Einleitung

Dies ist der zweite Band meiner Geschichte des Westens. Der erste, im Herbst 2009 erschienene Band behandelt die Geschichte des Okzidents von seinen frühesten Prägungen durch den jüdischen Monotheismus, die Spätantike und das Christentum bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Im Mittelpunkt steht die Entwicklung dessen, was ich das normative Projekt des Westens nenne. Gemeint sind vor allem die Ideen der beiden atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts, der Amerikanischen und der Französischen Revolution – Ideen, um deren Aneignung oder Verwerfung sich der alte, europäische Westen bis weit in das 20. Jahrhundert hinein gestritten hat, gegen die auch die «Erfindernationen» von Anfang an selbst immer wieder verstoßen haben und die doch bis heute den Maßstab bilden, an dem sich der Westen, wenn er seine Werte der nichtwestlichen Welt gegenüber glaubhaft vertreten will, messen lassen muß.

Der zweite Band handelt von einer Ausnahmezeit: den drei Jahrzehnten von 1914 bis 1945, die von Kriegen, Krisen und Katastrophen in einem Maß geprägt waren wie zuvor wohl nur die Zeit des Dreißigjährigen Krieges von 1618 bis 1648. Wie in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts stand in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts Deutschland im Mittelpunkt des konfliktreichen Geschehens. Die Rolle Deutschlands war zwischen 1914 und 1945 so zentral, daß man die Zeit der beiden Weltkriege geradezu als das deutsche Kapitel in der Geschichte des Westens bezeichnen kann. Es war zugleich das schrecklichste Kapitel der Geschichte der Menschheit. Es endete mit der Vernichtung der europäischen Juden, dem am konsequentesten durchgeführten Massenmord in der an Staatsverbrechen reichen Geschichte des 20. Jahrhunderts, und dem Untergang des Deutschen Reiches.

Der Holocaust wird von manchen Autoren, namentlich dem Soziologen Zygmunt Bauman, als Resultat eines spezifisch modernen, auf Zweckrationalität ausgerichteten Strebens nach «Eindeutigkeit» und damit nach der Beseitigung von «Ambivalenz» verstanden – als ein Grenzfall jenes technologischen «social engineering», das im Denken der Zwischenkriegszeit einen markanten Platz einnahm. Viele Autoren verweisen darüber hinaus seit langem auf die Grunderfahrung entgrenzter, bisher nur in Kolonialkriegen praktizierter Gewalt im Ersten Weltkrieg, den der amerikanische Historiker und Diplomat George F. Kennan die «Urkatastrophe» des 20. Jahrhunderts genannt hat. Gesellschaftspolitische Machbarkeitsvisionen und Gewöhnung an mechanische Tötungsmethoden im Krieg waren transnationale Phänomene. Man kann viele Entwicklungen der Zeit nach 1918 in diese Perspektive rücken – und hat damit doch noch keine Erklärung dafür, warum die Shoah zum deutschen Menschheitsverbrechen wurde. Was der vorliegende Band zum Gang der deutschen Geschichte zwischen 1914 und 1945 enthält, ist vor dem Hintergrund dieses Problems zu sehen. Es ist ein Versuch zu erklären, wie es dazu kam, daß ein Land, das kulturell zum Westen gehörte, sich dem normativen Projekt des Westens, obenan der Idee der unveräußerlichen Menschenrechte, so hartnäckig verweigern konnte, daß es darüber sich und die Welt in eine Katastrophe stürzte.

Wäre es nach dem amerikanischen Präsidenten Woodrow Wilson gegangen, hätte die Zeit nach 1918 zum europaweiten Triumph der westlichen Demokratie werden müssen. Doch schon 1925 sprach der deutsche Wirtschaftswissenschaftler Moritz Julius Bonn von einer «Krisis der europäischen Demokratie». Im Mittelpunkt seiner Analyse standen die gesellschaftlichen und mentalen Veränderungen, die der Erste Weltkrieg bewirkt hatte: der Machtgewinn der Arbeiterschaft und die dadurch hervorgerufenen Bedrohungsängste des Bürgertums, die Militarisierung des Denkens und die damit einhergehende Geringschätzung einer zivilen Lösung von Konflikten auf der Grundlage unbestrittener Normen und im Rahmen anerkannter Institutionen.

Von den neuen, erst im Gefolge des Ersten Weltkriegs entstandenen, allesamt demokratisch verfaßten Staaten Kontinentaleuropas konnte man zwei Jahrzehnte später nur noch zwei als westliche Demokratien bezeichnen: die Tschechoslowakei und Finnland. In den anderen herrschten inzwischen mehr oder minder diktatorische Regime. Aus dem westlichen Erbe hatten sie sich ausgesucht, was den Interessen der Regierenden besser entsprach als die Idee der Demokratie, nämlich das Prinzip der «nation une et indivisible». Da die neuen Staaten keine reine Nationalstaaten, manche sogar eindeutig Nationalitätenstaaten waren, lag in dieser Rezeption westlichen, im konkreten Fall französischen, Gedankenguts der Keim schwerer Konflikte.

