16 Izzy starrte ihre Mutter an. Das frühe Morgenlicht ergoss sich durch das Schlafzimmerfenster, vor dem sie stand, und machte sie noch schöner, als Izzy sie sowieso schon fand. Dieses lockige, lange, schwarze Haar und dieser weiche, weibliche Körper. Überhaupt nicht wie Izzy mit ihren riesigen Füßen, zu langen Armen und absolut keinen nennenswerten Kurven. Es war nicht viel an ihr selbst, das sie für weiblich hielt … oder für weich.

Sie war einfach nur die gute alte Izzy, deren Leben im Moment total in sich zusammenstürzte.

»Was meinst du damit, ich darf nicht gehen?«

»Habe ich mich unklar ausgedrückt? Ich schicke dich nicht in den Krieg. Du bist gerade mal siebzehn Winter alt!«

»Mein achtzehnter ist in ein paar Monaten!«

»Dann wird das Warten ja nicht allzu schmerzhaft.«

Wie konnte ihre Mutter sie nur so wenig ernst nehmen? Alles, wofür Izzy trainiert hatte, alles, was sie wollte, lag in greifbarer Nähe. Sie wollten, dass sie mit einer der Legionen zog, um gegen einen Adligen nahe der südländischen Küste zu kämpfen. Er hatte seine eigene Armee gegründet und man sagte, dass er einen Marsch auf die Dunklen Ebenen vorbereitete. Annwyl wollte wie immer als Erste angreifen.

Izzys gesamte Trainingseinheit würde gehen, und es könnte eine perfekte Gelegenheit für sie sein, sich vor Annwyl als würdig zu erweisen. Wie konnte ihre Mutter ihr das nur nehmen?

»Das ist ungerecht!« Sie hasste es, dass sie klang wie ein quengelndes Kind, aber es war ungerecht!

Talaith seufzte und wandte sich zum Fenster um, sah hinaus über den Hof. »Die Welt ist nicht gerecht, Izzy. Aber du wirst nirgendwohin gehen, solange ich es nicht erlaube. Und versuch nicht, deinen Vater dazu zu bringen, mich zu überreden. Wir haben es zwei Tage lang ausgiebig besprochen, und mein Entschluss steht fest.«

Izzy wusste, wenn ihr Vater ihre Mutter nicht überzeugen konnte, dann konnte es keiner.

Ihre Augen füllten sich mit Tränen und sie stürmte aus dem Zimmer ihrer Mutter und die Schlosstreppe hinab. Ihre Kameraden, die in den nächsten Tagen an die Küste aufbrechen sollten, riefen sie, als sie eilig den Hof überquerte, doch sie ignorierte sie. Sie wollte nur noch weg. Sie hörte sogar ihren Vater nach ihr rufen, doch ihn ignorierte sie ebenfalls, während sie zum Schlosstor hinaus in Richtung Fluss rannte. Als sie ihn erreicht hatte, hielt sie am erstbesten Baum an und boxte auf ihn ein. Rinde flog in alle Richtungen, und der fünfhundert Jahre alte Baum schwankte ein wenig. Dann brach Izzy in Tränen aus.

Es war alles so ungerecht. Sie war eine gute Soldatin. Eine sehr gute. Und sie hatte vor, die beste Kriegerin zu werden. Sie wollte die beste Kämpferin der Königin sein. Zur Hölle, sie wollte eines Tages die Generalin der Königin sein. Aber all das brauchte Arbeit und Zeit. Jede kleine Verzögerung schien ihren Traum in weitere Ferne rücken zu lassen, bis er nur noch das Luftschloss eines dummen Mädchens war.

»Warum weinst du?«

Izzy drehte sich zu der Stimme um und ihr Blick musterte das Mädchen, das vor ihr stand, grob. Sie hatte glatte, schwarze Haare bis zu den Schultern und schwarze Augen. Eine große Wunde, die fast verheilt aussah, zierte eine Seite ihres Gesichts, und sie trug ein Kettenhemd und eine Hose, aber keinen Wappenrock. Izzy wäre davon ausgegangen, dass sie ungefähr im selben Alter waren, aber sie wusste es verdammt noch mal besser.

»Du bist ein Drache.«

»Ja. Ich bin Branwen die Schwarze.«

Und wenn man von der Wunde in ihrem Gesicht und den anderen Prellungen und Kratzern ausging, war Branwen die Schwarze im Kampf gewesen.

Izzy hasste sie.

»Ich bin Iseabail, Tochter der Talaith.« Der zickigsten, gefühllosesten, gleichgültigsten Mutter der Welt!

Das Mädchen trat näher, ohne zu wissen, wie neidisch Izzy in diesem Augenblick auf sie war. Hätte Izzy Annwyls Temperament gehabt, sie hätte sie schon geschlagen. Oh, hätte sie nur Annwyls Temperament!

»Und warum weinst du?«, fragte Branwen.

Izzy schluckte Tränen und Wut hinunter. »Meine Mum.« Sie schluckte erneut, verlor beinahe den Kampf gegen ihre Tränen. »Sie will mich nicht mit dem Rest meiner Kameraden in den Kampf ziehen lassen.«

»Wie alt bist du?«

Izzy blickte wütend. »Wie alt bist denn du?«, schoss sie zurück.

»Dreiundachtzig.«

»Oh.« Verdammt.

Dann grinste Branwen. »Aber bei Drachen ist das ungefähr dein Alter, schätze ich. Und meine Mum nervt so! Sie benimmt sich, als wäre ich immer noch ein Küken! Sie will mich nicht allein in den Kampf lassen. Immer muss ich neben ihr bleiben. Mein Bruder ist auch noch keine hundert und darf allein in den Kampf ziehen. Das ist unfair.«

»Das stimmt! Aber das sehen sie nie ein, oder?«

»Nein, tun sie nicht. Das kann einem echt auf den Geist gehen, was?«

Izzy lächelte endlich. »Allerdings.«

Branwen musterte Izzy von oben bis unten.

