Innerhalb des Kabinetts war Finanzminister Henry Morgenthau der entschiedenste Befürworter eines ausgeglichenen Haushalts und eines Abbaus der Staatsverschuldung. Den Produktionsrückgang führte er ausschließlich auf die fehlende Investitionsneigung der Industrie zurück; höhere Staatsausgaben konnten aus seiner Sicht nur zu Inflation und höheren Steuern führen. Sein energischster Widersacher war neben Innenminister Ickes der Gouverneur des Federal Reserve Board, Marriner Eccles. Er argumentierte, ohne Keynes gelesen zu haben, wie der britische Ökonom: Während der Deflation mußte die Regierung die Investitionsschwäche durch höhere, kreditfinanzierte Ausgaben kompensieren und in Zeiten der Hochkonjunktur entsprechende Rücklagen bilden. Der Präsident bezog in den ersten Monaten der (bald so genannten) «Roosevelt Depression» die Position der Orthodoxen um Morgenthau.

Die Meldungen über die wachsende Not der Unterstützungsempfänger und erste Hungertote konnte er aber nicht ignorieren, ebenso wenig die steigenden Arbeitslosenzahlen: Von 1937 bis 1938 wuchs der Anteil der Erwerbslosen an der erwerbstätigen Bevölkerung von 14,3 auf 19 Prozent, in absoluten Zahlen von 7,7 auf 10,4 Millionen. 1939, zehn Jahre nach dem großen Börsenkrach, belief sich die Zahl der Arbeitslosen noch oder wieder auf 10 Millionen. Ein erneuter Kurssturz an der New Yorker Börse am 25. März 1938 trug entscheidend dazu bei, daß Roosevelt sich nunmehr auf die Seite der Anhänger des «deficit spending» schlug. Am 14. April forderte er vom Kongreß ein großes anleihefinanziertes Hilfsprogramm: Die PWA sollte fast eine Milliarde Dollar erhalten, die wiedererstehende WPA über 1,4 Milliarden; weitere Mittel flossen in den Bau preiswerter Wohnungen, in die landwirtschaftliche Kredithilfe und die Arbeitsvermittlung für jugendliche Arbeitslose.

Ende April 1938 ersuchte der Präsident den Kongreß um die Einsetzung einer Untersuchungskommission, die sich dem Problem der Machtkonzentration in der amerikanischen Wirtschaft widmen sollte, aber nur wenig konkrete Ergebnisse zeitigte. Im Juni verabschiedete der Kongreß den von Roosevelt geforderten Fair Labor Standard Act in einer Fassung, die so viele Ausnahmen zuließ, daß von einer Verbesserung der Lage der Lohnempfänger kaum gesprochen werden konnte. Es war das letzte der Reformgesetze des New Deal und fiel in eine Zeit, in der es erste Anzeichen für eine wirtschaftliche Erholung gab. 1938 war ein Jahr der Halbzeitwahlen, in dem das Repräsentantenhaus und ein Drittel der Senatoren neu zu wählen waren. Die Demokraten konnten erneut die Mehrheit im Repräsentantenhaus erobern, wenn auch nur knapp: Sie erhielten 48,6, die Republikaner 47 Prozent, was für die «Grand Old Party» gegenüber 1936 einen Zuwachs von 7,4 Prozentpunkten bedeutete. Im Senat gewannen die Republikaner 6 Sitze hinzu, die Demokraten behaupteten aber mit 69 Sitzen (gegenüber 23 der Republikaner) ihre Zweidrittelmehrheit. Die Wahlen vom November 1938 waren kein Plebiszit gegen den New Deal, aber sie schwächten die New Dealers. Diese hatten bereits im April 1938 eine schwere Niederlage erlitten, als die Reorganization Bill, die den Präsidenten ermächtigen sollte, Regierungsagenturen zum Zweck der Effizienzsteigerung umzugestalten, vom Repräsentantenhaus mit 204 gegen 196 Stimmen abgelehnt wurde. Seit 1939 wurden die Mittel für Einrichtungen des New Deal gesenkt, einige von ihnen, darunter im Juni 1939 das populäre Federal Theatre Project, abgeschafft.

Anders als die Krise der frühen dreißiger Jahre löste die «Roosevelt Depression» keine neue Radikalisierungswelle aus. Am rechten Rand gab es die extremen Antisemiten, die den New Deal als «Jew Deal» denunzierten – Gruppen wie die Silver Shirts um den Hitler-Verehrer William Dudley Pelley, die Christian Front von Father Coughlin, den von der NSDAP geförderten German-American Bund und die im Mittleren Westen aktive Terrororganisation Black Legion, die aber allesamt Splittergruppen blieben. Links außen gewannen die Kommunisten, seit sie im Zuge der Volksfrontstrategie eine breite antifaschistische Bündnispolitik betrieben und sich als die wahren Erben der Amerikanischen Revolution ausgaben, neue Anhänger hinzu, nicht zuletzt beim CIO, wo sie als tüchtige Organisatoren willkommen waren. Eine Massenbewegung aber wurden die Kommunisten auch in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre nicht.

Das im Mai 1938 vom Repräsentantenhaus eingesetzte House Committee on Un-American Activities unter Vorsitz des demokratischen Abgeordneten Martin Dies aus Texas widmete sich nahezu ausschließlich kommunistischen Umtrieben und kaum solchen von amerikanischen Anhängern des Faschismus und des Nationalsozialismus oder des Ku-Klux-Clan. Es stellte eine kommunistische Unterwanderung der Public Works Administration, vor allem des Federal Theatre Project und des Federal Writers’ Project, fest und identifizierte 640 Organisationen, 483 Zeitungen und 280 Gewerkschaftsgliederungen als kommunistisch infiltriert oder gesteuert. Während des Wahlkampfes vom Herbst 1938 wurden liberale Kandidaten, darunter, wegen seiner guten Beziehungen zu kommunistischen Funktionären im CIO, der Gouverneur von Michigan, Frank Murphy, als Schachfiguren der Kommunisten diffamiert. Murphy erhielt daraufhin die demonstrative Unterstützung des Präsidenten, der dem Dies-Committee vorwarf, es lasse sich für den unamerikanischen Zweck einer Wahlbeeinflussung benutzen. Nachdem Murphy die Wahl verloren hatte, ernannte ihn Roosevelt im Februar 1939 zum Justizminister.

Die Rückschläge, die Roosevelt seit 1937 erlitt, weckten weltweit Zweifel, ob die westlichen Demokratien sich gegenüber den Diktaturen von rechts und links würden behaupten können. Die hämischen Hinweise aus dem nationalsozialistischen Deutschland auf den Kontrast zwischen eigenen Erfolgen im Kampf gegen die Wirtschaftskrise und den Mißerfolgen der Roosevelt-Adminstration wurden auch auf der anderen Seite des Nordatlantiks zur Kenntnis genommen. Roosevelt ließ sich aber weder von seinen ausländischen noch von seinen amerikanischen Gegnern beeindrucken. Im Januar 1938 schlug der Präsident, wie schon erwähnt, dem britischen Premierminister Neville Chamberlain vor, gemeinsam die Einberufung einer internationalen Konferenz über fundamentale Normen in den zwischenstaatlichen Beziehungen anzuregen, fand damit jedoch in London keine Zustimmung. Im September 1938 appellierte er angesichts der Sudetenkrise zweimal an Hitler, Chamberlain, Daladier und Beneš, alles für die Aufrechterhaltung des Friedens zu tun; in seiner zweiten Botschaft vom 28. September schlug er eine internationale Konferenz auf neutralem Boden vor und bat Mussolini, in diesem Sinn tätig zu werden.

Das Münchner Abkommen vom 30. September bewertete er zunächst sogar als Beitrag zur internationalen Entspannung, ja als Erfolg seiner Bemühungen, korrigierte sich aber kurz danach. Am 11. Oktober kündigte er als Antwort auf ein neues Rüstungsprogramm Hitlers amerikanische Rüstungsausgaben in Höhe von 300 Millionen Dollar an. Am 2. November 1938 unterzeichnete der Präsident ein amerikanisch-britisches Handelsabkommen, dessen antideutsche Spitze unübersehbar war. Die Judenpogrome vom 9. und 10. November wurden für Roosevelts Verhältnis zu Deutschland zum «point of no return». Ende des Jahres setzte er sich dafür ein, daß Frankreich in den USA bis zu 1000 Kampfflugzeuge einkaufen konnte. Um die Jahreswende 1938/39 gab es nichts mehr daran zu deuteln, daß die Abkehr vom bisherigen Kurs strikter Neutralität begonnen hatte.

Die amerikanische Öffentlichkeit war um diese Zeit noch keineswegs darauf vorbereitet, einer nationalsozialistischen Aggression in Europa mit militärischen Mitteln entgegenzutreten. Die Frage des führenden Meinungsforschungsinstituts, des Gallup Poll, ob die USA, wenn Großbritannien und Frankreich Deutschland den Krieg erklärten, sich aus dem Konflikt heraushalten könnten, wurde Mitte September 1938 von 57 Prozent der Befragten bejaht. 68 Prozent sprachen sich dafür aus, eine amerikanische Kriegserklärung, abgesehen vom Fall einer direkten Invasion des eigenen Landes, an den Ausgang eines nationalen Referendums zu binden. Falls Roosevelt eines Tages zu dem Schluß gelangen sollte, daß die Vereinigten Staaten sich einer militärischen Unterstützung der westeuropäischen Demokratien nicht entziehen könnten, hatte er noch viel zu tun, um die Amerikaner von dieser Notwendigkeit zu überzeugen.[14]

Griff über die Grenzen:
Vom Anschluß Österreichs zum Münchner Abkommen

Am 9. März 1938, drei Wochen nachdem er unter ultimativem Druck demütigende Forderungen Hitlers erfüllt hatte, ordnete der österreichische Bundeskanzler Kurt von Schuschnigg eine Volksbefragung an, mit der er das, was von der Unabhängigkeit Österreichs noch übrig war, sichern wollte: Er forderte die Österreicher über den Rundfunk auf, sich am 13. März für «ein freies und deutsches, unabhängiges und soziales, für ein christliches und einiges Österreich» auszusprechen. Hitler sah darin einen Bruch der Vereinbarungen, die er am 12. Februar in Berchtesgaden mit Schuschnigg getroffen hatte. Er verlangte deshalb am 11. März die Absetzung des Plebiszits und, nachdem Wien diesen Schritt getan hatte, den Rücktritt Schuschniggs und die Ernennung des Nationalsozialisten Arthur Seyß-Inquart zu seinem Nachfolger. Als der widerstrebende Bundespräsident Miklas auf Drängen des Bundeskanzlers auch diesen Forderungen nachkam, hatten die österreichischen Nationalsozialisten vielerorts bereits die Macht an sich gerissen. In den frühen Morgenstunden des 12. März marschierte die Wehrmacht in den Nachbarstaat ein. Zu diesem Zeitpunkt wußte Hitler schon, daß Mussolini ihm diesmal, anders als im Juli 1934, nicht in den Arm fallen würde.

Bis Linz begleitete der «Führer» die deutschen Truppen. Der Jubel, mit dem er überall empfangen wurde, trug mit dazu bei, daß er noch am 13. März in Linz das Gesetz über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich unterzeichnete. Zwei Tage später erstattete Hitler in Wien vor einer riesigen, ihm zujubelnden Menge die «größte Vollzugsmeldung» seines Lebens: «Als der Führer und Kanzler der deutschen Nation und des Reiches melde ich vor der Geschichte nunmehr den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich.»

Bei seinem ersten Griff über die Grenzen setzte sich Hitler erneut über internationales Recht, die Verträge von Versailles und St. Germain, hinweg, aber mit massivem Widerstand seitens der westlichen Demokratien brauchte er nicht zu rechnen: Weder in Frankreich noch in Großbritannien war die Bevölkerung bereit, für ein Siegerrecht in den Krieg zu ziehen, das die Deutschen und die Österreicher bisher an der Ausübung ihres Selbstbestimmungsrechts gehindert hatte. Zudem befand sich Frankreich, als die Wehrmacht in Österreich einmarschierte, gerade in einem politischen Vakuum: Camille Chautemps war am 10. März zurückgetreten, Léon Blum trat erst am 13. März seine Nachfolge an. Der britische Premierminister Neville Chamberlain verurteilte zwar das deutsche Vorgehen, nahm es aber zugleich als fait accompli hin.

Das Echo im «Altreich» auf den «Anschluß» und die Ankündigung einer Volksabstimmung hierüber am 10. April war überwältigend. Selbst die Prager Exil-SPD kam auf Grund der Berichte ihrer Vertrauensleute im Reich zu dem Ergebnis, «daß die nationale Hochstimmung … echt ist und nur eine weitsichtigere, in der Kritik standfeste Minderheit sich ausschließt». In Österreich warben die katholischen Bischöfe und selbst ein prominenter Sozialdemokrat, der frühere Staatskanzler Karl Renner, für ein Ja bei der Volksabstimmung. Am 10. April stimmten jeweils über 99 Prozent in Österreich wie im «Altreich» für die «Wiedervereinigung» und gleichzeitig für die «Liste unseres Führers Adolf Hitler» – die einzige Liste bei der Wahl des neuen, nunmehr «großdeutschen» Reichstages.

Von einer geheimen Wahl konnte im April 1938 nicht mehr die Rede sein; ungültige Stimmen wurden mancherorts in Ja-Stimmen verwandelt oder Nein-Stimmen als ungültig bewertet. An der Popularität des «Anschlusses» konnte es dennoch keinen Zweifel geben – und auch nicht an der Popularität des Mannes, der ihn herbeiführte. Hitler galt nun auch bei vielen, die ihm bislang mißtraut hatten, als der Staatsmann, der Bismarcks Werk vollendete, indem er den Bruch von 1866 überwand und eine Brücke schlug zum «alten», dem 1806 untergegangenen ersten Reich der Deutschen. Überzeugte «Kleindeutsche» gab es 1938 ohnehin kaum noch: Die Zeit der protestantischen Nationalliberalen war schon seit langem abgelaufen, und die Einsicht der späten Paulskirche, daß sich mit Österreich ein deutscher Nationalstaat nicht bilden lasse, war seit der Auflösung der Habsburgermonarchie historisch überholt.

Von den wirtschaftlichen und strategischen Vorteilen der nunmehr verwirklichten großdeutschen Lösung sprachen fast nur die Experten. Daß Göring als Beauftragter für den Vierjahresplan besonders hartnäckig auf einen raschen «Anschluß» gedrängt hatte, war in sich logisch: Österreich vergrößerte das deutsche Industrievolumen um etwa 8 Prozent. Am wertvollsten waren die reichen Eisenerzvorkommen im Steirischen Erzberg, die bisher von der Österreichisch-Alpinen Montangesellschaft ausgebeutet worden waren und jetzt in den Besitz der Reichswerke Hermann Göring übergingen. Die etwa 400.000 Arbeitslosen Österreichs (das war über ein Fünftel der abhängig Beschäftigten) bildeten eine Arbeitskraftreserve, die die deutsche Rüstungsindustrie gut gebrauchen konnte. Die Gold- und Devisenreserven in Höhe von mindestens 782 Millionen Reichsmark ermöglichten es dem Reich, die Importkürzungen zu vermeiden, die angesichts des neuerlichen, von Amerika ausgehenden Einbruchs der Weltwirtschaft sonst nötig geworden wären. Materiell mit das Wichtigste am «Anschluß» aber war die Stärkung der deutschen Position gegenüber den Ländern Ostmittel- und Südosteuropas, die im Zuge des «Neuen Plans» zu den bevorzugten Außenhandelspartnern Deutschlands gehörten.

Ein Nachbarstaat hatte freilich seit dem März 1938 Grund zu größter Besorgnis: die Tschechoslowakei. Sie war jetzt durch das Großdeutsche Reich von drei Seiten, im Norden, Westen und Süden, förmlich in die Zange genommen. Daß Hitlers Expansionsstreben mit dem «Anschluß» Österreichs nicht befriedigt war, lag für die Politiker in Prag offen zutage. Am 20. Februar hatte der «Führer und Reichskanzler» in einer Reichstagsrede ein Schutzrecht des Reiches für jene «10 Millionen Deutschen» in «zwei der an unseren Grenzen liegenden Staaten» beansprucht, die «bis 1866 mit dem deutschen Gesamtvolk noch in einem staatsrechtlichen Bund» vereinigt ge wesen seien. Einer dieser Staaten, Österreich, war inzwischen ein Teil Deutschlands. Der andere, die Tschechoslowakei, unterhielt Bündnisse mit zwei Großmächten, Frankreich und der Sowjetunion. Deutsche Drohungen gegenüber Prag mußten also sofort zu schweren internationalen Verwicklungen führen.

