8 Sie hatte keine Ahnung, was er tat, aber sie war absolut fasziniert.
Natürlich ignorierte er sie, aber Dagmar war seit Langem an so eine Behandlung gewöhnt. Woran sie jedoch nicht gewöhnt war, war ein Mann – oder in diesem Fall ein männlicher Drache –, der ihre Schwägerinnen ignorierte. Sie waren nicht alle schön. Einige hatten Gesichtszüge, die Dagmar dankbar machten, dass sie selbst nur unscheinbar war. Doch was ihnen an Schönheit fehlte, machten sie durch Willigkeit wett. Und Kikka – die Eymunds geliebte erste Frau ersetzt hatte, nachdem diese vor einigen Jahren bei einem unverschämten Angriff von Jökull getötet worden war – war willig und schön.
Doch Kikkas großzügig dargebotener Busen, ihr perfekt frisiertes Haar und das Parfüm, in dem sie sich schlicht ertränkte, schienen genauso wenig die Aufmerksamkeit des Drachen zu wecken wie Eymunds Angewohnheit, mit den Fingern zu essen.
»Hast du in vielen Schlachten gekämpft, Lord Gwenvael?«, fragte Kikka und beugte sich vor, damit er einen besseren Blick auf ihre Brust hatte.
»Ein paar konnte ich nicht vermeiden. Aber ich bin kein großer Schwertkämpfer.« Er drehte sich auf seinem Stuhl um und sah Eymund an. »Aber du kannst sicher gut mit dem Schwert umgehen. So stark, wie du bist.«
Dagmar spuckte beinahe ihren Wein aus.
Während sie behutsam ihren Kelch auf dem Tisch abstellte, schaute Dagmar zu ihren anderen Brüdern und ihrem Vater hinüber. Sie sahen aus, als fühlten sie sich genauso unbehaglich wie Eymund und genauso … panisch? Ja. Es war definitiv Panik, die sie bei ihren männlichen Verwandten sah.
Das verblüffte sie. Sie entdeckten, dass er ein Drache war, und sie zuckten kaum mit der Wimper. Keiner hatte ein Wort gesagt oder auch nur im Geringsten Interesse gezeigt, als er ungebeten bei ihrem Vater, ihren vier ältesten Brüdern, deren Frauen und Dagmar am Kopf des Tisches Platz genommen hatte.
Doch der Gedanke, er könnte mehr an ihnen interessiert sein als an einer ihrer Frauen, ließ sie alle fast die Flucht aus dem Raum ergreifen. Der Drache wusste das ebenfalls. Er wusste genau, was er tat und schien jede Sekunde davon zu genießen.
Ihr Vater fing ihren Blick auf und deutete auf den Drachen.
Sie zuckte die Achseln, nicht sicher, was er wollte. Ihr Vater hatte sie nie einem Mann angeboten, es sei denn als Ehefrau, und sie bezweifelte, dass er jetzt damit anfangen würde.
Aber ihr Vater blickte noch finsterer, und sie konnte nur mutmaßen, dass sie die Aufmerksamkeit des Drachen von ihren Brüdern ablenken sollte.
Wenn es schon sein musste, konnte sie genauso gut etwas daraus machen.
»Also, Lord Gwenvael … Welcher Art genau ist deine Verbindung zu Königin Annwyl?«
Er schenkte ihr ein träges Lächeln, während er weiter den armen Eymund anstarrte. »Sie ist eine sehr gute Freundin von mir.«
»Machst du für all deine Freunde Botengänge, die dich Tausende von Wegstunden von zu Hause wegführen?«
»Nur wenn sie Annwyl heißen. Es ist aber sinnvoll, findest du nicht? Meinesgleichen kann in der Hälfte der Zeit hierherfliegen, die Menschen brauchen würden, um zu Pferd über Stock und Stein zu reiten.«
»Sehr richtig. Und doch sagst du, dass sie dich bevollmächtigt hat, in ihrem Namen zu verhandeln. Sie setzt eine Menge Vertrauen in dich, vor allem, weil in der Botschaft, die wir ihr geschickt haben, nichts von einem Bündnis stand.«
»Aber warum sonst solltet ihr die Königin selbst hier sehen wollen, wenn nicht zu Gesprächen über ein Bündnis zwischen den Königreichen? Bei all diesen Sicherheitsmaßnahmen, die ich auf den Reinholdt-Ländereien gesehen habe, muss ich wohl auf die Idee kommen, dass ihr vielleicht ein gutes Bündnis braucht.«
»Und ich muss mich fragen, was an Annwyls ungeborenen Kindern besonders ist, das sie zu solch einem wichtigen Ziel macht.«
»Weißt du es nicht?«
Ihren Kelch in beiden Händen stützte Dagmar die Ellbogen auf den Tisch. »Ich weiß nur, wer ihr die Babys herausschneiden will wie eine eitrige Infektion. Warum, ist eine Frage, auf die ich keine Antwort bekommen konnte.«
Er lehnte sich mit einer lässigen Haltung auf seinem Stuhl zurück, die sie ihm keine Sekunde lang abnahm. »Warum, sollte für dich nicht von Bedeutung sein, aber ich bin sicher, wir beide können zu einer … Übereinkunft kommen, die für alle Beteiligten annehmbar sein wird.«
»Wir beide? Nein, nein.« Dagmar stieß ein kurzes, falsches Lachen aus und stellte ihren Kelch zurück auf den Tisch. Einen Augenblick lang, einen herrlichen Augenblick lang, spürte er, während sie sprachen, dass nur Hitze und Sex von ihr ausgingen. Sie liebte das Spiel genauso wie er, doch diese Barbaren bremsten sie. Eine Schande, wirklich. Denn er fragte sich, was sie tatsächlich getan hätte, wenn sie freie Hand gehabt hätte. »Ich würde niemals Verhandlungen von solcher Wichtigkeit führen.«
»Wie bitte, Schwägerin?«, schaltete sich die ein, die in dem ekelerregenden Parfum, das sie benutzte, was auch immer es war, gebadet haben musste – Kikka, richtig? »Bist du nicht die Politikerin der Ländereien deines Vaters?«
Dagmar rührte sich nicht, ihr Gesichtsausdruck blieb unbewegt, und sie tat nichts, das nahelegte, dass die Worte der Frau einen Nerv getroffen hatten. Doch Gwenvael durchschaute Lady Dagmar wegen ihrer kalten, grauen Augen.
