Countdown nach Portugal
Der Entschluss ist also gefallen: Auf geht’s nach Portugal!
Nachdem ich endlich wieder meinen eigentlichen Beruf ausübe, nämlich als Buchautorin zu arbeiten, ist mir der Entschluss leichtgefallen: Wo ein PC mit Internetanschluss zu finden ist, kann ich recherchieren und schreiben. Will ich zwar oft nicht, aber das ist leider nicht die entscheidende Frage. Ich buche Flug und Mietwagen für zwei Wochen, rund um Ostern. Erstens, um meinen Liebsten zu treffen. Und zweitens, um eine hübsche Wohnung für uns beide zu finden.
In Deutschland fängt man langsam an, Ostereier zu verstecken, damit die Kinder etwas zu suchen haben. In Portugal dagegen versteckt man Wohnungen, damit António und ich etwas zu suchen haben. Gar nicht so einfach, eine einigermaßen erschwingliche Mietwohnung zu entdecken. Die Portugiesen mieten und vermieten nämlich nicht gern. Sie kaufen lieber. Was bedeutet: »Kinder«, die gern schon mal dreißig sind, wohnen bei den Eltern, bis sie heiraten und es sich leisten können, eine eigene Wohnung oder gar ein Haus käuflich zu erwerben.
Unser erster Anlauf: António schaut mal in die Zeitung. In die richtige. Nicht in seine Lieblingszeitung, die A Bola (»Der Ball«) heißt, und sich beinahe ausschließlich mit Fußball, und zwar in allererster Linie mit »seinem« Verein SL Benfica beschäftigt. Kaum zu glauben, dass es in Portugal drei täglich erscheinende Sportzeitungen gibt, deren Hauptthema – natürlich – Fußball ist. Doch das ist eine ganz andere Geschichte …
Zurück zur Wohnungssuche. Ein paar Angebote finden wir im Diário de Notícias. Bloß müssen wir uns erst einmal darüber klar und vor allem einig werden: Was suchen wir genau? Wo wollen wir wohnen? In der Stadt – also Lissabon? Oder doch ein bisschen außerhalb? Und wenn außerhalb: eher westlich oder östlich von Portugals Hauptstadt?
Nach einer kurzen Erkundungsfahrt in Richtung »östlich« ist für mich die Sache klar: Dort will ich auf gar keinen Fall hin. Hässliche Hochhäuser gibt es da, alles sieht etwas verwohnt aus, und grün ist es, zumindest auf den ersten Blick, so ganz und gar nicht. Insgeheim träume ich von einem Häuschen am Meer. Wenn es kein Häuschen wird, dann doch bitte wenigstens ein schickes Apartment mit dem viel gerühmten Blick auf den Atlantik. Oder wenigstens auf den Tejo, der in Lissabon in den Ozean mündet.
António meint: »Lass uns doch mal direkt in Lissabon schauen. So eine Wohnung mitten in der Stadt – da hätte ich es halt nicht weit zur Arbeit. Und danach, wenn wir wirklich wollen, können wir immer noch umziehen.«
Ich habe stark den Eindruck, dass mein hauseigener Portugiese nicht mehr so recht weiß, was alles in meiner deutschen Wohnung steht. Und was vor allem alles – nach dem Ausmisten und Verschenken – für den Umzug nach Portugal immer noch übrig bleibt. Mittlerweile bin ich in meinem Leben fast ein Dutzend Mal umgezogen. Ich bin sozusagen Umzugsexpertin. Als Studentin stemmt man das ja alleine, mit ein paar Freunden. Da braucht man noch keine Spedition.
Später dann, im Berufsleben, hat man dann manchmal die ausgesprochen angenehme Situation, dass ein Arbeitgeber einen unbedingt haben möchte, dass er nicht nur Makler und Wohnungssuche bezahlt, sondern dazu auch noch die Spedition für den Umzug. Mit anderen Worten: Man schleppt nicht mehr selbst. Man lässt schleppen.
Beim Umzug nach Portugal wird das genauso sein. Dennoch muss eben alles vorher aussortiert und der »Rest« gepackt werden. Das nimmt mir leider niemand ab.
Die erste Wohnung »mitten in der Stadt« befindet sich im Lissabonner Stadtteil Benfica. Ein kleiner Platz, in den drei Straßen münden.
