26 Drei Tage lang hielt die Königin der Dunklen Ebenen durch. Drei Tage lang trauerte das Königreich nun schon.
Doch der Schmerz, den die Drachen verspürten, die zu ihrer Familie gehörten, war fast greifbar, durchbohrte sie alle. Jeden Tag sah sie Diener aus dem Schloss hinausstürmen, um unter ihresgleichen weinen zu können und die Drachen nicht noch mehr zu belasten. Selbst die Vettern und Cousinen, Tanten und Onkel, die keine Gelegenheit gehabt hatten, Annwyl vor der Geburt kennenzulernen, trauerten um den Verlust, den ihre Familie litt.
Um ehrlich zu sein, war Dagmar ganz einfach nicht daran gewöhnt. Die Nordländer zeigten ihren Schmerz nicht. Sie wehklagten nicht. Sie verbrannten ihre Toten einfach, entweder auf Scheiterhaufen oder auf dem Meer, und wenn die Überreste nur noch Asche waren, wurde drei bis fünf Tage lang getrunken. Benachbarte Feinde griffen in diesen Zeiten nicht an – wahrscheinlich eine der wenigen Grenzen im Krieg, die nicht einmal Jökull überschritt. Wenn man betrunken war, waren Tränen und Schluchzen erlaubt, denn das konnte man rechtfertigen. »Es war das Saufen«, hatte sie ihre Verwandten mehr als einmal sagen hören. »Mehr als sechs Fässchen Ale, und ich bin ein flennendes Häufchen Elend.«
Doch in den Dunklen Ebenen war nicht getrunken worden. Es gab nur die grimmige Vorbereitung auf Kampf und Verteidigung und die schmerzerfüllten Gesichter derer, die um Königin Annwyl trauerten.
Um gegen all das anzukämpfen, hatte Dagmar sich damit abgelenkt, was sie am besten konnte: Pläne schmieden und ausführen.
Ein guter Teil der Verteidigungsmaßnahmen war fertig vorbereitet. Einige davon waren tief im Boden unter ihnen vergraben, um dafür zu sorgen, dass es zumindest schwer für die Minotauren werden würde, in die Verliese von Garbhán durchzubrechen. Andere befanden sich über der Erde und waren ebenfalls bereit. Außerdem hatte sie auf ein paar Experimente bestanden. Sie hatte mit Brastias, der dankbar schien, sich auf etwas anderes konzentrieren zu können, über diese Testeinrichtungen gestritten. Er fand sie zu einfach und spezifisch, was vermutlich richtig war, aber Dagmar probierte ihre Ideen trotzdem gerne aus, wenn sie konnte.
Während die Verteidigungsanlagen gebaut wurden, waren die Händler und Prostituierten, die innerhalb der Hauptmauern lebten, in eine andere Stadt verlagert worden, die ungefähr eine Wegstunde vom Rand der Insel Garbhán entfernt lag. So mussten die Diener nicht zu weit reisen, um die täglichen Besorgungen zu machen, aber gleichzeitig konnten starke Verteidigungsanlagen errichtet werden, die das Haupttor schützen würden.
Dagmar hatte auch bei alledem gern geholfen, froh, dass sie in dieser Zeit eine kleine Hilfe sein konnte. Doch es war immer noch viel zu tun, und sie hatte die feste Absicht, dafür zu sorgen, dass so viel wie möglich fertig war, bevor sie nach Hause zurückkehrte. Als Dagmar über den riesigen Hof ging und dabei sorgfältig ihre Liste studierte, peitschte Wind um sie auf und hob den Saum ihres Kleides und ihre Haare an. Es erinnerte sie daran, dass sie wieder einmal vergessen hatte, sich die Haare zu flechten und ein Tuch darüber zu tragen. Sie hob den Blick zum Himmel und war vorübergehend geblendet von den zwei Sonnen, die auf sie herabbrannten. Sie sah die Drachen erst in letzter Sekunde und rannte aus dem Weg, als fünf von ihnen landeten.
Sie erkannte sie nicht als Mitglieder von Gwenvaels Sippe, aber sie sah, dass sie alt waren. Egal, welche Farbe ihre Schuppen hatten – ihre Mähnen waren altersbedingt fast weiß oder grau. Sie landeten und sahen sich um. Der alte Goldene vorn sah auf sie herab, und sie wusste sofort, dass dieser männliche Drache ein Problem werden würde.
Sie waren nicht hier, um ihr Mitgefühl auszudrücken oder Hilfe anzubieten. Sie wusste genau, wozu sie hier waren.
Dagmar wusste, dass dies hier sehr schnell hässlich werden würde und setzte ihren Plan in Gang.
Gwenvael schnitt seinem Vater den Weg ab und hielt ihn auf den Stufen des Rittersaals auf, indem er dem alten Drachen die Hände gegen die Schultern stemmte.
