12 Die Große Bibliothek von Spikenhammer übertraf mit ihren Marmorsäulen und –böden und den unendlichen Reihen von ausnehmend schön gefertigten, deckenhohen Bücherregalen Dagmars Vorstellungen sogar noch. Fast die gesamte Regalfläche war mit Büchern aus allen Teilen der Nordländer, Südländer und dem Westen gefüllt. Der Osten war weniger vertreten, da ein gewaltiges und äußerst temperamentvolles Meer sie davon trennte.
»Geht’s dir gut?«
»Ist das nicht unglaublich?«, seufzte sie.
Gwenvael zuckte die Achseln. »Sind doch nur Bücher.«
»Das sind nicht nur Bücher, du Kretin. Das ist Wissen!«
»Nicht das Wissen, das man täglich gebrauchen kann. Das erlangt man, wenn man mit Leuten redet. Wenn man sie in den Schenken und auf dem Markt anquatscht.«
»Widersprichst du mir mit Absicht?«
»Ich wusste nicht, dass ich widerspreche. Ich dachte, wir hätten eine Unterhaltung.«
»Eigentlich nicht.« Sie machte einen Schritt von ihm weg und ihre Finger glitten über die großen Marmortische, auf denen aufgeschlagen übergroße Bücher lagen, die jeder nach Belieben studieren konnte. »Wenn ich als Mann geboren worden wäre … Das wäre mein Traum gewesen. Den ganzen Tag, die ganze Nacht mit nichts als Büchern.«
Er schüttelte den Kopf. »Du bist so eine Lügnerin.«
Beleidigt, dass das so schnell aus ihm herausgeplatzt war, drehte sie sich zu ihm um. »Wie bitte?«
»Willst du mir wirklich erzählen, dass du hier eingeschlossen glücklich wärst? Mit all diesen schweigenden, langweiligen Büchereimönchen und ihren Leidensgelübden? Lady Dagmar, wir wissen beide, dass das kein Leben für dich wäre.«
»Ach ja? Und was dann?«
Er machte einen Schritt und war jetzt nur noch wenige Zentimeter von ihr entfernt. »Ränke schmieden, planen, verhandeln und – sehr oft – lügen.«
Dagmar machte den Mund auf, um ihm zu widersprechen, doch er stoppte sie mit einer erhobenen Hand. »Ich rede nicht von der Art von Lügen, wie deine Schwägerin sie erzählt. Sie würde die Wahrheit nicht einmal erkennen, wenn man sie ihr in den erst kürzlich missbrauchten Hintern rammen würde.« Dagmar lachte, hörte aber sofort auf, als einer der Mönche ihr einen bösen, warnenden Blick zuwarf. »Ich spreche von der Fähigkeit, die Wahrheit und Fakten erfolgreich so zu handhaben, dass du bekommst, was du brauchst. Und das, Lady Vernunft, ist eine Gabe.«
»Ich muss sagen, dass ich vorher noch nie so hübsch verpackt beleidigt wurde.«
Er strahlte. »Und das ist meine Gabe.«
Sie lachten jetzt gemeinsam und ignorierten die Blicke der Mönche, bis einer der älteren zu ihnen gestürmt kam, mit der flachen Hand auf den Marmortisch schlug und sie beide damit erschreckte.
»Vielleicht«, erklärte Gwenvael dem Mönch fröhlich, »wärst du nicht so verspannt, Bruder, wenn du mal ordentlich durchge…«
Dagmar trat ihm mit Kraft auf den Fuß, bevor Gwenvael den Satz beenden konnte, und neigte den Kopf vor dem Mönch. »Es tut mir sehr leid, Bruder. Wir werden leise sein.«
Mit einem Naserümpfen stürmte der Mönch davon, und Dagmar sah zu, wie Gwenvael sich den Fuß rieb. Es war eine merkwürdige Körperhaltung für so einen großen Mann, aber sie passte irgendwie zu ihm.
»Würde es dir etwas ausmachen, dafür zu sorgen, dass wir nicht hinausgeworfen werden, bis ich bekomme, was ich brauche?«
»Was du brauchst?« Er ließ seinen Fuß los. »Du hättest etwas sagen sollen.«
»Was hätte ich sagen sollen?«
Als Antwort nahm er sie an der Hand und zog sie tief zwischen die Regale. »Wo willst du hin?«, wollte sie wissen. »Ich brauche im Moment keine Bücher.«
»Ich auch nicht«, knurrte er, bevor er sich umdrehte und sie rückwärts in eine Ecke drängte.