Hitlers «fünfte Kolonne» in der CSR war die Sudetendeutsche Partei Konrad Henleins, die bei den Wahlen zum tschechischen Parlament im Mai 1935 zwei Drittel aller deutschen Stimmen erhalten hatte (und bei den Kommunalwahlen im Mai und Juni ihren Anteil auf 85 Prozent steigern konnte). Die Einverleibung der sudetendeutschen Gebiete in das Deutsche Reich durfte Henlein noch nicht verlangen, weil seine Partei sonst sofort verboten worden wäre. Aber er konnte tun, worauf Hitler ihn bei einer Zusammenkunft am 28. März 1938 festlegte: Er war in der Lage, der Prager Regierung unerfüllbare Forderungen zu stellen. Ebendies war fortan die Linie der Sudetendeutschen Partei.

Die Bedrohung der Tschechoslowakei war inzwischen so offenkundig, daß der sowjetische Außenminister Litwinow am 17. März gegenüber Auslandskorrespondenten in Moskau von der Notwendigkeit einer kollektiven Aktion zur Erhaltung des Friedens sprach und kurz darauf den Regierungen in Prag, Paris, London und Washington die Einberufung einer internationalen Konferenz zu ebendiesem Zweck vorschlug. Die britische Regierung, die sich durch die Erfahrung des Spanischen Bürgerkriegs in ihrer negativen Einschätzung der sowjetischen Politik noch bestärkt fühlte, antwortete ablehnend. Eine solche Konferenz würde, so erklärte Premierminister Chamberlain am 24. März im Unterhaus, die internationalen Spannungen noch erhöhen. Ebenso negativ war die Reaktion aus Washington. Die französische Regierung, das zweite Kabinett Blum, konnte nach dem Londoner «No» keine Zustimmung mehr signalisieren. Auch in der Folgezeit betonte Litwinow immer wieder die Bereitschaft der Sowjetunion, ihre Bündnispflichten gegenüber der Tschechoslowakei zu erfüllen, wenn auch Frankreich dies tue – und Polen oder Rumänien der Roten Armee den Durchmarsch durch ihr Territorium gestatteten.

Am 28. und 29. April erfuhren Blums Nachfolger Daladier und der neue Außenminister Bonnet bei einem offiziellen Besuch in der britischen Hauptstadt von Chamberlain und Lord Halifax, daß das Vereinigte Königreich im Fall eines deutschen Angriffs auf die CSR keine Verpflichtung gegenüber Frankreich eingehen wolle – eine Mitteilung, die die französische Seite nicht überraschen konnte, da Chamberlain sich bereits in einer Note vom 22. März entsprechend geäußert hatte. Für die Lösung des sudetendeutschen Problems empfahl Chamberlain weitgehende Zugeständnisse der tschechoslowakischen Regierung und direkte Verhandlungen zwischen Prag und Berlin. Diese abwiegelnde Haltung entsprach ziemlich genau dem, was auch Daladier und Bonnet für zweckmäßig und geboten hielten.

In der zweiten Maihälfte spitzte sich die Krise zwischen Berlin und Prag dramatisch zu. Die tschechoslowakische Seite machte in der irrigen, möglicherweise vom sowjetischen Geheimdienst inspirierten Erwartung eines unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriffs am 20. Mai einen Teil ihrer Streitkräfte mobil. Die britische Regierung ließ Hitler mitteilen, sie würde kaum anders können als Frankreich beizustehen, falls dieses seinem tschechoslowakischen Verbündeten zu Hilfe komme, gab aber gleichzeitig dem Quai d’Orsay zu verstehen, daß mit einem Waffengang der Briten nicht zu rechnen sei. Am 30. Mai setzte Hitler die Wehrmacht von seinem «unabänderlichen Entschluß» in Kenntnis, «die Tschechoslowakei in absehbarer Zeit durch eine militärische Aktion zu zerschlagen». Als Termin, bis zu dem die Wehrmacht bereit sein müsse, in die Tschechoslowakei einzumarschieren und Böhmen und Mähren in Besitz zu nehmen, nannte er den 1. Oktober 1938.

Die akute Gefahr eines großen europäischen, ja vielleicht eines zweiten Weltkrieges vor Augen, lehnten sich im Sommer 1938 erstmals führende Militärs, Diplomaten und namhafte Konservative gegen Hitler auf. Der Generalstabschef des Heeres, Generaloberst Ludwig Beck, forderte, gestützt auf eigene Denkschriften zur militärischen Lage, den Oberbefehlshaber des Heeres, General von Brauchitsch, auf, das Signal zur kollektiven Befehlsverweigerung der Generalität zu geben, und trat, als Brauchitsch sich zu diesem Entschluß nicht durchringen konnte, am 18. August von seinem Posten zurück. Becks Nachfolger, General Halder, unterstützte zeitweilig Planungen für einen Umsturz, an denen neben anderen der Berliner Wehrkreisbefehlshaber, General von Witzleben, der Chef der Abwehr, Admiral Canaris, und der Londoner Botschaftsrat Theodor Kordt beteiligt waren. Zu den Verschwörern gehörte auch der ehemalige Leipziger Oberbürgermeister Carl Goerdeler, der sich aber, wohl aus Sorge vor polizeilicher Verfolgung, von August bis Mitte Oktober 1938 in der Schweiz aufhielt.

Brauchitsch war nicht eingeweiht. Verweigerte er sich, konnte das Vorhaben kaum gelingen. Eine andere Voraussetzung für das Losschlagen war eine unnachgiebige Haltung der Briten: Nur wenn London Hitler entschieden entgegentrat, sah die konservative Widerstandsbewegung eine Chance, den Diktator zu stürzen und, das erschien vielen Verschwörern die volkstümlichste Alternative zu sein, die Monarchie unter einem der Söhne des Kronprinzen Wilhelm wiederherzustellen.

Beck und die anderen Konservativen schlossen Krieg als Mittel zur Erweiterung des deutschen Einflusses in Mitteleuropa keineswegs aus; auch sie sahen in der Tschechoslowakei eine unerträgliche Bedrohung Deutschlands. Aber Deutschland mußte nach ihrer Überzeugung eine realistische Chance haben, diesen Krieg zu gewinnen, also darauf bedacht sein, seine Kriegsziele zu begrenzen, die Zahl der Gegner möglichst klein zu halten und Umsicht walten zu lassen bei der Wahl des Zeitpunktes für den Kriegsbeginn. Einen militärischen Konflikt mit Großbritannien und Frankreich wollten sie um nahezu jeden Preis vermeiden. In dieser Hinsicht stimmten sie nicht nur mit dem Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Ernst von Weizsäcker, und Reichsbankpräsident Schacht, sondern sogar mit Göring überein. Die konservative Fronde wollte eine expansive Großmachtpolitik im wilhelminischen Stil, freilich ohne deren antienglische Spitze, betreiben. Die Zukunft Deutschlands durch die Vabanquepolitik Hitlers aufs Spiel zu setzen lehnte sie ab.

Als ein Abgesandter Becks, der ehemalige konservative Politiker Ewald von Kleist-Schmenzin, im August 1938 London aufsuchte, drang er nur zu konservativen Kritikern der Appeasementpolitik wie Winston Churchill und Lord Vansittart, dem Chefberater des früheren Außenministers Anthony Eden und Under Secretary of State im Foreign Office, vor. Chamberlain wurde zwar über das Drängen der Frondeure auf britische Härte unterrichtet, hielt Kleists Warnungen vor Hitlers kriegerischen Absichten aber für übertrieben. Die konservativen Verschwörer in Berlin erinnerten den Premierminister an die «Jakobiten am französischen Hof zur Zeit König Wilhelms», also an die emigrierten Anhänger Jakobs II., die nach der Glorious Revolution von 1688/89 auf die Restauration der Stuartmonarchie hinarbeiteten.

Ähnlich ging es Botschaftsrat Kordt, der am 7. September von Außenminister Halifax empfangen wurde und diesen mit Wissen und Billigung Weizsäckers aufforderte, bei Hitler keine Zweifel an der Kriegsbereitschaft Großbritanniens aufkommen zu lassen. Doch wie Chamberlain versprach sich auch Halifax keine Vorteile von einem Pakt mit preußischen Politikern und Militärs, deren außenpolitische Ziele, darunter auch die Forderung nach deutschen Kolonien, ihnen womöglich noch gefährlicher schienen als die Hitlers. Diesem hielten die regierenden Tories zugute, daß er Deutschland zu einem Bollwerk des Antibolschewismus gemacht hatte – eine Errungenschaft, die aus ihrer Sicht im britischen und europäischen Interesse lag und daher nicht von einem offen reaktionären Regime gefährdet werden durfte.

Die britische Regierung hatte zum Zeitpunkt, als Kordt mit Halifax zusammentraf, bereits ein weiteres Kapitel der Appeasementpolitik aufgeschlagen. Am 4. August 1938 traf als Abgesandter Chamberlains der frühere Handelsminister Lord Runciman, ein nationalliberaler Politiker und Schiffsmagnat, in Prag ein, um zwischen der tschechoslowakischen Regierung und den Sudetendeutschen zu vermitteln. Runciman entwickelte große Sympathien für die Sache der deutschen Minderheit. Die Prager Regierung war inzwischen zwar bereit, den Sudetendeutschen eine weitreichende Autonomie innerhalb der CSR zuzugestehen, womit sie praktisch alle bisherigen Forderungen der Sudetendeutschen Partei erfüllte und sich überdies, wenn auch sehr spät, von ihrer eigenen Gründungslegende, der vom Nationalstaat der tschechoslowakischen Nation, verabschiedete. Aber das alles genügte der Partei Konrad Henleins nun nicht mehr. Auf Hitlers Veranlassung hin setzte sie jetzt vielmehr auf Selbstbestimmung bis hin zum Recht der Sezession und des Anschlusses an das Deutsche Reich.

Runcimans Mission schlug infolgedessen fehl. Nach London zurückgekehrt, gab er der Prager Regierung die Hauptschuld an dem Mißerfolg seiner Vermittlungsversuche und befürwortete das Recht der Sudetendeutschen, sich mit Deutschland zu vereinigen. Im gleichen Sinn äußerte sich am 7. September, dem Tag der Zusammenkunft zwischen Halifax und Kordt, die «Times» in einem Leitartikel, der weltweit als «offiziös» interpretiert wurde, was das Foreign Office allerdings sogleich dementierte.

Am 6. September begann in Nürnberg der Reichsparteitag «Großdeutschland». In seiner Abschlußrede griff Hitler am 12. September die Tschechoslowakei scharf an. Er warf der Prager Führung «terroristische Erpressung» und «verbrecherische Ziele» vor, hob die gewaltigen militärischen Anstrengungen Deutschlands hervor, beteuerte, daß es ihm nur um das Selbstbestimmungsrecht der viereinhalb Millionen Deutschen in der Tschechoslowakei gehe, und drohte: «Wenn die Demokratien aber der Überzeugung sein sollten, daß sie … mit allen Mitteln die Unterdrückung der Deutschen beschirmen müßten, dann wird dies schwere Folgen haben! … Die Deutschen in der Tschechoslowakei sind weder wehrlos noch sind sie verlassen. Das möge man zur Kenntnis nehmen.»

Gegen Ende seiner Rede versuchte Hitler seiner Politik ein großes historisches Relief zu geben. Er setzte die Entwicklung Deutschlands unter seiner und Italiens unter Mussolinis Führung in Parallele und berief sich nicht zufällig auf den besonderen Rang des «alten Deutschen Reiches», zu dem ja auch Böhmen und Mähren gehört hatten. In diesem Zusammenhang gewann selbst die von Hitler angeordnete Rückführung der alten Reichsinsignien, darunter Krone, Reichsapfel, Szepter und Schwert, von Wien nach Nürnberg, also aus der Stadt der Habsburger Kaiser in die Stadt der Reichsparteitage, aktuelle Bedeutung. «Wenn wir die unerhörten Zumutungen bedenken, die in den letzten Monaten selbst ein Kleinstaat glaubte Deutschland stellen zu dürfen, dann finden wir eine Erklärung dafür nur in der geringen Bereitwilligkeit, im Deutschen Reich einen Staat erkennen zu wollen, der mehr ist als ein friedfertiger Emporkömmling … Das Römische Reich beginnt wieder zu atmen. Deutschland aber, wenn auch geschichtlich unendlich jünger, ist ebenfalls als staatliche Erscheinung keine neue Geburt. Ich habe die Insignien des alten Deutschen Reiches nach Nürnberg bringen lassen, um nicht nur dem eigenen deutschen Volk, sondern auch der ganzen Welt zu bedenken zu geben, daß über ein halbes Jahrtausend vor der Entdeckung der Neuen Welt schon ein gewaltiges germanisch-deutsches Reich bestanden hat … Das deutsche Volk ist nun erwacht und hat seiner tausendjährigen Krone sich selbst als Träger gegeben … Das neue italienisch-römische Reich genau so wie das neue germanisch-deutsche Reich sind in Wahrheit älteste Erscheinungen. Man braucht sie nicht zu lieben. Allein, keine Macht der Welt wird sie mehr entfernen.»

Kaum war der Nürnberger Parteitag vorbei, da überschlugen sich die deutschen Zeitungen mit Berichten über angebliche tschechoslowakische Gewalttaten in den von Deutschen bewohnten Gebieten. Die Prager Regierung hatte nach mehreren Zwischenfällen am 13. September in 13 Bezirken das Standrecht verhängt. Am 18. und 20. September erschien der «Völkische Beobachter» mit Schlagzeilen wie «Furchtbare Greueltaten der tschechischen Mordbanditen», «Mörder ohne Maske», «Zeugen des tschechischen Blutterrors», «23.000 Flüchtlinge», «Kommune und Hussiten – Hand in Hand», «Deutsches Blut klagt an» und «Mord mit jedem Mittel». Fabriziert wurden die Meldungen im Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda. Sie beruhten auf der freien Erfindung des dafür abgestellten Experten.

Während die Sudetenkrise ihrem Höhepunkt zutrieb, tat der britische Premierminister am 14. September einen sensationellen Schritt: Er kündigte seine Absicht an, mit Hitler zusammenzutreffen. Neville Chamberlain wußte in diesem Augenblick nicht nur die eigene Regierung, sondern auch die der meisten Dominions hinter sich: Die Premierminister von Kanada und Australien, William Mackenzie King und Joseph Lyons, hatten ihn in den Wochen zuvor zur Fortsetzung seiner Bemühungen um den europäischen und damit den Weltfrieden aufgefordert; dem Premierminister der Südafrikanischen Union, James Hertzog, einem Verfechter einer scharfen Rassentrennungspolitik, konnte die Politik Londons ohnehin nicht deutschfreundlich genug sein; eine ähnliche Position bezog der irische Regierungschef Eamon de Valera. Lediglich der neuseeländische Premierminister Michael Joseph Savage, der seit 1935 an der Spitze einer Labour-Regierung stand, war ein entschiedener Gegner des Appeasement. Eindeutig war hingegen die Unterstützung Chamberlains durch Frankreich: Unter dem Eindruck der pessimistischen Lagebeurteilung des eigenen Militärs, besonders des Chefs der Luftwaffe, General Vuillemin, drängte Daladier den britischen Premierminister, einen ehrenhaften Ausweg aus der Sudetenkrise zu suchen.

Bereits einen Tag nach der Ankündigung des britischen Premierministers, am 15. September, fand die Begegnung zwischen Chamberlain und Hitler im Berghof des «Führers» auf dem Obersalzberg bei Berchtesgaden statt. Hitler versuchte Chamberlain ebenso einzuschüchtern, wie er es sieben Monate zuvor in den Verhandlungen mit Schuschnigg getan hatte. Doch der Regierungschef der Macht, in der Hitler stets seinen maritimen Wunschpartner gesehen hatte, verhielt sich anders als der österreichische Bundeskanzler: Chamberlain beantwortete die Kriegsdrohungen des «Führers» mit der Frage, warum er ihn überhaupt habe kommen lassen, wenn er, der Reichskanzler, ohnehin zur Gewaltanwendung entschlossen sei. Unter diesen Umständen sei es wohl das Beste, wenn er gleich wieder abreise.