Wussten diese Weiber nicht, mit was für einem gefährlichen Tier sie spielten? Sahen sie es wirklich nicht? Oder machte sie ihre Eifersucht blind für die Risiken, die sie eingingen?
Kikka legte eine zarte, makellose Hand auf seinen Unterarm. »Du musst wissen, Lord Gwenvael, dass unsere kleine Dagmar hofft, dass die Regeln sich eines Tages ändern werden und sie als weiblicher Warlord über alles regieren wird, was du hier siehst. Dass unsere großartigen Krieger, wenn sie in die Schlacht reiten, ›Für Die Bestie‹ skandieren werden und nicht ›Für Den Reinholdt‹.«
Aaah, nicht blind. Dumm.
Die faden Frauen am Tisch lachten über Kikkas Witz, bis Kikka aufschrie, ihren Stuhl zurückschob und vom Tisch wegstolperte.
Eymund verdrehte die Augen. »Was ist denn jetzt wieder?«
»Eines von ihren bösartigen Viechern hat mich gebissen!«
Dagmar legte eine Hand auf die Brust. »O Kikka, es tut mir so leid!« Sie warf einen Blick unter den schweren Holztisch. »Komm her, Kleine. Komm her.« Ein Hund, der groß genug war, dass Gwenvael auf ihm hätte in die Dunklen Ebenen zurückreiten können, tauchte unter dem Tisch auf. »Na, na, Idu, ich weiß, dass du mit Knut spielen willst, aber nicht heute Abend. Geh jetzt nach draußen.«
Die große, nach ihrer weißen Schnauze und dem Grau in ihrem Fell zu urteilen schon ältere Hündin, kam unter dem Tisch hervor und schlenderte aus dem Saal.
»Du hast sie absichtlich da runtergeschickt!«, fluchte Kikka, während ihr einer der Diener das Blut vom Knöchel wischte.
»Und warum sollte ich das tun?«
»Du weißt, dass der Hund mich hasst!«
»Der Hund hasst dich. Verstehe. Und deshalb schicke ich ihn unter den Tisch, damit er dich angreift, wenn du etwas sagst, was ihm nicht passt? Das war der Masterplan des Hundes, oder?«
»Nein! Ich meinte, du … du weißt, was ich meinte, verdammt!«
»Setz dich!«, befahl Eymund. »Du machst dich lächerlich!«
»Aber sie …«
»Setz dich!«
Das Gesicht rot vor Wut, den zornigen Blick allein auf Dagmar gerichtet, zog Kikka ihren Stuhl zurück und setzte sich. Sie sah Gwenvael an, und er wusste, was er in ihren Augen sah. Eine eindeutige Aufforderung. Mit dem richtigen Wort oder Blick von ihm würde sie einen Weg finden, ihn in ihr Zimmer einzuladen oder sich später am Abend irgendwo draußen zu treffen.
Als Antwort drehte sich Gwenvael auf seinem Stuhl um und konzentrierte sich wieder auf Eymund. »Da deine Schwester keine Verhandlungen führen kann, hoffe ich, dass dann wir beide zusammenarbeiten werden. Sehr eng.«
Er genoss es so sehr, wie der Mann jedes Mal erstarrte, wenn er das tat. Der Mensch sah aus wie das Reh, auf das Gwenvael ein paar Tage zuvor im Wald gestoßen war. Er fragte sich, was Eymund dazu bringen würde, vollends davonzujagen.
Dagmar schob ihren Stuhl zurück und stand auf. »Ich gehe ins Bett, Vater. Lord Gwenvael.«
»Lady Dagmar«, antwortete er, ließ seine Aufmerksamkeit aber weiter auf Eymund gerichtet – sehr zu dessen Entsetzen. »Also, sag mir, Eymund …« Gwenvael knabberte an einem knackigen Stück Obst. »Was hast du heute noch vor … nach dem Dessert?«
Morfyd die Weiße Hexe riss sich das Kleid vom Leib, das sie nur Augenblicke zuvor übergestreift hatte, und griff nach einem anderen. Wann war sie nur so geworden? So jämmerlich und … und … weiblich? Ehrlich! Hatte sie das alles wirklich nötig?
Sie zog das rote Kleid an und starrte sich im Spiegel an. Sie runzelte die Stirn. Sie … in Rot. Gab es dagegen keine Gesetze?
Während sie begann, das Kleid auszuziehen, um ein anderes anzuprobieren, hallte die Stimme ihres Bruders in ihrem Kopf wider.
Sie hielt abrupt inne, fühlte sich schuldig, als wäre sie gerade in flagranti erwischt worden, bis ihr wieder einfiel, dass er in den Nordländern war. Und, ermahnte sie sich, er konnte nicht ihre Gedanken lesen. Doch wie die meisten Drachen konnten sie allein per Gedankenübertragung miteinander kommunizieren. Eine wahre Gabe … es sei denn, man hatte etwas zu verbergen und war schreckhaft wie ein Sperling.
Bist du nun da oder nicht?, wollte die Stimme ihres Bruders wissen.
Schnauz mich nicht an! Sie rieb sich die Stirn und versuchte, sich ein bisschen zu beruhigen. Was ist los?
Nichts. Aber ich bin in der Reinholdt-Festung.
Im Kerker?
Sehr lustig.
Sie lächelte und ließ sich auf die Bettkante fallen. Eigentlich war es tatsächlich sehr lustig.
Ich bin nicht im Kerker. Ich bin in einem Zimmer. Habe gerade mit der ganzen Bagage zu Abend gegessen. Was, gelinde gesagt, ermüdend war.
Und was haben sie dir erzählt? Was wissen sie?
Ich arbeite noch daran.
Du arbeitest … Morfyd knirschte mit den Zähnen. Was hast du getan?
Nichts.
Gwenvael!