Dagmars Hände flogen hoch und stemmten sich gegen seine Schultern. »Was soll das?«
»Ich helfe dir zu bekommen, was du brauchst.« Gwenvael nahm ihre Hände, hielt sie auf ihrem Rücken fest, und zog sie so auf die Zehenspitzen hoch, ihre Brust angehoben und an ihn gedrückt. »Und ich will wissen, ob ich diesen verdammten Kuss letzte Nacht geträumt habe oder nicht.«
»Aber wir sind in der Bibliothek!«, schaffte sie zu keuchen, bevor sein Mund ihren verschloss und Dagmar plötzlich keinen Pfifferling mehr darauf gab, wo sie war. Nicht, wenn die süßesten Lippen der Welt ihre drängten, sich zu teilen, damit seine Zunge hineingleiten konnte.
Sie seufzte tief, als seine Zunge sie sanft streichelte und neckte. So einen süßen, geduldigen Kuss hatte sie nie zuvor erlebt. Zumindest keinen, der so den verdammten Wunsch nach mehr in ihr weckte.
Er löste seinen Mund von ihrem, und Dagmar wurde bewusst, dass ihre Zunge ihm beinahe gefolgt wäre.
»Nein. Kein Traum.«
Verfluchte Vernunft … er keucht! Meinetwegen!
Er gab ihr kleine Küsse auf den Mund, ihr Kinn, ihren Hals hinab. Sie stöhnte und ließ zu, dass ihr Körper sich an seinen drängte.
»Ich sollte dich direkt hier und jetzt nehmen, Lady Dagmar«, flüsterte er, sein Atem wie Seide an ihrem Ohr. »Zwischen all deinen geliebten Büchern und langweiligen Mönchen. Sie würden hören, wie du kommst«, neckte er sie, »und sie würden sich alle wünschen, sie wären an meiner Stelle.«
Dagmar biss sich auf die Lippe und dachte darüber nach, sich auf der Stelle von ihm auf den Boden ziehen zu lassen. Oder gegen die Regale drängen, sodass die Bücher über Alchemie und andere Wissenschaften erschüttert würden, während er in sie stieß mit seinem prachtvollen, riesigen …
»Was, bitteschön, soll das werden?«
Dagmar zuckte zusammen, als ein Gehstock gegen Gwenvaels Rücken knallte.
»He!«, knurrte der Drache.
»Du lässt sie sofort los, du Rüpel!«
Gwenvael starrte auf sie herab. »Rüpel?«, fragte er tonlos, und sie musste den Blick abwenden.
Der Gehstock sauste erneut nieder, und Gwenvael ließ sie los. Der Drache drehte sich zu dem Mönch um und blaffte mit einem phantastischen Nordland-Akzent, von dem sie keine Ahnung gehabt hatte, dass er ihn beherrschte: »Warum schlägst du mich? Sie wollt’s doch so! Schau sie dir doch an!«
Sie sahen sie wirklich an, und Dagmar nahm sich einen Augenblick Zeit, um ihre Augengläser und ihr graues Kleid zurechtzuzupfen, bevor sie den Blick langsam zum Gesicht des Mönches hob. Ihren »Welpenblick« nannte sie das gerne.
»O … Bruder!«, rief sie aus, schlug die Hand vor den Mund und zitterte.
Der alte Mönch hob wieder seinen Gehstock und zielte nach Gwenvael. »Du!«
»Also gut, ich gehe, ich gehe!« Mehrere Mönche folgten Gwenvael zum Ende des Gangs, und er warf einen Blick zu ihr zurück, blinzelte kurz und machte eine Kopfbewegung zur Tür, bevor er verschwand.
Der Mönch legte seinen Arm um Dagmars bebende Schultern. »Du armes kleines Ding!«
»Bruder, er war einfach so … einfach so … stark!«
»Ich weiß, Liebes. Du musst vorsichtig sein mit Rohlingen wie ihm.«
»Das werde ich, Bruder«, antwortete sie tapfer, während der Mönch sie zum Hauptschalter führte, wo sie hoffentlich eine Antwort auf ihre Fragen bekommen würde. »Ich will so ein Gräuel nie wieder erleben.«
Gwenvael ließ sich von den Mönchen durch die massiven Türflügel auf die Vortreppe der Bibliothek drängen.
