Kapitel 5

Was für eine Sprache!

Nie und nimmer hätte ich gedacht, dass ich meiner alten Lateinlehrerin mal Abbitte leisten würde. Wie habe ich damals ihren Paukunterricht gehasst. Aber sie hat dafür gesorgt, dass ich jetzt mit dem Portugiesischen ganz gut klarkomme. Zumindest immer dann, wenn ich etwas lese – in der Zeitung oder in den Kurzmeldungen bei den TV-Nachrichten. Sogar aus Werbeprospekten kann man lernen – hätte ich auch nicht gedacht. Da ist Verstehen (fast) kein Problem. Vieles kann ich mir eben vom Lateinischen herleiten. Und das andere reime ich mir zusammen. Für eine erste, wenn auch rudimentäre Verständigung reicht es.

Nun fragen Sie sich bestimmt: »Wieso wandert man in ein Land aus, dessen Sprache man nicht vorher gründlich gelernt hat?«

Der Grund ist ganz einfach: Die Liebe ist daran schuld. Wenn ich gewartet hätte, bis ich perfekt Portugiesisch kann, würde ich heute noch in Deutschland sitzen. Klar, wenn ich einen Job in Portugal hätte, wäre Vorher-Lernen unabdingbar gewesen. Aber da ich ja weiterhin für deutsche Verlage deutsche Manuskripte verfasse, denke ich: Sprache lernt man am besten im Land selbst. Das Lesen ist, wie gesagt, kein großes Problem – so für den »Hausgebrauch«. Der Rest wird dann schon kommen. Da bin ich mir sicher.

Außerdem habe ich durchaus vorher gelernt. Ich gebe zu: nicht sehr eifrig. Mit meinem Liebsten verständige ich mich ja auf Englisch. Dennoch hatte ich mir schon in Deutschland Sprachkurse auf CD und sogar interaktiv auf DVD besorgt. Und portugiesisches Fernsehen bestellt. Denn mein hauseigener Portugiese hatte schnell herausgefunden, dass man in Deutschland RTP international empfangen kann. Das wurde natürlich sofort angeschafft. Zugegebenermaßen nicht ausschließlich wegen meines Sprachunterrichts, sondern wegen Antónios Heimweh – und wegen Fußball. Ein unabdingbares »Muss« für beinahe jeden Portugiesen.

Ein bisschen von der Sprache habe ich also durchaus schon mitbekommen. Allerdings sprechen virtuelle Lehrer und auch Nachrichtensprecher sehr langsam und überdeutlich. Das ist im wirklichen Leben leider ganz anders. Die Portugiesen reden drauflos, ganz und gar nicht südlich gemütlich, sondern rasend schnell. Außerdem ziehen sie meistens die Silben zusammen, »vernuscheln« ganze Sätze und lassen bei der Aussprache den einen oder anderen Vokal weg.

Jetzt kann ich mir erklären, warum ich verzweifelt im Internet nach dem portugiesischen Konsulat in Stuttgart gesucht habe. Ich weiß nun: Die schwäbische Metropole schreibt sich auf Portugiesisch Estugarda, wird aber »schdugarda« ausgesprochen. Genauso wie Straßburg Estrasburgo heißt. Da muss man erst mal darauf kommen. Und jetzt ist mir auch klar, warum António immer sagt, er ginge jetzt in die »Küsch« – in die Küche nämlich: Das End-E spricht man oft genauso wenig aus wie das Anfangs-E.

Touristen und sprachunkundigen Neuankömmlingen geht es in Portugal wie wohl einem »Saupreißn« in der Münchner U-Bahn. Der versteht in Bayern wahrscheinlich genauso wenig wie ich in Portugal.

Beispiel gefällig? Fahren Sie mal mit der Vorortbahn von Lissabon nach Cascais. Ihre Unterkunft ist kurz vor der Endstation im kleinen Ort Monte Estoril. Sie wollen da raus? Ich möchte darauf wetten: Sie werden den Ausstieg verpassen! Zumindest dann, wenn Sie sich nur auf Ihre Ohren verlassen. Oder könnten Sie auf die Schnelle mitkriegen, was »monschdrihl« bedeuten soll? Bis man das verstanden hat, fährt der Zug schon weiter.

