Tooooor! – im »Stadion Europas«
So ganz und gar nicht verstehen konnte ich bei meiner allerersten Reise nach Portugal, dass die Kollegen, ganz egal wo sie sich befanden, in jeder Bar und jedem Restaurant, selbst in der Hotelhalle, stets starren Blicks am Fernsehapparat hingen, sobald irgendeine Kickerei zu sehen war.
»Du bist eben kein echter Fußballfan!«, musste ich mir anhören, wenn ich mich beschwerte, wieso man unbedingt irgendwelchen Minivereinen, deren Namen niemand richtig kennt, beim Fußballspielen zusah.
Ja, Sie merken richtig: Ich war die einzige Frau auf dieser Rundreise.
»Es ist ja nicht mal eine wichtige Meisterschaft«, maulte ich.
»Wer Fußball mag, der schaut immer zu!«, wurde ich belehrt. »Bestell dir halt noch was zu trinken!«
»Bring uns auch noch gleich ein Bier mit!«
Okay, Jungs, wie ihr meint … so blieb eben mehr Wein für mich übrig. Das ist bekanntlich gut für die portugiesische Aussprache.
Als wir Jahre später in Portugal ankommen, sieht es in Sachen Fußball ganz anders aus. Schon beim Passieren der Grenze werde ich dezent darauf hingewiesen, dass wir uns jetzt im »Stadion Europas« befinden, und dass man uns hier herzlich willkommen heißt.
Gut – bei einer Europameisterschaft lasse ich mich überzeugen. Ein paar Argumente sprechen durchaus dafür, sich vom Fußballfieber anstecken zu lassen:
Erstens findet die ganze Veranstaltung in meiner neuen Heimat statt. Portugal ist schließlich Gastgeber, und da könnte man ein bisschen Interesse zeigen. Rein schon aus Höflichkeit.
Zweitens: Der hauseigene Portugiese namens António ist bereits seit Wochen im Fußballfieber und, weil das Ereignis immer näher rückt, mittlerweile kaum mehr vom Fernseher wegzuzerren.
Drittens: Alle Portugiesen und sogar viele Portugiesinnen im näheren und ferneren Umkreis tun exakt dasselbe. Fußball ist das Gebot der Stunde.
Viertens: Alle männlichen Freunde und Bekannten in der Heimat sind neidisch. Bei jedem Telefonanruf dasselbe. »Hast du ein Glück!«, bekomme ich zu hören. »Das muss doch toll sein, die verstehen doch zu feiern!«
Fünftens: Es gibt bereits auf unserer Fahrt durchs Land, also von Nordportugal bis Lissabon, zahlreiche Fahnen zu sehen. Kurz vor Beginn der EM steigert sich das: Kaum ein Fenster, kaum ein Balkon ist unbeflaggt. Überall weht A Portuguesa, in allen Größen. Von Minihandtuch- bis Bettlaken-Maß.
Sechstens: Ein bis zwei Tage vor Anstoß des Eröffnungsspiels packen Taxifahrer, Busfahrer, eigentlich alle motorisierten Portugiesen kleine Wimpel aus, die am Auto oder Motorrad, selbst an Fahrrad oder Kinderwagen befestigt werden. Diese Wimpel sind offiziell erlaubt und erwünscht. Was allerdings niemanden hindert, zusätzlich das Auto zu bemalen. Oder das klapprige alte Mofa mit großen Fahnen zu schmücken. Oder die Konterfeis der Spieler der selecção überlebensgroß auf Kofferraum oder Motorhaube oder Hardtop zu kleben.
Siebtens: Käppis, Shirts, Schals, Seidentücher, sogar Strandlaken in den portugiesischen Farben und/oder dem Emblem der EM werden zum unausweichlichen Muss. Schminkfarben sowieso.