Würdest du das bitte mir überlassen? Warum vertraust du mir nicht?
Willst du das wirklich wissen? Sie seufzte. Ich habe ihr doch gesagt, wir hätten dich nicht schicken sollen.
Und vielen Dank auch für dein unendliches Vertrauen, Schwester!
Morfyd verzog das Gesicht, als ihr zu spät klar wurde, dass sie diesen Gedanken für sich hätte behalten sollen.
Gwenvael, es tut mir leid. Bitte …
Aber sie wusste schon, dass er nicht mehr da war.
Sie hatte ihm nicht wehtun wollen, aber es handelte sich schließlich um Gwenvael. Sie und Fearghus hatten versucht, es Annwyl auszureden, Gwenvael als ihren Botschafter zu schicken, aber ihre Freundin hatte darauf bestanden.
Morfyd wusste, dass ihr Bruder es versuchen würde, aber dennoch … er war und blieb Gwenvael!
»Ist es wieder Gwenvael?«
Ihr Körper spannte sich bei der plötzlichen Störung, bis eine vertraute Hand über ihren Rücken streichelte.
»Ich habe seine Gefühle verletzt«, sagte sie ohne sich umzudrehen. »Das wollte ich nicht.«
Lippen strichen über ihre Wange, ihren Nacken. Zähne knabberten leicht an ihrem Ohr. »Ich weiß. Aber manchmal fordert er es einfach heraus.«
Morfyd lehnte sich mit dem Rücken gegen den Mann hinter ihr. Er war auf dieselbe Art in ihr Zimmer gekommen wie in den letzten Monaten – durchs Fenster. Ihre Tage mochten den Königreichen gehören, denen sie dienten, doch ihre Nächte gehörten einander.
»Er sagt, dass wir ihm nicht vertrauen.«
Sir Brastias, oberster General der gesamten Armeen der Dunklen Ebenen, legte seine Arme um Morfyds Körper und drückte sie eng an sich, das Kinn auf ihrer Schulter. »Vertrauen muss man sich verdienen, Morfyd, und dein Bruder spielt zu viel, als dass das der Fall sein könnte. Abgesehen davon kann er nicht den Tiger am Schwanz ziehen und sich dann wundern, wenn er angreift.«
»Aber es ist ihm wichtig. Auf seine Art. Ich weiß, niemand glaubt das, aber es ist so. Er will Annwyl wirklich helfen. Er macht sich Sorgen um sie.«
»Das tun wir alle. Sie sieht in den letzten Wochen nicht gut aus.«
»Ich weiß. Und ich weiß es zu schätzen, dass du dafür sorgst, dass sie nicht zu viel um die Ohren hat.« Und dass er ihre Beziehung als wundervolles Geheimnis bewahrte. Morfyd wünschte, sie hätte sagen können, dass es nur ihre Sorge um Brastias’ körperliche Gesundheit war, wenn ihre Brüder es herausfanden, die sie davon abhielt, die Wahrheit zuzugeben. Aber es war mehr als das. Sie hätte es auch ihrer Mutter sagen müssen, und das machte sie fast starr vor Angst, sodass sie sich am liebsten in ihrem Bett zusammengerollt und die Decken über den Kopf gezogen hätte. Königin Rhiannon konnte manchmal schwierig sein, und die Götter wussten, dass sie ihre Söhne ganz anders behandelte als ihre Töchter.
»Ich versuche, sie zu beschützen, aber manchmal durchschaut sie mich.« Er lächelte und strahlte vollkommene Schönheit dabei aus. Sie hatte immer das Gefühl, dass sein Lächeln ein besonderes Geschenk nur für sie war. »Wie lange noch?«
»Ich weiß nicht. Es müssten noch mindestens zwei Monate sein. Aber selbst mit Zwillingen … so dick dürfte sie noch nicht sein.«
»Machst du dir große Sorgen?«
»Ich mache mir Sorgen.« Sie lehnte den Kopf an seinen. »Ich mache mir definitiv Sorgen.«
»Du tust schon dein Bestes für sie. Mehr kann sie nicht verlangen. Das kann keiner von uns.«
»Ich weiß.«
»Sie wird heute Abend nicht beim Essen sein. Hat man dir das schon gesagt?«
»Nein.« Sofort machte sie sich Gedanken. »Geht es ihr gut?«
»Es geht ihr gut. Fearghus sagte, sie will heute Abend einfach im Bett bleiben. Es klingt, als wären dann nur wenige im Rittersaal.«
»In Ordnung.«
»Also dachte ich, wir beide könnten hier oben essen. Auch im Bett bleiben.«
Sie drehte ihr Gesicht zu ihm herum und ließ das Gefühl seines Kusses durch ihren Körper spülen.
»Wirst du dieses Kleid heute Abend beim Essen tragen?«
Ihre Lider öffneten sich flatternd, und ihr wurde bewusst, dass er aufgehört hatte, sie zu küssen. Sie hasste es, wenn er aufhörte, sie zu küssen.
»Das? Äh … ich habe es nur anprobiert. Ich wollte es nicht tragen.«
»Lass mal sehen.« Er schob sie von sich. »Geh ein Stück. Ich schaue es mir mal an.«
Sie fühlte sich unwohl, stand aber auf und drehte sich langsam zu ihm um. Sie sollte kein Rot tragen. Ihre Mutter hatte ihr ausdrücklich gesagt, dass sie nie Rot tragen sollte. Was hatte sie sich dabei nur gedacht?
»Geh mal ein Stück zurück, damit ich das ganze Kleid sehen kann.«
Sie machte mehrere Schritte rückwärts. »Und?«
»Hübsches Kleid. Du siehst toll aus in Rot.«
»Wirklich?«
»Aye.« Sein Blick wanderte von Kopf bis Fuß und wieder zurück. »Wirklich.«
Morfyd spürte, wie ihr Selbstbewusstsein unter diesem Blick wuchs. Gedieh. »Danke.«
Er streckte sich auf dem Bett aus und stieß ein wunderbar zufriedenes Seufzen aus, ohne dabei den Blick von ihr abzuwenden. »Es ist wirklich tragisch, dass du es nicht lange tragen wirst.«
Während sie auf ihn zuging und ihre Finger schon die Ärmel des Kleides von ihren Schultern schoben, sagte sie: »Ja, Brastias. Tragisch.«
Gwenvael schüttelte seine Haare aus diesem dummen Zopf und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen.