Einzelne Worte? Fehlanzeige. Irgendwie klingt jeder Satz wie ein einziges, riesenlanges Wort. Und das ist nicht nur in Bus und Bahn so. Sondern leider überall. Okay – freundlich ist man schon. Aber …

Beim Friseur verstehst du kein Wort. Du schaffst es gerade mal, ungefähr mitzuteilen, welche Frisur du dir vorstellst. Wie du es gerne hättest. Zeigst auf Bildchen in Magazinen, lernst – natürlich! – vorher die paar entscheidenden Worte aus dem Sprachführer auswendig, die bei einem Friseurbesuch einfach unerlässlich sind:

Waschen. Das ist einfach: lavar. Und es wird – halleluja! – genau so ausgesprochen, wie man es schreibt.

Schneiden (oder »nicht schneiden«) heißt: cortar (oder não corte). Das geht auch noch, weil ich im Sprachkurs gelernt habe: »c« vor »a«, »o« und »u« ist gleich dem deutschen »k«.

Föhnen. Das ist auch einfach: secar. Und ebenfalls leicht auszusprechen. Aber das war es dann schon.

Wie sieht es aber mit »Färben« aus? Was um Himmels willen heißt nochmals Blond? Und: Welches Blond genau will man eigentlich?! Nichts da mit cor (was Farbe heißt). Sondern man sagt tinta (was ebenfalls Farbe heißt, aber die zum Malen und eben Haare färben, wohingegen cor eher die generelle Bezeichnung ist. Oh Mann!). Färben ist pintar (so etwa »anmalen« – na ja, gut. Über andere, speziellere Verben, die ebenfalls »färben« heißen, sagen wir hier besser mal nichts. Braucht man beim Friseur ja nicht.).

Blond heißt louro oder loira, wobei jeder Friseur auch »blonde« versteht, wenn man sich da mit dem »e« am Ende so einen leicht hingehauchten französischen Touch gibt. Wir erinnern uns: das unausgesprochene End-E.

Geplauder mit der Friseurin? Fehlanzeige.

Du sitzt stumm da. Dabei ist doch gerade der Friseur der Ort, wo man sich gern unterhält beziehungsweise mit Vergnügen lauscht, was die Sitznachbarinnen so alles zu erzählen wissen.

Rundherum schwirren Gesprächsfetzen. Freundliches Geplauder. Gelächter – und du verstehst nichts. Nicht einmal, wenn die behandelnde Fachkraft dich anspricht. Oder gar – was der liebe Gott verhüten möge! – dir eine Frage stellt. Die du natürlich nicht beantworten kannst, denn du hast keinen Schimmer und nicht die leiseste Ahnung, was sie dich gefragt haben könnte. Hat sie überhaupt wirklich mit dir gesprochen? Oder eher über dich? Bietet sie dir einen Kaffee an oder ein Glas Wasser? Was zu lesen (haha)? Möchte sie wissen, ob du dich wohlfühlst? Oder will sie was Wichtiges? Geht es etwa um grundsätzliche Entscheidungen bezüglich deiner Frisur, der Haarlänge, der Haarfarbe? Mein Gott, was mache ich bloß?

Wobei das Ganze ja schon damit beginnt, wie »Friseur« hier heißt. Nämlich cabeleireiro. Das kann ich schon kaum lesen – geschweige denn aussprechen. Vor allem nicht so, wie die Portugiesen das tun. Da nutzt keine Sprachschule in Deutschland etwas, und die Sprachkurse, die ich in Vorbereitung auf das Leben hier in Portugal nicht nur bezahlt, sondern auch angehört habe, sind keine wirkliche Vorbereitung auf das Sprachchaos, das mich »im richtigen Leben« erwartet. Wie ich vermutet habe: Hier lernst du Portugiesisch – und zwar, indem du dich voll ins Leben stürzt. Auf der Straße, im Café, im mini mercado oder auf dem bunten Bauernmarkt, wo es alles, wirklich alles gibt.

