13 Dagmar saß auf den Stufen der Großen Bibliothek, bis die zwei Sonnen untergingen. Gwenvael kam nicht zurück.
Als sie denselben Mann zweimal an ihr vorbeigehen sah, wusste sie, dass sie nicht länger hier im Freien sitzen konnte und beschloss, in den Gasthof zurückzukehren, in dem sie die letzte Nacht verbracht hatten.
Sie ging los, hin- und hergerissen zwischen der Sorge, dass Gwenvael etwas Furchtbares zugestoßen sein könnte und Selbstmitleid, weil sie überzeugt war, dass sie von noch einem männlichen Wesen betrogen worden war und er sie verlassen hatte. Das Selbstmitleid gefiel ihr viel besser, also konzentrierte sie sich darauf.
Denn natürlich hatte er sie verlassen! Küsse bedeuteten jemandem wie ihm überhaupt nichts, da er jede Frau, die er wollte, haben oder bezahlen konnte. Dagmar war sich sicher, dass er sich gerade im Bett von irgendeinem Weib herumtrieb und seine Zusage ihr gegenüber vollkommen vergessen hatte, während er sich immer wieder mit der Hure amüsierte.
Dagmar hielt einen Augenblick inne. Dieses innere Bild brauchte sie überhaupt nicht. Vor allem, als sich die »Hure« plötzlich in sie selbst verwandelte.
»Reiß dich zusammen, Idiotin!« Sie war in einer schlimmen Lage. Falls er nicht zurückkehrte, wie sollte sie zu ihrem Onkel Gestur, nach Hause oder sonst irgendwohin kommen? Und was bedeutete das für das Bündnis mit Königin Annwyl? Die ganze Sache wurde immer schlimmer.
Vor allem, als sie über die Schulter blickte und jemanden in die Schatten zurückweichen sah, damit sie ihn nicht sah.
Ja. Es wurde definitiv schlimmer.
Mit viel schnelleren Schritten eilte Dagmar zurück zum Gasthaus Zum Stampfenden Pferd. Sie trat ein und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. Im Gastraum war ziemlich viel los, und sie fühlte sich sicherer in dem gut beleuchteten Gasthaus mit vielen Menschen um sich.
»Mylady, du bist zurückgekommen.«
Dagmar lächelte den Besitzer an. »Ja. Könnte ich vielleicht einen Tisch bekommen?«
»Für dich haben wir alles.« Sie hatte ihm am Morgen ein gutes Trinkgeld gegeben und war jetzt sehr froh darüber. Er zwang ein paar Männer, Platz zu machen, und gab Dagmar ihren Tisch. Er war im hinteren Teil des Raums, und sie setzte sich mit Blick zur Tür, in der Hoffnung, Gwenvael hereinkommen und nach ihr suchen zu sehen. Der Besitzer gab sich die größte Mühe, ihr die Männer des Ortes vom Hals zu halten, doch ein paar kamen herüber und versuchten, sie anzusprechen.
Männer waren so seltsam. Sie wusste, dass sie nicht von ihrem Aussehen fasziniert waren, aber je kälter und abweisender sie wurde, desto mehr umschwärmten sie sie. Um sie herum waren überall willige einheimische Frauen, aber die Männer wollten die »eiskalte Schlampe«, wie ein abgewiesener Mann sie brummelnd bezeichnete.
Sie starrte zur Tür und versuchte, sie durch Willenskraft dazu zu bringen, sich zu öffnen und Gwenvael einzulassen. Der Stuhl auf der anderen Seite ihres kleinen Tisches kratzte über den Boden, als er zurückgezogen wurde, und Dagmar stieß ein genervtes Seufzen aus.
»Geh weg.«
»Ich glaube, wir müssen reden.«
Dagmar hatte das Gefühl, als durchbohre ihr schon wieder eine Klinge das Herz, als sie sich umdrehte und tief in blaue Augen mit silbernen Sprenkeln auf der Iris blickte. Und bis ihre zu Klauen gebogenen Hände auf sein Gesicht losgingen, hatte sie keine Ahnung, dass sie so heftig reagieren würde. Doch Ragnar schnappte nur ihre Handgelenke und knallte sie zurück auf den Tisch.