Achtens: Das Polizeiaufgebot wird verstärkt, man zeigt Präsenz. Selbst die Angehörigen der GNR, der portugiesischen Gendarmerie, auch die Berittenen, zeigen das eine oder andere Fußballemblem an Uniform oder Zaumzeug.
Neuntens: Selbstverständlich sind überall Fernsehapparate und Großbildschirme sowie Leinwände fürs Public Viewing aufgebaut.
Zehntens: Dies deutet alles darauf hin, dass der Portugiese an sich absolut fußballnärrisch ist.
Ein wenig wusste ich über diese Fußballverrücktheit schon vorher. Schließlich bin ich seit gut zwei Jahren mit einem Portugiesen zusammen. Aber da war es wenigstens »bloß« immer ein Verein und hin und wieder mal eine internationale Meisterschaft mit portugiesischer Beteiligung. Da musste ich mich nicht darauf einstellen, ganze drei Wochen lang, Tag und Nacht, zu jeder Stunde, ja jeder Minute mit Fußball zu tun zu haben.
Das Verrückte: Es beginnt mir Spaß zu machen.
Es ist einfach faszinierend, was man hier auf die Beine gestellt hat und wie sich alle, wirklich alle mit der Rolle des Gastgebers identifizieren.
Die Anfahrt der selecção am Eröffnungstag wird zu einem Triumphzug: Das Team wohnt auf der »anderen Seite« des Tejo und reist per Bus über die Ponte Vasco da Gama. Offizielle Motorräder der GNR brausen vorweg, Hunderte von Autos hinterher, campinos – also berittene Rinderhirten – stehen hoch zu Ross und in festlicher Tracht Spalier.
Auf dem Wasser, neben und unter der mehr als siebzehn Kilometer langen Hängebrücke: unzählige Boote, in allen Größen und Formen. Alle geflaggt, alle lassen das Signalhorn ertönen.
Zehntausende Menschen stehen dicht gedrängt in den Straßen auf dem Weg zum Flughafen (das Eröffnungsspiel findet in Porto statt) – jubelnd, begeistert. Gänsehaut-Feeling. Sogar »nur« am Fernsehapparat.
Das ändert sich allerdings rasch. Denn die selecção ist nervös und verliert das erste Spiel. Ein kurzer Moment der Trauer – und dann wieder Optimismus: »Es wird schon klappen – das erste Spiel besagt gar nichts!«, ist die einhellige Meinung von António, seinen Freunden, seinen Kollegen, allen Portugiesen.
Gefeiert wird weiterhin.
Der Sieg über das russische Team ist eine kleine Vorstufe. Richtig ausgeflippt wird kurz vor der Finalrunde: Die portugiesische Nationalmannschaft trifft auf Spanien. Der Erzfeind. Die Spanier mag man hier nicht leiden. Selbst wenn es die unmittelbaren Nachbarn Portugals sind – oder vielleicht gerade deshalb.
Kleine Notiz am Rande:
Die Portugiesen haben nie vergessen, dass sie mal unter spanischer Herrschaft standen. Das ist zwar schon Jahre beziehungsweise ein paar Jahrhunderte her. Und es dauerte auch nur sechzig Jahre. Aber sie haben es im Gedächtnis behalten. Damit es ganz gewiss jeder in Erinnerung behält, gibt es sogar einen Nationalfeiertag. Am 1. Dezember.
Andere Nationen fangen da mit den festlichen Vorbereitungen der Weihnachtszeit an. Die Portugiesen nicht: Sie feiern Restauração da Independência. Dass diese ganze Angelegenheit bereits im Jahr 1640 stattgefunden hat, spielt keine Rolle. Im Gegenteil. Das merkt man gerade an den Emotionen bei der EM deutlich.