Kein Baum, kein Strauch – und auch kein einziger freier Parkplatz weit und breit. Ich bekomme allerdings mit, dass sich António und der Vermieter ausführlich darüber unterhalten, ob wohl schon bald die Metro von hier zum Estádio da Luz führen wird. Das ist – rein zufällig – das Stadion von genau dem Verein, dem António zujubelt. Aber okay – als erste Option schauen wir uns die Wohnung an. Wenn sie innen einigermaßen ansehnlich ist …
»Einmal müssen wir ja anfangen«, seufzt António.
Es ist – ein Schock. Klein, obwohl es drei Zimmer sind. Keine Ahnung, wo ich da meine Möbel und vor allem meine circa 3000 Bücher unterbringen soll. Von Antónios Sachen ganz zu schweigen.
Meerblick? Keine Spur. Überhaupt ein Ausblick? Fehlanzeige.
Die nächste Hauswand ist gerade mal zwei oder drei Meter entfernt. So ist dafür gesorgt, dass die Wohnung ziemlich dunkel ist.
Einen Balkon gibt es nicht. Wozu denn auch? Das Meer ist ja eh nicht zu sehen. Und dem Nachbarn auf den Teller zu schauen beziehungsweise sich selbst draufschauen zu lassen – das ist nicht mein Ding. Antónios glücklicherweise ebenfalls nicht. Allerdings reizt ihn die Nähe zum Stadion.
Das einzig Positive: Die Wände sind mit wunderschönen Fliesen bedeckt, da geht mir fast das Herz auf. Vor allem, weil es alte und wohl handbemalte azulejos sind. Beinahe werde ich schwach. Dann aber stelle ich mir vor, dass ich hier tagein tagaus leben und vor allem arbeiten soll.
Freundlich, aber bestimmt gebe ich bekannt: »Das ist nicht so ganz, was ich mir vorgestellt habe.« Also auf zum nächsten Besichtigungstermin.
Es geht gerade so weiter: Alles, was wir selbst aus der Zeitung fischen, ist ein Fehlschlag. Nichts dabei, wo wir uns auf Anhieb wohlfühlen, selbst wenn wir natürlich wissen, dass wir Kompromisse eingehen müssen. Man kennt das ja von der Wohnungssuche in Deutschland: Die Beschreibung in der Anzeige oder beim Telefonat mit dem Vermieter entspricht in den seltensten Fällen der Realität.
Eine Chance geben wir uns noch: eine Wohnung in Cascais. Der kleine Ort liegt zwar knapp zwanzig Kilometer von der Hauptstadt entfernt. Aber wenigstens direkt am Meer. Und es gibt eine sehr gute Bahnverbindung nach Lissabon. António erklärt sich bereit, Pendler zu werden. Nachdem es in der Stadt eh kaum Parkplätze gibt.
Unser Treffpunkt ist neben einem großen Supermarkt. Leicht zu finden, auch den Vermieter erkennen wir auf Anhieb. Ein alter Herr, der einen sehr sympathischen Eindruck macht. Wir sollen ihm folgen – er fährt voraus.
Ich lerne die typisch portugiesische Fahrweise kennen: mit Highspeed durch enge Gassen, über verkehrsreiche rotundas (ohne zu blinken, natürlich), bergauf und bergab. Und das alles von einem scheinbar seriösen Senioren in einem betagten Mercedes Benz. Wir kommen kaum hinterher, sehen ihn aber gerade noch direkt vor einer prachtvollen Apartmentanlage einparken.
Palmen wiegen sich im Wind. Balkone zeigen sich mit schmucken Markisen. Ein Gärtner huscht durch gepflegte Blumenrabatten. Ich meine, das Türkisblau eines Pools durch die Hecke schimmern zu sehen. Man könnte sogar vielleicht einen Blick auf ein Stückchen Atlantik erhaschen. Ach wie schön …
Die Realität holt uns wieder ein.
Die Wohnung, die zur Vermietung steht, befindet sich nämlich nicht in dieser herrlichen Anlage. Sondern gegenüber. Und da sieht es ganz und gar nicht wundervoll aus: mehrere Hochhäuser aneinandergereiht, gut zehn Stockwerke hoch, ein wenig heruntergekommen.
Anschauen kann mans ja mal. Immerhin sind es zum Meer und damit zum Strand zu Fuß nur knapp zehn Minuten, man hat den Blick auf die gegenüberliegenden Palmen – vielleicht ist es ja doch was. Positiv ist in jedem Fall, dass die Miete wirklich spottbillig ist. Im Gegensatz zumindest zu der Wohnung, mit der António in Benfica liebäugelte, die ein dunkles Loch war und trotzdem fast tausend Euro kosten sollte. Kaltmiete. Selbst wenn es hier im Gegensatz zu Deutschland viel weniger Nebenkosten gibt – das war dann doch zu viel. Bei dieser hier liegt der Mietpreis weit darunter. Und sie hat sogar einen Garagenplatz.