»Setz dich«, befahl er ruhig.
»Mylady?« Der Wirt kam herbeigeeilt. »Ist alles in Ordnung?«
Ragnar hob eine Braue, und Dagmar zwang sich, zu dem Wirt hinaufzulächeln. »Alles in Ordnung. Danke.«
Er nickte ihr zu und warf Ragnar einen bösen Blick zu.
Als sie wieder allein waren, entriss sie ihm ihre Hände und knurrte: »Du verdammter Lügner.«
Diesmal trug er kein Mönchsgewand, keine Kutte, sondern einen einfachen schwarzen Umhang mit Kapuze, die er bis in die Stirn gezogen hatte – um seine violetten Haare zu verbergen, nahm sie an.
»Glaubst du, es war leicht für mich, dich die ganzen letzten zwanzig Jahre zu belügen? Dich, die du immer so freundlich zu mir warst?«
»Warum hast du es dann getan? Was wolltest du von mir?«
»Was ich bekommen habe.«
Sie musterte ihn eingehend. Die Vernunft mochte ihr helfen, aber er war schön. Diese wundervollen Augen, kombiniert mit den hohen Wangenknochen, vollen Lippen und einer beinahe-aber-nicht-wirklich-zu-langen Nase hätten jede Frau dazu gebracht, stehen zu bleiben und ihn anzustarren – und zu träumen.
»Er hat mich gewarnt, dass ihr überall seid«, sagte sie. »Aber ich glaubte, ein Nordländer wäre zu ehrbar dafür. Ich Dummchen, ich.«
»Wäre es sicher gewesen, hätte ich dir die Wahrheit gesagt. Geschichten über Drachen zu hören ist etwas ganz anderes, als wenn du merkst, dir sitzt einer gegenüber und trinkt deinen Wein.«
»Du weißt, dass es mir nichts ausgemacht hätte.«
»Nein. Das wird mir jetzt auch bewusst.« Sein Lächeln war liebevoll. »Das spricht nicht gerade für mein Urteilsvermögen, Dagmar.«
»Dein Name, Drache. Wie lautet er?«
»Ragnar der Listige, von der Olgeirsson-Horde.«
»Wie passend.« Sie schaute in sein hübsches Gesicht. »Und warum bist du jetzt hier?«
»Ich habe Kontakte in der Großen Bibliothek. Es wäre mir allerdings lieber gewesen, du hättest es nicht auf diese Art erfahren.« Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Warum hast du mich gesucht?«
»Ich habe versucht, ein Gerücht zu bestätigen über Jökulls Waffenstillstand mit der Horde.«
Er kicherte. »Wo hast du denn das gehört?«
»Ist es wahr?«
»Nein. Auch wenn es ein geniales Gerücht ist, findest du nicht?«
»Weißt du, was jede einzelne Horde tut?«
»Muss ich nicht. Ich muss nur wissen, dass das Gebiet deines Vaters auf dem Gebiet meines Vaters liegt – und dass Olgeir der Verschwender keine Waffenstillstände mit Menschen schließt. Er betrachtet euch eher als … nun ja, wie eure Küchenhunde. Als Haustiere, die nett sind und Essensreste vom Boden entfernen, aber keinem wirklichen Zweck dienen.«
Dagmar stützte einen Ellbogen auf den Tisch und das Kinn in die Hand. »Wenn ich glauben würde, dass ich es schaffen könnte – dann würde ich dich auf der Stelle töten.«
Er schenkte ihr ein überraschend warmes Lächeln. »Ich mochte dich immer sehr gern, Dagmar. Sehr, sehr gern. Wenn ich dich davor hätte bewahren können, verletzt zu werden, dann hätte ich es getan.«
»Aber du willst noch mehr. Nicht wahr? Deshalb bist du jetzt hier.«
»Du kombinierst schnell wie immer.«
»Wie man es mich gelehrt hat.«
»Dein Feuerspucker. Der Goldene.«