António und seine Kollegen sind auf hundertachtzig, als ein paar Spanier im Restaurant auflaufen und dumme Sprüche ablassen. Geschlossen weigert man sich, die Herrschaften zu bedienen. Der patrão des Lokals hat zu diesem Verhalten eine ganz klare Meinung: Er ist Portugiese und versteht durchaus die Wut auf die Gäste aus dem Nachbarland. Mit den paar Spaniern macht er bestimmt nicht so viel Gewinn, als dass man nicht auf sie verzichten könnte …
Aber es ist schon gut, dass abends dafür ein gewaltiger Umsatz gemacht wird. Denn: Spanien verliert das Match. Nicht nur das: Die Spanier sind ganz raus und müssen nach Hause fahren.
Allgemeiner Jubel auf portugiesischer Seite.
Die Spanier sehen das möglicherweise anders, denn sie sind beleidigt – schließlich war es nur ein 0:1 für die selecção. Aber auch ein einziges Tor reicht manchmal zur unausweichlichen Niederlage. Beziehungsweise für den Sieg und die Finalrunde fürs portugiesische Team.
Der Jubel in Portugal ist heute Nacht nicht zu toppen.
Ein bisschen wird noch weiter gejubelt.
Ein paar Tage später, gegen den großen Gegner England, schafft die selecção einen grandiosen Sieg nach dem Elfmeterschießen.
Weil man mit den Briten, die man hier eigentlich ganz gern mag und denen man den Spitznamen beefs verpasst hat, im Grunde nur eine sportliche Auseinandersetzung hat – von keinerlei historisch negativer Vergangenheit vorbelastet –, werden die Busse aus Lissabon, voll mit niedergeschlagenen Engländern, auf der Marginal freundlichst begrüßt. Hunderte haben sich auf die Straße gesetzt, schwenken portugiesische und englische Fahnen. Es ist kaum ein Durchkommen – die zwanzig Kilometer lange Uferstraße zwischen Lissabon und Cascais ist eine einzige Partymeile.
Das wirklich Tolle: Die traurigen beefs feiern mit! Alle drücken die Daumen, dass Portugal weiterkommt.
Portugal kommt weiter. Im Halbfinale schlägt das Nationalteam die Niederlande.
Es ist ein bisschen peinlich, dass ich mit António an diesem Tag mit holländischen Freunden Fußball schaue. Aber auch die Holländer nehmen die Niederlage gelassen hin: Überall in Cascais, vor allem auf dem Largo de Camões, feiern portugiesische Fußballfans in orangefarbenen Shirts – und Niederländer tragen die Farben des Siegers.
Über den Rest der EM schweigt man lieber. Denn im Finale verliert die selecção gegen die Griechen. Und ich muss mir den ganzen Abend vorhalten lassen, dass der griechische Trainer der Deutsche Otto Rehhagel ist.
Ein paar Monate später.
Die portugiesische Nationalmannschaft bereitet sich auf ein internationales Spiel vor. Dies tut sie mit Vorliebe im alten Estádio nacional, das ganz in unserer Nähe ist. António ist fest davon überzeugt, dass man da einfach zuschauen kann.
»Ich weiß es ganz genau, immer ab siebzehn Uhr!«
»Man kann doch bestimmt nicht einfach hingehen«, wende ich ein. »Da gibt es gewiss Sicherheitsvorkehrungen!«
»Nichts da!«, bestimmt António. »Wir probieren das jetzt einfach mal aus.«
Ein bisschen merkwürdig ist es schon, dass wir auf Anhieb einen Parkplatz bekommen. Nicht nur das staatliche Fernsehen RTP1 ist anwesend, die beiden privaten Sender tvi und sport-tv haben ebenfalls Kamerateams geschickt. Außerdem anwesend: etwa dreihundert interessierte Zuschauer.
Man spart nicht mit fachkundigen Kommentaren, unterhält sich über den einen oder anderen Spieler, lobt und schimpft, insgesamt eine sehr entspannte Atmosphäre. Bei den Spielern ebenfalls.