»Also, bist du jetzt fertig mit Heulen, Iseabail, Tochter der Talaith? Denn ich kann dir aus Erfahrung sagen: Tränen wirken bei Müttern nie. Nur bei Vätern. Wozu also die Mühe?«

Jetzt grinste Izzy. Sie konnte Branwen einfach nicht hassen. »Du hast recht. Wozu die Mühe? Und alle nennen mich Izzy.«

»Also gut, Izzy.«

»He!«, rief eine Stimme aus der Ferne hinter ihnen. »Branwen! Wo bist du, du blöde Kuh?«

Branwen seufzte. »Das sind mein Idiot von Bruder und meine Vettern.« Sie zog Izzy am Arm, und sie gingen zusammen los. »Und was sagt dein Vater dazu, dass du in den Krieg willst?«

»Er hat für mich gekämpft. Ich weiß es. Aber er kann meine Mum nicht überzeugen … keiner kann das.« Inzwischen fühlte sie sich sicher, deshalb fügte sie hinzu: »Mein Vater ist übrigens Briec der Mächtige. Nicht mein leiblicher Vater, aber … du verstehst schon. Meine Mum ist seine Gefährtin.«

»Briec?« Branwen blieb stehen und sah sie an, die dunklen Augen weit aufgerissen. »Du bist Briecs Tochter?«

Ihre plötzliche Begeisterung überraschte Izzy ein bisschen. Auch wenn Briecs Brüder und Schwestern sie freundlich aufgenommen hatten, tolerierten sie die anderen Drachen zwar – »die idiotischen Royals«, wie ihr Großvater immer brummelte –, aber es war nicht schwer zu sehen, dass sie sie nur für eine von vielen Menschen und eine mögliche Mahlzeit hielten.

»Aye«, sagte sie mit einem Hauch von Selbstvertrauen. »Die bin ich.«

Branwen schlug Izzy auf den Arm, und Izzy schnappte vor Schmerzen nach Luft. »Also dann, du Heulsuse, bist du meine Cousine!«

Izzy blinzelte. »Bin ich das?«

»Aye! Ich bin eine Cadwaladr. Briecs Cousine. Meine Mum ist die Schwester von deinem Großvater. Damit sind wir Cousinen zweiten Grades … glaube ich. Jedenfalls sind wir verwandt. Verstehste? Familie.«

»Also gut.« Izzy konnte Branwens Begeisterung nicht ignorieren. Sie schien so froh, sie kennenzulernen.

»Das ist genial! Das ändert alles!«

»Ach ja?«

Branwen legte ihren Arm um Izzys Schultern. »Sag mal, Cousine, hast du schon mal Renn und Spring gespielt?«

»Nein.«

»Tja, als deine ältere Cousine ist es mein Recht, es dir beizubringen. Das ist das Schöne an der Blutsverwandtschaft.«

»Wird meine Mutter was dagegen haben?«

»Unglaublich viel, wette ich.«

Izzy zögerte nicht. »Dann zeig mir, wo’s langgeht, Cousine.«

Er roch Weihrauch, Kräuter und frisches Gemüse, und es duftete köstlich nach Eintopf.

Gwenvael sah sich langsam um. Er wusste nicht, wo er war, und doch kam ihm der Raum merkwürdig bekannt vor. Es war ein Haus. Er hatte vor langer Zeit davon geträumt, doch er wusste, dass er nie hier gewesen war.

Vielleicht war er noch gar nicht wach. Im Moment war das schwer zu sagen. Er schloss die Augen, aber die Gerüche blieben. Und darüber hinweg roch er sie. Seine Nasenflügel blähten sich, und seine Augen gingen wieder auf und suchten nach ihr. Sie saß an einem kleinen Esstisch neben der offenen Feuerstelle in der Wand. Sie hatte einen Metallbecher vor sich und den Kopf in die Hände gestützt. Ihr Kopftuch und die Augengläser lagen auf dem Tisch, und ihr Tornister stand zu ihren Füßen.

Sie dort wohlbehalten zu sehen half ihm mehr als alles andere.

Sie hob den Kopf aus den Händen und wandte sich zu ihm um. Er lächelte sie an, aber sie lächelte nicht zurück. Stattdessen senkte sie den Kopf und blinzelte ihn an.

»Wenn du mich nicht sehen kannst, du faule Kuh, dann setz deine verdammten Augengläser auf.«

Ihr Rücken streckte sich, und sie sah ihn finster an. »Ich sehe dich perfekt, was bedeutet: so gut wie gar nicht.«

»Lässt du mich warten?«

»Bis ans Ende der Zeit.«

Gwenvael schob die Unterlippe vor und zitterte ein bisschen. »Aber ich habe solche Schmerzen.«

»Bei aller Vernunft, hast du überhaupt kein Schamgefühl?«

»Kein bisschen.« Er streckte die Hand nach ihr aus. »Jetzt komm her.«

Sie setzte ihre Augengläser wieder auf, stand auf und ging durch den Raum. Sie legte ihre Hand in seine, und er zog sie zu sich, bis sie neben ihm kauerte.

»Geht es dir gut?« Jetzt neckte er sie nicht mehr, denn er brauchte eine direkte Antwort auf diese Frage.

»Alles in Ordnung.«

»Gut.« Er küsste ihre Fingerknöchel. »Wo sind wir?«

»In den Außenebenen zwischen den südlichen und nördlichen Territorien. In der Nähe der Aatsa-Berge.«

»Wie zum Teufel sind wir hierhergekommen?«

»Du hast uns hergebracht.«

»Ich? Ich erinnere mich nicht.«

»Woran erinnerst du dich dann?«

»Dass ich dich geküsst habe.« Er grinste. »Zwischen den Bibliotheksregalen.«

»Das konntest du natürlich nicht freundlicherweise vergessen.«

»Niemals. Aber sag mir eines, Lady Dagmar, warum habe ich Schmerzen? Hast du versucht, mir in deiner verborgenen Leidenschaft bei lebendigem Leib die Haut abzuziehen?«

»Meine verborgene … oh. Vergiss es. Du bist in den letzten Stunden durch die Hölle gegangen, das ist passiert. Du wurdest entführt und gefoltert und hattest einen Kampf mit Hordendrachen.«

»Wirklich?« Er senkte den Kopf und die Stimme. »Findest du mich jetzt wilder, wo du mich im Kampf gesehen hast? Willst du mich mehr als du es je für möglich gehalten hättest? Bist du bereit, mich jetzt auf der Stelle zu vernaschen?«

»Vielleicht, wenn der Schorf abgefallen ist.«

Gwenvael hatte keine Ahnung, was sie meinte und blickte an seinem Körper hinab. Entsetzt richtete er sich auf. »Was ist das? Was ist mit mir passiert?«

»Beruhige dich. Es wird schnell verheilen, da bin ich mir sicher.«

»Verheilen? Ich sehe scheußlich aus!«

»Du bist am Leben.«

»Scheußlich am Leben!« Er schlug die Hände vors Gesicht. »Sieh mich nicht an! Sieh woanders hin!«