Immer mit dicionário wenigstens in der Handtasche dabei. Und du darfst keine Scheu haben, mal was falsch auszusprechen oder etwa grammatikalisch nicht richtigzuliegen.

Wenn mein Liebster nicht Englisch mit mir spricht, sondern Portugiesisch mit mir übt, tut er das akzentuiert und in einer extrem langsamen Sprechweise (und mit kurzen Sätzen!), damit ich einigermaßen gut mitkomme (und nicht so, wie er mit seinen Freunden spricht – da verstehe ich nämlich so gut wie nichts). Und so ist der erste und wichtigste Satz in Portugal (für mich und wohl jeden anderen estrangeiro, der dieser Sprache nicht mächtig ist): Por favor, fale mais devagar. – »Bitte sprechen Sie langsamer.«

Ein Zaubersatz. Denn zumindest kurzfristig wird die Sprechgeschwindigkeit heruntergefahren. Wie gesagt: kurzfristig.

Das Problem: Sobald man ein paar Bröcklein Portugiesisch kann (und das geht ja denn doch wundersamerweise relativ schnell), nimmt dein Gesprächspartner an, du seiest dieser Sprache wirklich mächtig, und schon geht es wieder los mit dem rápido. Selbst heute noch, nach acht Jahren Leben in Portugal. Bei mir ist das sogar extrem, denn ich neige auch im Deutschen zum Schnellsprechen und etwas Nuscheln. Das gefällt den Portugiesen, da glauben sie gleich beim kleinsten Smalltalk-Sätzchen, ich würde perfekt in der Landessprache parlieren. Kann ich aber nicht, bei Weitem nicht. Und so stehe ich immer noch und immer wieder relativ hilflos einem Wortschwall gegenüber. Allerdings mittlerweile mit wesentlich mehr Selbstbewusstsein als anfangs.

Ich traue mich draufloszureden. Es kümmert mich nicht mehr, ob ich Fehler mache. Mir fehlt ein Wort, ein Spezialausdruck? Ich habe gelernt zu umschreiben und setze außerdem Gestik und Mimik ein. Und lerne auf diese Weise immer noch dazu.

Selbstverständlich gibt es in Portugal – wie überall auf der Welt – zudem noch Dialekte. Ein Hamburger hat ja Probleme, einen Bayern zu verstehen. Und als »Hochportugiesisch« sprechender Ausländer werden Sie beispielsweise schon im südlich von Lissabon liegenden Alentejo auf Verständigungsprobleme stoßen. Sie werden in den Dörfern dort nichts, aber auch gar nichts mitbekommen. Umgekehrt ist es natürlich genauso: So mancher Deutsche, der sich in dieser schönen, aber sehr ländlichen Region Portugals niedergelassen hat und meint, Portugiesisch sprechen zu können, stößt auf sprachliches Unverständnis, wenn er in der Hauptstadt oder noch weiter nördlich nur nach dem Weg oder der Uhrzeit fragt.

Glauben Sie übrigens nicht, dass Ihnen das Portugiesische leichter fällt, wenn Sie bereits Spanisch, Italienisch oder Französisch sprechen. Vom Lesen her und dem daraus folgenden Verständnis mag das stimmen, okay. Aber wehe, die Einwohner dieses hübschen kleinen Landes machen den Mund auf und sprechen mit Ihnen …

Ich lebe kurz nach der Ankunft im »Gelobten Land« in der Hoffnung (oder ist es eher im Wahn?), dass ich mit der Bitte um mais devagar – bitte langsamer! – auf Verständnis stoße. Dass ich nach dem Zaubersatz wenigstens jedes zehnte Wort mitbekomme und mir den Rest zusammenreimen kann. Das klappt ganz gut, wenn man weiß, worüber der andere spricht. Klappt leider gar nicht beim Friseur, denn da spricht man ja bekanntlich über alles Mögliche. Und es nervt enorm, wenn man so ganz und gar nichts mitbekommt, wenn António mit seinen Freunden und meinen neuen Bekannten plaudert. Ich kann ja auch nicht verlangen, dass die immer alle Englisch reden.