Aber schon beim Betreten des Hauses weiß ich: Das wird nichts. Hier werde ich mich nie und nimmer wohlfühlen. Wie in einem dunklen, riesigen Bienenstock sieht es hier aus. Manche Wohnungen haben sogar Fensteröffnungen zur Treppe hin – merkwürdig irgendwie. Außerdem mieft es enorm: Kochen die heute alle Kohlsuppe? Ich mag caldo verde ja auch – aber in der Nase haben muss ich dieses leckere Süppchen ja nun nicht ständig …
Es ist also düster, riecht nicht gut – und als der Vermieter die Wohnungstür öffnet, trifft mich beinahe der Schlag: Der Architekt (oder war es der Vermieter selbst?) hat als besonders dekorative Variante der portugiesischen Fliesenkunst in die winzigen Räume riesengroß gemusterte, in Braun-Beige-Grün-Tönen gehaltene Fliesen anbringen lassen. Bis etwa Kopfhöhe. In jedem Raum.
Es gibt zwar einen Balkon, aber der ist winzig und schwebt über der viel befahrenen Hauptstraße. Und das Meer würde man nur sehen, wenn man auf Zehenspitzen auf der Brüstung balanciert. António und ich sind uns einig: »Das geht gar nicht!«
Langsam wird die Zeit knapp: Eine Woche ist nämlich schon vorbei, in vier Tagen ist Ostern. Bleibt uns also nichts anderes übrig, als einen Makler aufzusuchen. Ich habe allerdings eine natürliche Scheu davor, jemandem Geld in den Rachen zu schmeißen, der dafür »eigentlich« nichts tut.
António versteht gar nicht, was ich meine:
»Wieso willst du den Makler bezahlen?«, fragt er verblüfft.
Ich bin genauso verblüfft: »Weil das so üblich ist?«
»Ja aber – den zahlt doch der Vermieter.«
»Wie – den zahlt der Vermieter? Aber in Deutschland …«
»Wir sind nicht in Deutschland, querida. In Portugal ist das anders!«
Mir fällt ein Stein vom Herzen. Also auf – zum Makler!
Treffpunkt: ein kleines Café in Parede.
Mittlerweile haben wir davon Abstand genommen, uns in der Nähe von Lissabon eine Wohnung zu suchen. Sondern wir haben uns für die linha entschieden; das ist die Strecke zwischen Lissabon und Cascais. Nicht nur weil es hier ganz gute Angebote zu geben scheint, sondern weil das Meer so nahe ist, Einkaufsmöglichkeiten ohne Ende vorhanden sind (für den normalen Bedarf, wir reden hier nicht unbedingt von schicken Shoppingtouren) und António problemlos mit dem Vorortzug zur Arbeit kommt. So kann ich tagsüber mit dem Auto die Gegend erkunden und meine neue Heimat kennenlernen. Auch Parede liegt an der linha. Ein hübscher Ort, in dem alles zu finden ist, was man so braucht. Cafés, eine kleine Markthalle, mini mercados, Restaurants, Friseure, Lottogeschäft – kurzum: eine gewachsene Struktur, in der ich mich durchaus wohlfühlen könnte.
Und zum Meer? Maximal fünf bis zehn Minuten! Zu Fuß!
Ich sehe mich schon den abendlichen Wein mit Blick auf den Sonnenuntergang überm Atlantik schlürfen …
Pünktlich stürmt eine kleine, quirlige Dame ins Café Astória: Dona Clara, die Maklerin, mit der António gestern einen Termin vereinbart hat. Schnell bestellt sie sich noch eine bica, eine portugiesische Espressovariation, und dann geht es los. Sie hat eine ganze Menge zu bieten: Insgesamt vier Wohnungen werden wir uns allein heute Nachmittag anschauen. Wir fahren wieder im typisch portugiesischen Fahrstil hinter der Maklerin her: durch enge Gassen, über verkehrsreiche rotundas (ohne zu blinken, natürlich), bergauf und bergab. So gelangen wir nach der dritten Besichtigung nach São Domingos de Rana. Das liegt zwar etwas weiter weg vom Meer: mit dem Auto wohl zehn Minuten. Dafür aber ist diese letzte Wohnung, die Dona Clara uns heute zeigt, endlich mal so, wie ich es mir vorstelle: »ein T3«, wie António und die Maklerin begeistert kommentieren. Ich zähle zwar vier Zimmer – was meinen die beiden bloß immer mit diesem »T und eine Nummer dazu«?