»Hör auf!« Sie zog an seinen Händen. »Hast du den Verstand verloren?«

Gwenvael ließ sich aufs Bett zurückfallen und drehte den Kopf zur Wand. »Du weißt, was das bedeutet, oder?«

»Gwenvael …«

»Ich werde allein leben müssen, irgendwo auf der Turmspitze eines Schlosses. Ich werde mich vor dem Tageslicht verstecken und nur bei Nacht herauskommen.«

»Hör bitte auf damit.«

»Ich werde allein sein, aber nicht lange, denn ihr werdet mich alle noch mehr begehren. Ihr werdet nach dem schönen Krieger gieren, der ich einst war und die hässliche Kreatur bemitleiden, zu der ich geworden bin. Das Wichtigste: Ihr werdet meinen Schmerz lindern wollen.« Er sah sie wieder an. »Willst du meinen Schmerz lindern? Jetzt sofort? Ohne dieses Kleid an?«

»Nein, will ich nicht.«

Dagmar versuchte aufzustehen, aber Gwenvael schnappte ihre Hand und zog sie wieder zu sich herab. »Du kannst mich nicht verlassen. Ich bin gemartert und depressiv. Du musst mir zeigen, wie sehr du mich vergötterst, damit ich wieder lernen kann, mich selbst zu lieben.«

»Du hast nie aufgehört, dich selbst zu lieben.«

»Weil ich unglaublich bin.«

Sie riss ihre Hand weg, aber Gwenvael fing sie einfach wieder und zog an ihr, bis sie auf ihm lag.

»Lass mich los!«

»Nicht, bevor du mein gequältes Grübeln weggeküsst hast.«

»Ich küsse überhaupt nichts weg.« Dagmar erstarrte. »Und nimm deine Hände da weg, Sir.«

»Aber sie fühlen sich da so warm und gemütlich!«

Er war unmöglich! Unglaublich, dass sie sich tatsächlich Sorgen um ihn gemacht hatte. Wozu? Was nützte es, sich um jemanden zu sorgen, der geistesgestört war?

»Nimm deine Hände von meinem Hintern!«

»Erst musst du mich küssen.«

»Ich küsse dich nicht.«

»Weil ich so scheußlich aussehe!«

»Du siehst nicht …« Warum diskutierte sie überhaupt mit ihm? War sie dadurch nicht noch geistesgestörter als er? »Lass mich los.«

»Küss mich, dann tue ich es.«

»Na schön.« Sie beugte sich hinab und platzierte einen kurzen Kuss mit geschlossenen Lippen auf seinem Mund. »Da.«

»Das kannst du besser.«

»Nein. Kann ich nicht. Also …« Dagmar keuchte auf, als seine Hände ihren Hintern durch all ihre Schichten von Kleid und Unterröcken drückten. Und während ihr Mund sich öffnete, griff er an, richtete sich auf und küsste sie fest. In Sekunden war seine Zunge in ihren Mund eingedrungen und schlängelte sich hartnäckig um ihre.

Mehr brauchte es nicht. Sie schmolz dahin, ihre Hände hoben sich zu seinem Gesicht. Ihr Magen ballte sich zusammen, und alles wurde warm und feucht zwischen ihren Beinen.

Sie wollte ihn. Es war unvernünftig, aber sie wollte ihn. Egal, wie seltsam, fordernd oder nervtötend er sein konnte.

Sein Griff an ihrem Hintern verstärkte sich bis kurz vor die Schwelle des Schmerzes, aber es war ihr egal. Ebenso wenig machte es ihr etwas aus, dass er sie so dicht an sich zog, dass sie die Härte spüren konnte, die er zwischen seinen Beinen hatte. Ganz langsam wiegte er sie gegen seine Leiste, die Hände auf ihrem Hintern bewegten sie und drückten jedes Mal zu.

Sie begann zu stöhnen, die Wucht eines Höhepunktes begann in ihr anzuschwellen.

»Was tust du da?« Starke Hände griffen nach Dagmars Arm und rissen sie von Gwenvael herab.

Betäubt, keuchend und unglaublich erregt, konnte sie Esyld nur anstarren, unfähig, etwas zu sagen.

»Er muss sich erholen!«, schalt die Drachin. »Er hat nicht die Energie für so etwas!«

»Sie ist über mich hergefallen«, schaltete sich Gwenvael ein, und Dagmar stand vor Empörung der Mund offen. »Ich konnte sie nicht aufhalten.«

»Also ehrlich!« Esyld schleppte sie zur Tür und drückte ihr einen Eimer in die Hand. »Geh Wasser aus der Quelle holen! Vielleicht kühlt dich das ab und du bekommst dich wieder in den Griff!«

Sie knallte ihr die Tür vor der Nase zu, und Dagmar konnte nur mit immer noch offenem Mund dastehen und vor sich hin starren.

Gwenvael grinste die Drachin an, die ihn prüfend ansah.

»Macht es dir Spaß, sie zu foltern?«, fragte sie.

»Kommt auf die Art der Folter an.«

Sie kicherte. »Ich nehme an, du bist hungrig, Gwenvael.«

»Bin ich.« Er legte den Kopf schief. »Du kommst mir sehr bekannt vor. Haben wir … äh … uns schon mal gesehen?«

Sie stützte die Hände auf die Knie und beugte sich weit zu ihm hinab. »Schau mir ins Gesicht und sag das noch mal. Im selben Tonfall.«

Gwenvael sah ihr tatsächlich ins Gesicht und wusste, was ihn da so spöttisch angrinste.

Seine Mutter.

»Das ist mir jetzt wirklich unangenehm.«

»Gut. Zu Recht.« Sie ging zur Feuerstelle und löffelte Eintopf in eine Schale. »Ich bin deine Tante Esyld.«

Gwenvael wusste nur von einer Tante Esyld, und bis zum heutigen Tag wurde sie von seiner Familie gejagt.

»Dann bin ich dir ewig dankbar für deine Hilfe.« Gwenvael stemmte sich hoch, bis sein Rücken an den Metallstäben des Bettgestells lehnte. Luft zischte zwischen seinen Zähnen, als der Schmerz ihn daran erinnerte, dass es noch eine Weile dauern würde, bis er wieder ganz der Alte war. Das musste er allerdings auch irgendwie seinem Gemächt erklären. Er hätte Dagmar hier und jetzt vernascht, wenn seine Tante nicht zurückgekommen wäre. Um alles in der Welt, er verstand einfach nicht, was diese Frau für eine Wirkung auf ihn hatte!

»Überrascht, dass ich dich nicht im Schlaf umgebracht habe?« Sie reichte ihm die Schale und einen Löffel.