Nach gut einem Monat bin ich so weit: Ich weise meinen inneren Schweinehund, der gern das Leben genießt und lieber an den Strand will, in die Schranken. Und melde mich zu einem Sprachkurs an. Weil ich möglichst schnell möglichst viel lernen will, buche ich zunächst einen fünftägigen Crashkurs: Privatlehrerin, Mini-Gruppe (zunächst sind nur zwei Leutchen angemeldet). Das Ganze findet bei uns um die Ecke statt, direkt in São Domingos de Rana. Nach einer Woche ist mir allerdings klar: Ich bin nicht nur äußerlich, sondern leider auch innerlich blond.

Hier mein kurzes Sprachkurs-Tagebuch.

Tag eins

Montagmorgen um neun Uhr geht es los. Wir sind nun doch drei Schülerlein und eine Lehrerin, Ana Miranda, die Portugiesin ist, aber lange in Deutschland gelebt hat. Schon nach den ersten Minuten, in denen wir nämlich noch Deutsch sprechen dürfen, stellt sich heraus: Wir alle stammen mais ou menos (ein Begriff, den ich fast als Erstes gelernt habe, noch auf Madeira: »mehr oder weniger«) aus Bayern. Ich ja sowieso, und die beiden anderen aus der Oberpfalz beziehungsweise aus der Nähe von Linz, was zwar in Österreich liegt, aber sprachlich gesehen dem Bayrischen nicht unähnlich ist. Emma ist Grundschullehrerin und für ein Jahr mit ihrem Mann nach Portugal gekommen; Andreas macht in Portugal drei Wochen Urlaub und möchte eine Woche davon nutzen, um ins Portugiesische reinzuschnuppern.

Leider kann Andreas einigermaßen gut Spanisch, denn er hat ein Jahr in Mexiko und Peru gearbeitet, und das bringt uns Mädels dazu, ihn mit Argusaugen zu betrachten und ihm mit Luchsohren zuzuhören, und jegliche, aber auch jegliche spanische Anwandlung seinerseits bezüglich Wortschatz mit dem Ausruf »Angeber!« oder »Streber!« zu unterbinden. Das Schöne an der Sache: Er spricht manches portugiesische Wort so aus, dass wir so ganz nebenbei ein paar schlimme Wörter lernen, die feine Damen eigentlich nicht kennen sollten …

Jeden Tag von 9.30 Uhr bis 12.30 Uhr ist Unterricht. Auf Portugiesisch. Deutsch nicht erlaubt! Danach TPC, was leider nichts Unanständiges ist, sondern schlicht und ergreifend Trabalhos Para Casa heißt, übersetzt also »Hausaufgaben« – was das Leben am Nachmittag nicht gerade einfacher macht. Nichts da mit Freizeit oder gar Faulenzen am Strand! Andererseits kann man beim Telefonat mit Deutschland toll angeben, dass man heute TPC gemacht hat.

Resümee von Tag eins: Ich habe das Gefühl, Portugiesisch ist gar nicht so schwer. Ich kenne jetzt die Wochentage, die Monate und kann rein theoretisch bis 1000 und mehr zählen. Und die Uhrzeit weiß ich jetzt auch.

Tag zwei

Leider bekommen wir heute eine Liste mit unregelmäßigen Verben, die wir möglichst schnell können sollen. Und Ana Miranda hat angefangen, Fragen auf Portugiesisch zu stellen. Die sollen wir natürlich auf Portugiesisch beantworten. Ich merke deutlich: Ich bin doof.

Tag drei

Wir lernen Kleidungsstücke sowie »Essen und Trinken«. Dazu noch die Liste mit den unregelmäßigen Verben im Imperfekt. Andreas zeigt sich als Genie, während Emma und ich zu der Ansicht gelangen: »Wir sind ja nicht unter Druck, wir können uns ja Zeit lassen. Wir müssen ja nicht in einer einzigen Woche Portugiesisch lernen.«

Als TPC sollen wir aufschreiben und erzählen, was wir den ganzen Tag über gemacht haben.