António klärt mich auf: »Hier zählt man nur die Schlafzimmer. Jede ordentliche Wohnung hat nämlich ein Wohnzimmer – sala –, eine Küche und natürlich das Bad. Mindestens eines. Ein T3 ist in Deutschland also eine Vierzimmerwohnung.«
Aha – wieder was gelernt.
Kleine Notiz am Rande:
Es gibt auch etwas für mich völlig Unerklärliches. Nämlich ein »T0«.
Was – bitte schön – soll das sein?
Eine Wohnung mit keinen Zimmern? Ein noch zu bauendes Apartment? Ein Luftschloss?
Nein – so heißt in Portugal ein Einzimmerapartment mit Kochnische und Bad oder Dusche. Übrigens kennt man hier sogar halbe Zimmer: Das sind Wohnungen, in denen sich ein Raum ohne Fenster befindet. Oder ein Zwischengeschoss, etwa eine Galerie, die man nutzen kann. Das lerne ich aber erst ein paar Jahre später, als ich wieder mal umziehe …
120 Quadratmeter. Keine hässlichen Fliesen an den Wänden. Eine ruhige kleine Wohnanlage. Zwei kleine Balkone – na ja, der eine ist eher ein Mauervorsprung. Aber für ein paar Pflanzen reicht es. Auf dem anderen kann man zu zweit sitzen. Sogar eine Mini-Grünfläche ist vor dem Haus, mit ein paar Bäumchen drauf, die sicher noch wachsen werden. Immerhin sind es Palmen – das ist doch schon mal was! Ich habe mein Portugal-Gefühl wieder.
Supermarkt und vor allem ein Café – unerlässlich für jeden Portugiesen und bald auch mich – sind zu Fuß gut erreichbar. Selbst wenn das Ganze eher eine »Schlafstadt« zu sein scheint: Hier könnte es mir gefallen.
Es kommt mir sogar richtig edel vor: allein die Schließanlage! Ich fühle mich beinahe wie in einem Luxusapartment im Nobelviertel Münchens. Ich habe noch nie eine Wohnung mit eingebautem Safe gehabt. Die Böden sind aus Marmor, wir haben zwei Bäder und ein extra Gäste-WC. Dunkle Holztüren mit geschliffenem Glaseinsatz, eine Traumküche mit allen Schikanen. Und einen offenen Kamin mit Marmorumrandung.
Leider merke ich nicht, dass der Kamin die einzige Heizung ist. António sagt ebenfalls nichts – der ist als Portugiese kalte Wohnungswinter gewohnt. Ich kenne das noch nicht, sondern bin der Überzeugung: Ich lebe ab sofort schließlich im Süden, da ist es doch wohl warm im Winter! Wenn jetzt, kurz vor Ostern, bereits sommerliche Temperaturen herrschen?
Das Beste – findet António – an der Wohnung in São Domingos ist allerdings etwas ganz anderes: Sie gehört einem ehemaligen Spieler von Benfica. Klar, dass diese Information für ihn ausschlaggebend dafür ist, dass wir sie nehmen! Bleibt nur noch zu klären, dass wir die Wohnung am liebsten leer – also unmöbliert – mieten würden.
»Hm«, Dona Clara, die Maklerin, wiegt den Kopf, »das ist jetzt ein bisschen ungewöhnlich. Normalerweise wird die Einrichtung immer mitvermietet. Aber ich schau mal, was sich machen lässt.«
Sie greift zum telemóvel, und wir haben Glück. Endlich! Der Exspieler von Benfica freut sich, dass er Mieter gefunden hat. Und er ist anstandslos bereit, seine Möbel einzulagern. Allerdings müsste er dafür den Garagenplatz verwenden. Ob das schlimm wäre? Draußen seien, so versichert er, immer genügend Parkplätze frei. Wir sollen bloß mal sagen, was wir von der Einrichtung übernehmen wollen – sicher doch wenigstens die Küche, oder?
»Genau«, sind António und ich uns einig, »die Küchenmöbel und alle Geräte bleiben bitte drin. Aber alles andere kann in die Garage«
Okay. Kein Problem.
Auch Dona Clara scheint glücklich. Denn wie sonst soll ich’s mir erklären, dass sie nicht nur António, sondern auch mich mit einer Umarmung und einem Küsschen verabschiedet? Genauso übrigens, wie sie uns beim nächsten Treffen mit einem beijinho begrüßt.