»Darauf gibt es keine gute Antwort. Also esse ich lieber.«

Esyld zog sich einen Stuhl ans Bett und setzte sich, die Beine übereinandergeschlagen. »Sie hat mir erzählt, dass du schlau bist.«

»Meinst du die schöne Dagmar?«

Sie runzelte die Stirn. »Die schö … vergiss es. Ich meine Keita.«

»Meine Schwester?« Gwenvael ließ den Löffel mit einem Platschen zurück in die Schale fallen. »Meine Schwester war hier?«

»Mehr als einmal. Wir stehen uns inzwischen sehr nahe.« Wie sie das sagte, gefiel Gwenvael gar nicht, aber bevor er etwas sagen konnte, sprach sie weiter: »Nur die Ruhe, Gwenvael der Goldene. Deine Schwester ist zu mir gekommen. Und ich kann dir versichern, dass ich nicht vorhabe, sie zu verderben.«

»Du wirst am Hof meiner Mutter immer noch gesucht.«

»Ich bin mir dessen wohl bewusst. Aber ich habe nicht vor, deiner Mutter den Thron streitig zu machen.«

»Warum ist Keita zu dir gekommen?«

»Was glaubst du wohl? Weil sie wusste, dass es deine Mutter zur Weißglut bringt, wenn sie es herausfindet. Sie verstehen sich genauso gut wie Rhiannon und unsere Mutter. Hoffentlich wird es nicht dasselbe Ende nehmen.«

Wenn man bedachte, dass Rhiannon ihre eigene Mutter hatte töten müssen, um ihren Thron zu sichern und das Leben Bercelaks und seiner Familie zu schützen, schätzte Gwenvael diese letzte Bemerkung nicht besonders. »Wenn ja, mache ich dich dafür verantwortlich.«

»Da bin ich mir sicher. Aber ich will nichts weiter als das, was ich habe, Gwenvael. Ich will weder ihren Thron, noch ihre Macht. Ich will einfach nur in Ruhe gelassen werden.«

»Wenn das wirklich alles ist, was du willst, dann lass mich mit meiner Mutter reden.«

»Nein.«

»Du solltest im Süden sein, bei den Deinen. Nicht hier bei den Barbaren.«

»Das ist sehr lieb von dir. Und vielleicht würde deine Mutter sogar ernsthaft darüber nachdenken. Aber dein Vater nicht. Seine Familie sucht immer noch nach mir. Wenn sie wüssten, dass ich hier bin, würde ich keinen Tag länger überleben. Also ist es mir lieber, wenn sie beide nichts von meiner Anwesenheit wissen.«

Er konnte ihr nicht widersprechen; sie hatte absolut recht. Es gab wenige Drachen, die ihre Verpflichtungen so ernst nahmen wie Bercelak der Große. Und er hatte keine wichtigere Verpflichtung als Königin Rhiannon.

»Wie du willst. Du hast mir das Leben gerettet; ich bin dir zumindest das schuldig.«

Sie deutete auf sein Essen. »Es wird kalt. Iss.«

Der Eintopf war abgekühlt, aber er war immer noch warm genug und ziemlich gut. Während er aß, kehrte Dagmar zurück. »Du hast ja ewig gebraucht«, sagte er mit vollem Mund.

Sie knallte den vollen Eimer auf den Tisch und marschierte quer durch den Raum auf ihn zu. Dann schnippte sie ihm gegen eine seiner heilenden Wunden.

»Au!«, schrie er auf und zog den Arm weg.

»Ich hatte keine Ahnung, wo die Quelle ist, du Dummkopf. Also bin ich in der ganzen Umgebung herumgestolpert und habe dieses verdammte Ding gesucht! Euch hätte es auch nicht gekümmert, wenn ich hineingefallen wäre!«

»Sag das nicht, Dagmar. Heute Nacht, morgen … irgendwann hätten wir schon bemerkt, dass du fort bist. Au!«, schrie er auf, als Dagmar gegen eine zweite Wunde schnippte. »Hör auf damit!«

Vigholf der Bösartige von der Olgeirsson-Horde wartete ungeduldig im Park von Spikenhammer. Ein ruhiger Ort der Schönheit und Stille, den Vigholf wie die Pest gemieden hätte, wenn er einen sichereren Ort zum Reden gekannt hätte. Doch er kannte keinen. Die Spione seines Vaters waren überall und suchten nach dessen verräterischen Sohn.

Das war allerdings nicht Vigholf. Soweit sein Vater wusste, war Vigholf ihm gegenüber immer noch loyal. Sein Bruder hatte ihn angefleht, diese Illusion aufrechtzuerhalten, auch wenn es an Vigholfs Nerven zerrte. Er war normalerweise so ein ehrlicher Drache, dass seine Mutter ihn oft mit dem Schwanz auf den Hinterkopf schlug und ihn anschrie, er solle »erst denken und dann reden!«.

Aber zu seiner großen Enttäuschung verdiente Olgeir der Verschwender die Ergebenheit seines Sohnes nicht mehr. Der alte Drache hatte den Waffenstillstand mit den Südländern gebrochen und einen der Drachenwarlords betrogen, mit denen er ein Bündnis hatte. Der Nordland-Kodex war für Drachen wie Vigholf alles. Eine klare Reihe von Regeln und Richtlinien, deren wichtigste Loyalität war. Doch sein Vater war niemandem als sich selbst gegenüber loyal – wie konnte er dann erwarten, dass andere im Gegenzug ihm gegenüber loyal waren?

Vigholf hörte die stampfenden Hufe des Schlachtrosses seines Bruders und drehte sich zu ihm um, als er auf ihn zuritt. Es erstaunte Vigholf immer wieder, wie sein Bruder das machte. Die meisten Huftiere hielten sich klugerweise von ihresgleichen fern, denn sie wussten, wie schnell sie zu einer Mahlzeit werden konnten. Doch sein Bruder hatte dieses Problem nie. Tiere fühlten sich von ihm angezogen, Vögel setzten sich auf seine Schultern, Wölfe und Wild legten sich ihm zu Füßen, und Pferde trugen ihn, wohin er auch wollte, auch wenn er leicht hätte fliegen können.

In ihrer Kindheit und Jugend hatten sie sich nicht besonders nahegestanden, denn Ragnar der Listige war eine verwirrende Mischung aus hervorragendem Kampfgeschick, Philosophensprache und Magie. Doch Vigholf hatte die Fähigkeiten seines Bruders und dessen wahren Nordlandgeist zu schätzen gelernt.