Ein Novum unter den politischen Systemen der Zwischenkriegszeit waren die Diktaturen neuen Typs: die totalitären Regime. Der vieldiskutierte Begriff «totalitär» zielt auf Staaten, in denen die Monopolisierung der Macht und der Grad der Repression weit über das «Normalmaß» konventioneller Diktaturen, beispielsweise offener oder verdeckter Militärdiktaturen, hinausgeht. Neu war an den totalitären Regimen vor allem der Anspruch auf den ganzen Menschen und die Ausrichtung der Politik auf das Ziel, einen neuen Menschen hervorzubringen. Bei allem, was sie trennte, waren sich die von Lenin, Mussolini und Hitler errichteten Diktaturen in diesem Punkt sehr ähnlich. Die westlichen Demokratien sahen im russischen Bolschewismus eine sehr viel größere Bedrohung als in dem 1922 in Italien an die Macht gelangten Faschismus, dem konservative Politiker und liberale Publizisten sogar lange Zeit beträchtliche Sympathien entgegenbrachten. Es bedurfte der Erfahrung eines sehr viel radikaleren, aggressiveren und «totalitäreren» faschistischen Regimes, des deutschen Nationalsozialismus, um die angelsächsischen Mächte zu einer Revision ihres Verhältnisses zur Vormacht des Kommunismus, der Sowjetunion, und schließlich zu einem Bündnis mit ihr zu bewegen.

Am Ende des vom nationalsozialistischen Deutschland entfesselten Zweiten Weltkrieges stand die Herausbildung jener «bipolaren» Welt, die der Zeit nach 1945 ihren Stempel aufdrückte. Deutschland bezahlte seinen zweiten Griff nach der Hegemonie über Europa mit der bedingungslosen Kapitulation, dem Verlust eines Viertels seines Vorkriegsterritoriums und der Besetzung des gesamten Staatsgebiets durch die Alliierten. Die größten europäischen Kolonialmächte Großbritannien und Frankreich waren durch den Krieg so nachhaltig geschwächt, daß sie den fortschreitenden Verlust ihrer Überseereiche nicht mehr verhindern konnten. Hatte der erste der beiden Weltkriege eine Partikularisierung der europäischen Staatenwelt bewirkt, so hatte der zweite ihre Polarisierung zur Folge: Die Vereinigten Staaten von Amerika und die Sowjetunion waren die Führungsmächte der Blöcke, die seit 1947 einen «Kalten Krieg» gegeneinander führten.

Der Geschichte des Westens in der Zeit nach 1945 möchte ich mich in einem weiteren Band zuwenden. Dafür, daß ich zwei Jahre nach dem ersten nunmehr den zweiten Band dieser Geschichte vorlegen kann, habe ich vielen zu danken: der Robert Bosch Stiftung, der Hans Ringier Stiftung und der ZEIT Stiftung Ebelin und Gerd Bucerius, die mein Projekt seit 2007 gefördert haben; der Humboldt-Universität zu Berlin, die mir einen Raum samt dem technischen Gerät zur Verfügung gestellt hat; meiner langjährigen Mitarbeiterin Monika Roßteuscher M. A. und meinen studentischen Mitarbeiter(inne)n Angela Abmeier M. A., Sarah Bianchi, Felix Bohr und Rahel Marie Vogel, ohne deren unermüdliche Hilfe ich dieses Buch nicht hätte schreiben können. Frau Gretchen Klein, Frau Monika Roßteuscher und Herrn Felix Bohr danke ich dafür, daß sie mein handschriftliches Manuskript mit großer Sorgfalt in eine druckfertige Vorlage verwandelt haben.

Der Cheflektor des Verlages C.H.Beck, Herr Dr. Detlef Felken, hat das Manuskript des zweiten Bandes der «Geschichte des Westens» mit derselben gleichbleibenden Aufmerksamkeit gelesen wie zuvor das des ersten. Bei den Korrektur- und Registerarbeiten waren Frau Janna Rösch, Frau Tabea Spieß und Herr Alexander Goller eine große Hilfe. Ihnen allen danke ich herzlich für ihre Mühe. Dem letzten Dank gebührt eigentlich die erste Stelle: Mit meiner Frau konnte ich kontinuierlich alle Fragen erörtern, die mich während der Arbeit an diesem Band beschäftigten. Ihr Rat, ihre Ermunterung und ihre Kritik sind auch in dieses Buch eingeflossen. Deshalb ist es ihr gewidmet.

Berlin, im März 2011

Heinrich August Winkler