Sie spürte, wie sich ihr Magen zusammenzog; die Erwähnung Gwenvaels gefiel ihr gar nicht. »Hat mich über Nacht im Stich gelassen, vermute ich.«
»Du weißt, dass das nicht stimmt. Aber er war dumm, dich herzubringen. Töricht zu glauben, dass die Spione meines Vaters ihn nicht beachten würden oder dass der Waffenstillstand zwischen den Horden und der Drachenkönigin ihn aus jeder Gefahr heraushalten würde.«
Dagmar atmete hörbar aus; sie rang um Gelassenheit. »Du hast ihn.«
»Nein. Ich habe keine Verwendung für ihn. Aber die Horde meines Vaters hat ein gutes Gedächtnis, und wir beschützen unsere Frauen genauso gut wie deine Leute es tun. Aller Wahrscheinlichkeit nach wird er die Nacht nicht überstehen … es sei denn, ich helfe ihm.«
»Du meinst, für eine Gegenleistung.«
»Eine Gegenleistung, die du gern erbringen wirst, um ihn zurückzubekommen, nehme ich an.« Er nahm ihre Hand in seine und studierte sie. »Hat er dich auch verführt, Lady Dagmar? Wie er das mit so vielen anderen getan hat? Wurde dieses kalte Herz, das zu haben du immer vorgegeben hast, von einem Feuerspucker zum Schmelzen gebracht?«
Dagmar wollte ihm nichts in die Hand geben, nichts, was er in den kommenden Jahren gegen sie verwenden konnte. Aber sie konnte nicht vor sich selbst leugnen, dass sie um Gwenvaels Sicherheit fürchtete.
Sie hatte selbst gesehen, was ihre Brüder mit jenen machten, die sich mit der falschen Frau einließen oder den guten Namen einer ihrer Frauen besudelten.
Sie wusste, dass Gwenvael in den Händen seiner Feinde fürchterlich litt, während sie hier dem lügnerischen Hordendrachen gegenübersaß. Sie wusste auch, dass Hysterie sie nicht weiterbrachte. Wenn sie ruhig blieb, kalt und gnadenlos, dann konnte sie sie vielleicht beide aus dieser Lage befreien.
»Im Moment sind wir Geschäftspartner. Das ist alles. Du kennst mich gut genug, Mylord. Du weißt, wenn ich etwas will, dann tue ich alles, was nötig ist, um es zu bekommen.« Sie lehnte sich auf ihrem Stuhl zurück und verschränkte die Hände geziert im Schoß. »Wir wissen beide, dass ich ihn lebend brauche, wenn ich die Hoffnung habe, zu bekommen, was er mir von dieser verrückten Schlampenkönigin versprochen hat. Also, was willst du dafür? Was muss ich tun, damit du mir den Südländer wiederbringst – lebendig?«
»Das ist einfach.« Sein kleines Lächeln wurde breit und strahlend. »Hilf mir, einen Krieg zu beginnen.«
Gwenvael knirschte mit den Zähnen und unterdrückte einen Schmerzensschrei, als die Dolchklinge unter eine seiner Schuppen geschoben und angehoben und die Schuppe damit aus ihrer Verankerung in der Haut gerissen wurde. Doch sie wurde nicht komplett entfernt. Nein. Das war eine leichtere Form der Folter. Stattdessen wurde ein kleines, gezacktes Stück Metall zwischen Schuppe und Fleisch geschoben und die Schuppe wieder an ihren Platz gedrückt. Innerhalb von Minuten würde das Fleisch sich wieder mit der Schuppe verbinden und das schartige Metall einschließen. Dieser Schmerz würde im Lauf der Stunden immer schlimmer werden.
Es war eine sehr alte Form der Folter; zur Zeit seines Großvaters war sie sehr beliebt gewesen.