Hitler lenkte daraufhin ein. Wenn Chamberlain den Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Sudetendeutschen anerkenne, könne man sich anschließend über die Umsetzung in die Praxis unterhalten. Der Premierminister versprach, über das Selbstbestimmungsrecht beziehungsweise die Abtretung der Gebiete mit mehr als 50 Prozent deutscher Bevölkerung mit seinen Kabinettskollegen zu beraten, und nahm Hitler seinerseits das Versprechen ab, in der Zwischenzeit keine Gewalt gegenüber der Tschechoslowakei anzuwenden.

Vom britischen Kabinett erhielt Chamberlain Rückendeckung, ebenso der französische Ministerpräsident Daladier von seiner, damals noch von den Sozialisten tolerierten Regierung. Unter dem massiven, ja zuletzt ultimativen Druck aus London und Paris fügte sich am 21. September auch die Prager Führung unter Staatspräsident Beneš und Ministerpräsident Hodza in das Unvermeidliche und stimmte den britischen Vorschlägen, nämlich der Abtretung der rein deutschen Gebiete an Deutschland und Abstimmungen unter internationaler Aufsicht in den strittigen Gebieten, zu.

Am 22. September traf Chamberlain erneut mit Hitler zusammen, diesmal in Bad Godesberg. Doch die Verhandlungen wurden nicht zu dem Erfolg, mit dem der Premierminister gerechnet hatte. Hitler bestand auf dem sofortigen Einmarsch der Wehrmacht und der Befriedigung der von ihm ermutigten Gebietsansprüche Ungarns und Polens – Forderungen, auf die Chamberlain nicht eingehen konnte, ohne sich dem Vorwurf auszusetzen, er habe sich einer Erpressung gebeugt. Während die Gespräche noch andauerten, kam am späten Abend des 23. September die Meldung von der tschechoslowakischen Mobilmachung. Trotz der dramatischen Zuspitzung erklärte sich Chamberlain bereit, das «Memorandum» genannte Ultimatum mit den deutschen Forderungen der Regierung in Prag zuzustellen. Als Frist für die bedingungslose Annahme setzte Hitler den 28. September, 14 Uhr.

Als Hitler am 26. September die Nachricht von der Ablehnung seiner Forderungen durch die tschechoslowakische Regierung erhielt, schien die Welt am Rande eines großen Krieges zu stehen. Tags zuvor hatte Großbritannien seine Flotte in Kriegsbereitschaft versetzt, Frankreich Reservisten einberufen. Am 26. September erklärte die britische Regierung, England werde im Fall einer militärischen Aktion gegen die Tschechoslowakei Frankreich unterstützen. Am Abend desselben Tages forderte Hitler Beneš in einer von allen deutschen Rundfunksendern übertragenen Rede im Berliner Sportpalast ultimativ auf, zwischen Frieden und Krieg zu wählen, und versicherte, das Sudetenland sei seine letzte territoriale Forderung an Europa: «Wir wollen gar keine Tschechen.» Die fanatische Rede wurde mit frenetischem Beifall aufgenommen. Aber die Stimmung im Sportpalast war nicht die des deutschen Volkes. Den amtlichen Berichten zufolge war bei den Deutschen von Kriegsbegeisterung so gut wie nichts zu spüren. Die Hoffnung auf die Bewahrung des Friedens war vielmehr allgegenwärtig.

Am Tag nach der Sportpalastrede, dem 27. September, gab Hitler den Befehl, Kräfte für eine erste Angriffswelle bereitzustellen und 19 Divisionen mobil zu machen. Die deutschen Verschwörer mußten jetzt damit rechnen, daß der Ernstfall schon am kommenden Tag eintreten würde. Doch das Signal, der «Angriffsbefehl», kam nicht. Am 28. September, noch vor Ablauf des deutschen Ultimatums an die Tschechoslowakei, machte Mussolini, von Chamberlain und Roosevelt darum gebeten, das Angebot einer Vermittlung durch Italien, wenn auch zunächst in der Form, daß er Hitler bat, die deutsche Mobilmachung um 24 Stunden zu verschieben.

Hitler hätte den Vorschlag des «Duce», mit dem er im Oktober 1936 die «Achse Berlin-Rom» vereinbart hatte, nicht ablehnen können, ohne vor aller Welt und auch in den Augen des deutschen Volkes als Kriegstreiber dazustehen. Folglich ordnete er den Aufschub an. Einige Stunden später ging er auf Chamberlains Vorschlag einer internationalen Konferenz zur Beilegung des Streits um die Sudetengebiete ein – allerdings mit einer wichtigen Modifikation: Er lud Chamberlain, Daladier und Mussolini ein, am nächsten Vormittag mit ihm in München zusammenzutreffen, nicht aber Beneš, den der britische Premierminister mit dabei haben wollte.

Am 29. September trafen sich die vier Staats- und Regierungschefs in der bayerischen Hauptstadt. Das Ergebnis kam den Godesberger Forderungen des «Führers» sehr nahe. Die Tschechoslowakei mußte am 1. Oktober mit der Räumung des rein deutschen Gebietes beginnen und sie am 10. Oktober abschließen. Während dieser Zeit, beginnend am 1. Oktober, rückte die Wehrmacht etappenweise in das geräumte Gebiet ein. Für die ethnisch gemischten Gebiete war eine Abstimmung vorgesehen (auf die später verzichtet wurde); ferner sollte es ein Optionsrecht für Deutsche jenseits und Tschechen diesseits der neuen Grenze geben. Großbritannien und Frankreich garantierten den Bestand des restlichen Staatsgebietes der Tschechoslowakei für den Fall eines unprovozierten Angriffs. Deutschland und Italien wollten sich dieser Garantie nach Regelung der Frage der polnischen und der ungarischen Minderheiten anschließen, lösten dieses Versprechen aber nicht ein.

Hitler war der Gewinner, in anderer Hinsicht aber auch ein Verlierer der Konferenz. Er hatte wiederum ohne Schwertstreich ein deutsch besiedeltes Gebiet für Deutschland erobert, was sich als neuer Beleg seiner staatsmännischen Genialität propagandistisch ausschlachten ließ. Aber er hatte sehr viel mehr gewollt als die Aneignung des Sudetenlandes, nämlich einen Vorstoß der Wehrmacht nach Prag, die völlige Vernichtung des tschechoslowakischen Staates und die Inbesitznahme von Böhmen und Mähren. So weit war er nun, infolge der Vermittlungsaktion Mussolinis, nicht gelangt. Er hätte dieses Ziel auch nicht ohne Krieg und zwar vermutlich einen Krieg von mindestens europäischen, wenn nicht globalen Ausmaßen erreichen können. Darauf aber waren die Deutschen im Herbst 1938 nicht vorbereitet. «Mit diesem Volk kann ich noch keinen Krieg führen», hatte Hitler selbst zugeben müssen, als er am Nachmittag des 26. September von einem Fenster der Reichskanzlei aus sah, wie teilnahmslos und bedrückt die Berliner auf den von ihm angeordneten Vorbeimarsch einer motorisierten Division reagierten. Der Beifall der Münchner für Chamberlain und Daladier bezeugte abermals die Friedensliebe der deutschen Bevölkerung. Unter diesen Umständen war das Münchner Abkommen denn doch für Hitler ein höchst respektables Zwischenergebnis.

Die Regierungschefs der westlichen Demokratien wurden bei ihrer Rückkehr aus München mit Blumen überschüttet und bejubelt. Die meisten britischen und französischen Zeitungen äußerten sich geradezu euphorisch über den Ausgang des Treffens. Chamberlain wertete ein von Hitler und ihm unterzeichnetes Schriftstück, in dem beide die Entschlossenheit ihrer Völker bekundeten, nie wieder Krieg gegeneinander zu führen und alle Streitfragen auf dem Verhandlungsweg lösen zu wollen, als Unterpfand des Friedens für absehbare Zeit («peace for our time»).

Im Unterhaus freilich mußte sich der Premierminister scharfe Kritik nicht nur von seiten der Labour Party, sondern auch von seinen konservativen Parteifreunden Anthony Eden, Duff Cooper und Winston Churchill anhören. Cooper legte aus Protest gegen das Münchner Abkommen sein Amt als Marineminister nieder. Churchill brandmarkte am 5. Oktober das Ergebnis der Konferenz als Erfolg einer beispiellosen Erpressung durch Hitler. Das britische Volk solle wissen, «daß wir einen schrecklichen Meilenstein unserer Geschichte passiert haben, wobei das ganze europäische Gleichgewicht gestört wurde, und daß jetzt das furchtbare Urteil über die westlichen Demokratien gefällt worden ist: ‹Man hat dich in einer Waage gewogen und zu leicht befunden.› Glauben Sie nicht, daß das das Ende ist. Das ist erst der Beginn einer Abrechnung, bloß der erste Schluck, der erste Vorgeschmack des bitteren Trankes, der uns Jahr für Jahr vorgesetzt werden wird, es sei denn, daß wir in einer großartigen Wiedergewinnung unserer moralischen Gesundheit und kriegerischen Stärke von neuem erstehen und mutig für die Freiheit eintreten wie in alter Zeit.»

Bei der Abstimmung im Unterhaus stimmten am 6. Oktober nach viertägiger Debatte 366 Abgeordnete für und 144 gegen die Haltung, die der Premierminister in München eingenommen hatte. Die Nein-Stimmen kamen von der Labour Party und den Liberalen; 80 Tories, darunter Churchill, Eden, Cooper und der Premierminister der Jahre 1957 bis 1963, Harold Macmillan, enthielten sich der Stimme. Für Chamberlain hatte die Münchner Konferenz noch eine angenehme Nebenwirkung: Am 16. April hatte seine Regierung mit Italien einen Vertrag geschlossen, in dem sich beide Mächte für die Aufrechterhaltung des Status quo im Mittelmeer verbürgten. In Kraft treten sollte der Vertrag aber erst, wenn Italien seine Truppen aus Spanien abgezogen hatte. In München kündigte Mussolini gegenüber Chamberlain den Abzug von 10.000 italienischen Soldaten aus Spanien an, was eine günstige Atmosphäre für das Inkrafttreten des anglo-italienischen Mittelmeerpaktes schaffen würde. Der Premierminister teilte diese Ansicht, zumal die italienischen Angriffe auf britische Schiffe in republikanischen Häfen gemäß einer Weisung Francos nun ihr Ende fanden. Obwohl zu diesem Zeitpunkt noch 12.000 ausgesuchte italienische Soldaten auf der «nationalen» Seite in Spanien kämpften, trat der Vertrag am 16. November 1938 während der letzten Rückzugsgefechte der Republikaner am Ebro in Kraft.

In Frankreich kam der publizistische und parlamentarische Widerspruch gegen das Münchner Abkommen und damit gegen die Preisgabe eines stets loyalen Verbündeten Frankreichs fast nur von den Kommunisten, während die extreme Rechte der Regierung applaudierte. Bei der Abstimmung über die Außenpolitik Daladiers stimmten am 4. Oktober 535 Deputierte, darunter, mit der Ausnahme eines Parlamentariers, die Sozialisten Léon Blums, für die Regierung und 75 gegen sie; drei Parlamentarier enthielten sich der Stimme. Die Nein-Stimmen kamen von den 73 Kommunisten, dem sozialistischen Abgeordneten Jean Bouhey und dem rechten Deputierten Henri de Kerillis. Außenminister Bonnet, weit mehr noch als Daladier ein Anwalt des «apaisement» gegenüber Deutschland, hielt es für angebracht, seinen tschechoslowakischen Kollegen Kamil Krofta am 2. Oktober in einer Botschaft der «tiefen Sympathie» zu versichern, «mit welcher ich von Stunde zu Stunde während der nationalen und so schmerzhaften Prüfung Ihre noble und mutige persönliche Aktivität verfolgte». Eine Umfrage zeigte, daß längst nicht alle Franzosen die Haltung ihrer Regierung und der Mehrheit der Deputiertenkammer billigten. 57 Prozent beantworteten die entsprechende Frage mit Ja, 37 Prozent verneinten sie. Auf die Frage, ob Frankreich und Großbritannien sich künftigen Forderungen Hitlers widersetzen sollten, gaben 70 Prozent eine bejahende und 17 Prozent eine verneinende Antwort.

Eine unmittelbare Folge des Münchner Abkommens war das endgültige Zerbrechen des Volksfrontbündnisses. Die Radicaux verweigerten auf Drängen Daladiers nach dem «Non» des PCF jede weitere Zusammenarbeit mit den Kommunisten. Kurz darauf gingen auch die Sozialisten, als Reaktion auf die rigorose Finanzpolitik des neuen, am 1. November ernannten Finanzministers Paul Reynaud und seine Kampagne gegen die Vierzig-Stunden-Woche, in die Opposition. (Bei der Abstimmung über das Ermächtigungsgesetz, auf das sich Reynauds Maßnahmen stützten, hatte sich die SFIO am 4. Oktober der Stimme enthalten). Ein Generalstreik, zu dem die CGT am 30. November 1938 aufrief, erwies sich zwar nicht als Fehlschlag, aber noch weniger als voller Erfolg: Weniger als die Hälfte der Arbeitnehmer nahmen daran teil.

Der Streit um das Münchner Abkommen trieb Ende des Jahres innerhalb der SFIO einen Keil zwischen den Generalsekretär Paul Faure und den Fraktionsvorsitzenden Léon Blum: Faure wollte die Besänftigungspolitik gegenüber Deutschland konsequent weiterführen, während Blum, ungeachtet seines Bekenntnisses zur internationalen Abrüstung, Widerstand gegenüber der Aggression forderte und sich damit der kämpferischen Haltung des linken Parteiflügels um Jean Zyromski annäherte. Eine entsprechende Entschließung Blums fand im Dezember auf einem Sonderkongreß der Sozialisten im Pariser Vorort Montrouge eine knappe Mehrheit. Ein ähnlicher Riß ging durch die CGT, wobei die Kritiker des Münchner Abkommens um den Vorsitzenden Léon Jouhaux auf einem Kongreß der Gewerkschaft Mitte November in Nantes aber eine Zweidrittelmehrheit hinter sich brachten. Die Regierung Daladier, durch den Fehlschlag des Generalstreiks und die Gespaltenheit der Opposition noch gestärkt, konnte ihren Kurs der Verständigung gegenüber Deutschland unbehindert fortsetzen. Am 6. Dezember unterzeichneten die Außenminister Bonnet und Ribbentrop in Paris einen Nichtangriffspakt, in dem Deutschland auch die bestehenden Grenzen zu Frankreich ausdrücklich als endgültig anerkannte. Das Abkommen hatte denselben Wert wie jene schriftliche Bekundung des wechselseitigen Friedenswillens, zu der Chamberlain Hitler am 1. Oktober in München hatte bewegen können – nämlich keinen.

Für den Hauptbetroffenen des Münchner Abkommens, die Tschechoslowakei, war der Vertragsabschluß eine Katastrophe: Sie war von den Westmächten zur Kapitulation vor Hitler gezwungen worden. Erst nach Abschluß der Verhandlungen hatten Briten und Franzosen die nach München gereisten Vertreter der CSR über die Beschlüsse offiziell in Kenntnis gesetzt. Es blieb nicht beim Verlust der überwiegend von Deutschen bewohnten Gebiete der Tschechoslowakei. Am späten Abend des 30. September, kurz vor Mitternacht, ging in Prag ein polnisches Ultimatum ein, das die Abtretung des Gebiets um Teschen bis zum 1. Oktober, 12 Uhr, verlangte. Die tschechoslowakische Regierung fügte sich; am 2. Oktober erfolgte die Besetzung des umstrittenen Territoriums durch polnische Truppen. Der mit Deutschland abgestimmte Coup war in Polen so populär, daß der Regierungsblock OZN bei den Neuwahlen im November bei einer Wahlbeteiligung von 67,4 Prozent fast alle wählbaren Senatorensitze und 161 von 208 Mandaten im Sejm erobern konnte.