Erst gegen Ende des Trainings wird es etwas angespannter. Es tauchen nämlich, als wenn sie auf der Lauer gelegen hätten, etwa zweihundertfünfzig begeisterte Teenies auf. Weibliche Fans des schönsten und süßesten Fußballers aller Zeiten: Cristiano Ronaldo.
Er ist bekanntlich Mitglied der selecção, und er kickt heute selbstverständlich höchstpersönlich mit.
Beim Training darf er natürlich nicht gestört werden, da achten sowohl Trainer Felipe Scolari als auch ein paar berittene Ordnungshüter der GNR darauf. Es halten sich auch alle daran, nicht den heiligen Rasen zu betreten. Sogar die Teenies, die wir spontan »Ronaldinchens« taufen.
Kaum aber ist das Training vorbei, bricht Gekreische und Jubel aus. Ich komme mir vor wie bei einem Konzert von Tokio Hotel (die waren nämlich schon mal in Lissabon) oder einer anderen gerade angesagten Boygroup. Die Jungs auf dem Rasen nehmen es gelassen hin, auch der Star. Sie sind es alle gewohnt, umschwärmt zu werden, geben sich lässig, verteilen brav Autogramme.
Ich persönlich kann mit CR, wie man ihn in »Fachkreisen« nennt, nicht viel anfangen. Mein Favorit ist eher der schöne Luís Figo, ich habe sogar einen Feigenbaum (figo heißt nämlich Feige) auf den Namen Luís getauft, und seither blüht, wächst und gedeiht er ohne Ende. Aber jeder nach seinem Geschmack.
Ich ahne allerdings nicht, dass diese Begegnung mit Cristiano Ronaldo und den »Ronaldinchens«, die ja eher auf größere Entfernung stattfand und keinesfalls eine persönliche Bekanntschaft mit CR beinhaltete, einige Zeit später zu merkwürdigen Vorkommnissen führen wird …
Die kleine Geschichte vom Training der selecção und dem »Treffen« mit Cristiano Ronaldo hatte ich im Portugalforum erzählt. Kaum gehen zweieinhalb Jahre ins Land, ist der Starfußballer noch beliebter. (Echte Experten bescheinigen ihm zwar durchaus fußballerisches Können, bemängeln aber, dass er zu einem übertrieben showmäßigen Gebaren auf dem Platz neigt.)
Das macht aber jungen Mädels nichts aus. Bei den »Ronaldinchens«, so kann man der Klatschpresse immer wieder entnehmen, ist er so beliebt, dass die offensichtlich keinerlei Mühen (und Kosten) scheuen, mit ihm in Kontakt zu kommen.
Ich fahre wieder mal zu Besuch ins Alentejo, zu meinen Freunden Doris und Ingolf. Das Wetter ist herrlich, ich freue mich auf ein paar Tage direkt am Meer. Der Strand an der Lagoa Sto André ist die lange Anfahrt von Lissabon wert: kilometerlanger feiner weißer Sandstrand, kaum Touristen. Natürlich gibt es eine Strandbar, und der Wirt José ist mir auch wegen seines hervorragenden Essens immer wieder einen Besuch wert.
Gerade biege ich in die kleine Straße Richtung Meer ein, da klingelt mein Handy. Hm – eine Nummer aus dem Ausland. Vorwahl +45. Keine Ahnung, welches Land das ist, aber ich bin neugierig. Könnte ja wichtig sein.
Sicherheitshalber melde ich mich auf Englisch: »Hello?«
Gekicher.
»To whom you want to talk?«
Gekicher. Aufgelegt.
Dreißig Sekunden später: wieder dasselbe Spielchen.
Nochmals eine Minute später: Es klingelt wieder.
Diesmal melde ich mich auf die allgemein bekannte und beliebte portugiesische Art: »Estou, sim?«
Nichts.
»Quem fala?«
Nichts. Gekicher. Dann: »Fala fala.« Aufgelegt.