»Ihr seid alle arrogante Mistkerle!«, schrie er, als die Tür ihm vor der Nase zugeschlagen wurde. Dann grinste er. »Ich bin ja so ein Fiesling.«
Er drehte sich um und merkte, dass er die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich gezogen hatte. »Was denn?«, schnappte er mit einem angemessen finsteren Blick, und sie flohen in alle Richtungen.
Jetzt grinste Gwenvael wieder, stieg mehrere Treppenstufen hinab und sah sich um. Er sah einen hübschen Gasthof nicht zu weit entfernt und überlegte, dort mit Dagmar eine schnelle Mahlzeit einzunehmen, bevor sie weiterreisten.
Doch eigentlich wollte er ein Zimmer nehmen und sie für den Rest des Tages und die ganze Nacht dort festhalten. Was war nur an dieser Frau, das ihm die Knie weich werden ließ?
Er hatte in seinem Leben nur eine andere Frau getroffen, die diesen Effekt auf ihn hatte, und sie war seine Erste gewesen. Eine ältere Seedrachin namens Catriona, die ihm alle wichtigen Grundlagen beigebracht hatte, wie man einer Frau Vergnügen bereitete. Doch damals war er noch ein Kind gewesen – nicht älter als dreißig – und hatte zu spät erkannt, dass er einer von vielen war. Sie hatte gewartet, bis Gwenvael richtig an ihr hing, bevor sie eines Morgens verschwunden war, zurück in das Meer, aus dem sie gekommen war. Sein lieber Großvater Ailean hatte ihn sturzbetrunken in einem Bordell in der Umgebung aufgespürt. Und sein Großvater hatte ihm auch gesagt, dass er eines Tages jemanden finden würde, der für ihn bestimmt war, und nur für ihn allein …
Götter, was war bloß los mit ihm? Er war noch nicht einmal mit der kleinen Barbarin im Bett gewesen, und jetzt dachte er wehmütig daran, was sein Großvater ihm im Vollrausch über die Liebe erklärt hatte.
Offensichtlich verlor er an diesem kalten, unerbittlichen Ort den Verstand. Dagmar war nicht die Richtige für ihn und würde es auch nie sein. Nicht für mehr als vielleicht eine Nacht oder zwei, und er war sicher, dass er das ohne größere Probleme einfädeln konnte. Er wusste, dass sie es genauso wollte wie er, und es gab keinen Grund, einem von ihnen das Vergnügen zu verwehren.
Heute Nacht würde er sie sich nehmen, morgen würde er sie zu ihrem geliebten Volk zurückbringen, und mit wertvollen Informationen in der Hand würde er dann zu den Seinen zurückkehren. Aye, ein perfekter Plan.
Gwenvael holte tief Luft – versuchte, seine Männlichkeit zu beruhigen, bevor jemand etwas bemerkte – und sah hinauf zum Himmel. Wie immer waren da diese tief hängenden Wolken, die ständig die Schönheit der zwei Sonnen abzuschirmen schienen, aber eigentlich hatte er dunklere Wolken erwartet, denn es roch, als zöge ein Sturm …
Zu spät wurde ihm klar, dass er seine Umgebung besser im Auge hätte behalten sollen, statt am helllichten Tag von winzigen Intrigantinnen zu träumen. Er drehte sich gerade rechtzeitig um, um den Kriegshammer noch zu sehen, bevor er ihm auf den Kopf krachte.
Yrjan arbeitete schon in der Großen Bibliothek, seit er vierzehn Winter alt war. Sein Vater hatte recht früh erkannt, dass Yrjan nie die Fähigkeiten oder Kraft seiner Brüder haben würde, und er wurde ihn los, so schnell er konnte, indem er ihn dem Orden des Wissens übergab – dem einzigen Orden, der sich allein den Bibliotheken der Nordländer widmete. Nicht, dass es Yrjan etwas ausgemacht hätte, sich dem Orden anzuschließen. Er war seinem Vater sogar recht dankbar dafür.
Normalerweise war er in der Großen Bibliothek sicher vor der Art von Gewalt, die er täglich von seiner eigenen Familie hatte erleiden müssen, denn er war immer ein leichtes, schwaches Ziel gewesen. Die Brüder seines Ordens, die anderen Bibliothekare, waren alle stille, gelehrte Männer, die ihre Zeit damit verbrachten, anderen zu helfen, Bücher zu finden oder selbst Neues zu lernen.
