester an, das Stück frisches Obst, das er gerade von ihrem Teller genommen hatte, immer noch in der Hand. »Hm?«

Morfyd setzte sich an den Tisch, wo täglich Schlachtpläne entworfen und Entscheidungen getroffen wurden, die Annwyls Königreich betrafen.

»Was hat dich geritten, sie hier herzubringen?«

»Ich hatte keine Wahl.«

»Was meinst du damit – du hattest keine Wahl?«

»Wie sollte ich herausfinden, warum dieser Blitzdrache sie hier haben will, wenn ich sie nicht mitbringe? Natürlich« – er sah sich um – »habe ich sie anscheinend verlegt. Aber ich bin mir sicher, dass ich sie wiederfinde.«

Morfyd rieb sich die Augen und holte noch einmal tief Luft. »Gwenvael, sie ist die Einzige Tochter Des Reinholdts. Und die Männer der Nordländer haben, was ihre Töchter angeht, einen ausgeprägten, beinahe fanatischen Beschützerinstinkt. Und du latschst einfach mit einer von ihnen davon!«

»Ich bin nicht gelatscht. Und ich weiß nicht, warum du so wütend auf …«

»Sag nichts.« Sie hielt ihm die ausgestreckte Hand entgegen. »Sag einfach nichts. Wir müssen uns überlegen, was wir Annwyl erzählen, bevor sie es« – die Tür flog krachend hinter ihnen auf, und Annwyl starrte sie beide wütend an – »selbst herausfindet.«

»Du Idiot!«

»Annwyl! Mein Herz!«

Annwyl stolzierte durch den Raum, immer ihrem Bauch folgend. Um genau zu sein immer ihrer Wut folgend, mit dem Bauch direkt dahinter. »Was zur Hölle hast du dir dabei gedacht?«

»Na ja …«

»Sag nichts!«, schnitt ihm Morfyd das Wort ab. »Sag einfach nichts.«

Dagmar kam hinter Annwyl in den Raum gestürmt. Sie war außer Atem und schwitzte leicht. Trainierte diese Frau außer ihren manipulativen Fähigkeiten überhaupt irgendetwas? Schwächlich wie ein Kätzchen.

»Wenn du mir bitte nur einen Augenblick gewähren würdest, Majestät«, keuchte sie. »Ich kann erklären, was mich herführt.«

Gwenvael kicherte. »Sie hat dich ›Majestät‹ genannt.«

Annwyl schlug ihm mit der flachen Hand auf die Stirn.

»Au!«

»Wie machst du das?«, wollte Annwyl von Gwenvael wissen. »Wie überredest du andere immer, deine Schuld auf sich zu nehmen?«

»Es sind meine Hände«, gab er zurück.

»Ich versichere dir, ich nehme für gar nichts die Schuld auf mich, Maje…«

»Nenn mich noch einmal so, und ich reiße dich von den Eingeweiden bis zur Nase auf. Ich heiße Annwyl, du Kuh!«

Gwenvael sah, wie Dagmars Augen schmal wurden, ihre Nasenflügel sich blähten, und er sprang ein, bevor die kleine Barbarin etwas sagen konnte, das sie den Kopf kosten würde. »Erzähl ihnen, wie du mich erpresst hast.«

Dagmars Kopf fuhr herum; Annwyls Grobheit war augenblicklich vergessen. »Was?«

»Sie benutzt mich nur«, erklärte er Annwyl. »Sie benutzt mich, um an dich heranzukommen.«

Ihr Augengestell zurechtrückend, sagte Dagmar: »Es wird Zeit, dass du den Mund hältst.«

»Ich will aber nicht.«

»Aber du wirst den Mund halten.«

»Wir sind jetzt auf meinem Territorium, Bestie. Du kannst nicht hier herumstolzieren und so tun, als könntest du bestimmen, was …«

»Ruhe.«

»Aber …«

Sie hob den rechten Zeigefinger.

»Sie …«

Dagmar hob den verfluchten rechten Zeigefinger höher.

»Es ist nur …«

Jetzt fuchtelte sie mit beiden Zeigefingern. »Stopp.«

Er zeigte ihr seinen schönsten Schmollmund, was sie komplett ignorierte; sie wandte ihm den Rücken zu und sprach wieder zu Annwyl: »Glaubst du, es gibt vielleicht einen etwas privateren Ort, wo wir uns unterhalten können, Mylady?«

Gwenvaels Mund klappte auf. »Schickst du mich etwa …?«

Dagmar hob wieder ihren verfluchten Zeigefinger, doch diesmal machte sie sich nicht einmal die Mühe, ihn dabei anzusehen.

Annwyls Grinsen war breit und strahlend. Ein Grinsen, das Gwenvael viel zu lange nicht mehr an ihr gesehen hatte. »Hier entlang, Lady Dagmar.«

»Danke.« Dagmar schnippte schroff mit den Fingern nach Gwenvael. »Und vergiss nicht, meine Taschen nach oben zu bringen, sobald ich ein Zimmer habe, Schänder.«

Annwyl glühte förmlich, als sie Dagmar aus dem Zimmer folgte, und ihr Grinsen wurde von Sekunde zu Sekunde breiter. Gwenvael wandte sich seiner Schwester zu. »Es heißt Verderber, das ist ein großer Unterschied.«

»Äh …«

»Also sag es nicht immer falsch!«, schrie er den leeren Türrahmen an. Er schüttelte den Kopf und kämpfte gegen ein Lächeln an. »Unhöfliches Weibsstück.«

Seine Schwester sah ihn so lange an, dass er anfing, sich Sorgen zu machen. »Was?« Er rieb sich mit den Händen übers Gesicht. »Trübt etwas meine Schönheit? Abgesehen von diesen hässlichen Narben, die ich mir zugezogen habe, als ich diejenigen beschützte, die ich liebe?«

»Du magst sie.«

»Ich mag jeden. Ich bin voller Freude und Liebe und …«

»Nein. Schwachkopf. Du magst sie.«

»Mach dich nicht lächerlich. Sie ist nicht einmal mein Typ.«

»Weil sie vollständige Sätze konstruieren und wörtlich wiedergeben kann?«

»Das steht ganz oben auf meiner Liste.«

Morfyd beugte sich vor. »Gute Götter … du hast sie doch nicht gevögelt, oder doch?«

»Was ist denn das für eine Ausdrucksweise? Und das von meiner Schwester!« Er drohte ihr mit dem Finger. »Das ist dieser Brastias. Schlechter Einfluss. Ich weiß, da geht etwas vor sich. Ich werde es herausfinden.«

»Versuch nicht, vom Thema abzulenken! Du magst ein Mädchen!«

»Tu ich nicht.«

»Tust du doch. Du magst sie.«

»Halt die Klappe.«

Lachend schob sich Morfyd vom Tisch weg und stand auf. »Das ist ein großer Tag für die Dunklen Ebenen! Ich muss es von den Dächern trompeten!«

»Du wirst nichts dergleichen tun. Und interessiert es eigentlich überhaupt niemanden, dass ich eine Nahtoderfahrung mit Blitzdrachen hatte?«

»Nein!«, krähte seine Schwester und verließ immer noch lachend den Raum.

»Dein Verrat wird nicht vergessen werden!«, schrie er dramatisch.

Diese Prophezeiung wäre allerdings bedeutsamer gewesen, wenn jemand sie gehört hätte.