»He, Bruder!«

»Vigholf. Du hast Neuigkeiten für mich?«

»Die habe ich.«

Sein Bruder stieg ab und hieß sein Pferd zu warten, indem er ihm einfach mit der Handfläche über die Stirn strich.

»Also?«

»Ich habe herausgefunden, warum die Familie zum Versteck der Horde zurückkehrt. Dad hat sich eine Beute geschnappt.«

Ragnars Gesicht verzog sich, als erwarte er einen Schlag. »Sag mir, dass es nicht wieder dieser verflixte Goldene ist.« Dann sah er panisch aus. »Sag mir, dass Vater nicht Dagmar hat!«

Seine Treue dieser Menschlichen gegenüber hatte Vigholf immer verblüfft. Sie wirkte so farblos und uninteressant auf ihn, aber Ragnar hatte seit zwanzig Jahren ein Auge auf sie. Beschützte sie, wo er konnte, tröstete sie, wenn er es nicht geschafft hatte.

»Beruhige dich, Bruder. Es ist keiner von beiden. Um genau zu sein hat Vater sich etwas viel Wertvolleres geschnappt als einen der Söhne der Drachenkönigin.«

»Und das wäre?«

»Die Tochter der Drachenkönigin.«

Ragnar trat näher, seine Erregung war offensichtlich. »Die Drachenhexe? Morfyd?«

»Nein. Die andere.«

Sein Bruder machte ein langes Gesicht. »Die Schlampe?«

Vigholf schubste ihn gegen die Schulter. »Sei nicht gemein, Ragnar! Wir leben nicht alle wie Mönche!«

»Es macht mich nicht gleich zu einem Mönch, wenn ich mir meine Bettgefährtinnen ein bisschen sorgfältiger aussuche. Wie hat er sie überhaupt in die Klauen bekommen?«

»Sie war anscheinend auf der falschen Seite der Außenebenen.«

»Wie dumm von ihr. Und wieder bricht er den Waffenstillstand, indem er eine von ihren Frauen entführt.« Ragnar begann, auf und ab zu gehen. Was er immer tat, wenn er angestrengt über etwas nachdachte. »Also kehren sie alle für Die Ehre zurück.«

»Natürlich. Eine frische, junge Drachin, um die man kämpfen kann, bis nur noch ein Drache überlebt? Wer aus unserer Familie würde sich das entgehen lassen?«

»Wann ist es?«

»Ich weiß nicht. Dad hat noch kein genaues Datum genannt, was ihm gar nicht ähnlich sieht. Er hat es doch normalerweise am liebsten, wenn die Kampfpaare so schnell wie möglich aufgestellt werden und er sie vom Hals hat. Ich weiß nicht genau, worauf er wartet.«

»Ich weiß es. Er will, dass sie ihre Sippe ruft. Damit sie herfliegen, um ihr zu helfen, und dann bekommt er seinen Krieg.«

»Und jeder Warlord wird sich auf seine Seite stellen, wenn er glaubt, die Königin hätte zuerst angegriffen. Aber ich glaube nicht, dass die kleine Rote jemanden gerufen hat. Der Goldene, ihr Bruder – wenn er etwas von seiner Schwester wusste, dann hat er es zumindest nicht gezeigt.«

»Er wusste es nicht. Genauso wenig wie Dagmar, sonst hätte sie es mir gesagt.«

»Selbst, nachdem sie herausgefunden hat, dass du sie all die Jahre belogen hast?«

»Sie erreicht mehr, wenn sie mir Informationen weitergibt, als wenn sie sie zurückhält. Ich bin nicht stolz darauf, was ich getan habe, Bruder, also sprich mich nicht noch mal darauf an.«

Vigholf hatte keine Ahnung, warum sein Bruder sich damit so belastete, aber Ragnar war kein einfach zu verstehender Drache.

Ragnar blieb stehen. »Die Südlanddrachen sind nicht gekommen, weil sie sie nicht gerufen hat. Sie wird versuchen, sich allein zu befreien.«

»Warum zum Teufel sollte sie das tun?«

Ragnar wandte sich ihm mit einem strahlenden Lächeln zu. »Das ist das Gute an einer Mutter-Tochter-Beziehung, mein lieber Bruder.«

»Was soll das heißen?«

»Das heißt, dass sie Himmel, Erde und alle möglichen Höllen in Bewegung setzen wird, um da herauszukommen, ohne dass ihre Mutter davon erfährt.«

Vigholf schüttelte den Kopf. »Du wirst das ausnutzen, oder?«

Ragnar legte den Arm um seinen jüngeren Bruder und umarmte ihn ruppig. »Was für ein durchtriebener, intriganter Mistkerl wäre ich, wenn ich das nicht täte?«

Gwenvael schlief mit kurzen Unterbrechungen den Rest des Tages und bis weit in die Nacht hinein. Der Duft von frischem Essen weckte ihn, und nach einer weiteren Mahlzeit und einem köstlichen Gebräu aus Wein, der mit heilenden Kräutern vermischt war, konnte er aufstehen und im Haus seiner Tante herumwandern. Es sah ihm nach einem großen Rückschritt für eine Prinzessin aus, die gehofft hatte, nach dem Tod ihrer Mutter deren Thron zu erben – und nach dem Tod aller anderen Geschwister, die ihr im Weg standen –, aber Esyld schien recht zufrieden zu sein.

Sie plauderten eine Weile, und Gwenvael brachte sie auf den neuesten Stand des Familientratsches, ließ aber jegliche Politik dabei aus. Während sie – immer noch lachend – getrocknete Kräuter zu Sträußen zusammenband, ging er hinaus, um nachzusehen, wohin Dagmar gegangen war.

Er fand sie hinter Esylds Haus, wo sie auf einem umgestürzten Baumstamm saß und auf einen kleinen Bachlauf starrte. Mit einer Flasche Wein und frischem Obst ging er zu ihr hinüber.

»Siehst du?«, neckte er sie. »Ich habe bemerkt, dass du gegangen bist.«

Sie fuhr beim Klang seiner Stimme zusammen und hielt den Kopf gesenkt. »Ich habe dich nicht kommen gehört.«

»Das geht den meisten so.« Er trat vor sie und musterte sie aufmerksam. Ihre Augengläser hatte sie sich in die Haare geschoben, und sie grub nach etwas in der Tasche ihres Kleides. Sie war nervös und schniefte.

Gwenvael wusste, dass er keine direkte Antwort aus ihr herausbringen würde; er nahm ihr Kinn und hob ihren Kopf, bis sie ihm in die Augen sah.

Tränen. Echte Tränen.