Tag vier

Ana Miranda geht unsere Hausaufgaben durch. Ich hab meine zwar alleine gemacht, aber den hauseigenen Portugiesen drüberschauen lassen. Was Ana Miranda aber nicht direkt bemerkt, denn sie findet trotzdem eine Menge Fehler (da werde ich doch abends mal nachhaken!). Ich komme zu der Überzeugung: Leider bin ich nicht nur äußerlich, sondern auch innerlich blond, und vor allem in der Nähe des Hirns, so welches vorhanden sein sollte. Daran zweifle ich nämlich immer mehr. Und: Wieso kann ich mir einfach nicht merken, was 500 und was 50 heißt?

Tag fünf

Okay, okay – die Uhrzeit beziehungsweise das Fragen danach ist kein Problem mehr, Früchte und Gemüse und Essen und Trinken (claro!) ebenfalls nicht. Über die Verben möchte ich vornehm den Mantel des Schweigens breiten. Dafür aber kenne ich die einzelnen Zimmer und die Einrichtung eines Hauses. Ana Miranda meint: Nach fünfzehn Stunden sind wir schon ganz schön weit! Und sie möchte wissen, wie wir weitermachen wollen, wenn wir überhaupt wollen. Ich will, und Emma auch. Also: Ab nächster Woche zweimal zwei Stunden. Leider gibt es deshalb auch gleich wieder TPC: Zehn Sätze sollen wir schreiben mit den vermaledeiten Präpositionen, die ich mir wohl im Leben nicht merken werde. Ich hasse es, aber vielleicht nutzt es ja doch etwas …

Aber jetzt ist erst einmal Wochenende angesagt – fim de semana. Und das möchte ich mit meinem Schatz genießen. Wobei sich Tó als ausgesprochen fieser Mensch entpuppt: Er hat nämlich angefangen, zu Hause mehr und mehr Portugiesisch zu sprechen, also muss ich sprachlich wirklich mitziehen.

So langsam wird das Leben in Portugal leichter, sprachlich gesehen: Smalltalk in der Schlange an der Kasse geht ebenso gut wie Einkaufen, Bestellungen im Restaurant, ja, ich traue mich sogar, hin und wieder ans Telefon zu gehen, obwohl ich die Nummer im Display nicht kenne und demzufolge befürchten muss, einen unbekannten und womöglich auch noch Portugiesisch sprechenden Menschen am anderen Ende der Leitung zu haben. Die Lehrerin allerdings habe ich gewechselt. Auf Empfehlung eines Bekannten, der schon länger hier wohnt und meinte: »Ich finde, du brauchst Einzelunterricht! Du willst ja möglichst schnell sprechen können – und das kannst du eher, wenn du nicht strikt nach Lehrbuch vorgehst, sondern genau das machst, was du im Alltagsleben wirklich brauchen kannst!«

So treffe ich auf Dona Carmo. Ein zierliches Persönchen, aber eine knallharte Lehrerin. Die mir aber nicht nur sprachlich sehr auf die Sprünge hilft, sondern vor allem auch mit den kleinen Feinheiten der Portugiesen im Umgang miteinander. Das ist nämlich eine Wissenschaft für sich. António kann mir da kaum weiterhelfen: Er hat zwar selbst lange Jahre im Ausland gelebt. Dennoch ist für ihn vieles selbstverständlich und damit schwer erklärbar. Vieles ist einfach »in einem drin«, von klein auf hat man es nicht anders gelernt. Bestimmte Gesten etwa. Da stutze ich manchmal schon.

Portugiesen zählen beispielsweise anders, wenn sie die Finger zu Hilfe nehmen. Hier fängt man nicht mit dem Daumen an und zählt wie wir Deutschen mit Zeigefinger und Mittelfinger »auf Drei«. Sondern es geht von hinten nach vorne: Der kleine Finger ist die Eins, der Ringfinger die Zwei, der Mittelfinger die Drei, der Zeigefinger die Vier, der Daumen die Fünf. Und den Daumen nimmt man zum Deuten. Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, wusste ich gar nicht so recht, was das sollte. Und hielt es zunächst für eine individuelle, aber durchaus elegant wirkende Macke meines Liebsten. Bis ich merkte: Das machen die hier alle so.