»Vater, nein.«
»Ihr wagt es, hierherzukommen?«, knurrte Bercelak die Drachen im Hof mit solch tödlichem Zorn an, dass Gwenvael fürchtete, die Adern, die an den Schläfen seines Vaters pulsierten, könnten bersten.
Die Ältesten hatten menschliche Gestalt angenommen und trugen die schlichten braunen Gewänder, die sie mitgebracht hatten. Vier von ihnen traten bei Bercelaks wütenden Worten hastig zurück; nur der Älteste Eanruig hatte den Schneid, gelangweilt dreinzusehen.
»Das soll nicht respektlos gemeint sein, Lord Bercelak«, seufzte Eanruig. »Aber ich habe Ihrer Majestät deutlich gesagt, dass wir kommen und die Babys holen, wenn sie geboren sind.«
Gwenvael und sein Vater tauschten Blicke, bevor Gwenvael herumwirbelte und fragte: »Wie bitte?«
»Wir kommen, um die Babys zu holen, junger Prinz. Sie werden mit uns kommen und dort erzogen werden, wo wir denken, dass es das Beste für sie ist.«
»Ihr werdet diese Kinder nicht mitnehmen!«
»Die Ältesten haben entschieden, Lord Gwenvael, und du kannst nichts dagegen tun.«
»Das ist mir egal. Ihr werdet diese Kinder nicht mitnehmen. Fearghus wird entscheiden, wo sie leben und wie sie erzogen werden. Nicht du. Und auch kein verdammter Rat!«
Briec kam die Treppe herunter und blieb neben Gwenvael stehen. »Was ist hier los?«
Ihr Vater konnte nicht einmal antworten. Er schüttelte nur den Kopf, die Hände auf die Hüften gestützt, während er auf der breiten Treppenstufe auf und ab ging.
Gwenvael sah seinen Bruder an, und die Wut nahm ihm fast den Atem. »Sie kommen, um die Babys zu holen.«
Briec sah Eanruig an. »Mit wessen Befugnis? Eindeutig nicht die unserer Mutter.«
Der Älteste grinste verschlagen, und Gwenvael zuckte zusammen, als Briec in seinem Kopf zu brüllen begann: Wir bringen ihn um! Wir bringen ihn hier und jetzt um!
Gwenvael legte Briec eine Hand auf die Schulter. Das können wir nicht. Bleiben wir einfach ruhig.
Von wegen ruhig, Scheiße!
»Der Rat hat seine Entscheidung getroffen, Bercelak der Schwarze …«
»Du hast die Entscheidung getroffen«, schnitt ihm Bercelak das Wort ab. »Es geht um dich!«
»… und ich würde dir dringend nahelegen, uns nicht davon abzuhalten, wozu wir hergekommen sind.«
Dagmar kam um die Ecke des Schlosses. Sie zwinkerte Gwenvael fast unmerklich zu und machte Addolgar und Ghleanna, die hinter ihr gingen, ein Zeichen.
»Lord Gwenvael«, sagte sie mit einem sanften Lächeln, »wen haben wir denn hier?«
Er wechselte einen raschen Blick mit Briec.
Was zur Hölle tut sie da?, fragte Briec.
Vertrau ihr, Bruder. Denn Gwenvael tat es auf jeden Fall.