Drei Tage nach dem Einmarsch der Polen im Teschener Gebiet, am 5. Oktober, trat Präsident Beneš zurück. Am 2. November mußte sich die CSR dem (ersten) Wiener Schiedsspruch der beiden Achsenmächte Deutschland und Italien unterwerfen, der einen großen Teil der südlichen Slowakei mit überwiegend ungarischer Bevölkerung Ungarn zuschlug. Am 19. November schuf Prag den gesetzlichen Rahmen für die faktisch schon bestehende Autonomie der restlichen Slowakei und der Karpato-Ukraine.

Der neben Frankreich wichtigste Verbündete der Tschechoslowakei, die Sowjetunion, war zur Münchner Konferenz nicht eingeladen worden und zog aus der europäischen Herbstkrise den Schluß, daß die kapitalistischen Mächte den politischen Gegensatz zwischen Demokratie und Faschismus leicht überwinden konnten, um gemeinsame Sache gegen die Sowjetunion zu machen. Der Sowjetunion bleibe jetzt keine andere Möglichkeit, als sich mit Deutschland zu verständigen, erklärte der stellvertretende Außenminister Potjomkin am 4. Oktober dem französischen Botschafter Coulondre. Tatsächlich war der Gegensatz zur revolutionären Macht im Osten ein Element, das die Teilnehmerstaaten der Münchner Konferenz verband. Was London und Paris betraf, war der Antibolschewismus der Regierungen aber defensiv und nicht offensiv. Eine offensive Politik gegenüber der Sowjetunion betrieben drei Großmächte: das nationalsozialistische Deutschland und Japan, die im November 1936 den Antikominternpakt abgeschlossen hatten, und Italien, das ihm ein Jahr später beigetreten war.

Stalin hatte also Grund, sich bedroht zu fühlen. Aber auch von der Sowjetunion gingen Drohungen aus. Einen deutschen Angriff auf die Tschechoslowakei wollte sie mit einem Angriff auf Polen beantworten, von dem man in Moskau annahm, daß es der Roten Armee im Ernstfall kein Durchmarschrecht einräumen würde. Über die Komintern unterstützte Moskau die Absicht der tschechoslowakischen Kommunisten, einen nationalen Verteidigungskrieg in einen mitteleuropäischen Bürgerkrieg umzuwandeln, um die proletarische Revolution zum Sieg zu führen. Daß Hitler mit seinem Antibolschewismus in den westlichen Demokratien Widerhall fand, war auch ein Echo auf die Politik Stalins – die großen Säuberungen in der Sowjetunion, die Bürgerkriegspropaganda und die revolutionären Aktivitäten der Kommunistischen Internationale westlich der sowjetischen Grenzen.

Die Gefahr, daß die Sowjetunion aus einem europäischen Krieg gestärkt hervorgehen würde, war den Regierungen der westlichen Demokratien, aber auch der Prager Führung im Krisenjahr 1938 stets bewußt. Gegenüber der Gefahr, die vom nationalsozialistischen Deutschland ausging, schlossen hingegen nicht nur die meisten britischen Konservativen und die in Frankreich wieder tonangebenden bürgerlichen Parteien die Augen, es war vielmehr in beiden Ländern die breite Mehrheit der Gesellschaft, die den Ernst der Bedrohung nicht wahrhaben wollte.

Ob konfliktbereite Realisten wie Churchill schon im Herbst 1938 eine Mehrheit für eine Politik hinter sich zu bringen vermocht hätten, die notfalls zur militärischen Konfrontation mit Hitler bereit war, muß ebenso offen bleiben wie die Frage, ob eine zum Krieg entschlossene Regierung damals der Unterstützung der Dominions des Commonwealth hätte sicher sein können. Möglicherweise bedurfte es der Erfahrung des Scheiterns einer zunehmend illusionär gewordenen Appeasementpolitik, um der Einsicht zum Durchbruch zu verhelfen, daß die Demokratien Westeuropas über die militärische Rüstung hinaus äußerste Anstrengungen unternehmen mußten, wenn sie sich gegenüber dem gefährlichsten aller Aggressoren behaupten wollten. Daß sich bis zum September 1938 nur Minderheiten zu dieser Erkenntnis durchgerungen hatten, machte die Politik erst möglich, die mit innerer Logik zum moralischen Debakel von München führte: die Aufopferung des einzigen demokratisch gebliebenen Staates des östlichen Mitteleuropa durch die westlichen Demokratien, dargebracht auf dem Altar einer vermeintlichen Realpolitik.[15]

9. November 1938:
Vorgeschichte, Ablauf und Folgen der Judenpogrome in Deutschland

Vom deutschen Griff über die Grenzen war keine Menschengruppe so sehr betroffen wie die Juden. Allein durch den Anschluß Österreichs fielen 190.000 Juden in die Hände der Nationalsozialisten. Die Verfolgung der Juden in der nunmehrigen «Ostmark» des Reiches und namentlich in Wien, einer Hochburg der österreichischen Antisemiten, ging, wie Saul Friedländer schreibt, über das hinaus, was man zuvor in Deutschland erlebt hatte. «Die öffentliche Demütigung war krasser und sadistischer, die Enteignung besser organisiert, die Zwangsemigration rascher. Die Österreicher … dürsteten anscheinend mehr nach antijüdischen Aktionen als die Bürger des nunmehrigen Altreichs. Die Gewalttätigkeiten hatten bereits begonnen, bevor die Wehrmacht die Grenze überschritten hatte; trotz offizieller Bemühungen, ihre chaotischsten und pöbelhaftesten Aspekte einzudämmen, dauerten sie wochenlang an. Der Mob genoß die öffentlichen Schauspiele der Erniedrigung; zahllose Gauner aus allen Schichten, die entweder Parteiuniformen trugen oder nur improvisierte Hakenkreuz-Armbinden angelegt hatten, griffen zu Drohungen und Erpressungen im größten Ausmaß: Geld, Juwelen, Möbel, Autos, Wohnungen und Betriebe wurden ihren entsetzten jüdischen Besitzern entrissen.»

Von Amts wegen wurden zwischen März und November 1938 etwa 5000 Juden in Richtung Tschechoslowakei, Ungarn und Schweiz abgeschoben. Daneben lief die legale Auswanderung, wobei die Emigration ärmerer Juden durch Zwangsabgaben der jüdischen Kultusgemeinden finanziert wurde. Unter denen, die mit behördlicher Genehmigung das Land verlassen durften, war im Juni 1938 auch der zweiundachtzigjährige Sigmund Freud, der zuvor erklären mußte, daß er nicht mißhandelt worden sei (was er mit dem sarkastischen Zusatz tat: «Ich kann die Gestapo jedermann auf das beste empfehlen.») Bis Mai 1939 hatten ungefähr 100.000 Juden Österreich verlassen; das war mehr als die Hälfte aller Juden, die zur Zeit des Anschlusses in Österreich lebten. Mit der Zwangsemigration Hand in Hand ging die «Arisierung» jüdischen Besitzes, die in Österreich zügiger und systematischer als im Altreich vonstatten ging, wo sie seit 1936 in beschleunigtem Tempo betrieben wurde.

Die Abschiebung und Abwanderung der Juden machte das jüdische Flüchtlingsproblem endgültig zu einer internationalen Frage. Auf Initiative von Präsident Roosevelt befaßte sich im Juli 1938 in Evian auf der französischen Seite des Genfer Sees eine Konferenz, an der Vertreter von 32 Ländern teilnahmen, mit der jüdischen Flüchtlingsfrage. Das Ergebnis stand jedoch, wie Friedländer bemerkt, von Anfang an fest: Von keinem Land wurde, wie es in der Einladung hieß, erwartet, daß es mehr Emigranten aufnehme, als seine Gesetze gestatteten. Das galt auch für die USA mit ihrem restriktiven Einwanderungsgesetz von 1924. Tatsächlich brachte das Treffen trotz vieler humanitärer Appelle von «außen» keine konkreten Ergebnisse, wenn man einmal von der Einsetzung eines zwischenstaatlichen Komitees für Flüchtlinge unter dem Amerikaner George Rublee absieht. Die Nationalsozialisten schlugen aus dem Mißerfolg der Konferenz propagandistisches Kapital. Da kein Land seine Einwanderungspraxis zugunsten der Juden änderte, konnte der «Völkische Beobachter» seinen Bericht mit der triumphierenden Schlagzeile «Niemand will sie» überschreiben. Am 12. September erklärte Hitler auf dem Nürnberger Reichsparteitag, die großen dünn besiedelten demokratischen Reiche böten den Juden keine Hilfe, sondern nur «Moral».

Schon vor dem Anschluß Österreichs hatte es in Deutschland Anzeichen für eine Radikalisierung der antijüdischen Politik gegeben. Anfang 1938 wurden alle Juden gezwungen, ihre Pässe abzugeben; neue Pässe erhielten nur die, die ihre Auswanderung planten. Im April erging eine Anweisung an alle Juden, ihr Vermögen anzugeben. Im Juni definierte eine Verordnung zum Reichsbürgergesetz von 1935, wann ein Gewerbebetrieb als «jüdisch» zu gelten hatte. Ein Gesetz vom 6. Juli 1938 listete gewerbliche Dienstleistungen auf, die Juden künftig untersagt waren, darunter der Beruf des Immobilienmaklers. Eine von Ministerialrat Hans Globke aus dem Reichsinnenministerium, dem späteren Chef des Bundeskanzleramtes unter Konrad Adenauer, verfaßte Verfügung vom 17. August 1938 schrieb Juden, die keinen spezifisch jüdischen Vornamen trugen, vor, als weiteren Vornamen «Israel» oder «Sara» zu führen; am 1. Januar 1939 trat die Verordnung in Kraft. Am 30. September wurde die Zulassung jüdischer Ärzte aufgehoben. Parallel dazu liefen von Goebbels als Gauleiter von Berlin veranlaßte Aktionen zur Vertreibung der Juden aus der Reichshauptstadt: Parteigenossen in Zivil malten das Wort «Jude» und einen Davidstern auf die Schaufenster jüdischer Geschäfte. Im Herbst häuften sich in vielen Teilen des Reiches antisemitische Ausschreitungen; in München und Nürnberg wurden Synagogen in Brand gesteckt.

Auch andere Staaten beteiligten sich an der Diskriminierung von Juden. Nach Polen verabschiedete auch Ungarn im Mai 1938, noch vor dem faschistischen Italien, ein erstes antisemitisches Gesetz. Doch es waren nicht nur autoritäre oder totalitäre Regime, die antijüdische Maßnahmen trafen. Durch die von den Nationalsozialisten betriebene Zwangsemigration von Juden fühlte sich in besonderem Maß die Schweiz bedroht. Am 28. Mai 1938, zwei Wochen nach dem Anschluß Österreichs, beschloß der Bundesrat in Bern, von Inhabern österreichischer Pässe bei der Einreise ein vorher ausgestelltes Schweizer Visum zu verlangen. Nach der Ersetzung österreichischer durch deutsche Pässe wurde die Maßnahme auf die Inhaber deutscher Reisedokumente ausgedehnt. Die unausweichliche Folge war, daß auch Schweizer Bürger bei der Einreise nach Deutschland ein deutsches Visum benötigten. Um diesen unerwünschten Effekt zu korrigieren, schlug die Schweiz dem zuständigen Hauptamt Sicherheitspolizei (dem späteren Reichssicherheitshauptamt) in Berlin vor, die Pässe von Juden besonders zu kennzeichnen. Das Ergebnis war das große rote «J», mit dem die deutschen Behörden fortan Pässe von Juden stempelten. Die Neuregelung, die am 4. Oktober 1938 in Kraft trat, erlaubte es der Schweizer Polizei dem amtlichen Berner Bericht zufolge, bereits an der Grenze zu prüfen, «ob der Inhaber eines deutschen Passes Arier oder Nichtarier» war.

Dem Einmarsch deutscher Truppen in das Sudetenland folgte die Ausweisung der dort lebenden Juden in das verbliebene Staatsgebiet der Tschechoslowakei, was die Prager Behörden mit der Abschiebung der betreffenden Personen beantworteten. Da sich Ungarn weigerte, die vertriebenen Juden aufzunehmen, landeten mehrere Tausend Juden im Niemandsland zwischen der Tschechoslowakei und Ungarn an der Donau, wo sie in improvisierten Zeltlagern unter unerträglichen Bedingungen kampieren mußten.

Das Schicksal der aus den Sudetengebieten vertriebenen Juden war ein Vorspiel zu dem, was einer viel größeren Gruppe von Juden bevorstand: den über 56.000 polnischen Juden, die laut der Volkszählung von 1933 im Deutschen Reich lebten. Ihre Abschiebung nach Polen verhinderte die Warschauer Regierung mit einem Gesetz vom 31. Januar 1938, das es den Behörden gestattete, im Ausland lebenden Bürgern unter bestimmten Bedingungen, die meist nur auf Juden zutrafen, die polnische Staatsangehörigkeit zu entziehen. Im Oktober erfolgte eine verschärfende Verordnung, die Pässe von Auslandspolen für ungültig erklärte, sofern deren Inhaber bis zum Ende des Monats keine besondere Einreisegenehmigung vorweisen konnten. Wer diese Genehmigung nicht erhielt, wurde mit Wirkung vom 1. November 1938 staatenlos.

Die deutsche Seite beschloß daraufhin, sofort zu handeln. Auf Befehl des «Reichsführers SS und Chefs der Deutschen Polizei», Heinrich Himmler, sollten bis zum 29. Oktober alle männlichen polnischen Juden, die in Deutschland lebten, zwangsweise nach Polen abgeschoben werden. (Daß Frauen und Kinder sich den Männern anschließen würden, galt als sicher.) Da die polnische Grenzpolizei die deportierten Juden zurückschickte, irrten diese mehrere Tage lang ohne Nahrung im Niemandsland hin und her. Die meisten wurden schließlich in ein polnisches Konzentrationslager bei Zbaszyn eingewiesen, die restlichen durften nach Deutschland zurückkehren.

Unter den 16.000 polnischen Juden, die Ende Oktober 1938 aus Deutschland vertrieben wurden und nach Zbaszyn kamen, war auch die Familie Grynszpan aus Hannover. Ein Familienmitglied, der siebzehnjährige Herschel Grynszpan, hielt sich um diese Zeit illegal in Paris auf. Durch seine Schwester über das Schicksal seiner engsten Angehörigen informiert, beschloß er, seinen Protest auf eine Weise zu äußern, die in der ganzen Welt gehört wurde. Er kaufte sich eine Pistole, ging am 7. November in die deutsche Botschaft und schoß dort auf den Ersten Sekretär Ernst vom Rath. Der deutsche Diplomat wurde so schwer verwundet, daß er am Nachmittag des 9. November seinen Verletzungen erlag.

Das Attentat von Paris diente den Nationalsozialisten als Fanal für die größte Pogromwelle, die Deutschland seit den Judenmorden der Pestzeit von 1348 bis 1350 erlebt hatte. Wenige Stunden, nachdem der Tod Ernst vom Raths bekannt gegeben worden war, brannten in ganz Deutschland die Synagogen. 267 jüdische Gotteshäuser wurden zerstört, etwa 7500 jüdische Geschäfte verwüstet. Mindestens 91 Juden wurden getötet, Hunderte begingen Selbstmord oder starben infolge von Mißhandlungen in den Konzentrationslagern, wohin vermögende Juden zu Zehntausenden verbracht worden waren, um sie zur Auswanderung zu zwingen.

Das Signal zu den Pogromen der (vom Volksmund so genannten) «Reichskristallnacht» hatte Goebbels nach Rücksprache mit Hitler gegeben, der sich anläßlich der alljährlichen Veranstaltung zum Gedenken seines «Marsches zur Feldherrnhalle» von 1923 in München aufhielt. Verübt wurden die Greueltaten von SA, SS und zahllosen Parteigenossen als der organisierten Vorhut des deutschen Antisemitismus. Die Bevölkerung war aktiv kaum beteiligt und ließ nur wenig Sympathie für die Akte des Vandalismus erkennen: «Auch den Gesichtern war ganz selten einmal anzumerken, was ihre Besitzer dachten», hieß es in einem Bericht aus München. «Hier und da fielen Worte der Schadenfreude, aber auch solche des Abscheus konnte man gelegentlich hören.» Im kleinen Heilbrunn bei Bad Tölz begrüßte ein Teil der Beobachter «das Vorgehen gegen die Juden, andere sahen dem Vorgehen gelassen zu, und wieder andere haben eher Mitleid, auch wenn sie das nicht offen aussprechen». Dem Exilvorstand der SPD, der seinen Sitz inzwischen von Prag nach Paris verlegt hatte, berichteten Vertrauensleute aus dem Reich, daß die «Ausschreitungen von der großen Mehrheit des deutschen Volkes scharf verurteilt» würden.