Eine Geste lerne ich sehr schnell. Und zwar beim Besuch meiner »Schwiegermutter«, Dona Deolinda. Ich wundere mich zwar, warum sowohl António als auch sein Sohn Pedro nach dem Essen begeistert ihre Ohrläppchen reiben. Sicher so ein Vater-Sohn-Gag, denke ich, während ich mühsam einen portugiesischen Satz zusammenstopple, mit dem ich Dona Deolinda sagen kann, wie gut mir alles geschmeckt hat. Ich lerne: Ohrläppchen reiben ist das Zeichen für »hat gut geschmeckt«. Klar, dass ich das nun sowohl im eigenen Heim, wenn António kocht, bei Freunden, aber auch im Restaurant liebend gern anwende.

Richtig kompliziert aber wird es beim Verhalten im portugiesischen Alltagsleben, und ich bin meiner Lehrerin Dona Carmo bis heute dankbar, was sie mir da so alles neben dem Pauken von unregelmäßigen Verben und Präpositionen beibringt. Das ist beinahe wichtiger, als einigermaßen perfekt sprechen zu können. Zumindest dann, wenn man nicht in jedes Fettnäpfchen treten will – und davon gibt es reichlich. Zwar wäre jeder Portugiese zu höflich, einen anderen – zudem noch einen estrangeiro – darauf hinzuweisen, dass er sich da gerade danebenbenommen hat. Aber natürlich ist es besser, Fallstricke zu kennen und gar nicht erst zu stolpern.

Wichtig, aber kaum zu verstehen: com licença. Ich muss viele Male genau hinhören, und schaffe es nie, diese paar Silben zu erkennen und richtig einzuordnen. Sie wissen ja: die portugiesische Nuschelei. Meist kommt nur ein Gezischel bei mir an. Irgendwann aber klärt Dona Carmo mich auf: Es heißt so viel wie »mit Ihrer Erlaubnis« und entspricht unserem förmlichen »gestatten Sie bitte«. Die Portugiesen zischeln com licença ständig: wenn sie im Menschentrubel auf einem Zigeuner- und Bauernmarkt einfach nur durchkommen wollen, wenn sie neben einem in der U-Bahn Platz nehmen, wenn sie im Supermarkt an einem vorbeimöchten. Und das für mich Interessanteste: wenn sie ein Telefongespräch beenden. Sozusagen als Abschiedsformel à la: »Ich leg jetzt auf – gestatten Sie bitte!«

Dazu passt dann, dass jeder Portugiese es als grobe Unhöflichkeit empfindet (mir das aber nie sagen würde – das muss erst António tun), wenn man nach einem gemütlichen Abendessen seine Gäste zur Tür bringt und nach der immer etliche Minuten, auch schon mal eine Viertelstunde andauernden Verabschiedung einfach die Tür schließt, weil man glaubt, dass es eben jetzt doch endgültig das letzte »Tschüs, bis morgen!« war. Das darf man als gut erzogener Portugiese nämlich erst, wenn die Gäste außer Sichtweite sind. Und dann natürlich mit dem gezischelten com licença

In Deutschland fand ich es immer schlimm, wenn Ausländer einfach geduzt werden – weil man sich nicht anders zu helfen weiß und man annimmt, so sei es für einen Sprachunkundigen leichter verständlich. Aber hier in Portugal? Da mutiert man als Normalbürger ganz schnell zur Exzellenz. Selbst als Ausländer. Die ersten Briefe, die an mich im Postkasten liegen, entzücken mich wirklich: Sie sind adressiert an Excelentíssima Senhora Christina Franziska Maria – ohne Familiennamen. Und von wem kommen solche Schreiben? Von meiner Bank. Oder von der edp (was die Stromwerke beziehungsweise Energieversorger sind). Oder von den finanças, dem Finanzamt – da könnten sich unsere Finanzbehörden in Deutschland mal ein Beispiel nehmen! Das Erstaunlichste – selbst ohne den vollständigen Namen kommt alles an!