Sie schüttelte ihn ab. »Mir geht es gut. Du kannst aufhören, mich so anzusehen.«

»Sag’s mir.«

»Nein.«

Er setzte sich neben sie auf den Baumstumpf. »Ich habe Wein.«

Sie wischte sich die Augen und ignorierte ihn, bis er die Flasche öffnete und sie ihr hinhielt.

»Es ist guter Wein.«

Sie nahm die Flasche und trank mehrere Schlucke. Als sie sie ihm zurückgab, murmelte sie: »Er ist ein bisschen schwach.«

Gwenvael nahm einen herzhaften Schluck und spuckte ihn fast wieder aus. »Schwach«, quiekte er. »Eindeutig.«

Er verschloss die Flasche wieder und stellte sie vor sich auf den Boden. »Und jetzt will ich, dass du mir alles erzählst. Sag mir, was du bezahlen musstest, um mich von der Horde zu befreien.«

Sie begann zu schluchzen, und als Gwenvael versuchte, ihr die Arme um die Schultern zu legen, schüttelte sie ihn ab. Er spürte, wie eiskalte Furcht ihn ergriff. »Götter, Dagmar, was haben sie dir angetan?«

Immer noch schluchzend griff sie in eine versteckte Tasche in ihrem Kleid und zog ein Stück Pergament heraus. Sie schob es ihm zu.

Er warf einen Blick auf das Siegel, erkannte es aber nicht. Rasch brach er es und las. Es war in der alten Sprache aller Drachen geschrieben; auch wenn die Feder bei ein paar Buchstaben ein wenig anders geführt worden war und ein paar der Wörter eine andere Bedeutung besaßen, war das Geschriebene für ihn doch lesbar, wenn auch nicht für Menschen wie Dagmar.

»Es ist an meine Mutter gerichtet. Von einem gewissen Ragnar von der Olgeirsson-Horde.«

Er blinzelte und hob eine Braue. »Ragnar? Doch nicht der liebe, fürsorgliche Bruder Ragnar, von dem du mir erzählt hast, oder etwa doch?«

Sie nickte und schluchzte weiter.

Gwenvael verzog das Gesicht. »Ich verstehe, dass du darüber aufgebracht bist, Dagmar, aber ich kann dir versichern, das ist gang und gäbe. Meine Großmutter hat als Mensch an Universitäten in den ganzen Südländern studiert, und keiner hat es je erfahren.«

Sie deutete auf den Brief und schluchzte weiter.

»Dagmar, darin steht nur, dass er dafür verantwortlich ist, dass ich am Leben und in Sicherheit bin und dass er mit meiner Mutter über ein Bündnis sprechen möchte, damit sie ihm hilft, seinen Vater zu stürzen.«

Als sie nicht aufhörte zu weinen, sprach er weiter: »Das ist der übliche politische Mist. Ich verstehe nicht, warum du dich so aufregst.«

Sie schluckte ihre Tränen hinunter: »Wir wissen beide, dass das« – sie zeigte auf das Pergament in seiner Hand – »verzeih mir den Ausdruck meines Vaters: Elchscheiße ist. Wir wissen beide, dass er nicht nur will, dass ich dich überrede, mich in die Südländer zu bringen, um der Drachenkönigin diesen lächerlichen Brief zu übergeben.«

»Und?«

»Das bedeutet, dass er mich eigentlich aus einem anderen Grund dort haben will. Wenn ich erst dort bin, wird er wollen, dass ich etwas für ihn tue.«

»Das stimmt wahrscheinlich … und?«

»Und normalerweise hätte ich diese Gelegenheit nur zu gern ergriffen. In die Südländer zu reisen. Königin Annwyl zu treffen und einen viel besseren Handel abzuschließen als mit dir

»Das war ein ganz hervorragender Handel!«

»Normalerweise würde ich lügen und mitspielen und alles tun, was nötig ist, damit du mich in den Süden bringst.«

»Aber …«

Noch mehr Tränen begannen zu fließen. »Aber das Ding …«

»Ding? Was für ein Ding?«

»Das Ding … das, das man im Kopf hat … das einem sagt, wenn etwas falsch ist. Es lässt mich nicht.«

Plötzlich verstimmt fragte Gwenvael vorsichtig: »Meinst du … dein Gewissen?«

Ihre Tränen wurden zu hysterischen Schluchzern, und sie ließ sich zur Seite fallen, den Kopf in seinem Schoß vergraben.

»Dagmar! Jeder hat ein Gewissen.«

»Ich nicht!«

»Natürlich hast du eines.«

»Ich bin Politikerin, Gwenvael! Natürlich habe ich kein Gewissen. Zumindest hatte ich keines. Und jetzt bin ich mit einem geschlagen. Und das ist deine Schuld!«

Irgendwie hatte er gewusst, dass das passieren würde.

Warum verstand er es nicht? Warum konnte er es nicht sehen? Ein Gewissen machte sie schwach und verwundbar. Machte sie zu einer armen Frau, die man ausnutzen konnte. Als Nächstes würde sie, ehe sie es sich versah, Partys planen, ihren Vater anflehen, ihr potenzielle Ehemänner vorzustellen und daran denken, Kinder zu bekommen.

Es war ein Albtraum!

»Hör auf damit!«, befahl er, nahm sie bei den Schultern und zwang sie, sich aufzusetzen. »Hör sofort damit auf!«

»Sag es ruhig. Sag, dass ich jämmerlich bin. Dass ich zugelassen habe, dass dieser Mistkerl mich zwanzig Jahre lang täuscht und ich es nie bemerkt habe, und jetzt habe ich auch noch ein verdammtes Gewissen! Sag einfach, dass ich nutzlos bin, dann habe ich es hinter mir.«

»Ich werde nichts dergleichen tun. Du hast ein Gewissen. Du hast immer ein Gewissen gehabt. Du kannst es dir auch gleich eingestehen.«

Sie sah ihn unter Tränen finster an. »Lügner! Ich hatte bis jetzt nie ein Gewissen.«

»Dagmar, du hast einen Feuer speienden Drachen angegriffen, weil er deinen kleinen Hund essen wollte!«

»Ich musste ihn doch beschützen.« Und als er grinste, fügte sie eilig hinzu: »Er ist nützlich.«

»Sieht ein bisschen klein dafür aus, dass er einer deiner Kampfhunde sein soll. Was für einen Nutzen hat er dann?«