Die Zeitungen der demokratischen Länder, obenan die britischen und die amerikanischen Blätter, berichteten ausführlich und meist voller Entsetzen über das, was in Deutschland in der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 geschah. Aber nur ein Land reagierte massiv: Präsident Roosevelt beorderte den amerikanischen Botschafter Hugh R. Wilson zur Berichterstattung nach Washington, um ihn kurz darauf aus Berlin abzuberufen. Sein Posten blieb demonstrativ unbesetzt. Daran änderte sich nichts bis zur Schließung der Botschaft nach der deutschen Kriegserklärung an die USA im Dezember 1941. In einer Pressekonferenz am 15. November (dem gleichen Tag, an dem Botschafter Wilson seinen Abschiedsbesuch bei Ribbentrop machte) erklärte Roosevelt zur Pogromnacht in Deutschland, er habe es kaum zu glauben vermocht, «daß solche Dinge sich in einer Zivilisation des 20. Jahrhunderts ereignen könnten» (that such things could occur in a twentieth century civilization). Der ehemalige Präsident Herbert Hoover, Innenminister Harold Ickes und Sprecher unterschiedlicher religiöser Gruppen äußerten in einer landesweit ausgestrahlten Rundfunksendung ihre Empörung über die neue Welle der Judenverfolgung in Deutschland. Fortan galten die Vereinigten Staaten in Berlin als Hauptquartier des Weltjudentums.

Am 10. November ordnete Goebbels das Ende des Pogroms an. Die endgültige Antwort, so verlautete aus dem Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda, werde dem Judentum auf dem Weg der Gesetzgebung erteilt. Am 12. November ergingen die ersten Verordnungen. Die deutschen Juden mußten eine «Sühneleistung» in Höhe von 1 Milliarde Reichsmark entrichten, die Kosten für die Wiederherstellung ihrer Geschäfte selbst tragen und etwaige versicherungsrechtliche Ansprüche an das Reich abtreten. Die Verordnung über die Ausschaltung der Juden aus dem Wirtschaftsleben untersagte Juden den Betrieb von Einzelhandelsverkaufsstellen, Versandgeschäften, Bestellkontoren und den selbständigen Betrieb eines Handwerks. Bis zum 1. Januar 1939 mußten Juden ihren Grundbesitz, ihre Unternehmen, Aktien, Juwelen und Kunstwerke verkaufen. Der Erlös, den die Juden dabei erzielten, war so niedrig, daß die «Arisierung» einer Enteignung gleichkam. In der Wirkung war sie eine gigantische Umverteilung von Vermögenswerten zugunsten nichtjüdischer Konkurrenten – eine Umverteilung, die bis in die Gegenwart fortwirkt.

Zur «Arisierung» des jüdischen Besitzes kamen reine Schikanemaßnahmen hinzu. Juden durften Schwimmbäder, Kinos, Theater, Konzerte und Museen nicht mehr besuchen; die Benutzung von Eisenbahnabteilen, in denen sich «Arier» aufhielten, wurde ihnen untersagt. Es war ihnen nicht länger gestattet, Gold, Silber, Edelsteine und Rundfunkgeräte zu besitzen; Telefonanschlüsse und Führerscheine wurden ihnen entzogen. Die Zusammenlegung von Juden in «Judenhäusern» und Zwangsarbeit konnten angeordnet werden. Deutsche Schulen waren fortan für Juden gesperrt, ebenso das allgemeine Wohlfahrtssystem.

Die gesellschaftliche Isolierung der Juden war seit der Jahreswende 1938/39 nahezu komplett. Eine Entscheidung darüber, was aus den 214.000 Juden werden sollte, die den Ergebnissen einer Volkszählung zufolge im Mai 1939 in «Großdeutschland» lebten, war um diese Zeit aber noch nicht gefallen. Der im Februar 1939 gegründeten Reichszentrale für jüdische Auswanderung, die Reinhard Heydrich als Chef der Sicherheitspolizei unterstand, gelang es zwar, die Zahl der in Deutschland lebenden Juden um etwa 30.000 zu vermindern. Aber da kein Staat bereit war, die verarmten deutschen Juden aufzunehmen, und Großbritannien wegen der zunehmend achsenfreundlichen Stimmung in der arabischen Welt die jüdische Einwanderung nach Palästina seit Frühjahr 1939 praktisch blockierte, war eine rasche und umfassende Lösung der deutschen «Judenfrage» auf dem Weg der forcierten Auswanderung nicht zu erwarten.

Am Willen der nationalsozialistischen Führung, sich der deutschen Juden zu entledigen, gab es dennoch keinen Zweifel. Er sei fest entschlossen, «die Juden aus Deutschland herauszubringen», sagte Hitler am 5. Januar 1939 in Berchtesgaden gegenüber dem polnischen Außenminister Józef Beck. «Man würde ihnen jetzt noch gestatten, einen Teil ihres Vermögens mitzunehmen … Je länger sie aber zögerten auszuwandern, desto weniger würden sie mitnehmen können.» Dreieinhalb Wochen später, am 30. Januar 1939, dem sechsten Jahrestag der sogenannten «Machtergreifung», erklärte Hitler im Reichstag, er wolle, wie schon so oft in seinem Leben, wieder ein Prophet sein: «Wenn es dem internationalen Finanzjudentum in und außerhalb Europas gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen, dann wird das Ergebnis nicht die Bolschewisierung der Erde und damit der Sieg des Judentums sein, sondern die Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa.»[16]

Allianz der Antipoden:
Die Entfesselung des Zweiten Weltkriegs

Die Richtung der künftigen deutschen Politik wurde im Spätjahr 1938 in zwei Geheimreden umrissen. Am 8. November erklärte Himmler vor den höchsten Führern der SS, der «Führer» werde ein «großgermanisches Reich schaffen …, das größte Reich, das von dieser Menschheit errichtet wurde und das die Erde je gesehen hat». Die Alternative lautete für Himmler: «das großgermanische Imperium oder das Nichts». Hitler selbst legte zwei Tage später vor ausgewählten Vertretern der deutschen Presse vertraulich dar, daß die Friedenspropaganda des Regimes, zu der man aus außenpolitischen Gründen gezwungen gewesen sei, die aber auch «ihre bedenklichen Seiten» habe, überholt war. Mittlerweile sei es notwendig geworden, «das deutsche Volk psychologisch umzustellen und ihm langsam klarzumachen, daß es Dinge gibt, die, wenn sie nicht mit friedlichen Mitteln durchgesetzt werden können, mit Mitteln der Gewalt durchgesetzt werden müssen».

Es war nicht nur Hitlers Friedenspropaganda, die sich im nachhinein als teilweise «bedenklich» erwies. Die Umerziehung zur Kriegsbereitschaft mußte auch berücksichtigen, daß der Alltag der Deutschen in den späten dreißiger Jahren trotz Hitler-Jugend, Reichsarbeitsdienst und allgemeiner Wehrpflicht von den zivilen Errungenschaften des Regimes geprägt war: der zunehmenden Sicherheit des Arbeitsplatzes, einer Reihe von sozialen Verbesserungen, vor allem zugunsten von Frauen und Familien, und den Freizeitangeboten von «Kraft durch Freude», der populärsten Einrichtung der Deutschen Arbeitsfront. Die Erwartungen von ungezählten Millionen richteten sich nicht auf kriegerische Eroberungen, sondern auf «KdF»-Schiffsreisen nach Norwegen oder im Mittelmeer oder gar auf den Erwerb eines «Volkswagens».

Im Jahr 1938 lag die Zahl der Arbeitslosen im Altreich bei 0,4 Millionen oder 1,9 Prozent der abhängigen Erwerbspersonen. In welchem Umfang der Abbau der Arbeitslosigkeit auf das Konto der Rüstungskonjunktur ging, wieviel höher das persönliche Einkommen ohne die gigantischen Ausgaben für die Rüstung gewesen wäre, was die Reichsmark tatsächlich wert war, vorausgesetzt, sie wäre frei in andere Währungen umtauschbar gewesen und Preise, Löhne und Mieten hätten sich nach dem Gesetz von Angebot und Nachfrage und nicht nach staatlichen Vorgaben gerichtet: Darüber konnte man nur spekulieren. Worauf es ankam, war, daß das, was man erreicht hatte, nicht aufs Spiel gesetzt wurde. Die meisten Deutschen glaubten freilich Ende 1938 auch gar nicht, daß der «Führer» auf Krieg aus war. Den offiziellen Stimmungsberichten zufolge bewies das Münchner Abkommen in den Augen der überwältigenden Mehrheit der «Volksgenossen» einmal mehr, daß Hitler in der Lage war, auch schwerste internationale Krisen ohne Krieg zu meistern.

Zu dem Zeitpunkt, als Hitler und Himmler ihre Geheimreden hielten, waren die nächsten Etappen der gewaltsamen Machterweiterung Deutschlands bereits festgelegt: Am 21. Oktober hatte Hitler die Weisung zur «Erledigung der Rest-Tschechei» sowie zur Inbesitznahme des (1923 von Litauen annektierten, seit 1924 autonomen) Memellandes gegeben. Am 24. November ergänzte er diese Instruktionen um den Befehl, die Besetzung der Freien Stadt Danzig vorzubereiten, die auf Grund des Vertrages von Versailles seit 1920 unter dem Schutz des Völkerbunds stand.

Mit der Danzigfrage rückte Polen ins Visier der expansiven deutschen Machtpolitik. Am 24. Oktober schlug Außenminister von Ribbentrop dem polnischen Botschafter Lipski ein Arrangement vor. Seine wichtigsten Punkte waren die Rückkehr Danzigs zum Deutschen Reich, exterritoriale Verkehrsverbindungen zwischen Ostpreußen und dem übrigen Reich, ein polnischer Freihafen auf Danziger Gebiet mit ebenfalls exterritorialer Verbindung dorthin, Verlängerung des Nichtangriffpaktes um 25 Jahre, Beitritt Polens zum Antikominternpakt. Wäre Polen auf die deutschen Vorschläge eingegangen, hätte es allenfalls noch als deutscher Juniorpartner beim sicherlich wenig später beginnenden Krieg gegen die Sowjetunion eine ungewisse Zukunft gehabt: eine Aussicht, die von einer Selbstpreisgabe Polens kaum noch zu unterscheiden war.

Als Hitler am 5. Januar 1939 dem polnischen Außenminister Józef Beck in Berchtesgaden dieselben Vorstellungen in leicht abgewandelter Form nahezubringen versuchte, sagte dieser zwar noch nicht definitiv Nein, ließ aber keinen Zweifel daran, daß ein Verschwinden des Freistaates Danzig der öffentlichen Meinung Polens nicht zuzumuten sei. Die endgültige Zurückweisung erfolgte drei Wochen später anläßlich eines Besuches von Ribbentrop in Warschau zwischen dem 25. und 27. Januar. Die Kompensationen, die der deutsche Außenminister in der gemeinsam zu erobernden Sowjetukraine in Aussicht stellte, waren nicht geeignet, die polnische Staatsführung unter Präsident Moscicki, Marschall Rydz-Smigly und Beck zu einer Änderung ihrer Position zu bewegen. «Wir sind doch keine Tschechen», beschied der polnische Außenminister seinen deutschen Kollegen.

Am 10. Februar 1939 legte Hitler vor Truppenkommandeuren dar, was ihn antrieb, auf Krieg und nur auf Krieg zu setzen. Die Erfolge von 1938 waren demnach lediglich Zwischenstationen auf dem Weg zu einem viel ehrgeizigeren Ziel. «Als im Jahre 1918 der Zusammenbruch erfolgte, hat das ziffernmäßig stärkste Volk Europas seine machtpolitische Stellung verloren und damit die Möglichkeit einer Durchsetzung seiner wichtigsten und natürlichsten Lebensinteressen mit allen Mitteln und unter allen Umständen. Es handelt sich wirklich um das stärkste Volk nicht nur Europas, sondern … praktisch der Welt.» Es gehe darum, «die Interessen unseres Volkes zu vertreten, als ob das Schicksal unserer Rasse in kommenden Jahrhunderten ausschließlich heute in unsere Hand gelegt wäre … Wir können uns nicht freisprechen von der Verpflichtung, so zu handeln, als ob tatsächlich durch unser Handeln jetzt die ganze deutsche Zukunft gestaltet würde … Wir haben wiedergutzumachen, was drei Jahrhunderte versäumten … Seit dem Westfälischen Frieden ist unser Volk einen Weg gegangen, der uns von der Weltmacht immer mehr zur Verelendung und zur politischen Ohnmacht führte.» Deutschland stehe mit seiner Erneuerung, die 1933 begonnen habe, nicht am Ende seines Weges, sondern erst am Beginn. Und auch darin war sich Hitler sicher: «Der nächste Krieg wird ein Weltanschauungskrieg, d.h. bewußt ein Volks- und ein Rassenkrieg sein.»

Die Rede vom 10. Februar 1939 machte klar, was Hitlers Programm von dem der wilhelminisch geprägten alten Eliten unterschied: Sie wollten hinter den Ersten Weltkrieg, er wollte hinter den Dreißigjährigen Krieg zurück; sie meinten, deutsche Interessen zu vertreten, er wußte sich im Besitz der einzig richtigen, der nationalsozialistischen Weltanschauung. Wenn Hitler von «Weltmacht» sprach, benutzte er einen Begriff, der seinen Zuhörern geläufig war. Aber für den Mann, der an der Spitze des angeblich stärksten Volkes der Welt stand, genügte es nicht, eine Weltmacht unter anderen zu führen; das Reich mußte zum stärksten Weltreich werden, was auf Weltherrschaft hinauslief. In diesen Zusammenhang paßte es, daß Hitler Ende Januar 1939 den Bau einer großen Unterwasserflotte befahl und im März vorbereitende Arbeiten für die Errichtung eines Reichskolonialamtes anordnete.

Am 12. Februar, zwei Tage nach seiner geheimen Grundsatzrede, empfing Hitler den slowakischen Politiker Vojtdch Tuka, der wegen Hochverrats 1929 zu einer langjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden war, und bekundete ihm seine Sympathie für die slowakische Unabhängigkeitsbewegung. Hitlers Entscheidung, das Problem der «Resttschechei» binnen kürzester Zeit zu lösen, war gefallen. Tatsächlich setzte er mit Hilfe slowakischer Separatisten durch, daß die Slowakei am 14. März ihre Unabhängigkeit erklärte.

Für den Abend desselben Tages bestellte Hitler den Nachfolger Beneš’ im Amt des Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik, Emil Hácha, nach Berlin, um ihn zur bedingungslosen Übergabe seines Staates zu zwingen. Am frühen Morgen unterzeichneten Hácha und Außenminister Chvalkovský ein «Abkommen», in dem es hieß, der tschechoslowakische Staatspräsident habe erklärt, daß er, «um eine endgültige Befriedung zu erreichen, das Schicksal des tschechischen Volkes und Landes vertrauensvoll in die Hände des Führers des Deutschen Reiches legt».

Unmittelbar danach begann der Einmarsch der Wehrmacht in die «Resttschechei». Am 16. März verkündete Hitler im Prager Hradschin die Errichtung des «Protektorats Böhmen und Mähren». Am 18. März wurde der frühere Außenminister von Neurath zum Reichsprotektor mit faktisch unbegrenzter Eingriffskompetenz ernannt; Staatspräsident Hácha bedurfte fortan des Vertrauens des «Führers und Reichskanzlers». Mit der Slowakei schloß das Reich am 18. März einen Schutzvertrag, der dem neuen Staat enge Bindungen an Deutschland, vor allem in außenpolitischer, militärischer, wirtschaftlicher und finanzieller Hinsicht auferlegte.