»Natürlich«, murmelte er vor sich hin, »schick nicht Gwenvael. Er verpfuscht es nur. Nutzloser, wertloser Gwenvael.«
Wäre sie von einem seiner drei Brüder gekommen, hätte Gwenvael Morfyds Bemerkung einfach abgetan. Aber von Morfyd oder seiner kleinen Schwester Keita schmerzte es. Tief. Dass sie glaubten, er nähme das Ganze nicht ernst, tat wirklich weh. Annwyl bedeutete ihm alles, und niemals hätte er sie oder ihre Zwillinge in Gefahr gebracht. Warum sah seine Familie das nicht? War es, weil er sich weigerte, jede Herausforderung mit tödlichem Ernst zu betrachten? Sollte er etwa wie Fearghus jedes Lebewesen finster anstarren? Oder nichts als ständige Verachtung an den Tag legen wie Briec? Oder vielleicht permanent mit großen Augen und durch und durch ernsthaft durchs Leben gehen wie Éibhear? Konnte ihn seine Sippe nur dann ernst nehmen? Wie konnten sie es nach all den Jahren immer noch nicht sehen?
Und er weigerte sich, sich noch länger anzuhören, dass es an seiner »Hurerei« lag, wie sein Vater es so gern nannte. Keiner aus seiner Sippe lebte wie ein Mönch, auch wenn Morfyd diesem Ideal näher kam als alle anderen.
Dennoch schien letztendlich nur Annwyl, eine Menschliche, die er seit noch nicht einmal fünf Jahren kannte, seinen Wert zu erkennen. Nur sie glaubte wirklich an ihn.
Und deshalb war sie der Grund, warum er nicht versagen würde.
Ein Klopfen riss ihn aus seinen depressiven Gedanken – und die Götter wussten, er hasste es, rührselig zu sein –, und er ging durch den Raum, um die dicke, robuste Holztür zu öffnen. Wenn er darüber nachdachte, schienen ihm die meisten Dinge im Norden hölzern und robust zu sein. Selbst die Leute.
Gwenvael blinzelte auf das Dienstmädchen hinab, das vor ihm im Flur stand.
»Aye?« Als sie die Stirn runzelte, sagte er: »Ja?«
»Ich … äh …« Sie sah ihn sich genau an und schauderte ein bisschen, bevor sie mutig sein Zimmer betrat.
»Kann ich dir irgendwie helfen, Mäuschen?«
»Ich bin ein Geschenk«, sagte sie und zog schon ihr Kleid aus. »Ein Geschenk für dich, Mylord.«
Sie verschlang ihn mit Blicken. Sie wollte seine Männlichkeit, aber das überraschte ihn nicht wirklich.
»Ach ja? Ein Geschenk von wem?«
»Von Dem Reinholdt natürlich.«
»Verstehe.« Gwenvael ging durchs Zimmer und lehnte sich mit dem Rücken an die Wand neben dem Fenster, die Arme vor der Brust verschränkt. »Und was für eine Art Geschenk bist du?«
Ihr Kleid fiel zu Boden, und sie stand vor ihm: selbstbewusst und erfreulich nackt.
Sein Körper regte sich, aber auch das überraschte ihn nicht. Es war wirklich schon eine Weile her. Fast eine ganze Woche! Und dennoch …
Gwenvael wirbelte abrupt zum Fenster herum und sah, wie Dagmar Reinholdt aus den Schatten neben einem der Ställe glitt und sich von den Festungsmauern entfernte. Sie war warm angezogen, mit einem wollenen Umhang und Handschuhen, eine Tasche über der Schulter.
Wo geht die denn hin?
Er musste zugeben, dass er Lady Dagmar ziemlich unterhaltsam fand. Beim Essen hatte sie verwirrt gewirkt, aber neugierig, was er vorhatte – und durchaus amüsiert. Irgendwie kam ihm immer das Bild einer Katze mit eingezogenen Krallen in den Sinn, wenn er sie sah. Vor allem, wenn sie sich mit diesen kalten, grauen Augen im Raum umsah, alles aufnahm, verarbeitete und sortierte, was sie sah.
Also, was wanderte eine sittsame Einzige Tochter eines Warlords der Nordländer abends draußen herum?
Er musste es wissen!
»Mylord?«
Gwenvael sah das Mädchen stirnrunzelnd an, und sie trat zurück. Um ehrlich zu sein, hatte er ganz vergessen, dass sie im Raum war.
Er machte sein Stirnrunzeln mit einem vollkommen überzeugenden Lächeln wieder gut. Die Art, die er für ältere Damen und verabscheuenswerte kleine Kinder reserviert hatte. »Tut mir leid, Mäuschen. Kann nicht heute Abend.«
»Was?«
Er hob ihr Kleid auf, drückte es ihr in die Arme und schob sie so sanft wie möglich in Richtung Tür.
»Ich weiß es allerdings ehrlich zu schätzen, dass du vorbeigekommen bist. Sehr nett von dir.« Er öffnete die Tür und schob das Mädchen hinaus in den Flur. »Sag Lord Sigmar vielen Dank und, äh … hübsche Titten.«
Dann schloss er die Tür und verriegelte sie. Er zog die Kleider aus, ging zum Fenster und riss es auf. Kaum war er draußen in der kalten Nordlandnacht, hatte er sich auch schon in einen Drachen verwandelt und seine Klauen in die Steinwände gegraben. Dann passte er seine Farbe der Umgebung an und folgte Dagmar Reinholdt.
Eymund und seine Brüder sahen zu, wie die liebliche Lagertha aus dem Zimmer des Drachen in den Flur gestolpert kam, wie die Tür zugeknallt und sofort verriegelt wurde. Sie war nackt, hielt ihr Kleid aber vor sich. Sie war keine drei Minuten da drin gewesen. Das war Eymunds Einschätzung nach nicht einmal Zeit genug für einmal ordentlich lutschen, geschweige denn für einen angemessenen Fick.