Als die Blitzdrachen ihn in die Tunnel der Stadt gezerrt hatten, hatte er gedacht, dass sie Informationen von ihm wollten. Informationen, die er ihnen nie geben würde, aber er hatte angenommen, dass sie es zumindest versuchen wollten. Doch seit Stunden hatten sie kein Wort zu ihm gesagt. Sie hatten ihm keine Fragen gestellt oder etwas verlangt. Sie hatten ihn einfach nur geschlagen, bis er seine Drachengestalt annahm, und dann hatten sie ihn an einer Kette an ein dickes Stahlrohr gehängt. Seither schlugen sie ihn weiter, immer wieder. Wenn er ohnmächtig wurde, weckten sie ihn mit Wasser oder Kräutern auf und schlugen ihn weiter. Wenn sie eine Pause vom Schlagen machten, hob einer von ihnen mehrere seiner Schuppen an und schob die Metallstücke darunter.
Ein guter Teil seines Körpers war jetzt von ihnen bedeckt, und während er mit gefesselten Handgelenken und Knöcheln in den Ketten hing, spürte er nichts als Schmerzen. Qualvolle, fast unerträgliche Schmerzen. Und es würde nur noch schlimmer werden. So viel wusste er.
Ihm war durch den Kopf gegangen, seine Geschwister zu rufen, aber er hatte sich dagegen entschieden. Sie hätten Tage gebraucht, um zu ihm zu kommen, und dann hätten sie einen neuen Krieg mit den Blitzdrachen angefangen. Dafür wollte er nicht verantwortlich sein.
Kaum lagen die Schuppen wieder an ihrem Platz, begann wieder das Schlagen. Einer hatte sehr große Fäuste und schien es zu genießen, Gwenvael damit ins Gesicht zu treffen. Beim zehnten Schlag sackte er in seinen Ketten zusammen.
In diesem Augenblick hörte er ihre Stimme zum ersten Mal. »Gwenvael«, sang sie. »Gwenvael. Mein lieber, lieber Gwenvael.«
»Er ist schon wieder ohnmächtig. Gib mir Wasser.«
»Wir haben keins mehr.«
»Dann hol welches, du Idiot.«
Eine Klaue griff nach seinem Kinn und hob seinen Kopf. »Mach dir keine Sorgen, Feuerspucker. Wir sorgen dafür, dass man sich um dich kümmert.«
»Es ist Zeit zu kämpfen, Gwenvael«, sagte die liebliche Stimme. »Es ist Zeit zu leben. Du musst zu mir kommen. Komm zu mir, so schnell du kannst.«
Gwenvael nickte. »Das werde ich.«
»Dann bist du also wach? Gut. Dann können wir …«
Gwenvael riss den Mund auf und umschloss die Schnauze des Blitzdrachen. Er biss zu, genoss das Geschrei und entfesselte seine Flamme. Die violetten Schuppen des Blitzdrachen schützten diesen zwar bis zu einem gewissen Grad, aber er konnte nicht durch Flammen atmen, wie Gwenvaels Gattung das konnte. Also hielt er die Flamme aufrecht, ertränkte den Mistkerl praktisch in Feuer und ließ ihn zucken und strampeln.
Er hörte andere Schreie und wusste, dass die Verwandten des Blitzdrachen kommen würden, um ihn zu beschützen, doch sie kamen nicht, und irgendwann wurde der Drache zwischen seinen Kiefern schlaff. Gwenvael ließ ihn los und starrte hinab auf das halb versengte Gesicht seines Peinigers.
»Götter, seht ihn euch an.«
Gwenvael hob den Kopf. Noch mehr Blitzdrachen, ihre Schwerter blutverschmiert, beobachteten ihn.
»Und sieh dir das an.« Einer von ihnen hob etwas mit der Klaue auf und zeigte es den anderen beiden.
»Machen sie das immer noch? Ragnar kriegt einen Anfall, wenn er das erfährt.«
»Darüber machen wir uns später Gedanken. Lasst ihn uns runterbringen.«
»Kannst du gehen?«, fragte einer von ihnen, und Gwenvael nickte.
»Kannst du dich verwandeln?«
Er nickte wieder. Zumindest würde er es versuchen.
»Also gut, Kumpel. Komm mit.«