Das Protektorat Böhmen und Mähren bedeutete wegen seiner großen industriellen Kapazitäten für die deutsche Rüstungswirtschaft eine beträchtliche Stärkung. Geschickt verstanden es die Nationalsozialisten, Teile des tschechischen Bürgertums an der nun auch hier systematisch betriebenen «Arisierung» des jüdischen Besitzes zu beteiligen und auf diese Weise sich gefügig zu machen. Der unmittelbare militärische Vorteil der Zerschlagung der «Resttschechei» lag darin, daß das von der deutschen Propaganda so oft apostrophierte «Mutterflugzeugschiff» der Sowjetunion in Mitteleuropa nunmehr beseitigt war. Das Deutsche Reich hatte seit dem Frühjahr ein geradezu erdrückendes strategisches Gewicht, das ihm die Hegemonie über Ostmittel- und Südosteuropa dauerhaft zu sichern schien.

«Prag» wurde in mehr als einer Hinsicht zur Zäsur. Hitler hatte bei seinem dritten Griff über die Grenzen auch die Grenze überschritten, die einem deutschen Nationalstaat vom Begriff her gesetzt war: die der Zugehörigkeit zur deutschen Nation. Indem Deutschland sich den tschechischen Teil der Tschechoslowakei als Protektorat Böhmen und Mähren angliederte, hörte das Deutsche Reich auf, ein Nationalstaat wie andere zu sein. Der Begriff des «Reiches» gewann nun eine neue, gleichzeitig aber auch wieder sehr alte Qualität. Wenn im Mittelalter, schrieb 1940 der österreichische, seit 1935 im westfälischen Münster lehrende Rechtshistoriker Karl Gottfried Hugelmann, ein entschiedener Großdeutscher, in seinem Buch «Volk und Staat im Wandel deutschen Schicksals», «Größe, Macht und Würde» die «Wesensmerkmale» des Reiches gewesen seien, so gründe sich nunmehr diese Würde «auf das Bewußtsein einer Sendung». Die «Eingliederung» des tschechischen Volkes in das Deutsche Reich sei vom Reichsbegriff her berechtigt und sinnvoll. Es müsse sogar einleuchten, «daß mit der Eingliederung des Protektorats Böhmen und Mähren in das großdeutsche Reich sein Charakter als Reich … nur noch stärker hervortritt.»

Der Staatsrechtler Carl Schmitt verwies 1939 in seiner unmittelbar nach der Errichtung des Protektorats verfaßten Schrift «Völkerrechtliche Großraumordnung mit Interventionsverbot für raumfremde Mächte», der erweiterten Fassung eines am 1. April an der Universität Kiel gehaltenen Vortrags, auf den deutschen Sprachgebrauch, der «die großen, geschichtsträchtigen Gebilde – das Reich der Perser, der Mazedonier und der Römer, die Reiche der germanischen Völker wie die ihrer Gegner – in einem spezifischen Sinne immer ‹Reiche› genannt hat». Das Deutsche Reich in der Mitte Europas liege «zwischen dem Universalismus der Mächte des liberaldemokratischen völkerassimilierenden Westens und dem Universalismus des bolschewistisch-weltrevolutionären Ostens» und habe «nach beiden Fronten die Heiligkeit einer nicht-universalistischen, volkhaften, völkerachtenden Lebensordnung zu verteidigen». Der völkerrechtliche Begriff des Reiches sei der «einer von bestimmten weltanschaulichen Ideen und Prinzipien beherrschten Großraumordnung, die Interventionen raumfremder Mächte ausschließt und deren Garant und Hüter ein Volk ist, das sich dieser Aufgabe gewachsen zeigt … Der neue Ordnungsbegriff eines neuen Völkerrechts ist unser Begriff des Reiches, der von einer von einem Volk getragenen, volkhaften Großraumordnung ausgeht.»

Nationalsozialistische Juristen aus der Umgebung Himmlers warfen Schmitt sogleich vor, sein Versuch, ein deutsches Gegenstück zur amerikanischen «Monroe-Doktrin» von 1923 zu schaffen, sei halbherzig und weltanschaulich inhaltslos. Werner Best, der Personal- und Organisationschef der SD, bestritt im August 1939, daß es sich im völkischen Verständnis beim Völkerrecht überhaupt um «Recht» handle. «Jedes Volk hat nur den Zweck der Selbsterhaltung und Selbstentfaltung und kennt nur Maßstäbe des Handelns, die auf diesen Zweck ausgerichtet sind. In seinem Verhalten gegenüber anderen Völkern kann sich kein Volk an Regeln binden lassen, die ohne Rücksicht auf seine Lebenszwecke Gültigkeit haben sollen.» Hitlers Reich konnte also nicht etwa nur ein höheres Recht für sich beanspruchen als andere Staaten und Völker in «ihrem» Großraum; es war das Reich, und es gab überhaupt kein Recht, das andere Staaten und Völker ihm gegenüber hätten geltend machen können.

Für die beiden größten Demokratien Westeuropas bedeuteten die «Ideen des März» 1939 eine Art Wasserscheide. In Frankreich war die Empörung über den brutalen Bruch des Münchner Abkommens womöglich noch größer als in Großbritannien. Fast die gesamte Presse und die meisten Politiker, an ihrer Spitze Ministerpräsident Daladier, waren jetzt für einen harten Kurs gegenüber Hitler; Außenminister Bonnet, der weiterhin vor einer Konfrontation mit Deutschland zurückschreckte, war mit dieser Haltung innerhalb des Kabinetts isoliert. Der britische Premierminister Chamberlain nannte am 17. März, dem Vorabend seines 70. Geburtstages, in einer Rede vor konservativen Parteifreunden in Birmingham, die Zerschlagung der Tschechoslowakei eine vollständige Mißachtung der Verpflichtungen, die die deutsche Regierung in München eingegangen sei, und stellte eine Reihe von rhetorischen Fragen, die seine Befürchtungen erkennen ließen: «Ist dies das Ende einer Geschichte oder der Beginn einer neuen? Ist dies der letzte Angriff auf ein kleines Land oder werden weitere folgen? Ist dies in Wirklichkeit der erste Schritt in Richtung eines Versuches, die Welt durch Gewalt zu beherrschen?»

Am 21. März zog Großbritannien eine erste praktische Konsequenz aus der deutschen Aggression: Es schlug Polen einen Konsultationspakt vor, dem auch Frankreich und die Sowjetunion beitreten sollten. Am gleichen Tag wurde Polen von Ribbentrop in ultimativer Form aufgefordert, den deutschen Forderungen nach Rückkehr Danzigs zum Reich und einer exterritorialen Verbindung zwischen Ostpreußen und dem übrigen Deutschland zuzustimmen. Zwei Tage später marschierten deutsche Truppen, mit der erzwungenen Billigung Litauens, in das Memelgebiet ein, das damit wieder Teil des Reiches wurde. Am gleichen Tag, dem 23. März 1939 schloß Deutschland einen außerordentlich vorteilhaften Handelsvertrag mit Rumänien ab, das sich seit dem Beginn der Verhandlungen am 23. Februar massivem Druck aus Berlin ausgesetzt gesehen hatte.

Am gleichen Tag, dem 23. März 1939, begann Polen auf den erpresserischen Druck zu reagieren, den Deutschland in den Tagen zuvor auf die Slowakei, auf Litauen und auf Polen selbst ausgeübt hatte: Warschau leitete eine Teilmobilmachung ein; unter anderem wurden drei Divisionen und eine Kavalleriebrigade in die Nähe der Westgrenze verlegt. Zwei Tage später lehnte Polen die deutschen Forderungen vom 21. März definitiv ab. Am 31. März gab Chamberlain im Unterhaus eine Erklärung ab, in der das Vereinigte Königreich die nationale Unabhängigkeit, wenn auch nicht die Grenzen und die Integrität Polens garantierte – eine Erklärung, der sich Frankreich unmittelbar danach anschloß. Dem polnischen Außenminister Beck gelang es bei einem Besuch in London am 6. April, die einseitige britische Garantie in einen vorläufigen britisch-polnischen Beistandspakt zu verwandeln. Von einer gleichartigen sowjetischen Hilfe wollte Beck nichts wissen, aber auch einen Dreierpakt mit Frankreich, mit dem Polen ja schon seit 1924 verbündet war, hielt Beck nicht für opportun. Am 5. Mai hielt der polnische Außenminister im Sejm eine berühmt gewordene Rede, in der er die Prioritäten seines Landes auf programmatische Weise klarstellte: «Der Frieden ist eine kostbare und erwünschte Sache. Unsere durch den Krieg in Blut getaufte Generation verdient sicherlich eine Periode des Friedens. Doch der Frieden, wie fast alles in dieser Welt, hat einen hohen, aber doch berechenbaren Preis. Den Begriff des Friedens um jeden Preis kennen die Polen nicht. Im Leben der Völker und der Staaten gibt es nur ein Gut, das keinen Preis hat: die Ehre.»

Einen Tag nach dem Abschluß des vorläufigen britisch-polnischen Paktes, es war Karfreitag, der 7. April 1939, marschierten italienische Truppen in Albanien ein. König Zoglu floh nach Griechenland; am 12. April bot eine ad hoc einberufene «Nationalversammlung» König Viktor Emanuel III. die Krone Albaniens an, die dieser vier Tage später dankend annahm. Es folgten die Einsetzung eines Vizekönigs, der Erlaß einer neuen Verfassung, die Gründung einer faschistischen Partei und die Bildung eines Obersten Faschistischen Rates nach italienischem Vorbild. Mussolini wollte offenbar aller Welt zeigen, daß nicht nur Hitler, sondern auch er in der Lage war, einem anderen Land mit Hilfe des Militärs seinen Willen aufzuzwingen. Sein Vorbild in Berlin hatte bereits drei Tage zuvor, am 3. April, die Anweisung gegeben, den Angriff auf Polen militärisch so vorzubereiten, daß er ab dem 1. September 1939 zu jedem beliebigen Zeitpunkt beginnen konnte.

Am 13. April konterten Großbritannien und Frankreich die Aggressivität der Achsenmächte mit Garantieerklärungen für Rumänien, Griechenland und die Türkei. Die Niederlande, die Schweiz und Dänemark, denen entsprechende Erklärungen angeboten wurden, lehnten diese, um Deutschland nicht zu provozieren, ab. Einen Tag später forderte Chamberlain die Sowjetunion auf, ihren Nachbarn für den Fall eines unprovozierten Angriffs militärische Hilfe zuzusagen. Moskau lehnte dies am 18. April ab und schlug stattdessen ein britisch-französisch-sowjetisches Dreierbündnis vor. Fünf Wochen vorher, am 10. März, hatte Stalin allerdings in seiner legendären «Kastanienrede» vor dem 18. Parteitag der KPdSU erklärt, daß die Sowjetunion nicht daran denke, «den Kriegsprovokateuren, die es gewohnt sind, sich von anderen die Kastanien aus dem Feuer holen zu lassen, … die Möglichkeit (zu) geben, unser Land in Konflikte hineinzuziehen». Das war nur so zu verstehen, daß Großbritannien und Frankreich, die ein halbes Jahr zuvor ohne irgendeine Absprache mit ihm das Münchner Abkommen mit Hitler geschlossen hatten, sich nicht auf sowjetische Hilfe bei einer Auseinandersetzung mit dem nationalsozialistischen Deutschland verlassen durften.

Am 17. April gab der sowjetische Botschafter in Berlin, A. F. Merekalow, im Gespräch mit Staatssekretär von Weizsäcker zu erkennen, daß seine Regierung an einer Verbesserung der Beziehungen zu Deutschland interessiert sei. Am 4. Mai kam noch ein deutlicheres Signal aus Moskau: Stalin wechselte seinen als völkerbundfreundlich und westorientiert geltenden Außenminister Litwinow, der in der nationalsozialistischen Presse beharrlich als «der Jude Finkelstein» apostrophiert wurde, zugunsten des Vorsitzenden des Rates der Volkskommissare, Wjatscheslaw Molotow, aus, womit erstmals ein Mitglied des Politbüros das Außenministerium übernahm. Wirksamer als zuvor konnte Stalin nun die sowjetische Außenpolitik nach seinen Wünschen gestalten und ihr gegensätzliche Optionen offenhalten – ein Arrangement mit den Westmächten ebenso wie eines mit dem «faschistischen» Erzfeind in Berlin.

Am 28. April beantwortete der «Führer und Reichskanzler» in einer Rede vor dem Reichstag die diplomatischen Aktivitäten der Westmächte und Polens mit der Aufkündigung des deutsch-britischen Flottenabkommens von 1935 und des deutsch-polnischen Nichtangriffspakts von 1934. Auf weiten Strecken war die Rede eine rhetorisch überaus geschickte Erwiderung auf einen Vorstoß des amerikanischen Präsidenten. Am 14. April hatte Roosevelt Hitler und Mussolini um die Zusicherung ersucht, 31 namentlich genannte Länder zumindest in den nächsten 25 Jahren nicht anzugreifen. Wenn Deutschland und Italien eine ähnliche Aufforderung an die Vereinigten Staaten richten sollten, sagte Hitler, würde Roosevelt sich gewiß auf die Monroe-Doktrin berufen (wonach europäische Mächte sich nicht in die Angelegenheiten Nord-, Mittel- und Südamerikas einmischen durften). «Genau die gleiche Doktrin vertreten wir Deutsche nun für Europa, auf alle Fälle aber für den Bereich und die Belange des Großdeutschen Reiches». Eine «deutsche Monroe-Doktrin» im Sinne der Forderung «Deutschland für die Deutschen» hatte Hitler bereits im Oktober 1930 in einem Interview mit einer amerikanischen Nachrichtenagentur postuliert. Die Ausweitung auf Europa ging vermutlich auf Carl Schmitt zurück, der in seinem Kieler Vortrag auf das amerikanische Vorbild verwiesen hatte. Offenkundig über hochrangige nationalsozialistische Juristen war das Konzept zur Kenntnis Hitlers gelangt, der es fortan als seine Schöpfung betrachtete.

Dreieinhalb Wochen nach seiner Reichstagsrede, am 22. Mai 1939, schloß Hitler mit Mussolini den sogenannten «Stahlpakt». Er verpflichtete beide Länder, dem jeweils anderen unverzüglich militärisch zu Hilfe zu kommen, wenn dieses Krieg führen sollte. Dabei war es völlig unerheblich, ob es sich um einen Verteidigungs- oder einen Angriffskrieg handelte. Vielmehr waren allein der «Lebensraum» und die «Lebensinteressen» beider Mächte maßgeblich. Der italienische Außenminister Graf Ciano, Mussolinis Schwiegersohn, kommentierte das Abkommen in seinem Tagebuch mit der Bemerkung: «Ich habe noch nie einen ähnlichen Vertrag gelesen: Er ist reinstes Dynamit.»

Der «Duce» war auf das Ansinnen des «Führers» eingegangen, weil er dessen Beteuerung Glauben schenkte, der große Krieg werde erst in einigen Jahren zu führen sein. Tatsächlich war Italien im Jahr 1939 militärisch noch keineswegs in der Lage, die Rolle zu spielen, die Hitler ihm zugedacht hatte. Das Lager der «Verbündeten» Deutschlands im weiteren Sinn war inzwischen weiter angewachsen: Nach Japan und Italien hatten sich am 24. Februar 1939 der japanische Satellitenstaat Mandschukuo und Ungarn, am 27. März das Spanien Francos dem Antikominternpakt angeschlossen. Was diese Länder im Ernstfall zugunsten des Reiches unternehmen würden, blieb aber völlig offen – namentlich dann, wenn Hitler das Unerhörte wagen und sich mit Stalin verbünden sollte.

Über die künftige außenpolitische Richtung der Sowjetunion konnte man bis zum August 1939 ebenfalls nur spekulieren. Am 24. Mai fiel im britischen Kabinett die von Chamberlain nur widerstrebend akzeptierte, von Daladier erhoffte Entscheidung, mit Moskau in Verhandlungen über ein militärisches Bündnis einzutreten. Die öffentliche Meinung Großbritanniens befürwortete einen solchen Pakt: In einer Umfrage sprachen sich im Juni 1939 84 Prozent der Befragten für eine britisch-französisch-sowjetische Militärallianz aus. Doch erst am 24. Juli kam eine Übereinkunft zustande, die nach Abschluß einer Militärkonvention in Kraft treten sollte. Die gegenseitige Beistandspflicht galt demnach für den Fall eines direkten oder indirekten Angriffs auf eine der drei Mächte sowie auf Finnland, die baltischen Staaten, Polen, Belgien, Rumänien, Griechenland und die Türkei. Auf der Ausdehnung des casus belli auf den Fall der nur schwer definierbaren indirekten Aggression hatte Stalin bestanden, ebenso auf der Einbeziehung der baltischen Staaten und Finnlands, die sowjetische Hilfe gar nicht wünschten.