Er machte ihr ein Zeichen, und sie kam mit gerötetem Gesicht und bebendem Körper zu ihm herübergerannt.
»Dieser Mistkerl hat mich rausgeworfen! Mich!« Es gab wenige Männer im Reinholdt-Land, die nicht schon ihren Spaß in Lagerthas Bett gehabt hatten. Sie wusste einen guten Ritt zu schätzen und entschuldigte sich nicht dafür. Als sie ihr den Drachen gezeigt hatten, als er in sein Zimmer zurückging, war sie vor Lust praktisch über ihre eigene Zunge gestolpert und hatte bereitwillig zugestimmt, sein »Geschenk« zu sein.
»Was hat er zu dir gesagt? Hat er dir einen Grund genannt?«
»Nein. Er war nur nicht interessiert.«
Eymund sah seine Brüder an, und sie waren genauso verwirrt. Wie konnte der Mistkerl, auch wenn er ein Drache war, der vorgab, menschlich zu sein, kein Interesse an einem kostenlosen Abenteuer haben? Welchen Mann hätte das nicht interessiert?
»Vielleicht mag er nur seine eigene Rasse«, überlegte einer seiner Brüder laut. »Ich würde mich wohl auch nicht mit einem von diesen Drachenweibchen im Bett wohlfühlen.«
»Ich glaube nicht, dass es nur deshalb ist, weil er eine Drachin will«, sagte Valdís. »Sondern eher, weil er nur Eymund will.«
Und das machte ihm Sorgen. Normalerweise war es Dagmar, die vor Fremden von außen geschützt werden musste. Doch dieses eine Mal schien sie in keinerlei Gefahr zu sein. »Ich gehe zu Vater«, sagte Eymund abrupt.
Und sie machten sich alle auf den Weg zur Schenke.
Dagmar machte es sich auf dem Dach einer der Kasernen gemütlich. Sie hatte zusätzliche Felle dabei, weil sie wusste, dass es kalt werden würde. Außerdem hatte sie in ihrer Lieblingstasche noch eine Flasche Wein, das Dessert vom Abendessen von vorhin und einen Becher. Als alles arrangiert war, setzte sie sich im Schneidersitz hin und zog ihren schmucklosen, aber angenehm warmen Rock über ihre Knie und Füße. Dann wartete sie, dass die Show begann.
Und sie musste nicht lange warten.
Kikka schlich auf Zehenspitzen aus den Schatten, sah sich nach allen Seiten um und vergewisserte sich, dass keiner sie sehen konnte. Doch sie trug den teuren Umhang, den sie sich unbedingt hatte kaufen müssen. Er war hellgelb, und obwohl es dunkel draußen war, kam genug Licht aus den Gebäuden, dass sie sich abhob wie ein Fleck auf einer der verdammten Sonnen.
Dummes Ding.
Seit sie in die Reinholdt-Festung gekommen war, um Eymund zu heiraten, hatte Kikka es sich zur Aufgabe gemacht, Dagmar kirre zu machen. Sie vertraute ihr nicht, mochte sie nicht und fühlte sich von ihr bedroht. Aber das war schon in Ordnung, denn Dagmar ging es andersherum genauso. Der Unterschied war nur, dass Kikka dumm war. Dagmar fragte sich manchmal, ob in ihrem hohlen kleinen Kopf überhaupt ein Gehirn steckte. Während Kikka Sigmar bezirzte, Dagmar wegzuschicken und ihren Mann dazu verführte, sie dabei zu unterstützen, hatte Dagmar eine hübsche und immer länger werdende Liste von Kikkas Liebhabern der letzten fünf Monate angelegt, inklusive Orte, Zeiten und Stellungen.
Natürlich hätte sie Kikkas Hurerei schon vor Ewigkeiten aufdecken können, doch warum Energie verschwenden? Wichtiger war, dass Kikka ihren Bruder mit noch mehr Blagen glücklich machte, während Sigmar sich weniger Sorgen um den Zustand der Ehen seiner Söhne machen musste und sich mehr um wichtigere Dinge wie Jökull kümmern konnte.
Außerdem konnte sie vor sich selbst zugeben, während sie da oben auf dem Kasernendach saß, dass Kikka ihr eine Form der Unterhaltung verschaffte, der Dagmar anders nicht hätte frönen können.
Sie sah gerne zu. Es war eine Charakterschwäche, aber sie setzte sie nur gegen diejenigen ein, die versuchten, ihr wegzunehmen, wofür sie all die Jahre so schwer gekämpft hatte. Solange Kikka erfolglos blieb, waren ihre Geheimnisse bei Dagmar sicher aufgehoben.
Kikka schlüpfte ins Zimmer des Stallmeisters. Pferde waren so wichtig in den Nordländern und wurden von den Kriegern so verehrt, dass die Position des Stallmeisters unglaublich gut bezahlt wurde und oft ein Haus auf dem Gelände mit einschloss.
Glücklicherweise besaß das kleine Haus dieses Stallmeisters hübsche Fenster, deren kleine hölzerne Fensterläden er nie schloss. Als er mit eindeutigen Absichten auf Kikka zuging, griff Dagmar in ihre Tasche und zog die speziell hergestellten Augengläser heraus, die Bruder Ragnar ihr vor Jahren geschenkt hatte. Anders als die, die sie im Gesicht trug, waren diese hier viel größer, sie musste sie mit beiden Händen halten. Außerdem trug sie sie nicht direkt, sondern hielt sie nur vor die Augen; das Leder, mit denen sie ummantelt waren, lag gut in der Hand. Während ihre normalen Augengläser lediglich dazu dienten zu sehen, was sie normalerweise nicht vor sich sehen konnte, konnte sie mit diesen hier viel weiter sehen … und faszinierende Details dazu.