Doch jetzt war die Gewalt in ihr ruhiges Leben eingedrungen.
Die arme Frau, die dieser schreckliche Krieger zwischen die Regale gedrängt hatte. Diese Typen dachten wohl, sie könnten alles haben, was sie wollten, indem sie es sich einfach nahmen – und oft war das auch so. Aber der Widerling unterschätzte Yrjans Orden. Sie ließen so etwas zwischen ihren heiligen Büchern ganz einfach nicht zu!
Dennoch konnte er jetzt nichts dagegen tun. Stattdessen wurde er gebeten, die angegriffenen Nerven der jungen Frau zu beruhigen. Armes Ding. Sie schien so gebeutelt von diesem Tier!
Sie war ein winziges, farbloses Ding und verbrachte höchstwahrscheinlich den Großteil ihrer Zeit wie Yrjan und sein Orden in der sicheren Umgebung von Büchern. Wie viele seiner Bibliotheksbrüder trug sie kleine, runde Augengläser und die schmucklose Kleidung einer echten Gelehrten. Yrjan war überzeugt, dass der Rohling sie ins Visier genommen hatte, wie er es mit einem kleinen Reh oder Elch getan hätte.
»Du bist jetzt völlig sicher, Mylady«, versprach er ihr und drückte ihr einen Becher heißen Tee in die Hände. »Ich kann die Stadtwache rufen, wenn du möchtest.«
»Nein. Bitte nicht. Das ist nicht nötig. Mir geht es gut.«
Er machte ihr keinen Vorwurf. Die Stadtwache war nicht viel besser als der Krieger, der sie so behandelt hatte, auch wenn sein Orden einen gewissen Einfluss auf sie hatte. Aber er würde sie nicht drängen, wenn sie nicht wollte.
»Du kannst so lange hierbleiben, wie du möchtest, Mylady, und …«
»Um genau zu sein, Bruder, bin ich aus einem besonderen Grund hergekommen.« Sie stellte ihren Tee unangerührt auf den Tisch und sah ihn an. »Ich brauche deine Hilfe, wenn es geht.«
»Wenn es in meiner Macht steht, werde ich tun, was ich kann.«
»Ich suche einen Mönchsorden.«
Er lächelte selbstbewusst. Die verschiedenen Mönchsorden der Nord- und Südländer gehörten zu seinen diversen Fachgebieten. »Tatsächlich kenne ich die meisten Orden. Welchen suchst du?«
»Den Orden des Kriegshammers?«
»Aaah, ja. Ein großartiger Orden. Wir haben viele von ihren Büchern und Dokumenten in einem besonderen Raum. Ich bin sicher, dass ich dir die Erlaubnis besorgen kann …«
»Nein, nein, Bruder. Ich muss den Orden selbst kontaktieren. Man hat mir gesagt, dass sein Kloster in der Nähe von Spikenhammer liegt, und ich hatte gehofft, ich könnte eine Wegbeschreibung bekommen.«
Yrjan blinzelte überrascht und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.
»Stimmt etwas nicht?«, fragte sie.
»Mylady … der Orden des Kriegshammers existiert nicht mehr.«
Sie runzelte verwirrt die Stirn. »Was redest du da?«
»Er wurde ausgelöscht.«
Ihre Hand flog an ihre Brust, entsetzt riss sie die Augen hinter ihren Augengläsern auf. Sie sah absolut am Boden zerstört aus von dieser Neuigkeit. »Nein! Das ist unmöglich!«
»Es tut mir leid, Mylady, aber es ist wahr. Die Bücher und Papiere, die wir haben, sind alles, was von ihm übrig ist.«
»Und Bruder Ragnar?«
Er schüttelte den Kopf. »Ich habe nie von einem Bruder Ragnar gehört.«
»Du musst. Er ist einer der Anführer des Ordens.«
»Bruder Ölver war der Ordensführer zur Zeit der Vernichtung, Mylady.« Sie sah so erschüttert aus, dass Yrjan eine Hand auf ihre behandschuhte Hand legte. »Vielleicht hast du nicht den richtigen Namen. Es gibt viele Orden, die sich nach Kriegsgöttern nennen, und ich bin mir sicher …«
Sie sah ihm plötzlich durchdringend in die Augen, und Yrjan verspürte eine Angst, die er nicht mehr gekannt hatte, seit er das Haus seines Vaters verlassen hatte, um sich dem Orden anzuschließen.