Den Vorvertrag machen wir am nächsten Tag. »Nicht vergessen«, sagt sie noch, »bringen Sie die erste Mietzahlung bitte gleich mit. Sozusagen als Bestätigung, dass Sie den Vertrag wirklich abschließen wollen. Aber keine Sorge: Damit ist die erste Miete schon beglichen.«
»Und die zweite Miete?«, fragt António.
Von welcher zweiten Miete spricht er?
»Na, das ist hier üblich«, erklärt er mir. »Du zahlst normalerweise bei Vertragsabschluss zwei Monatsmieten. Die erste wohnst du sozusagen gleich ab – im ersten Monat. Und die zweite im letzten Monat, also bevor du wieder ausziehst. Wenn wir also nicht hierbleiben sollten …«
»Genau«, bestätigt Dona Clara. »Aber mit der zweiten Miete haben wir noch ein bisschen Zeit. Erst wenn wir den Vertrag mit allen Papieren zusammenhaben, ist sie fällig.«
Das dauerte dann allerdings noch geraume Zeit. Erst einmal mussten Kopien meiner Ausweisdokumente vorliegen. Dann aber war alles unter Dach und Fach. Endlich!
Ende April ging es allmählich los. Vier Wochen später wollte ich ja auswandern. Obwohl: So richtig auswandern ist es ja im Grunde nicht, wenn man innerhalb Europas den Wohnort wechselt. Falls man nicht gerade vom nördlichsten Punkt Skandinaviens ins südlichste Dörfchen Siziliens zieht. Manchmal kommt es einem viel fremder vor, wenn man von Bayern nach Hamburg geht oder von Köln nach Österreich.
Das Wichtigste ist jetzt die Spedition. Gar nicht so einfach, da nicht nur eine vertrauenswürdige zu finden, sondern eine, deren Preisvorstellungen nicht irgendwo im Nirwana angesiedelt sind. Mal eben so einfach mit einem gemieteten und selbst gefahrenen Transporter von Deutschland nach Portugal umzuziehen – das klappt bei vielen Möbeln und vor allem Büchern leider nicht. Es sei denn, António, ich und vielleicht fünf bis zehn Freunde fahren in einer Kolonne mit mehreren Transportern. Aber als Umzugskarawane will ich eigentlich nicht unterwegs sein.
Erster Kostenvoranschlag eines örtlichen Unternehmens: mal eben 10000 Euro plus Mehrwertsteuer.
Eine schnelle Recherche im Internet ergibt: Es geht preiswerter. Viel preiswerter. Da existiert beispielsweise eine Umzugsbörse, auf der es wie bei einer Auktion zugeht. Nur umgekehrt. Das heißt: Das erste Angebot ist das höchste, und nach und nach steigern (oder besser: mindern) sich die Angebote, und es kommen preiswertere herein. Obwohl ich in Offenburg lebe, finde ich einen Umzugsunternehmer aus Berlin. Der reist zur Besichtigung an und erweist sich als echter Freak. Nicht nur, weil er seinen Hund dabeihat. Sondern auch, weil er vor der Besichtigung erst einmal die Inlineskater anschnallt und mit dem Vierbeiner eine Runde läuft.
Alles andere nimmt er ebenfalls locker. »Sie haben gar keinen richtig großen Umzug«, meint er nämlich.
»Habe ich nicht?«
»Nein«, sagt er. »Das sind höchstens sechzig Kubikmeter. Da haben wir schon ganz andere Ladungen gehabt.«
Okay – ich halte das zwar für viel, aber wenn er meint …
»Wir haben schon ganze Botschaften umgezogen – mit Akten, Büros und allen Privaträumen des Botschafters und seiner Familie. Aus Bonn nach Berlin.«
Ach, wen denn zum Beispiel so?
Leider ist Eckhard diskret und verrät weder Tratsch noch Klatsch. Obwohl er, wie er sagt, schon eine Menge zu erzählen wüsste. Bücher könnte er schreiben, sagt er. »Jetzt aber geht es erst mal um Ihren Umzug.«
Und der genaue Terminplan?
»Da stimmen wir uns noch per Mail ab. Ich komme auf jeden Fall mit einem Lkw und einem Hänger. Dann brauchen wir Leute zum Ein- und Ausladen. Hier und in Lissabon.« Darum kümmert er sich ebenfalls.
Sein Preis: unglaublich wenig. Vor allem im Vergleich zu dem Anfangsgebot. Heimlich checke ich mal im Internetportal seine Bewertungen. Schließlich will ich ja, dass alle meine Sachen heil ankommen. Aber da ist nichts Negatives zu finden. Ganz im Gegenteil. Und so steht der Entschluss fest: Mit dem machen wir den Umzug!