Exzellenz ist man also schnell – und ebenso schnell lässt man hier den Familiennamen weg. Jeder weiß, wer Dona Maria oder Sô Vitor ist. Selbst wenn ich bei der Kurzform »Sô« (von senhor) viele Male und bis ich endlich nachgefragt habe, ein steif-britisches, aber natürlich portugiesisch genuscheltes »Sir« verstehe. Und mich über die Maßen wundere, was das denn jetzt soll.

Selbst in der Ausländerbehörde, die SEF heißt (Serviço de Estrangeiros e Fronteira, in etwa »Dienst für Ausländer und Grenze«), bleibt man höflich: Beim Beginn des ersten Besuchs bist du noch die senhora estrangeira – also »Frau Ausländerin«. Und das hat nichts, aber auch gar nichts Abwertendes. Man möchte nett und vor allem höflich sein, weiß aber deinen Namen nicht; also behilft man sich eben so.

Im Verlauf eines Behördengangs – ob bei Gemeinde, Post, Bank oder einer anderen offiziellen Stelle – werde ich dann offiziell zur senhora Christina Zacker. Und am Ende des Besuchs beziehungsweise bei Abschluss des amtlichen Vorgangs bin ich beim Sachbearbeiter endgültig zur Dona Cristina mutiert. So nennen mich aber auch Postbote, Marktfrau, Gas-, Wasser- und Stromableser. Die Bedienung im Café, wo ich täglich meinen meia de leite schlürfe, sowieso. Endlich habe ich es geschafft: Ich bin eine »gnädige Frau«.

Portugiesen lieben Titel: Eine ganz normale Lehrerin wird hier mit senhora doutara professora angesprochen. Anfangs ist das ziemlich verwirrend, bis ich mitbekomme: Das hat nichts damit zu tun, dass sie sich für eine Professorin und damit für etwas Besonderes hält. Sondern damit, dass professora im Portugiesischen schlicht und ergreifend »Lehrerin« bedeutet. Die Schüler übrigens zeigen wenig Respekt: Sie kürzen (und nuscheln) das einfach zu stora ab. Den »echten« Universitätsprofessor bezeichnet man übrigens genauer – als professor universitário.

Den ehrfürchtig anzusprechenden »Herrn Doktor« (senhor doutor) kenne ich ja noch aus meiner Kindheit. Den »Herrn Ingenieur« (senhor engenheiro) eher weniger – und wenn, dann aus dem Skiurlaub in Österreich. Hier wie dort legt jeder großen Wert darauf, entsprechend angeredet zu werden. Senhores doutores gibt es in Portugal übrigens zuhauf. Das liegt aber nicht daran, dass hier jeder promoviert, sondern dass man sich bereits nach dem Staatsexamen (licenciatura) so nennen darf.

Nur am Telefon sind die Portugiesen alle gleich: Sie melden sich lediglich mit estou oder estou sim (ausgesprochen »schto« oder gar nur »to« – Sie erinnern sich: das Anfangs-E!). Das heißt lediglich »ich bin es« beziehungsweise »ich bin es – ja?«. Wer es dann ist – das muss man dann selbst herausfinden!

Wirklich monatelang bin ich der festen Überzeugung gewesen, dass António sich am Telefon mit der Kurzform seines Namens meldet. Die heißt nämlich ebenfalls »Tó« und wird genauso ausgesprochen wie das estou. Ich merke erst, dass es sich um das portugiesische »ich bin’s« handelt, als der Techniker von der PTelecom sich bei seinem Kontrollanruf eben mit diesem estou meldet. Der Himmel bewahrt mich davor, diesen Herrn in einen Smalltalk zu verwickeln und darauf hinzuweisen, dass er ja wohl den gleichen Vornamen trägt wie »mein« António …

Portugiesen gelten wirklich als ganz besonders höflich. Zumindest die im Zentrum und im Süden des Landes. Seine Landsleute im Norden allerdings, so sagt António und manch anderer, der nicht von da kommt, seien ruppiger und neigten zu rüdem Sprachgebrauch. Den verstehe ich glücklicherweise allerdings nur rudimentär. Beim Fußball jedoch sind alle Portugiesen außer Rand und Band – ob im Norden oder Süden, ob auf dem Land oder in der Stadt. Ohne Ausnahme.