Er ging die Treppe ganz hinab, nahm Dagmars ausgestreckte Hand und sagte: »Lady Dagmar, das ist der Älteste Eanruig aus unserem Rat. Ältester Eanruig, das ist Dagmar Reinholdt aus den Nordländern. Einzige Tochter Des Reinholdts.«
Eanruig plusterte sich ein bisschen auf, als ihm klar wurde, dass Dagmar zu einem Nordland-Königshaus gehörte, soweit man die Familien dieser Warlords so nennen konnte. »Lady Dagmar. Es ist mir eine Ehre.«
Sie neigte kurz den Kopf. »Ich habe so viel über die mächtigen Drachenältesten der Südländer gelesen. Und ich fühle mich zutiefst geehrt, dich kennenlernen zu dürfen.« Sie schenkte ihm ihr unschuldigstes Lächeln. »Und was führt dich heute hierher?«
Eanruig seufzte traurig, was in Gwenvael das Bedürfnis weckte, dem Mistkerl die Lungen durch die Nase herauszuziehen. »Wir haben von der armen Königin Annwyl gehört und beschlossen, dass wir ihre Kinder zu deren eigener Sicherheit unter unseren Schutz nehmen sollten.«
»Aaah.« Dagmar nickte. »Ich verstehe.«
»Was soll das heißen?«, fragte Ghleanna und stampfte vor. »Ich verstehe es nicht. Was sagen sie, Dagmar?«
»Es ist ganz einfach«, erklärte Dagmar munter. »Um die Sicherheit der Zwillinge willen hat der Rat beschlossen, sie Fearghus zu entreißen – natürlich nur in gewissem Sinne –, während wir noch dabei sind, den Begräbnisscheiterhaufen für Annwyls eventuellen Tod vorzubereiten.«
Eanruig gluckste blasiert. »So einfach ist es nicht, Mylady.«
»Doch ist es«, konterte Dagmar immer noch fröhlich. »Denn siehst du, Ghleanna, wenn der Älteste Eanruig die Zwillinge hat, besitzt er Kontrolle über die Königin, da sie nichts tun würde, was ihre eigenen Enkel in Gefahr bringen könnte.«
Jetzt sah Eanruig finster drein. »Das ist nicht wahr.«
»Nur nicht so schüchtern«, lobte sie ihn mit einem Klaps auf den Arm und einem strahlenden Lächeln. »Politisch ist das genial. Denk darüber nach. Wer die Zwillinge in seiner Macht hat, hat die Königin in seiner Macht. Doch wenn sie dem Ältesten Eanruig die Babys verweigert, kann er alle, die sowieso nie große Fans von Königin Rhiannon waren, um sich scharen und einen hübschen kleinen Bürgerkrieg beginnen.«
Ghleanna verschränkte die Arme vor der Brust. »Und das lassen wir ihm durchgehen?«
Eanruig entriss Dagmar seinen Arm. »Es gibt nichts zum Durchgehenlassen, Nichtswürdige«, schnaubte er. »Was der Rat entscheidet, geht den Cadwaladr-Clan nichts an.«
»Er hat recht, Ghleanna«, warf Dagmar ein. »Das hat mit der königlichen Blutlinie und denen zu tun, die direkt zu ihr gehören, wie Bercelak. Leider« – sie schien sich über Ghleanna lustig zu machen, indem sie Eanruig zuzwinkerte – »hat das mit dir oder Addolgar wenig zu tun.«
»Bercelak ist unser Bruder.«
Dagmar tätschelte Ghleannas Unterarm. »Es geht um die Abstammung, meine Liebe. Habe ich recht, Ältester Eanruig?«
»Richtig«, stimmte er abfällig zu.
»Und da ihr von niederer Abstammung seid, besitzt ihr weder einen echten Verwandtschaftsgrad zur Drachenkönigin noch ein Mitspracherecht, was diese Dinge angeht. Also, dann werde ich mal die Babys holen, nicht wahr?« Sie lächelte Eanruig zu.
»Herzlichen Dank, Lady Dagmar.«
Als Dagmar die Treppe hinaufging, blickte Ghleanna finster zu Bercelak auf. »Lässt du ihm das durchgehen, Bruder?«
Dramatisch seufzend nahm Dagmar Bercelaks Arm.
»Was hat er für eine Wahl?«
»Er kann den Mistkerl niederstrecken.«
»Nein, kann er nicht. Genauso wenig wie Briec oder Gwenvael. Denn durch ihre Verbindung zu Königin Rhiannon könnten sie keinen unbewaffneten Ältesten niederstrecken. Obwohl sie offen herausgefordert wurden … wie man diese Situation unter Umständen sehen könnte.«
Ghleanna blinzelte und ihr Blick wurde weicher. »Weil sie direkt mit Rhiannon verwandt sind?«
»Richtig.«
»Und wir sind es nicht?«
»Leider seid ihr nur bedeutungslos und von niederer Geburt, deshalb könntet ihr das hier leicht als eine Bedrohung der Zwillinge interpretieren und entsprechend handeln.«
Eanruig runzelte die Stirn. »Warte … was?«
»Nun, sie sind von niederer Geburt, Mylord«, stellte Dagmar fest, während sie ihm alle zusahen, wie er zurückwich. »Was hattest du erwartet?«
Selbst wenn Eanruig Hunderte von Jahren jünger gewesen wäre, hätte er sich niemals schnell genug bewegen können. Er war Politiker wie Dagmar, kein geübter Krieger. Er besaß keine Schnelligkeit, kein Geschick und keine Hoffnung darauf, einer kampfgeschulten wütenden Drachin zu entkommen.
Ghleanna schlitzte Eanruigs menschlichen Körper mit ihrem Schwert von der rechten Schulter bis zur linken Hüfte auf. Als sie ihre Klinge aus seinem Oberkörper zog – seine Schreie ließen die schaulustigen Menschen um ihr Leben rennen und die anderen Ältesten auseinanderstieben –, durchschnitt Addolgars Klinge die Luft und krachte mitten in Eanruigs Schädel. Die Waffe hielt in ihrer Abwärtsbewegung erst inne, als sie zwischen den Beinen des Ältesten wieder herauskam.