»Wer sonst würde die ganzen Essensreste vom Boden fressen?«

»Dagmar.«

»Na schön, na schön. In Ordnung. Ich habe ein Gewissen. Bitte. Zufrieden?«

»Ekstatisch.« Er kauerte sich vor sie und wischte ihr das Gesicht mit dem Ärmel seines Leinenhemdes ab. »Annwyl wird dich mögen. Ihr gefällt der Gedanke auch nicht, dass sie ein Gewissen hat.«

»Ich komme nicht mit dir, aber ich werde dir die Informationen geben, die du brauchst, und ich habe eine Karte, die hilfreich sein dürfte.«

»Gut. Nimm sie mit, wenn wir morgen früh in die Südländer aufbrechen.«

Er musste wissen, dass es gefährlich war. Ragnar wollte sie aus gutem Grund im Süden haben, doch sie wussten beide nicht, warum. »Sei nicht dumm, Gwenvael.«

»Bin ich nicht.« Er nahm den Wein und setzte sich, mit dem Rücken gegen den Baumstamm gelehnt, auf den Boden. Dann nahm er ihre Hand und zog sie neben sich. Dem Gedanken, auf dem Boden zu sitzen, konnte sie nicht allzu viel abgewinnen, aber es schien ihr ein Abend für so etwas zu sein.

Er nahm einen Schluck und gab ihr die Flasche. »Bevor wir aber irgendetwas tun, brauche ich Antworten auf wichtige Fragen. Ehrliche, direkte Antworten.«

»Na gut.«

»Was ist auf dem Weg zu Annwyl?«

»Minotauren.«

Er seufzte. »Ich habe um ehrliche, direkte Antworten gebeten.«

»Und die hast du bekommen.«

»Minotauren? Kühe auf zwei Beinen trachten Annwyl nach dem Leben? Und das soll ich wirklich glauben?«

»Kühe auf zwei Beinen, die von Geburt an zum Töten ausgebildet wurden, im Namen irgendwelcher Götter, die ihre Ältesten anbeten.«

»Hat Ragnar dir von den Minotauren erzählt?«

»Ja. Aber ich habe es auch von anderen gehört. Ich glaube, es ist wahr.«

»Schön. Dann glaube ich auch, dass es wahr ist.« Gwenvael nahm noch einen Schluck Wein. »Ich muss sagen, der Tag wird immer seltsamer.«

»Und deine zweite Frage?«

»Wie bist du an den Namen Bestie gekommen?«

Dagmar rieb sich die Stirn, als der Schmerz ihrer Vergangenheit mit Macht über sie hereinbrach. »Und warum ist das wichtig zu wissen?«

»Sag es mir.«

Dagmar streckte die Hand aus. »Mehr Wein.«

»Als ich dreizehn war«, begann sie und sah plötzlich viel jünger aus als ihre dreißig Winter, »kam ein Neffe meines Vaters zu Besuch. Er war viel älter als ich, aber wir haben uns nie verstanden. Angeblich war ich eine ›besserwisserische Zicke, die man in ein Kloster sperren sollte‹, und ihn hätte man ›bei der Geburt erdrosseln und in eine Schlucht werfen sollen, wie es unsere Vorfahren getan haben‹. Ich muss wohl nicht extra sagen, dass wir Abstand gewahrt haben, als er zu Besuch kam. Aber er war nie besonders schlau, und es breiteten sich schnell Gerüchte aus, dass er sich vor seinen Männern über mich lustig gemacht hatte. Dass er ihnen gesagt hatte, ich würde mich ›zu einer richtigen Bestie auswachsen‹. Ich ignorierte es, obwohl mein Vater und meine Brüder die Gerüchte auch gehört hatten. Aber ich sagte kein Wort und beschwerte mich nicht. Sah keinen Sinn darin.

Eines Nachts, ungefähr einen Tag bevor er zu seinem Vater zurückkehren sollte, kam ich von den Hundezwingern und wollte gerade zurück in die Festung. Ich hörte eines der Dienstmädchen und ging um die Ecke, um nachzusehen, ob alles in Ordnung war. Mir gefiel nicht, was ich da sah, und sie schien noch unglücklicher zu sein, also habe ich meinen Vetter geschnappt und weggezogen. Wütend und betrunken hat er mich an der Kehle gepackt, mir ins Gesicht geboxt und meine Augengläser zerbrochen.«

»Mistkerl.«

Sie kicherte, erzählte aber weiter: »Allerdings war ich wie immer nicht allein. Ich hatte Knuts Urgroßvater dabei. Wie man es ihn gelehrt hatte, riss er meinen Vetter zu Boden und hielt ihn dort an der Kehle fest, während er auf meinen nächsten Befehl wartete.« Sie hielt inne und nahm noch einen Schluck Wein. »Mein Vetter flehte mich an, ihn zurückzurufen. Da standen auch schon mein Vater und meine drei ältesten Brüder hinter mir, die von den Dienern gerufen worden waren. Ich sah meinen Vater an und sagte: ›Ich sollte es nicht tun.‹ Er antwortete: ›Aber als Nordländerin wirst du es tun, das wissen wir alle.‹ Ich wusste, was von mir erwartet wurde, also tat ich es.« Sie schluckte hart. »Ich gab das Kommando, und mein Hund … gab ihm den Rest. Am nächsten Tag schickte mein Vater seine Überreste zurück zu meinem Onkel, mit einer Botschaft, in der stand: ›Ein kleines Geschenk von Der Bestie.‹«

»Und dieser Onkel war Jökull?«

Sie nickte. »Und es war Jökulls Lieblingssohn. Nicht lange danach war die Belagerung, bei der die Frau meines Bruders ums Leben kam.«

»Du gibst dir die Schuld.«

»Manchmal. Ich kann nicht anders, ich frage mich immer wieder, wo wir heute stünden, wenn ich nur einen anderen Befehl gegeben hätte.«

»Für solche Gedanken ist es zu spät. Sie helfen nicht. Übrigens mache ich mir keine Gedanken darüber, was ich hätte tun sollen. Ich mache mir nur Gedanken darüber, was ich jetzt tue.«

»Ja. Das klingt ganz nach dir.«

Er stand auf. »Na, komm. Wir müssen uns fertig machen.«

»Du hast immer noch vor, mich in den Süden zu bringen?« Sie streckte die Hand aus, und er nahm sie und zog sie mühelos auf die Beine. »Erscheint mir unklug.«

»Vielleicht. Wir werden sehen.« Doch das glaubte er nicht. Nichts hatte sich je zuvor in Gwenvaels Leben richtiger angefühlt, als Dagmar Reinholdt mit in die Dunklen Ebenen zu nehmen.