Die Militärverhandlungen, zu denen die westlichen Experten auf dem zeitraubenden Seeweg über Leningrad anreisten, begannen am 12. August. Als neuralgischer Punkt erwies sich eine sowjetische Forderung, auf die die Warschauer Regierung nicht einzugehen bereit war: das Recht der Roten Armee, über das polnische Territorium nach Westen vorzustoßen. Der französische Vertreter erhielt von Paris den Auftrag, dem Vertrag in der von der sowjetischen Seite gewünschten Form trotzdem zuzustimmen. Der britische Vertreter wurde von seiner Regierung lediglich zu der Erklärung ermächtigt, daß Polen im Kriegsfall wahrscheinlich die sowjetische Unterstützung annehmen würde. Das war kein Ergebnis, mit dem die sowjetische Seite zufrieden sein konnte.

Chamberlains Mißtrauen gegenüber Stalin war auch im Sommer 1939 mindestens ebenso tief wie das Mißtrauen, das der Generalsekretär der KPdSU gegenüber den Westmächten und vor allem gegenüber der Regierung der Tories in London empfand. Tatsächlich hatte der britische Premierminister bei aller Empörung über Hitlers Vertragsbruch vom 15. März 1939 seinen Glauben an eine Zukunft des Appeasement noch nicht vollständig aufgegeben. Er stand damit nicht allein. Die Federation of British Industry, seit jeher eine Vorkämpferin eines «economic appeasement», nahm Verhandlungen mit der (1934 geschaffenen) Reichsgruppe Industrie ausgerechnet an jenem Tag auf, an dem die Wehrmacht in die «Resttschechei» einmarschierte. Zwei Tage später, am 17. März 1939, unterzeichneten beide Organisationen eine Vereinbarung, in der sie sich für deutsch-britische Verhandlungen aussprachen, die der zerstörerischen Konkurrenz ein Ende bereiten und ein Höchstmaß an wirtschaftlicher Zusammenarbeit ermöglichen sollten. Im Juni und Juli 1939 kam es zwischen Chamberlains diplomatischen Chefberater Sir Horace Wilson und Ministerialdirektor Helmut Wohlthat aus Görings Vierjahresplanbehörde zu mehreren Gesprächen, in denen Wilson den britischen Willen zur wirtschaftlichen Kooperation, zur Erleichterung des Zugangs zu britischen Märkten für deutsche Produzenten und zu kolonialpolitischen Zugeständnissen bekräftigte – freilich unter der Voraussetzung, daß Deutschland etwas zur Wiederherstellung der internationalen Stabilität tat.

Seine Rüstung hatte Großbritannien auch in der Hochzeit des Appeasement nicht aus den Augen verloren. Im Oktober 1938, kurz nach der Münchner Konferenz, erhöhte das Unterhaus den Militäretat von 1,5 auf 2,1 Milliarden Pfund Sterling, was vor allem der Royal Air Force zugute kam. Am 29. Mai 1939 stimmte das Unterhaus gegen die Stimmen der Labour Party der Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht zu, die 1920 außer Kraft gesetzt worden war. Frankreich, das sich unter dem Regime der Sondervollmachten wirtschaftlich rasch zu erholen begann, forcierte unter dem Eindruck der deutschen Aggression vom März 1939 ebenfalls seine Anstrengungen auf dem Gebiet der Rüstung. Als Marcel Déat, der ehemalige Sozialist und nunmehrige Chef des rechtsradikalen Rassemblement National Populaire, am 4. Mai 1939, in der Zeitung «L’Œuvre» seine berüchtigte Frage «Mourir pour Dantzig?» mit einem Nein beantwortete, sprach er nicht für die Mehrheit der Franzosen. Bei einer Umfrage, ob man Hitler mit Gewalt entgegentreten sollte, falls er sich anschickte, die Freie Stadt Danzig zu erobern, entschieden sich um dieselbe Zeit 76 Prozent für ein Ja und 17 Prozent für ein Nein; 7 Prozent enthielten sich der Stimme.

Einen Rückschlag erlitten die militärischen Bemühungen der beiden größten westeuropäischen Demokratien am 11. Juli 1939: An diesem Tag durchkreuzte der außenpolitische Ausschuß des amerikanischen Senats mit 12 gegen 11 Stimmen die Absicht von Präsident Roosevelt, das geltende Neutralitätsgesetz von 1937 so zu lockern, daß Großbritannien und Frankreich im Kriegsfall, entsprechend der «cash and carry»-Praxis, militärisches Material in den USA kaufen und auf eigenen Schiffen abtransportieren konnten. Das Repräsentantenhaus hatte am 30. Juni einem entsprechenden Antrag mit der knappen Mehrheit von 200 gegen 188 Stimmen zugestimmt. Im Senat aber hatten die Isolationisten das Übergewicht. An eine aktive Unterstützung Großbritanniens und Frankreichs durch die Vereinigten Staaten im Fall eines Krieges mit Deutschland war im Sommer und Herbst 1939 nicht zu denken. Japan gegenüber gingen die USA auf Konfrontationskurs: Am 26. Juli 1939 kündigte Außenminister Hull auf Betreiben des Senats Tokio das Auslaufen des Handelsvertrages von 1911 an.

In die Zeit zwischen den politischen und den im engeren Sinn militärischen Verhandlungen, die Großbritannien und Frankreich im Sommer 1939 mit der Sowjetunion führten, fiel auch eine Begegnung von zwei sowjetischen Diplomaten, dem Berliner Geschäftsträger Georgi Astachow und dem stellvertretenden Leiter der Handelsmission in Berlin, Ewgenij Bacharin, mit dem Legationsrat Julius Schnurre vom Auswärtigen Amt in einem Berliner Weinlokal am 26. Juli. Bei dieser Gelegenheit warb der Vertreter der Wilhelmstraße unverhohlen um eine deutsch-sowjetische Verständigung, konkret um einen Nichtangriffspakt und eine Einigung über die beiderseitigen Interessen in Ostmitteleuropa. Sein Hauptargument lautete, Großbritannien könne der Sowjetunion nur die Teilnahme an einem europäischen Krieg und die Feindschaft mit Deutschland anbieten, während eine Übereinkunft mit dem Reich Neutralität und damit die Nichtbeteiligung an einem europäischen Konflikt bedeute.

Von da ab intensivierten sich die deutsch-sowjetischen Kontakte. Anfang August erklärte Ribbentrop dem sowjetischen Geschäftsträger direkt, von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer gebe es kein Problem, über das Deutschland und die Sowjetunion sich nicht verständigen könnten. Am 14. August verwies der Reichsaußenminister die Sowjetunion auf den gemeinsamen Gegensatz zu den «kapitalistischen westlichen Demokratien» und bot Moskau nochmals eine Abgrenzung der Interessensphären zwischen Ostsee und Schwarzem Meer an. Am 16. August ließ Molotow durchblicken, daß der Sowjetregierung ein Besuch des deutschen Außenministers in Moskau nicht unwillkommen sei. Am 19. August verständigten sich Berlin und Moskau auf Rahmenbedingungen für einen Kredit- und Handelsvertrag. Am 20. August bat Hitler Stalin in einem Telegramm direkt, Ribbentrop, der mit einer umfassenden Vollmacht zur Unterzeichnung eines Nichtangriffspakts ausgestattet sei, in Moskau zu empfangen. Am Abend des 21. August ging in Berlin die Antwort ein: Der Reichsaußenminister werde am 23. August in der sowjetischen Hauptstadt erwartet.

Am 24. August 1939 erfuhr die verblüffte, ja überwiegend schockierte Welt von der kurz nach Mitternacht, aber noch mit dem Datum des 23. August nach dreistündigen Verhandlungen erfolgten Unterzeichnung eines deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes durch die Außenminister Ribbentrop und Molotow. Auf zehn Jahre wollten die beiden Staaten sich aller aggressiven Akte enthalten, eine dritte Macht bei einem Krieg mit dem Vertragspartner in keiner Weise unterstützen und sich nicht an Mächtegruppierungen beteiligen, die sich mittelbar oder unmittelbar gegen den anderen Teil richteten.

Was der internationalen Öffentlichkeit nicht mitgeteilt wurde, war der gleichzeitige Abschluß eines Geheimen Zusatzprotokolls. Es sah die Aufteilung des Baltikums, dem auch Finnland zugerechnet wurde, und Polens in eine deutsche und eine sowjetische Interessensphäre vor. Die Nordgrenze Litauens und eine Linie, die durch die Flüsse Narew, Weichsel und San markiert war, trennte die beiden Sphären. Was Südosteuropa betraf, erkannte Deutschland das sowjetische Interesse an Bessarabien an, das zu Rumänien gehörte. Offen blieb, «ob die beiderseitigen Interessen die Erhaltung eines unabhängigen polnischen Staates erwünscht erscheinen lassen und wie dieser Staat abzugrenzen wäre». Diese Frage, so hieß es vielsagend, könne erst im Laufe der weiteren politischen Entwicklung geklärt werden.

Der Pakt lud Hitler zum Angriff auf Polen förmlich ein – eine Perspektive, die Stalin nicht erschreckte. Er gewann nicht nur ein großes Territorium hinzu, das ihm die Westmächte nicht zu bieten vermochten. Er gewann auch die Zeit, um weiter zu rüsten und sich besser für den Fall zu wappnen, daß Hitler auf sein Ziel zurückkam, den deutschen Lebensraum auf Kosten der Sowjetunion auszudehnen. In der Zwischenzeit konnte er zusehen, wie sich die kapitalistischen Mächte untereinander zerfleischten. «Der Krieg wird zwischen zwei Gruppen von kapitalistischen Staaten geführt … um die Neuverteilung der Welt, um die Weltherrschaft», sagte Stalin im kleinen Kreis, zu dem auch der Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, Georgi Dimitroff, gehörte, am 7. September 1939. «Wir haben nichts dagegen, daß sie kräftig aufeinander einschlagen und sich schwächen. Nicht schlecht, wenn Deutschland die Lage der reichsten kapitalistischen Länder (vor allem Englands) ins Wanken brächte.» Er, Stalin, sei es, der die kapitalistischen Mächte gegeneinander ausspiele.

Ideologisch war das Zusammengehen der Sowjetunion mit dem Deutschland Hitlers, eine Allianz der Antipoden, schwer zu begründen. Der «Faschismus an der Macht» war, so die im Dezember 1933 von Dimitroff geprägte, seit dem Siebten Weltkongreß der Komintern im August 1935 «offizielle» Formel, die «offene terroristische Diktatur der reaktionärsten, chauvinistischen, am meisten imperialistischen Elemente des Finanzkapitals». Mit einem solchen System sich verbünden hieß bisher hochgehaltene Grundsätze preisgeben, und just das war, im ersten Augenblick jedenfalls, der Vorwurf, den viele Kommunisten im Westen gegen die Hitler-Stalin-Pakt erhoben. Aber wenn man davon ausging, daß es einen Widerspruch zwischen den wohlverstandenen Interessen der internationalen Arbeiterklasse und der Sowjetunion nicht geben konnte, waren die deutsch-sowjetischen Vereinbarungen vom 23. August sehr wohl als Dienst am Weltproletariat und an der Weltrevolution zu rechtfertigen. Es bedurfte dazu nur der richtigen, einer dialektischen Sichtweise.

Nach kurzem Zaudern schlossen sich auch die kommunistischen Parteien Westeuropas, an ihrer Spitze die französische, dieser Deutung an: Das «Land des Sozialismus», hieß es nun beim PCF, habe die «Front der imperialistischen Staaten» durchbrochen, dadurch seine Zukunft und den Frieden in Europa gesichert. Schuld am Scheitern einer Verständigung zwischen der Sowjetunion, Großbritannien und Frankreich waren demnach ausschließlich die «imperialistischen» Westmächte: Sie hatten in München den deutschen «Drang nach Osten» unterstützt und sich einer Politik der kollektiven Sicherheit verweigert. Gleichzeitig bekräftigten die französischen ebenso wie die britischen Kommunisten und auch die Moskauer Exil-KPD ihre Entschlossenheit, den Kampf gegen die faschistischen Kriegstreiber konsequent fortzusetzen.

Die bemerkenswerteste Würdigung des Hitler-Stalin-Paktes kam von Mao Tse-tung, dem Generalsekretär der Kommunistischen Partei Chinas, die nach dem Beginn des japanischen Krieges gegen China im Jahr 1937 ein neues, wenn auch sehr prekäres Einheitsfrontbündnis mit der nationalistischen Kuomintang Tschiang Kai-scheks eingegangen war. In einem Interview bescheinigte Mao dem Moskauer Abkommen, es habe den Versuch der «internationalen reaktionären Bourgeoisie in Gestalt Chamberlains, Daladiers und anderer» durchkreuzt, einen Krieg zwischen der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken und Deutschland zu provozieren und die Einkreisung der Sowjetunion durch den antikommunistischen deutsch-italienisch-japanischen Block gesprengt. «Im Osten versetzte dieser Vertrag Japan einen Schlag, erwies China eine Hilfe, festigte in China selbst die Positionen jener, die sich für die Fortsetzung des Krieges gegen die japanischen Eindringlinge sind, war ein Schlag gegen die Kapitalisten … Der Abschluß des sowjetisch-deutschen Vertrages hat dem japanischen Imperialismus einen schweren Schlag versetzt, und in Zukunft erwarten ihn noch größere Schwierigkeiten.»

In der Tat war der Vertrag vom 23. August 1939 für Tokio eine böse Überraschung. Im Zuge des japanisch-chinesischen Krieges war es am 11. Mai an der Grenze zu Mandschukuo und der (1924 gegründeten, völlig von Moskau abhängigen) Mongolischen Volksrepublik zu schweren Konflikten mit der Sowjetunion, dem sogenannten Nomonhankrieg, gekommen. Die deutsch-sowjetische Verständigung verstieß nicht nur gegen den Antikominternpakt, sie erweckte in Japan den Eindruck, vom nationalsozialistischen Deutschland fallengelassen worden zu sein. Das kompromittierte Kabinett Hiranuma wurde gestürzt. In dem europäischen Krieg, der am 1. September 1939 ausbrach, blieb Japan neutral, zugleich aber auch in Fernost isoliert. Der Nomonhankrieg endete am 15. September mit einem Waffenstillstand, der einer vollständigen Niederlage des Kaiserreichs gleichkam und in der japanischen Armee eine schwere moralische Erschütterung auslöste.

Nicht nur den fernöstlichen Partner des Antikominternpaktes stürzte Hitler mit seiner dramatischen Kehrtwende in einen Zustand tiefer Verwirrung, sondern auch viele seiner getreuen Gefolgsleute in Deutschland. Den Vertrag vom 23. August 1939 zu rechtfertigen fiel dem «Führer und Reichskanzler» nicht leichter als Stalin. Immer wieder hatte er dem nationalsozialistischen Deutschland die Rolle der Macht zugeschrieben, die das Böse in Gestalt des Bolschewismus aufzuhalten bestimmt war. Auf dem Nürnberger Reichsparteitag vom September 1934 war er weit in die Geschichte zurückgegangen, um diese deutsche Mission zu untermauern: «So wie sich … früher schon die Völker und Rassenstöße aus dem Osten in Deutschland brachen, so ist auch diesmal unser Volk der Wellenbrecher einer Flut geworden, die Europa, seine Wohlfahrt und seine Kultur unter sich begraben hätte.» Im Jahr darauf, am 26. November 1935, erklärte er gegenüber dem amerikanischen Journalisten Hugh Baillie, dem Präsidenten von United Press: «Deutschland ist das Bollwerk des Westens gegen den Bolschewismus und wird bei dieser Abwehr Propaganda mit Propaganda, Terror mit Terror und Gewalt mit Gewalt bekämpfen.» Auf dem «Parteitag der Arbeit» im September 1937 nannte er den «jüdischen Weltbolschewismus … einen absoluten Fremdkörper» in der «Gemeinschaft europäischer Kulturnationen» und den «Anspruch einer unzivilisierten jüdisch-bolschewistischen internationalen Verbrechergilde, von Moskau aus über Deutschland als altes Kulturland Europas zu regieren», eine «Frechheit».