Sie grinste, als sie sah, wie der Stallmeister Kikka das Kleid vom Leib riss. Wie würde das Mädchen den Zustand seines Kleides erklären, wenn es in die Festung zurückkehrte? Und sie musste inzwischen wissen, dass Eymund es merken würde, dass schon wieder ein Kleid »versehentlich« beschädigt worden war. Ihr Bruder war knausrig mit seinem Geld, und Kikkas Reiz auf ihn hatte schon lange nachgelassen. Sehr zu Kikkas wachsender Bestürzung, wenn Dagmar richtig riet. Die Diener erzählten Dagmar von bösen Streits und davon, dass ihr Bruder mehr und mehr Zeit mit seinen Kameraden und Brüdern in den örtlichen Schenken verbrachte – und mit den Schenkmädchen.
Nachdem er Kikkas Kleid und Unterkleid aufgerissen hatte, legte der Stallmeister Valtemar sie über seinen Arm und schwelgte in ihren absurd großen Brüsten. Während Dagmar zusah und sich dabei großartig amüsierte, verzog sie dennoch ein wenig das Gesicht über seine Darbietung.
»Schlechte Technik, oder?«
Gleichzeitig beschämt und geschockt, ließ Dagmar die dicken Augengläser in ihren Schoß sinken und wandte den Kopf nach links. Sie blinzelte, sah hinter sich, dann nach rechts.
»Er gibt sich Mühe, aber er … na ja … schlabbert auch ein bisschen.«
Wieder schaute sie nach links. Doch alles, was sie sehen konnte, waren in der Nähe die Dächer anderer Gebäude und in der Ferne die Baumwipfel. Aber obwohl sie neben sich nichts sehen konnte, spürte sie dennoch …
Als sie die Hand ausstreckte, traf sie etwas Hartes und Glattes. Ihre Hand glitt über die Oberfläche nach unten, während sie versuchte zu verstehen, was sie da berührte.
»Das fühlt sich wunderbar an.«
Dagmar riss ihre Hand zurück. »Zeig dich, Drache!«
Die Dunkelheit schimmerte, und wo zuvor nichts gewesen war, war plötzlich doch etwas. Goldene Schuppen, eng an seinem Körper anliegende weite Schwingen, Klauen, Zähne. Er saß ihr zugewandt, sein langer Schwanz mit dem abgehackten Ende schwang träge über der Dachkante hin und her.
»Lady Dagmar. Es ist eine wunderschöne Nacht.«
Sie antwortete nicht; zu verärgert war sie, dass er sie gefunden hatte. Zu verärgert, dass er sie gesehen hatte.
Feuer umhüllte den Drachen, und Dagmar drehte rasch den Kopf weg: Die Hitze war viel zu nah für ihren Geschmack. Dann, Augenblicke später, setzte er sich neben sie. Als Mensch.
Und nackt.
Wie er es auch in seinem Zimmer getan hatte, stützte er die Arme hinter sich auf, um seinen Oberkörper aufzurichten, die Handflächen flach auf den Dachziegeln. Seine langen Beine waren angewinkelt, seine lächerlich großen Füße fest vor ihm aufgestützt. Aber es war seine Männlichkeit von ansehnlicher Größe, die faul an seinem Schenkel ruhte, die ihr augenblicklich den Mund trocken werden ließ. Große Vernunft, wenn er schon in schlaffem Zustand so ist …
Sie zwang sich, den Blick abzuwenden und fragte: »Ist dir nicht kalt?«
»Nein.«
Sie reichte ihm eine ihrer Felldecken. »Zieh trotzdem das hier über.«
Er kicherte und breitete die Decke über seinen Schoß. »Hast du eben geguckt?«
»Das muss ich nicht. Ich sehe jeden Tag nackte Männer.«
»Aber keinen so prächtigen wie mich.« Das stimmte, aber das hätte sie nie laut ausgesprochen.
»Warum bist du hier?«
»Wollte die Aussicht bewundern. Genau wie du.« Dagmar antwortete nicht auf seine schlagfertige Bemerkung; stattdessen analysierte sie, wie schlimm das Ganze hier für sie werden konnte.
Er konnte versuchen, es gegen sie zu verwenden, aber nur, wenn sie es zuließ. Ihr Vater wäre nicht erfreut, aber egal wie sie es betrachtete, für Kikka war es immer schlimmer, was die Aufmerksamkeit ganz leicht von Dagmar ablenken konnte. Es war Kikka, die Eymund betrog. Es war Kikka, die …
»Du kannst damit aufhören.«
Dagmar sah ihn böse an. »Womit kann ich aufhören?«
»Zu versuchen, dir zu überlegen, wie ich es gegen dich verwenden könnte.«
»Ich habe nicht …«
»Weil ich es nicht tun werde.«
Dagmar schloss den Mund und starrte stur geradeaus. »Wirst du nicht?«
»Nein. Ist das Wein?« Er beugte sich über sie und griff nach der Flasche.
»Warum?«
»Warum was?« Er öffnete die Flasche, nahm einen großen Schluck – und würgte. »Götter der Unterwelt! Was ist das denn?«
»Der Wein meines Vaters. Er ist nicht so weich wie die Weine aus dem Süden.«
»Er ist nicht so weich wie gesplittertes Glas!« Aber er nahm trotzdem noch einen Schluck, bevor er ihr die Flasche zurückgab. Sie wollte nach dem Becher greifen, aber es schien ihr die Art von Nacht zu sein, in der man direkt aus der Flasche trank. Also tat sie es und nahm mehrere Mundvoll, bevor sie sie wieder verschloss.
»Du sagst also, dass du das nicht gegen mich verwenden wirst.«
»Das werde ich nicht, nein.«
»Und warum nicht? Wir wissen beide, dass du etwas von mir willst. Etwas, das ich dir nicht geben werde. Also warum solltest du das hier dann nicht benutzen?«
»Aus zwei Gründen. Erstens würde dich das zu meiner Feindin machen. Und ich will dich nicht zur Feindin. Um genau zu sein, bist du die letzte Person in allen Nordländern, die ich mir als Feindin leisten kann.«
»Da hast du recht«, räumte sie ein.