Kleine Notiz am Rande

Mit meinem Liebsten gehe ich ganz am Anfang mal ins Estádio da Luz – das Stadion des Lichts. Allzu hell leuchtete es da allerdings nicht: Erstens spielte »sein« Verein an diesem Tag nicht besonders gut; zweitens führte das dazu, wie ich mit leichter Verspätung, dann aber mit umso mehr Vergnügen feststellte, dass António die Situation höchst peinlich wurde. Rund um uns sitzen nämlich fanatische Benfiquistas (also Anhänger des SL Benfica, dem das Estádio da Luz gehört). Von denen wird die gegnerische Mannschaft, der FC Porto, der Intimfeind Benficas, aufs Wüsteste beschimpft. Ein paar Ausdrücke verstehe sogar ich: Filho da puta, also Hurensohn, ist noch eines der harmloseren Schimpfworte. António beschwört mich, so etwas bitte niemals im Privaten zu gebrauchen. Nicht mal beim Autofahren.

Wenn man ein paar Brocken Portugiesisch kann, hat man die besten Chancen, wirklich gut bei seinem Gegenüber »anzukommen«. Ich merke das daran, dass ich beim Treffen mit wildfremden Menschen, ob Männlein oder Weiblein, nach den ersten paar Worten auf Tuchfühlung gehen muss. Oder besser darf? Egal: Es ist schon ein wenig befremdend, selbst wenn man aus der Bussi-Bussi-Hauptstadt München kommt, dass einen sowohl Chefs (in dem Fall der von António) als auch Makler (bei unserer Wohnungssuche) oder Bankangestellte (nach Einrichtung des Kontos und Abschluss einer Versicherung) beim zweiten Treffen nicht mit Handschlag, sondern mit Küsschen begrüßen. Oder sie warten gar nicht mal das zweite Treffen ab – wie unsere Maklerin –, sondern küssen schon bei der Verabschiedung nach dem ersten Treffen.

Beim förmlichen »Sie« dagegen bleibt man – merkwürdigerweise und für mich sehr ungewohnt – lange: Ich kenne jetzt, nach fast acht Jahren im Lande, etliche Portugiesen, denen ich herzlich verbunden bin – trotzdem siezen wir uns. Auch untereinander neigen die Portugiesen nicht sofort zum »Du«. Es gibt Nachbarn, die sprechen sich zwar mit Vornamen an; aber sie sagen nach zwanzig Jahren enger Nachbarschaft, mit gemeinsamen sardinhadas und anderen kulinarisch-festlichen Vergnügen, immer noch »Sie« zueinander. Da lauert für mich so mancher Fettnapf. Vor allem auch deshalb, weil ich ja mit meinem Liebsten Englisch spreche und wir Deutschen das »you« ja gern mit »Du« gleichsetzen.

Ebenfalls immer wieder erstaunlich für mich: Selbst innerhalb der Familie siezt man sich oft. António etwa sagt »Sie« zu seiner Mutter, Dona Deolinda findet das völlig normal. Und ich lerne, auch im Unterricht von Dona Carmo: Man zeigt Respekt und Ehrerbietung durch das »Sie«. Man zeigt das aber auch, indem man ältere Damen nicht lediglich mit Dona anspricht, sondern sie mit Senhora Dona tituliert.

Meine Beinahe-Schwiegermutter freut sich sichtlich, als ich das ausprobiere und beim nächsten Besuch Senhora Dona Deolinda zu ihr sage. Selbst wenn sie das natürlich mit einer abwehrenden, aber herzlichen Geste begleitet. Denn selbstverständlich darf ich »nur« Dona Deolinda, ja noch besser: wie ihr Sohn António mãe zu ihr sagen. Bei der förmlichen Anrede aber bleibt es.