Jetzt, knappe zwei Jahre später, schloß Hitler nach seinen eigenen Worten vom 28. August 1939 einen Pakt mit dem «Satan», um den «Teufel» auszutreiben. Die Entmachtung Litwinows (und rückblickend auch die Trotzkis und anderer jüdischer Bolschewiki) diente ihm nun als Beleg dafür, daß die Sowjetunion unter Stalin gewillt war, mit dem bisherigen Internationalismus und Interventionismus zu brechen und sich in Richtung auf eine Art nationalen Sozialismus hinzuentwickeln. Vom «jüdischen Bolschewismus» und vom Kampf gegen ihn durfte ab sofort nicht mehr gesprochen werden. Zahllose Agitationsschriften mit der entgegenstehenden alten Botschaft waren über Nacht zu Makulatur geworden; antibolschewistische Propagandafilme wurden aus dem Verkehr gezogen.

Nach dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt wähnte Hitler die Position Deutschlands so stark, daß er ernsthaft mit der Annahme des Angebots rechnete, das er am 25. August dem britischen Botschafter Sir Neville Henderson machte: Das Deutsche Reich werde seine Kraft zur Sicherung des Bestands des Empire einsetzen, wenn England Deutschland nicht an der Lösung des deutsch-polnischen Problems hindere. Anschließend legte er den Kriegsbeginn auf den folgenden Tag, 4 Uhr 30, fest. Noch am 25. August mußte Hitler dann aber zur Kenntnis nehmen, daß Mussolini, der erst am 12. August von dem in Bälde zu erwartenden Angriff auf Polen erfahren hatte, sich infolge des Widerstands von König Viktor Emanuel III., Außenminister Ciano und führender Militärs nicht in der Lage sah, sein Land an der Seite Deutschlands in den Krieg zu führen. Außerdem erfuhr Hitler, daß der Abschluß des nunmehr endgültigen britisch-polnischen Beistandspaktes unmittelbar bevorstand. Damit drohte die Situation einzutreten, an die er immer noch nicht glauben wollte: ein Zweifrontenkrieg wie 1914. Unsicher geworden, nahm Hitler am Abend des 25. August den Vormarschbefehl auf Vorschlag Brauchitschs zurück.

Die Atempause nutzten Staatssekretär von Weizsäcker und in London Botschaftsrat Theodor Kordt zu hektischen Versuchen, doch noch den Frieden zu retten. Auch Göring bemühte sich, unter Einschaltung eines schwedischen Vermittlers, des Geschäftsmannes Birger Dahlerus, den Krieg im letzten Augenblick zu verhindern. Aber weder Brauchitsch noch der Generalstabschef des Heeres, General Halder, dachten daran, sich dem Krieg gegen Polen zu widersetzen. Hitler selbst war zum Krieg entschlossen. Er hoffte zwar noch immer, Großbritannien und Frankreich vom Eingreifen abhalten zu können, aber mehr als eine Hoffnung war das nicht.

Die Vorschläge, die Hitler Großbritannien unterbreitete, konnte London nicht annehmen, ohne seine Verpflichtungen gegenüber Polen zu verletzen; die Vorschläge, die am 29. August in ultimativer Form Warschau zugestellt wurden, waren ohnehin nur als Alibi vor der Geschichte gedacht. Irreal war auch Mussolinis Anregung vom 31. August, die britische Regierung möge der Rückkehr Danzigs ins Deutsche Reich zustimmen, um so den Boden für eine Konferenz der Großmächte zu bereiten. Am gleichen Tag um 12 Uhr 40 gab Hitler den endgültigen Befehl für die Eröffnung des Krieges gegen Polen: Er hatte am 1. September 1939 um 4 Uhr 45 zu beginnen. Um den Anschein einer Begründung zu schaffen, mußte die SS an der deutsch-polnischen Grenze für geeignete «Zwischenfälle» sorgen. Einer davon war der fingierte Überfall auf den Sender Gleiwitz durch SS-Männer, die polnische Uniformen trugen, am späten Abend des 31. August.

Hitler stand nicht unter irgendwelchen ökonomischen Zwängen, als er am 1. September den Zweiten Weltkrieg entfesselte. Seine Kriegswirtschaftspolitik hätte Deutschland zwar ohne Eroberung fremden Territoriums nicht mehr lange fortsetzen können, der Anschluß Österreichs, die Angliederung des Sudetenlandes und die Errichtung des Protektorats Böhmen und Mähren aber hatten bereits eine gewisse wirtschaftliche Entlastung gebracht. Der Krieg sollte nach Hitlers festem Willen zum frühestmöglichen Zeitpunkt beginnen. Ein Abwarten hätte bedeutet, Großbritannien und Frankreich mehr Zeit für ihre Aufrüstung zu lassen, so daß Deutschland seinen Vorsprung auf diesem Gebiet zu verlieren drohte. Der Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion befreite Hitler von der Gefahr eines «großen» Zweifrontenkrieges. Der amerikanische Isolationismus war im Sommer 1939 noch stark genug, um einen raschen Kriegseintritt der USA an der Seite Großbritanniens und Frankreichs unwahrscheinlich zu machen. Unter diesen Umständen empfahl sich ein rasches Losschlagen gegen Polen – zumal Hitler noch keineswegs davon überzeugt war, daß London und Paris ihre Beistandsversprechen gegenüber Warschau einlösen würden.

Von Kriegsbegeisterung konnte im September 1939, anders als ein Vierteljahrhundert zuvor, in Deutschland nirgendwo die Rede sein. «Der Wille zum Frieden ist stärker als der zum Krieg», beobachtete Ende Juni der Landrat von Ebermannstadt in Oberfranken. «Bei dem weitaus überwiegenden Teil der Bevölkerung besteht deshalb mit einer Lösung der Danziger Frage nur dann Einverständnis, wenn dies in der bisherigen Weise schlagartig und unblutig vor sich geht, wie die bisherigen Eingliederungen im Osten … Mit einer Begeisterung, wie sie 1914 war, könnte heute nicht gerechnet werden.» Einen Monat später faßte derselbe Beamte die Stimmung der Bevölkerung in den Worten zusammen: «Die Beantwortung der Frage, wie das Problem, ‹Danzig und der Korridor› zu lösen ist, ist in der Öffentlichkeit noch immer die gleiche: Angliederung an das Reich? Ja. Durch Krieg? Nein.» Am 31. August, dem letzten Friedenstag, notierte der Landrat, was auch aus anderen Regionen des Reiches gemeldet wurde: «Das Vertrauen zum Führer wird jetzt wohl der härtesten Feuerprobe seit je unterstellt. Der überwiegende Teil der Volksgenossen erwartet von ihm die Verhinderung des Krieges, und zwar, wenn es nicht anders möglich ist, selbst unter Verzicht auf Danzig und den Korridor.»

In seiner Reichstagsrede vom 1. September 1939 berief sich Hitler wenige Stunden nach Kriegsbeginn auf das historische Idol, dem er sich am nächsten fühlte: Friedrich den Großen. Er wurde als Zeuge dafür aufgerufen, daß Deutschland gegebenenfalls auch einer großen Mächtegruppierung trotzen könne. «Ein Wort habe ich nie kennengelernt, es heißt: Kapitulation. Wenn aber irgend jemand meint, daß wir vielleicht einer schweren Zeit entgegengehen, so möchte ich bitten zu bedenken, daß einst ein Preußenkönig mit einem lächerlich kleinen Staat einer der größten Koalitionen gegenübertrat und in drei Kämpfen am Ende doch erfolgreich bestand, weil er jenes gläubige, starke Herz besaß, das auch wir in dieser Zeit benötigen. Der Umwelt aber möchte ich versichern: Ein November 1918 wird sich niemals mehr in der deutschen Geschichte wiederholen!»

Dem deutschen Überfall auf Polen folgten noch am 1. September Aufforderungen der britischen und der französischen Regierung, Deutschland möge seine Angriffshandlungen einstellen und seine Truppen aus polnischem Gebiet zurückziehen. Am 2. September verlieh London seiner Note vom Vortag Nachdruck, in dem es daraus ein Ultimatum machte – befristet auf den 3. September, 11 Uhr. Da eine deutsche Antwort zu diesem Zeitpunkt nicht vorlag, befand sich Großbritannien nunmehr im Krieg mit Deutschland. Das französische Ultimatum wurde am 3. September um 12 Uhr 20 übereicht. Es lief um 17 Uhr ab. Danach herrschte zwischen Frankreich und Deutschland Kriegszustand. Vom gleichen Tag datieren die Kriegserklärungen von zwei Mitgliedern des Commonwealth, Australien und Neuseeland, sowie von Britisch-Indien. Am 6. September folgte die Südafrikanische Union (wo sich Premierminister Hertzog, der sich für die Neutralität seines Landes eingesetzt hatte, der interventionsbereiten Mehrheit von Regierung und Parlament fügen mußte) und am 10. September Kanada. Von Anfang an hatte Hitlers Krieg also nicht nur europäische, sondern auch globale Dimensionen.

Das britische Unterhaus gab der Regierung Chamberlain am 3. September volle Rückendeckung; die Labour Party hatte bereits am 1. September ein eigenes Kriegsmanifest mit einem Aufruf zum bewaffneten Widerstand gegen Hitlers neueste Aggression veröffentlicht. Neville Chamberlain trat trotz des Scheiterns seiner bisherigen Politik gegenüber Deutschland nicht zurück; er stärkte seine innerparteiliche Position dadurch, daß er am 3. beziehungsweise 4. September drei konservative «anti-appeasers» in das Kabinett aufnahm: Winston Churchill als Ersten Lord der Admiralität, Anthony Eden als Minister für die Dominions und Harold Macmillan als Chef des neu geschaffenen Informationsministeriums.

Die französische Regierung konnte sich bei ihrer Kriegserklärung ebenfalls auf die volle Rückendeckung des Parlaments stützen: Am 2. September hatten Deputiertenkammer und Senat einstimmig, durch Handaufheben, die Regierung Daladier ermächtigt, neue Kredite aufzunehmen, von denen alle wußten, daß es, auch wenn der Ministerpräsident das Wort «Krieg» vermied, Kriegskredite waren. In beiden Kammern des Parlaments stimmten auch die Kommunisten für die Vorlage der Regierung. Dreieinhalb Wochen später, am 26. September, wurde die Kommunistische Partei für illegal erklärt, nachdem diese auf Weisung der Komintern begonnen hatte, auch unter Soldaten gegen den «imperialistischen Krieg» zu agitieren und den inzwischen erfolgten Einmarsch der Roten Armee in Ostpolen als Befreiungsaktion zu verteidigen.

Hitler, der von den prompten Reaktionen der westlichen Demokratien überrascht wurde, trat die Flucht nach vorn an. Seit dem 3. September hatte er wieder ein klares Feindbild: das Judentum. Doch es war nun nicht mehr das Judentum in seiner «bolschewistischen», sondern in seiner «demokratischen», «plutokratischen», «kapitalistischen» Erscheinungsform. Ihm gab Hitler, als Dialektiker nunmehr Stalin fast ebenbürtig, die Schuld an dem von ihm entfesselten Krieg. Nicht das britische Volk könne für den Krieg verantwortlich gemacht werden, hieß es im Aufruf an das deutsche Volk vom 3. September, den er noch vor dem Kriegseintritt Frankreichs verfaßt hatte. «Es ist jene jüdisch-plutokratische und demokratische Herrenschicht, die in allen Völkern der Welt nur gehorsame Sklaven sehen will, die unser neues Reich haßt, weil sie in ihm Vorbilder einer sozialen Arbeit erblickt, von der sie fürchtet, daß sie ansteckend auch in ihrem eigenen Lande wirken könne.»

Den «Nationalsozialisten und Nationalsozialistinnen» gegenüber behauptete Hitler am 3. September: «Unser jüdisch-demokratischer Weltfeind hat es fertiggebracht, das englische Volk in den Kriegszustand gegen Deutschland zu hetzen. Die Gründe dafür sind genau so verlogen und fadenscheinig, als (sic!) es die Gründe 1914 waren.» An die Parteigenossen erging der Aufruf: «In wenigen Wochen muß die nationalsozialistische Kampfbereitschaft sich in eine auf Leben und Tod verschworene Einheit verwandelt haben. Dann werden die kapitalistischen Kriegshetzer Englands und seiner Trabanten in kurzer Zeit erkennen, was es heißt, den größten Volksstaat Europas ohne jede Veranlassung angegriffen haben.»

Die Sprache Hitlers erinnerte am 3. September 1939 stark an eine besondere Spielart der «Ideen von 1914»: die Gegenüberstellung des sozialen, ja sozialistischen Deutschland und des kapitalistischen, ja plutokratischen England. Die «jüdische Weltverschwörung» schien fast über Nacht ihr Hauptquartier vom Moskauer Kreml in die Londoner City verlegt zu haben. Vermutlich fand Hitlers antikapitalistische Rhetorik in der Arbeiterschaft dank der inzwischen erreichten Vollbeschäftigung, des Ausbaus des Wohlfahrtsstaates und mancher populärer Freizeitangebote der Deutschen Arbeitsfront sogar einen gewissen Anklang, und um die Unterstützung durch die Arbeiter mußte es Hitler besonders gehen, wenn er einen neuen «November 1918» ausschließen wollte. Neu war gegenüber dem wilhelminischen Deutschland, daß der Appell an das antijüdische Ressentiment nicht von irgendwelchen gesellschaftlichen oder politische Gruppen, sondern von «oben» kam, also offiziellen Charakter trug. Wie immer es um den Widerhall dieser Parolen stand: In Deutschland befand sich seit 1933 der Antisemitismus an der Macht. Darin lag ein grundlegender Unterschied zwischen den Kriegsausbrüchen von 1914 und 1939 – und zwischen den Kriegen, die damals begannen.

Einen anderen Unterschied markierte Hitler durch einen Erlaß, den er im Oktober 1939 unterzeichnete und auf den 1. September, den Tag des Kriegsbeginns, zurückdatierte. Er lautete: «Reichsleiter Bouhler und Dr. med. Brandt sind unter Verantwortung beauftragt, die Befugnisse namentlich zu bestimmender Ärzte so zu erweitern, daß nach menschlichem Ermessen unheilbar Kranken bei kritischster Beurteilung ihres Krankheitszustandes der Gnadentod gewährt werden kann. Adolf Hitler.»

Damit machte sich der «Führer» endgültig zum Herrn über Leben und Tod. «Sein» Krieg sollte ihm die Möglichkeit geben, auch nach innen die letzten Konsequenzen aus seiner sozialdarwinistischen Weltanschauung zu ziehen und einem neuen, reinrassigen und gesunden, arischen Menschentypus zum Durchbruch zu verhelfen. Während die Aufmerksamkeit des deutschen Volkes dem Kampf an den Fronten zugewandt war, mochte es leichter sein als zuvor, ohne großes Aufsehen den Schritt von der «Verhütung erbkranken Nachwuchses», die ein Gesetz vom 14. Juli 1933 erlaubte, zur «Vernichtung lebensunwerten Lebens», von der «Eugenik» zur «Euthanasie», zu tun. Vorkämpfer der letzteren waren vor allem der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche, die, wie schon an anderer Stelle erwähnt, 1920 die «Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» (so der Titel des gemeinsam verfaßten Buches) gefordert hatten. Aber in breiten Kreisen der Gesellschaft und zumal bei den christlichen Kirchen galt der «Gnadentod» für Geisteskranke nach wie vor als Mord. Im Zeichen des Krieges hoffte Hitler, den Zivilisationsbruch, den er wollte, durchsetzen zu können. Hinderliche Normen aus der Tradition des bürgerlichen Rechtsstaates im Bedarfsfall außer Kraft zu setzen lag in der Logik des totalitären Staates. Im nationalsozialistischen Deutschland konnte diese Logik sich erst im Krieg voll entfalten.[17]