Mittlerweile habe ich die kleine staubige Straße zu Doris’ und Ingolfs Haus erreicht. Ich biege ein, fahre den Hügel hinauf.
Das Handy klingelt. Diesmal kann ich leider nicht drangehen, denn die zahlreichen Schlaglöcher und sandigen Stellen erfordern konzentriertes Fahren. Allerdings gibt mir der Signalton des Handys bekannt: Jemand hat auf die Mailbox gesprochen. Natürlich höre ich sofort ab.
»Fala fala. Bala bala.« Gekicher.
Ich parke, gehe ins Haus und erzähle das Ganze meinen Freunden. Wir fragen uns, was das Ganze soll. Mein Handy klingelt wieder. Doris geht dran und meldet sich auf Portugiesisch: »Olá?«
»Fala, bala bala.« Und wieder aufgelegt.
Es klingelt erneut. Diesmal überlassen wir den Anruf Ingolfs sonorer männlicher Stimme. In der Hoffnung auf ein besseres Ergebnis. Pech gehabt – denn nun wird sofort aufgelegt. Es klingelt aber sofort wieder.
In diesem Moment meint Doris, die offensichtlich nebenberuflich als Prophetin arbeitet: »Ob da jemand Cristiano Ronaldo sprechen will?«
Ich habe keine Ahnung, wie sie auf diese Idee kommt. Aber ich melde mich ganz cool auf Englisch und frage sofort nach, wen die Kichergestalten sprechen wollen. Und ich bekomme Auskunft: »We have this number from a internetforum and we want to speak to Cristiano Ronaldo!«
Ich gebe bekannt, dass man CR auf meinem Telefon nicht erreichen kann, dass man die Anrufe daher bitte unterlassen möge.
Ich hoffe sehr, dass nun Ruhe einkehrt.
Das Telefon bleibt stumm, weder am Abend noch in der Nacht kommt ein Anruf mehr. Ich denke: Nun haben sie’s kapiert. Doch meine Hoffnung ist vergebens.
Am nächsten Morgen um 7.26 Uhr geht es weiter: drei Anrufe, bei denen sofort aufgelegt wird, zwei weitere auf der Mailbox.
Ich überprüfe endlich, zu welchem Land die Vorwahl +45 gehört, und finde heraus: Dänemark. Das bringt mich aber nicht unbedingt weiter. Trotzdem herrscht etwa eine Stunde lang Telefonterrorpause.
Doris und ich fahren ins Städtchen, einkaufen und eine bica trinken. Kaum sind wir im Café angekommen, klingelt das Handy wieder.
Doris versucht es dieses Mal auf Französisch. Dasselbe Spiel: Gekicher, keine Reaktion auf Nachfragen. Auflegen.
Dann endlich haben wir eine Spitzenidee. Als es wieder klingelt, geht Doris dran und sagt mit erotisch tiefer Stimme: »Estou Cristiano Ronaldo. Quem fala?«
Verdutztes Schweigen. Die Damen scheinen geschockt und legen hektisch auf. Seitdem – himmlische Ruhe. Nie mehr ein Anruf aus Dänemark …
Nicht nur junge Däninnen sind fußballbegeistert. Und nicht nur Cristiano Ronaldo ist ein Star. Portugal hat eine ganze Menge guter Fußballer, und viele Spieler arbeiten im europäischen Ausland. So manch ein Portugiese bedauert das. Selbst wenn er stolz auf die Erfolge seiner Landsleute ist – lieber wäre es ihm, wenn die heimischen Vereine möglichst gut mit einheimischen Spitzenspielern bestückt würden. Fußball ist in Portugal nämlich nicht nur dann wichtig, wenn man Gastgeber der EM ist. Fußball ist hier immer wichtig. Lebenswichtig.