»Hast du irgendwelche Gewänder oder Kleidung von ihnen? Irgendetwas, das sie getragen haben?«
»Nein. Wir haben angenommen, dass all das zerstört wurde …«
»Wann?«, knurrte sie.
»Mylady?«
»Wann wurde der Orden ausgelöscht?«
Yrjan holte tief Luft, um seine Nerven zu beruhigen. »Nach meiner Information vor sechsundachtzig oder siebenundachtzig Jahren während des Winters von …«
Er kam nicht dazu, seinen Satz zu beenden, denn ihre kleine Faust schlug auf den Tisch, und sie sprang so heftig auf, dass ihr Stuhl auf den Marmorboden fiel. Viele der anderen Brüder kamen in den Lesesaal geeilt und sahen zu, wie die zierliche Frau wütend vor ihnen auf und ab ging.
»Mylady, ich bin sicher, es gibt …«
»Lügner.«
Yrjan war beleidigt, bis sie »Dieser verdammte Lügner!« brüllte und er wusste, dass sie nicht von ihm sprach.
»Mylady, bitte!«
Sie stürmte auf den Ausgang zu, und als seine Brüder ihr den Weg versperrten, schrie sie: »Aus dem Weg!«
Sie gehorchten und stieben in alle Richtungen davon wie Ameisen.
Yrjan folgte ihr, bis sie durch das Hauptportal stürmte und es hinter sich zuknallte.
Zitternd und keuchend ging er zurück in den Lesesaal, und die Brüder beeilten sich, ihm ebenfalls einen heißen Tee und ein paar beruhigende Kräuter für seine angegriffenen Nerven zu holen.
Abstinenz. Eine sehr gute Entscheidung.
Dagmar stolzierte aus der Großen Bibliothek. Sie hielt auf der dritten Stufe an und sah sich um. Wo ist der Idiot hin?
Sie war aus gutem Grund wütend. Wütender als sie es in ihrem Leben je gewesen war. Wütender als sie es für möglich gehalten hätte.
Er hatte sie angelogen. Nicht ein paar Tage lang oder bei einem bestimmten Thema, sondern es war über zwei verdammte Jahrzehnte hinweg alles eine einzige Lüge gewesen!
Dagmar hatte sich noch nie so betrogen gefühlt. So verletzt. Ragnar hatte sie verletzt, wie es niemand sonst konnte.
Ein plötzlicher Anfall purer Furcht und Panik spülte über sie hinweg, und sie rannte die Stufen hinab und auf die eine Seite des kolossalen Gebäudes. Die Hände an der Steinmauer gestützt, beugte sie sich vornüber und erbrach all die Kekse und den Tee, mit denen Saamik sie gefüttert hatte.
Die Panikanfälle trafen sie selten so schlimm. Normalerweise konnte sie sie mit tiefen Atemzügen unter Kontrolle halten oder indem sie sich auf etwas ganz anderes konzentrierte. Doch sie konnte sich auf nichts anderes konzentrieren.
Mit wem hatte sie es all die Jahre zu tun gehabt?
Die Worte ihres Vaters spukten ihr durch den Kopf: »Bist immer so sicher, dass du recht hast, Kleine.«
Sie war sicher gewesen. Sie hatte Ragnar ihr Leben und das Leben ihrer Familie anvertraut, jedes Mal, wenn sie ihn in die Festung ihres Vaters gelassen hatte.
Zitternd lehnte sie sich mit dem Rücken an die Wand.
Also gut, sie war dumm gewesen. Das wusste sie nun, aber es nützte nichts, deswegen zu zittern und zu weinen wie ein neugeborener Welpe. Ragnar musste etwas von ihr gewollt haben; und sie musste herausfinden, was.
Dagmar wischte sich den Mund mit einem Tuch aus ihrem Tornister ab und ging zurück zur Treppe. Sie setzte sich in die Mitte und wartete. Der Drache war wahrscheinlich etwas zu essen holen gegangen. Irgendwie schien er immer hungrig zu sein. Wenn er zurück war, konnten sie aufbrechen. Abgesehen davon würden ihr ein paar Minuten allein helfen, sich wieder etwas in den Griff zu bekommen und darüber nachzudenken, was als Nächstes zu tun war.
Absolut niemand hatte das Recht, sie zum Narren zu halten!