»Ich muss meinem Vater noch einen Brief schreiben, bevor wir gehen.« Sie wischte sich mit beiden Händen den Schmutz von der Rückseite ihres Kleides und grinste dieses boshafte kleine Grinsen, das ihm so gefiel. »Und ich glaube, ich könnte deine Hilfe beim Formulieren gebrauchen.«

Sigmar schaufelte sich Essen in den Mund und ignorierte seine Schwiegertochter komplett. Seit Dagmar mit dem Drachen weggegangen war, wurde die Frau seines ältesten Sohnes immer unmöglicher.

Es war nichts Neues, dass sie seine Tochter hasste, aber sie musste sich damit abfinden, dass sie nicht die geringste Chance gegen Die Bestie hatte. Das hatten wenige.

»Ich will doch nur sagen, dass eine Hochzeit zwischen ihr und Lord Tryggvi sehr gut für dich wäre.«

»Ach ja?«, fragte Sigmar und legte seinen Löffel hin. »Was weißt du über ihn?«

»Er ist der Herrscher von Spikenhammer und ein ausgezeichneter Krieger.«

»Das ist allerdings wahr. Was noch?«

»Was noch? Na ja, ich weiß, dass seine Mutter …«

»Seine Mutter? Was geht mich seine Mutter an? Ich meine, was ist mit ihm? Welche Götter verehrt er?«

»Ich weiß es nicht. Wen interessiert das?«

»Dich sollte es interessieren. Was ist, wenn er Götter verehrt, die Opfer verlangen? Menschenopfer«, sagte er, bevor sie Ochsen oder Hirsche nennen konnte. »Wie geht er mit Verbrechen in seiner Stadt um? Welche Art von Exekutionen führt er durch? Glaubt er an Folter? Und wenn ja, an welche Art?«

Ihr Mund öffnete und schloss sich mehrmals, aber sie hatte keine Antworten.

»Das ist der Unterschied zwischen euch beiden.« Er sah seine Söhne an, die alle herzhaft aßen, bevor sie zum Training gingen. »Nicht wahr?«

Sie grunzten zustimmend mit vollem Mund.

»Du kennst diese Antworten nicht, Mädchen, aber sie würde sie kennen. Sie würde verdammt sicher nicht mit so einer halb garen Idee daherkommen. Sie hätte die Fragen schon gestellt und die Antworten herausgefunden.« Er hämmerte sich mehrmals mit dem Finger gegen die Schläfe. »Weil sie denkt. Was man von dir nicht gerade sagen kann.«

Sie sah Sigmars Ältesten an. »Willst du zulassen, dass er so mit mir redet?«

»Nur, wenn er recht hat. Und er hat recht.«

»Mylord.« Einer der Diener kam hereingestürmt. Es war derjenige, der am engsten mit Dagmar zusammenarbeitete und der viele ihrer Aufgaben übernommen hatte, während sie fort war. Er war schlauer als die meisten, fürchtete Sigmar aber genug, um nichts zu überstürzen. »Noch eine Botschaft von Lady Dagmar. Sie scheint fast drei Tage alt zu sein.«

»Lies vor«, befahl Sigmar ihm.

Rasch öffnete er die versiegelte Rolle und begann: »›Liebster Vater. Ich hoffe, dieser Brief erreicht dich bei guter Gesundheit. Ich weiß, ich hatte versprochen, inzwischen bei Gestur zu sein, aber es gab noch eine Planänderung.‹«

Sigmar seufzte und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück. »Verdammt.«

»A-ha!«, sagte seine Schwiegertochter, doch als alle sie anstarrten, beruhigte sie sich wieder.

»Lies weiter«, forderte Sigmar den Diener auf.

»›Ich mache mich auf den Weg in den Süden, um Königin Annwyl persönlich zu treffen. Ich hoffe, mindestens eine Legion mehr für dich zu bekommen. Vielleicht zwei.‹«

»Verdammt, dieses Mädchen!«

»Sollten wir ihr nicht folgen?«, fragte sein Ältester, während er einem der Dienstmädchen ein Zeichen gab, ihm mehr Essen zu bringen.

»Vor ein paar Wochen hätte ich Ja gesagt. Aber dieser Mönch, Ragnar, ist vor zwei Tagen vorbeigekommen und hat mir gesagt, dass Jökull unterwegs hierher ist. Ich würde mich besser fühlen, wenn ich wüsste, dass sie woanders ist. Selbst mit diesem« – er schnaubte – »mit dieser Heulsuse.«

»Ich auch«, stimmte sein Sohn zu. »und hoffentlich erreicht sie etwas bei der Verrückten Schlampe von Garbhán.«

»Also willst du es ihr durchgehen lassen, wenn sie dir nicht gehorcht?«, schrie seine Schwiegertochter beinahe.

»Ruhe!« Er deutete auf den Diener mit dem Brief in der Hand. »Lies zu Ende.«

»›Ich weiß, dass das nicht das ist, was du von mir hören wolltest, aber du musst mir vertrauen, dass ich tue, was das Beste für unser Volk ist.‹« Das wusste Sigmar schon. Daran hatte er keine Zweifel und würde auch nie welche haben. »›Bitte sei vorsichtig und denk nach, bevor du handelst.‹«

Sigmar und seine Söhne lachten, während der Diener weiterlas.

»›Und Kikka hat es mit dem Stallmeister getrieben. Die Heulsuse und ich haben sie dabei beobachtet, wie sie sich fast zwei Stunden lang benommen hat wie eine Hure. Es tut mir leid, dass ich es dir auf diese Art sagen musste, aber ich dachte, es wäre das Beste, wenn du es weißt. Deine Dagmar.‹«

Der ganze Raum war verstummt, und alle, selbst die Diener, starrten jetzt mit offenen Mündern seine Schwiegertochter an.

»Sie lügt!«, kreischte sie verzweifelt.

Doch keiner hatte irgendeinen Zweifel an der Wahrheit dessen, was Dagmar geschrieben hatte, und Sigmar kannte sowohl seine Tochter als auch seine Schwiegertochter gut genug, um zu wissen, dass er, wenn er danach suchte, mehr als genug Beweise finden würde.

So ein dummes Ding, dachte Sigmar, als er aufstand und seine Lieblingsstreitaxt aufnahm. Er würde es seinem Ältesten überlassen, mit seiner Frau fertig zu werden, während er sich um den Stallmeister kümmerte.

Als er in den Hof hinausging, elf seiner Söhne hinter sich, musste er allerdings grinsen und fragte sich: Hat dieses dumme Ding wirklich geglaubt, sie könne sich mit Der Bestie anlegen – und gewinnen?