António zum Beispiel ist durchaus ein vielseitig interessierter Mensch. Politik ist für ihn ebenso ein spannendes Thema wie Kultur. Aber welche Zeitung kauft er? Eine Sportzeitung. A Bola, was auf Deutsch »Der Ball« heißt, und deren Hauptthema (ich erwähnte es schon) Fußball ist.
Hin und wieder kauft er Record, um die Informationen zum Thema vollständig abzurunden. Ebenfalls eine Sportzeitung rund um Fußball. Was António allerdings ganz gewiss nicht kauft, ist die dritte Zeitung im Bunde: Es gibt tatsächlich noch eine – täglich, auch sonntags erscheinende – Sportzeitung. Die nennt sich O Jogo – »Das Spiel«. Die hat bei uns sozusagen Hausverbot, denn sie gilt als Fanzeitung des FC Porto. Wer ein Anhänger von Benfica ist, duldet solch verwerfliche Lektüre nicht in seiner Nähe.
Man kann es sich schwer vorstellen, aber fast jeder Portugiese, der ein Fünkchen Leben in sich hat, ist Fußballfan. Es gibt drei große Vereine, und man überlegt sich am besten in der ersten Minute, in der man dieses Land betritt, welchem dieser drei »Großen« man fürderhin sein Leben widmen will. Das hindert allerdings niemanden daran, daneben noch einen örtlichen Verein anzufeuern und zu unterstützen. Da weiß man genau zu unterscheiden, Lokalpatriotismus ist sozusagen Ehrensache. Portugiesen übrigens »übernehmen« den Lieblingsverein oft von Vater und Opa.
Dennoch: Wer abends in der Kneipe sitzt, wenn der Fernseher läuft und Fußball übertragen wird, tut gut daran, klar und deutlich kundzutun, wem seine Gunst gilt. Wobei es interessanterweise kein Problem ist, selbst in einem Kreis von benfiquistas Anhänger des FC Porto zu sein. Das wird durchaus akzeptiert. Man muss dann als portista mit ein wenig Hänseleien leben (falls der FC Porto gerade eine schlechte Phase hat), aber das lässt sich ertragen.
Fußball läuft hier zwar voller Enthusiasmus, aber dennoch relativ entspannt ab. Kein Gedanke daran, dass Hooligans sich gegenseitig zusammenschlagen. Oder gezielt losmarschieren, um zu randalieren.
Benfiquistas ertragen es durchaus, wenn vereinzelt auftretende sportingistas (Anhänger von Sporting Lissabon, des dritten großen Vereins) Kritik an den »Roten« üben. Man weiß ja im Grunde, dass die glanzvollen Zeiten von SL Benfica schon ein paar Jahre zurückliegen. Man gibt es nur ungern zu. Und hin und wieder hat der Fußballgott ein Einsehen und schickt einen Trainer, der das Wunder schafft.
Es ist langsam wieder an der Zeit: Seit elf Jahren hat Benfica keine Meisterschaft mehr eingefahren. Seit elf Jahren müssen António und der Rest des Landes damit leben, dass andere – meist der FC Porto – die Taca de Campeão Nacional de Futebol, also den Meisterpokal gewinnen.
Wir sind unterwegs nach Grândola, einer Stadt im Alentejo. Fußball ist heute gar nicht mal das Thema, wir wollen zu einem Open-Air-Konzert. Dazu kommt es aber nur bedingt. António und seine Freunde zeigen sich unruhig. Musik ist zwar gut und schön, aber mit den Gedanken ist man woanders. Mit einem Ohr lauscht man nach draußen. Und als die ersten hupenden Autos im Korso durch die Straßen fahren, hält es niemanden mehr.
Man kann sich nicht vorstellen, obwohl die Feiern bei der EM ja schon mitreißend genug waren, was in dieser Nacht auf den Straßen in Lissabon los ist. Als wir von Grândola aus über die Ponte Vasco da Gama nach Lissabon zurückfahren, stehen wir praktisch unaufhörlich im Stau. Die Stadtautobahn – normalerweise drei- oder vierspurig – ist so gut wie zugeparkt. Nur in der Mitte ist eine schmale Spur gerade noch befahrbar, auf der wir entlangkriechen.