Anfang Mai geht es dann richtig los. Am Monatsende soll der Umzug stattfinden. Kurz vor der Europameisterschaft. Was natürlich reiner Zufall ist. António ist vor Ort in São Domingos de Rana, er wird den Spediteuren sagen, wo Möbel und Kartons verstaut werden sollen. Schließlich soll ja alles in den jeweils richtigen Zimmern stehen. Es wäre außerdem schön, wenn meine heiß geliebten Pflanzen nicht gerade tagelang in der prallen Sonne darben müssten. Ab 29. Mai hat António ein paar Tage Urlaub und fliegt nach Zürich; dann wollen wir mit meinem Autochen gemeinsam nach Lissabon. Wir wollen uns Zeit lassen, nicht rasen, sondern Strecke, Landschaft und Fahrt genießen. Langsam ankommen.
Warum António mit mir gemeinsam fährt?
Weil mal eben gut zweieinhalbtausend Kilometer ganz alleine im Auto erstens eine Riesenstrecke sind, und zweitens weil es allein schlicht und ergreifend langweilig ist.
Fünfundachtzig Kisten Bücher.
Und da wurde bereits »ausgemistet«. Von den anderen Sachen ganz zu schweigen. Man glaubt ja nicht, was sich so alles ansammelt im Laufe der Jahre.
Der Countdown beginnt.
Noch achtzehn Tage.
Jetzt geht es in die Endphase.
Alle Termine sind bestätigt.
Am Samstag und Sonntag, 22. und 23. Mai, wird gepackt und geladen.
Am Montag, 24. Mai, gehen die Jungs samt Truck und Hänger auf die Strecke. Sie rechnen mit zweieinhalb Tagen Fahrt, und da ist eine Sicherheitsspanne schon mit eingeplant: für Unvorhergesehenes wie Baustellen, Staus und Ähnliches.
Am Donnerstag, 27. Mai, wird in São Domingos de Rana ausgeladen.
Das Ganze ist so genau terminiert, weil in Deutschland Lkws an Sonn- und Feiertagen nicht fahren dürfen. Nach der ursprünglichen Planung hätte der Truck zwei Tage irgendwo in Frankreich herumgestanden. Das kostet unnötig Geld, und weil ich ja für meinen Umzug einen günstigen Preis ausgehandelt habe, stört es mich nicht, dass die Abfahrt in Deutschland einen Tag früher beginnt.
Noch fünfzehn Tage.
Mittlerweile feiere ich fast jeden Tag irgendeinen Abschied von Freunden, Bekannten, Kollegen. Unser Stammitaliener freut sich, denn er ist natürlich derjenige, bei dem wir uns immer und immer wieder treffen. Den werde ich wirklich vermissen; hierher komme ich seit fast siebzehn Jahren, irgendwie gehöre ich schon zur Familie. Stefano und Carlo sind mir samt Ehefrauen und Kindern ans Herz gewachsen. Dass Pasta & Co. in ihrem Lokal immer etwas ganz Besonderes sind, scheint beinahe nebensächlich. Trotzdem esse ich natürlich noch einmal alle meine Lieblingsgerichte. Hinterher immer einen Sambuca. Mindestens einen. Gut, dass ich in der Nähe wohne und zu Fuß nach Hause gehen kann …
Noch zwölf Tage.
Langsam werde ich ein wenig melancholisch: Einerseits freue ich mich auf mein neues Leben, auf das Abenteuer in einem fremden Land, wieder einmal – und das in meinem Alter! – etwas ganz anderes anzufangen. Andererseits bin ich traurig, viele Freunde zurückzulassen. Selbstverständlich haben wir ein Gästezimmer in Portugal, natürlich versprechen alle, den Urlaub künftig bei uns einzuplanen und vorbeizukommen.
Dennoch ist etwas ganz anderes, als mal schnell um die Ecke zu flitzen und sich mit Freunden zu treffen. Oder drei Stunden auf der Autobahn »nach Hause« zu fahren, nach Bayern, wo meine Familie lebt.
Es ist schon merkwürdig: Drei Stunden Autofahrt steckt man locker weg. Der Flug nach Portugal dauert ebenfalls nur drei Stunden – dennoch ist es eine »richtige« Reise, die man nicht eben mal spontan antritt. Gar nicht »schnell mal eben« antreten kann, wenn man nicht gerade im Lotto gewonnen hat und einem deshalb die Flugpreise egal sein können.