»Ich weiß. Würde ich das hier benutzen, würde ich die Wahrheit erfahren, das ist sicher. Aber nur einen Teil davon. Genug, damit ich gehe, aber nicht genug, dass es mir wirklich hilft. Nicht genug, damit Königin Annwyl in Sicherheit ist.«
Er hatte recht. Er hatte haargenau recht. »Und der zweite Grund?«
Der Drache lächelte. »Ich schaue auch gern zu. Es wäre heuchlerisch von mir, das gegen einen anderen zu verwenden.«
»Ich schaue nicht zum Vergnügen zu. Ich muss lediglich sicher sein …«
»Nicht.« Er schüttelte mit ernstem Gesicht den Kopf. »Lüg mich nicht an.« Er schwang den Arm herum und umschloss mit der Geste die weiten Ländereien um sie herum. »Lüg alle an. Sag ihnen alles, was sie hören wollen, wenn du dadurch bekommst, was du willst. Aber lüg mich nicht an.«
»Warum sollte ich nicht?«
»Weil wir einander zu gut verstehen, Dagmar, um uns mit diesen kleinen Spielchen aufzuhalten.«
Sie war verwirrt von seiner Direktheit. Verwirrt und neugierig.
»Was schlägst du also vor, Lord Gwenvael?«
»Ist das das Dessert von heute Abend?«
Sie warf einen Blick auf das reichhaltige Angebot von Süßspeisen, das auf einem Tuch neben ihr lag. Einen Augenblick schien es, als erinnere sie sich nicht einmal daran, es mitgebracht zu haben. »Ja.«
»Darf ich?«, fragte er, während er über sie hinweggriff und sich ein Gebäckstück schnappte. »Es war wirklich gut. Ihr habt exzellente Köche.«
»Das stimmt.«
Er riss mit den Fingern ein Stück ab und steckte es in den Mund. Dann seufzte er, als der Geschmack auf seiner Zunge explodierte. »Einfach wunderbar.«
»Was schlägst du vor, Drache?«
Er leckte sich die Lippen und sagte: »Ich schlage mehrere Dinge vor. Aber am wichtigsten ist, dass wir uns gegenseitig nicht als Gegner sehen.«
»Aber sind wir das nicht?«
»Nur, wenn wir nichts hier herausholen wollen.« Er leckte sich die köstliche Füllung und Gebäckreste von den Fingerspitzen. »Ich bin nicht blind, Dagmar. Hier auf dem Land deines Vaters gibt es schwere Verteidigungsanlagen. Es gibt verborgene Gruben voller Öl, die nur darauf warten, angezündet zu werden, ständige Spähtrupps, die hübschen Spieße, die ihr in den Boden eingebaut habt und die auf den richtigen Auslöser warten. Und ich weiß, dass das nur die wenigen Dinge sind, die ich entdeckt habe.«
»Und worauf willst du hinaus?«
»Es gibt die übliche Verteidigung, und es gibt Kriegsverteidigungsanlagen. Hier wird eindeutig ein Krieg erwartet.«
»Er ist schon da.« Sie atmete hörbar aus, und in diesem Augenblick verschwanden alle Vorwände und alle Illusionen, und Gwenvael wusste, dass er zu der echten Dagmar Reinholdt sprach. Die, die ihre Sippe niemals zu sehen bekam und auch nicht sehen wollte. Und es war diese Dagmar, die jetzt das Risiko einging, sich ihm anzuvertrauen.
»Mein Vater hat dieses Land bekommen, als er erst siebzehn war. Sechs seiner Brüder waren ihm gegenüber loyal, drei sind tot, zwei haben sich auf Jökulls Seite geschlagen, und dann gibt es noch Jökull selbst.«
Sie riss ein Stück von dem Gebäck ab, das er ihr hinhielt. »Jökull ist entschlossen, sich dieses Land zu nehmen. Er und seine Armeen haben vor ein paar Jahren die Stadt und die Ländereien in der Nähe der Festung überfallen. Wir waren nicht darauf vorbereitet und … Es war sehr schlimm. Eymunds erste Frau war dort und wurde getötet. Es ist eine große Schande für ihn.«
»Jökull hat sie umgebracht?«
»Es kommt darauf an, wen man fragt. Der Kodex, nach dem mein Vater und meine Sippe leben, besagt, dass blutsverwandte oder angeheiratete Frauen unversehrt gelassen werden müssen.« Sie blickte auf, hinaus über das Land. »Die Männer meiner Familie weigern sich zu glauben, dass Jökull so tief sinken würde, dass er aus freien Stücken den Kodex bricht. Sie glauben lieber, ihr Tod sei ein Unfall gewesen.«
»Und du glaubst das nicht.«
»Ich glaube, Jökull befolgt keinen Kodex außer seinem eigenen.«
»Und du denkst, dass er plant, wieder zuzuschlagen.«
»Ob er es tut oder nicht: Wir müssen bereit sein.«
Gwenvael riss noch ein Stück Gebäck ab. »Und durch ein Bündnis mit Annwyl …«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich kann nicht mit dir über dieses Bündnis verhandeln. Das wirst du mit meinem Vater tun müssen.«
»So charmant deine männlichen Verwandten auch sein mögen, Lady Dagmar« – er leckte sich Creme vom Daumen – »du bist es, der ich zutraue, alles abzuwickeln, das Überlegung und Vernunft erfordert.«
Sie wandte abrupt den Blick ab, und er wusste, dass sie versuchte, nicht zu lachen.
»Erlaube mir, mich um deinen Vater zu kümmern, Lady Dagmar.«
Ihr spöttisches Grinsen verriet ihren fehlenden Glauben an seine Fähigkeiten. »Wenn du meinst, dass du das kannst.«
»Ich weiß, dass ich es kann.«
Dagmar nahm noch einen Schluck Wein und reichte ihm die Flasche.
»Interessant«, sagte er endlich.
»Was?«
Er gestikulierte mit der Weinflasche zu den offenen Fenstern des Stallmeisters hinüber. »Was er mit ihr macht.«
Dagmar hob wieder die großen, in Leder gewickelten Glasstücke an ihre Augen. »Ach, du meine Güte.« Sie senkte die Gläser und sah ihn an. »Muss man sich auf so etwas nicht irgendwie vorbereiten?«, fragte sie.