Zehntausende haben ihre Autos einfach abgestellt und wandern in Richtung Estádio da Luz, dem Heimstadion von Benfica. Das Präsidium hat beschlossen: »Wir öffnen das Stadion für die Fans. Wir wollen alle gemeinsam feiern!« Überall jubelnde Menschen. Die Polizei ist präsent, greift aber nicht ein, freut sich mit, strahlt mit den Fußballfreunden um die Wette. Auf den Plätzen in Lissabon geht nichts mehr: Überall wird gesungen, gelacht, gefeiert, getanzt. Überall sieht man nur die Farbe Rot. Rote Fahnen, rote Hemden, rote Schals, geschminkte rote Gesichter. So manches Standbild wird ebenfalls rot verziert.
Kleine Notiz am Rande:
Nicht ohne Grund ist Benfica so beliebt. Der Verein war unter der Herrschaft von Salazar zwar nicht verboten – das hat sich nicht mal der Diktator erlaubt.
»Das Stadtviertel Benfica in Lissabon, wo der Sportverein herkommt, ist jedoch traditionsgemäß ein Arbeiterviertel«, sagt António.
»Wer auf sich hielt, unterstützte also nicht ›die Grünen‹, den Verein Sporting Lissabon, sondern war Anhänger der ›Roten‹?«
»Genau«, antwortet António. »Und noch etwas kommt hinzu: Für Salazar war Benfica im wahrsten Sinne des Wortes ein ›rotes Tuch‹. Denn die Vereinsfarbe ist dieselbe wie die der Kommunisten, die Vereinshymne beginnt mit demselben Wort wie der kommunistische Aufruf an das Proletariat aller Länder, nämlich mit ›avante!‹ – Vorwärts!« Fußball war aber erwünscht, um das Volk ruhig zu halten. Selbst wenn die Fußballlieder, die während der Diktatur im Stadion gesungen wurden, oft auch eine zweite Bedeutung hatten – nämlich die von Freiheit, Aufbruch – und damit gegen die Diktatur gewandt waren.
»Für viele Menschen verbindet sich all das heute noch mit dem Verein«, fährt António fort, »und genau deshalb ist Benfica auf der ganzen Welt, überall wo Portugiesen sind, die Nummer eins.«
Für eine Strecke, die wir normalerweise in einer Stunde fahren, brauchen wir vier Stunden. Stop-and-go.
Wir hören im Autoradio, dass die Mannschaft gegen zwei Uhr nachts erwartet wird, denn der Sieg wurde auswärts erspielt. Wir erfahren, dass selbst am Flughafen von Porto, wo die Mannschaft Benficas in den Flieger steigen will, kein Durchkommen ist. Auch in der Stadt des erbittertsten Gegners: jubelnde benfiquistas.
Es wird vier Uhr morgens, bis die Spieler endlich ins Flugzeug steigen, eine gute Stunde später erreichen sie den Flughafen Lissabon. Die Fahrt im offenen Bus bis ins Stadion ist ein Freudenfest. Es müssen Hunderttausende auf der Straße sein.
Selbstverständlich ist am nächsten Tag, einem Montag, im ganzen Land ein Feiertag. Wer wirklich arbeiten muss, hat nur ein einziges Thema: Benfica ist Meister. Endlich wieder!
Selbst in den entlegensten Flecken auf der Welt wird gefeiert. Benfica ist der größte Sportverein der Welt – mit Fans in den ehemaligen Kolonien, in Afrika, Südamerika, Indien und China. Es ist schwer vorstellbar, aber ich sehe die Bilder im Fernsehen: Selbst dort wird gejubelt, weil »die Roten« nach elf Jahren wieder Meister sind.