Noch zehn Tage.
Ich hoffe, dass mein Blues nicht noch intensiver wird. Es war schon schlimm genug, als ich am Vortag in der Firma verabschiedet wurde. Heulend stand ich da. Hundertfünfzig Leute haben geklatscht und Reden gehalten und Geschenke überreicht. Niemals hätte ich gedacht, dass man in knapp eineinhalb Jahren so viel bewegen kann und so viele »Fans« hat. Dabei war das nur ein Nebenjob. Als mir dann die »alten Hasen« noch erzählt haben, dass noch niemals jemand so verabschiedet wurde, war es endgültig vorbei mit meiner Contenance. Obwohl das natürlich meinem Ego ein bisschen guttut. Muss ich zugeben.
Natürlich sind manche ein bisschen neidisch: Schließlich wohne ich künftig da, wo andere Urlaub machen. Am Meer. Im Süden. Wo es immer warm und schön ist.
Noch neun Tage.
Ich zähle beinahe schon die Stunden. Komme mir vor wie bei der NASA. Sitze zwischen täglich höher werdenden Kistenbergen.
Ja, es sind wahre Berge: mittlerweile fünf, sechs Kartons übereinandergestapelt, und das an jedem freien Plätzchen. Der PC ist gerade noch erreichbar, und ich hoffe täglich, dass nicht irgendjemand irgendwelche Auskünfte von mir braucht, denn alle Aktenordner sind bereits verpackt.
Es macht keinen richtigen Spaß mehr, hier zu wohnen.
Die ersten Tage in Portugal wird es nicht anders sein – Kartons werden mich umgeben. Bis das alles ausgepackt und eingeräumt ist!
Aber: Die Sonne ist heller, die Luft ist wärmer. Und der Strand ist nur zehn Minuten entfernt. Da ist Lebensfreude schon beinahe garantiert.
António geht es genauso.
»Ich komme mir langsam vor«, sagt er, »wie ein Nomade. Ich lebe zwar schon in unserer neuen Wohnung, aber ich habe nur die Küche und ein Notbett. Außer Duschgel, Handtuch, ein paar Klamotten und Pulverkaffee ist nichts vorhanden.« Aber wenigstens Kaffee! Becher, Löffel und Zucker hat er sich von seiner Mutter mitgenommen. Zum Essen geht er in die Kneipe um die Ecke. Oder er isst in der Stadt.
Noch acht Tage.
Ich schaue mir immer wieder im Routenplaner an, wie wir fahren werden. Wir haben ein bisschen Zeit, wir müssen die zweieinhalbtausend Kilometer nicht in einem Rutsch durchfahren.
Post aus Portugal: António hat mir den Mietvertrag geschickt. Kein Vergleich mit Deutschland: nur eineinhalb Seiten, zehn Klauseln; offiziell festgehalten sind die erste und die letzte Miete und die Kündigungsfrist. Erst nach sechs Monaten können wir kündigen, vorher geht nichts. Es gibt keine Hausordnung. Keine Kehrwoche. Nachdem meine hausfraulichen Fähigkeiten (beziehungsweise die Lust dazu) sich ja eher auf Kochen und Weintrinken beschränken, kommt mir das sehr entgegen.
Noch sieben Tage.
Langsam wird mir wirklich bange. Nicht unbedingt, weil ich Deutschland verlasse und mein neues Lebensabenteuer beginnt. Aber jeder, der schon einmal umgezogen ist, weiß: Irgendwie findet man kein Ende. Alles, was ich selbst einpacken kann, ist eingepackt. Jetzt ist wirklich die Spedition am Zug. Ich kann nichts mehr tun. Trotzdem liegt immer noch so viel herum – die Packer werden noch eine Menge erledigen müssen. Vor allem Porzellan, Glas und Kleinkram. Aber gerade der macht viel Arbeit.
Heute wässere ich meine heiß geliebten Pflanzen nochmals gründlich, damit sie die lange Fahrt und die ersten Tage in Portugal gut überstehen.
Für António habe ich einen »ultimativen Umzugsguide« geschrieben, den maile ich ihm. Damit ich nicht ins totale Chaos gerate zwischen Kartons, Koffern, Kisten, wenn wir nach der langen Fahrt in Portugal im neuen Zuhause ankommen.
Manchmal bin ich schon (noch) sehr deutsch organisiert.
António meint: »Das wird sich geben! Mach dir keine Sorgen – du lernst schon, dass man nicht alles planen kann, dass ein bisschen südliches Lebensgefühl viel entspannender ist.«
Noch sechs Tage.