»Wenn man will, dass es ihr auch Spaß macht … ja.«
»Dann ist das einfach nur grob.« Sie hob die Gläser wieder an. »Er ist total planlos, oder?«
»Besonders elegant ist es nicht. Sie wäre besser dran, wenn ein Bär sie zerfleischen würde.«
Dagmar lachte, während sie weiter zusah. Etwas sagte ihm, dass sie nicht annähernd so sehr lachte, wie sie es gerne täte.
»Drei Goldstücke, dass sie genau die Geschichte von dem Bärenangriff meinem Bruder erzählt, wenn sie erklären muss, was mit ihr passiert ist.«
»Nein, nein. Drei Goldstücke, dass er es glaubt.«
Sie sahen bis zum bitteren Ende zu, und die Kommentare des Drachen trieben ihr vor Lachen fast die Tränen in die Augen. Noch schöner war, dass sie ihn ebenfalls zum Lachen gebracht hatte. Sie hatte sich vorher nie für besonders unterhaltsam gehalten, und sie erkannte durchaus den Reiz darin.
Als Kikka schließlich zurück zur Festung hinkte und schwankte, packte Dagmar die Sachen zusammen, die sie mitgebracht hatte, und der Drache machte einen Schritt vom Dach, wobei er in der Luft mühelos wieder seine eigentliche Gestalt annahm.
»Komm, Bestie. Ich bringe dich zurück.«
»Du bringst mich zurück?«
Er landete auf dem Kasernendach und überraschte sie mit seiner Leichtigkeit. Am Morgen würden sich die Soldaten nicht fragen müssen, was ihr Gebäude erschüttert hatte.
»Aye.« Er drehte sich ein bisschen und kauerte sich nieder. »Steig auf.«
Fliegen? Er wollte mit ihr fliegen?
»Ich …«
»Na komm schon. Du weißt, dass du es versuchen willst.« Er grinste und zeigte all seine Zähne. Es beunruhigte sie vor allem, dass sie überhaupt nicht beunruhigt war. »Ich verspreche, ich lasse dich nicht fallen.«
»Wie tröstlich.«
»Halt dich an meiner langen, üppigen Mähne fest und hiev dich hoch.«
»Ich hieve mich nicht, Drache.«
»Dann halt dich fest.«
Sie legte den Gurt ihrer Tasche über ihre Schultern und griff in seine Mähne. Sie spürte, wie sein Schwanz unter ihr Hinterteil glitt und sie hochhob. Sie quiekte erschrocken auf.
»Ich will nur helfen«, sagte er, bevor sie mit ihrem Messer nach seinem Schwanz stechen konnte. »Jetzt halt dich mit den Schenkeln an meinem Hals fest und mit den Händen in meinen Haaren.«
Er trat über den Rand des Gebäudes und breitete die Flügel aus. Die Nordlandwinde trugen ihn und hoben ihn hoch. Er glitt ein wenig dahin, bevor er die Flügel bewegte, um höher zu steigen. Dagmar blickte über die Welt hinweg, fasziniert davon, was sie sah. Es war unglaublich, auf alles hinabzusehen, diese Freiheit zu spüren machte süchtig.
Er flog mit ihr fast eine Stunde über Stadt und Land. Sie hatte keine Ahnung, warum er sich so lange Zeit nahm, aber sie beschwerte sich nicht. Warum sollte sie auch, wenn sie jede Sekunde davon genoss?
Er brachte sie zurück zur Festung, und sie zeigte ihm ihr Fenster. Er landete an der Wand und hielt sich mit seinen Klauen fest. Sie klammerte sich an ihn, voller Angst, sie könnte von seinem Rücken rutschen und zu Tode stürzen. Doch dann wand sich sein Schwanz um sie und hob sie hoch.
»Mach dein Fenster auf.«
Sie tat es, und der Schwanz hob sie hinein. Er löste sich erst von ihrer Taille, als ihre Füße den Boden berührten.
»Ich muss sagen, Lady Dagmar, so gut habe ich mich schon lange nicht mehr amüsiert, wenn nicht ich derjenige war, der mit einer Frau im Bett war.«
Dagmar stützte den Ellbogen auf den Fenstersims, das Kinn auf die Faust gestützt. »Ich weiß, es fiel dir schwer, ihm keine Anweisungen zu geben.«
»Das war es! Er war furchtbar!«
Sie schürzte vor Abscheu die Lippen. »Das stimmt. Glaubst du, dass meine Schwägerin es genossen hat?«
»Wie könnte sie, wenn sie die ganze Zeit darüber nachdenken musste, wie sie das deinem Bruder erklären soll?«
»Woher weißt du, dass sie darüber nachgedacht hat?«
»Ich weiß es. Ich habe diesen Blick schon mal gesehen.«
Darauf hätte sie gewettet.
»Morgen früh, Lady Dagmar, musst du mir vertrauen.«
»Das klingt nicht besonders gut.«
»Keine Sorge. Aber du musst mir vertrauen.«
Sie nickte, in der Hoffnung, dass er ihr auch vertrauen würde – auch wenn sie es höchstwahrscheinlich nicht verdienen würde.
Er ging leichtfüßig zurück in sein Zimmer, obwohl seine Klauen sich in den Steinboden gruben.
Knut knurrte hinter ihr, und Dagmar drehte sich um und hob die Hand. Knut setzte sich auf der Stelle. »Guter Junge.«
Dann spürte sie es; es glitt über ihren Hintern, rutschte kurz unter ihr Kleid und zwischen ihre Beine …
Bis sie herumgewirbelt war, war der Schwanz fort. Sie lehnte sich aus dem Fenster, und Gwenvael sagte: »Wir sehen uns morgen früh, Lady Dagmar«, und verschwand in seinem Zimmer – nachdem Flammen und eine nackte Männergestalt aufgeblitzt waren und sie verspottet hatten.
Sie schloss das Fenster und legte eine Hand an die Brust. Sie hoffte ehrlich, dass sie ihn richtig einschätzte. Falls nicht, konnte es sein, dass sie nicht besser endete als diese Idiotin Kikka.
Nur, dass Dagmar viel mehr zu verlieren hatte als nur ihre Würde.