Und damit hörten die Schreie auf.
Flammen loderten kurz auf, und Eanruigs menschliche Überreste verwandelten sich in ihre natürliche Gestalt zurück. Dagmar fühlte nichts, als sie auf das hinabstarrte, was vom Ältesten Eanruig übrig geblieben war. Vielleicht hätte er sich besser andere Babys vornehmen sollen, aber er hatte es auf Annwyls abgesehen gehabt. Das hatte es fast zu einem Vergnügen gemacht, mit der Drachenkönigin zusammenzuarbeiten, um zu garantieren, dass die Gesetze Ghleanna und Addolgar schützten, die vollkommen unwissend gewesen waren und doch reagiert hatten, wie Rhiannon es vorhergesehen hatte.
Ghleanna hob ihr blutverschmiertes Schwert und richtete es auf die restlichen Ältesten, die nun versuchten, ihr zu entkommen. »Jetzt hört mir mal gut zu, ihr! Von jetzt an stehen die Zwillinge von Fearghus dem Zerstörer unter dem Schutz des Cadwaladr-Clans. Wenn ihr noch einmal ohne die ausdrückliche Erlaubnis von einem von uns oder von der Königin selbst in ihre Nähe kommt, dann fahren die Cadwaladrs auf euch nieder wie Wölfe auf ein verletztes Reh. Wir werden die Wände von Devenallt um euch herum niederreißen und euch zeigen, was ein wahrer Bürgerkrieg ist.« Sie trat näher an sie heran. »Legt euch nicht mit meiner Familie an, oder ich bringe jeden Einzelnen von euch um und werfe eure verrottenden Knochen vor die Höhlen eurer Brut.« Sie versprengte Eanruigs Blut mit ihrem Schwert über die Ältesten, bevor sie es in die Scheide zurücksteckte, die sie auf dem Rücken trug.
»Geht uns aus den Augen. Und kommt nie wieder ohne Einladung hierher.« Als die Ältesten sie nur in stummem Grauen anstarrten schrie sie: »Los!«
Die alten Drachen verwandelten sich und knallten bei dem Versuch, möglichst schnell davonzukommen, gegeneinander.
Ghleanna rieb sich die Hände und machte sich auf den Rückweg zu dem Übungsplatz, von dem Dagmar sie und ihren Bruder geholt hatte.
Mit einem Zwinkern und einem Lächeln folgte Addolgar seiner Schwester.
Dagmar wurde bewusst, dass Gwenvael, Briec und Bercelak sie ansahen. »Ja?«
»Sie ist gut«, murmelte Briec.
»Das ist sie.« Gwenvael legte ihr den Arm um die Schulter und seine Lippen streiften ihre Schläfe. »Mit einem unfehlbaren Sinn für den richtigen Zeitpunkt und fundiertem Wissen über unsere Blutlinien.«
»Sei nicht so ein Wichtigtuer.«
»Trickreich, trickreich, trickreich.«
»Lady Dagmar!«, rief ein junger Soldat, der auf sie zugerannt kam. »Lady Dagmar!« Er kam schlitternd am Fuß der Treppe zum Stehen.
»Hol erst mal Luft, Junge, und dann sag mir, was ich deiner Meinung nach wissen muss.«
Vornübergebeugt, die Hände auf den Knien, brachte er schließlich keuchend heraus: »Du sagtest, ich soll dir Bescheid sagen, wenn ich etwas höre …«
»Ja, ja. Was ist los?«
»Ungefähr dreihundert Wegstunden von hier, Mylady. Hufabdrücke.«
»Da wirst du mir wohl leider etwas Interessanteres erzählen müssen.«
»Paare. Ich meine, es sind Paare von je zwei Hufen, die nebeneinandergehen. Und dann verschwinden sie einfach. Wir können nicht feststellen, wohin, aber es sieht so aus, als verschwänden sie in einem Felsen.«
Nicht in einem Felsen, hätte sie gewettet, sondern darunter. Wie es die Eislandminotauren taten. Sie fanden sich nicht nur mühelos unter der Erde zurecht, sie konnten auch ihre Spuren sehr gut verwischen. Doch sie ließ sich nicht täuschen. Sie war sich sicher, dass sie einige Wegstunden von den Spuren entfernt in den Untergrund gegangen waren; höchstwahrscheinlich wussten sie, dass Annwyls Armee vor ihrer Ankunft gewarnt worden war.
Dagmar entließ den Soldaten mit einer Handbewegung. »Gute Arbeit. Sag es General Brastias, wenn er es noch nicht weiß.«
»Aye, M’lady«, versprach der junge Soldat, bevor er wieder davonrannte.
Sie nickte den Drachen zu, die sie erwartungsvoll anschauten.
»Sie sind hier.«