Ein bisschen muss ich noch arbeiten – ein paar Texte sind zu redigieren. Und dann geht es auf Abschiedstournee zur Familie. Das wird wohl noch mal ziemlich hart. Zwar unterstützen mich alle, freuen sich für mich und meinen neuen Lebensabschnitt. Ich habe bei Mutter und Schwester all jene Gerichte bestellt, die ich liebe. Die koche ich zwar in Deutschland selten selbst – aber ich bin mir sicher: In Portugal werde ich sie sofort vermissen!
Noch fünf Tage.
Endlich passiert etwas: Die Warterei ist gleich vorbei.
Ich sitze auf gepackten Koffern und Taschen, gleich kommen die Jungs von der Spedition. Das große Abenteuer beginnt. Jetzt geht es endgültig los: aus Deutschlands wildem Südwesten in Europas wilden Südwesten.
Zweieinhalbtausend Kilometer liegen vor mir. Plus die knapp vierhundert, die ich noch nach Bayern fahren muss, um mich von meinen Lieben zu verabschieden.
Noch vier Tage.
Ich bin bei meiner Familie in Bayern. Genieße es noch einmal, verwöhnt zu werden. Freue mich über gute Wünsche. Bin mir sicher: Ich werde die alte Heimat in der neuen nicht völlig vergessen. Geht ja gar nicht. Und es gibt ja Telefon und Internet. Da muss ich mich in Portugal als Erstes drum kümmern.
Bis jetzt ist es einfacher, als ich gedacht habe. Das große Flattern wird wohl kommen, wenn ich endgültig im Auto sitze und Richtung Portugal starte.
Noch drei Tage.
Die Familie hat mitgespielt: Ich darf meine Liste der Lieblingsgerichte »abessen«. Heute steht ein zünftiger bayerischer Schweinsbraten mit Kruste und Semmelknödel auf dem Plan. Und dazu natürlich ein Weizenbier!
Ich freue mich auf mein neues Leben, auf all die Erfahrungen und Menschen, denen ich begegnen werde. Am meisten freue ich mich auf António, den ich am Flughafen in Zürich abhole. Gemeinsam wollen wir uns auf die lange Fahrt quer durch Europa begeben.
Noch zwei Tage.
In Portugal hat offenbar alles geklappt. Der Lkw samt Hänger war pünktlich da, der Spediteur aus Lissabon, der beim Ausladen helfen sollte, stand mehr oder weniger pünktlich vor der Tür. António war völlig begeistert, in João auf einen Deutschen zu treffen, der perfekt Portugiesisch spricht.
»Hätte ich nie gedacht«, meint er, »der kennt alle Slangausdrücke. Null Akzent. Einfach toll. Du wirst sehen: Du lernst das auch schnell!«
Allerdings verweigert António am Telefon jegliche Auskunft darüber, wie es in der neuen Wohnung aussieht. Einziger Kommentar: »Es ist ein Chaos. Ein einziges Durcheinander. Ich möchte nicht darüber reden!«
Der letzte Tag.
Es geht los! Um 6.00 Uhr morgens starte ich Richtung Zürich.
António kommt mittags an.
Das Wetter ist traumhaft. Eine sonnige Tour. Vorgeschmack auf meine neue Heimat.
Von Zürich aus fahren wir gemütlich nach Lausanne, wo wir mit einem Freund verabredet sind. Hier verbringen wir die erste Nacht. Und wir bekommen eine Menge Tipps für die weitere Route. Fernando ist nämlich ebenfalls Portugiese, und man weiß ja (das heißt: Ich weiß noch nicht, das lerne ich jetzt!), dass Portugiesen jedes Jahr einmal nach Hause fahren »müssen«.
António und Fernando erklären unisono den Grund: »Para matar a saudade – um unsere Sehnsucht nach der Heimat, nach unserem geliebten Portugal zu stillen.«
All meine portugiesischen Freunde, die in Deutschland aufgewachsen sind, wissen zu erzählen, dass sie die großen Ferien stets in der Heimat verbrachten. Jedes Jahr. Und immer wurde mit dem Auto gefahren. Vollgepackt bis oben hin. Alle mussten mit: Babys, Kleinkinder, Schüler, Teenager, ja selbst Oma und Opa, Tante und Onkel, Cousin und Cousine.
Klingt fremd. Kommt mir kitschig vor.
Noch kann ich das nicht nachvollziehen.
Heute könnte ich es. Heute geht es mir genauso: Wenn ich nicht in Portugal bin, habe ich – saudade.