Ende Januar 1932 zerbrach das Kabinett Buresch am wechselseitigen Mißtrauen zwischen Christlichsozialen und Großdeutschen, den stärksten Befürwortern der Zollunion. Buresch blieb als Chef einer bürgerlichen Minderheitsregierung noch bis Mai im Amt. In die Zeit seines zweiten Kabinetts fielen die Landtagswahlen vom 24. April 1931, bei denen ebenso wie bei den gleichzeitigen Kommunalwahlen in Kärnten und der Steiermark die Nationalsozialisten starke Stimmengewinne verbuchten und erstmals in die Parlamente einzogen. Am 20. Juni 1932 löste der bisherige christlichsoziale Land- und Forstwirtschaftsminister Engelbert Dollfuß Buresch ab. Der neue Bundeskanzler nahm Mitglieder des Landbundes und des Heimatblocks in sein Kabinett auf, was seiner Koalition einen Vorsprung von einer Stimme vor der Opposition aus Sozialdemokraten und Großdeutschen verschaffte.

Nur mit knapper Not überstand die Regierung Dollfuß im August 1932 die parlamentarische Auseinandersetzung um die Völkerbundsanleihe von 300 Millionen Schilling entsprechend dem Lausanner Protokoll vom 15. Juli, durch das Österreich sich verpflichtete, für die Dauer von 30 Jahren keine wirtschaftliche oder politische Union mit dem Deutschen Reich einzugehen. Im November 1932 setzte Dollfuß erstmals das Mittel einer Verordnung nach dem (niemals aufgehobenen) Kriegswirtschaftlichen Ermächtigungsgesetz von 1917 ein, um den Risiken des normalen Gesetzgebungsverfahren zu entgehen: ein deutliches Zeichen für die Krise des parlamentarischen Systems und den Willen des Kanzlers, das Staatsleben auf eine neue, autoritäre Grundlage zu stellen.

Am 4. März 1933 erwies das Präsidium des Nationalrats der Regierung ungewollt einen großen Dienst: Nach einem Konflikt um die richtige Auslegung der Geschäftsordnung bei der Abstimmung über ein Amnestiegesetz bewogen die Sozialdemokraten den Ersten Präsidenten, Karl Renner, zum Rücktritt, damit dieser mit seiner Fraktion stimmen konnte (was er als Präsident nicht tun durfte). Da sich seine beiden Stellvertreter diesem Schritt anschlossen, war der Nationalrat nicht mehr handlungsfähig. Dollfuß sah darin die Chance, ohne Parlament weiterzuregieren. Ein Einschreiten des Verfassungsgerichts verhinderte er dadurch, daß er die Anhänger der Christlichsozialen unter den Richtern zum Rücktritt veranlaßte, womit das höchste Gericht lahmgelegt war. Am 31. März 1933 erließ die Regierung ein Verbot des Republikanischen Schutzbundes und übertrug den als regierungsloyal geltenden Teilen der Heimwehr die Funktionen einer Hilfspolizei.

Das Vorgehen der Regierung Dollfuß war nicht mehr und nicht weniger als ein Staatsstreich. Die Abstützung auf die vom faschistischen Italien geförderten Heimwehrverbände unter Starhemberg und seinem Verbündeten Emil Fay bedeutete eine innen- und außenpolitische Annäherung an den Staat Mussolinis. Im März 1933, wenige Wochen nachdem in Deutschland Adolf Hitler an die Macht gekommen war, begann in Österreich der Aufbau eines autoritären, von seinen Kritikern bald als «austrofaschistisch» bezeichneten Systems, das sich freilich stärker als das italienische Vorbild an die katholische Kirche anlehnte und aus der 1931 verkündeten Enzyklika «Quadragesimo anno» von Papst Pius XI. das Ideal eines christlichen Ständestaates ableitete. Doch nur ein Teil der Heimwehrbewegung hatte sich auf die Seite von Dollfuß geschlagen. Der betont großdeutsche «Steirische Heimatschutz» verbündete sich unter dem Eindruck der deutschen Ereignisse ebenso wie die Großdeutsche Volkspartei mit den österreichischen Nationalsozialisten, die Ende April 1933 bei den Gemeindewahlen in Innsbruck mit einem Stimmenanteil von 41,2 Prozent zur stärksten Partei aufstiegen.

Die Sozialdemokratie wirkte wie gelähmt. Sie hatte durch den Rücktritt Renners die Selbstausschaltung des Nationalrats in Gang gesetzt und damit der Regierung Dollfuß einen Anlaß für die unbefristete Ausschaltung des Parlaments geliefert. Dennoch wäre in diesem Augenblick aktiver Widerstand demokratische Notwehr zwecks Rettung der Verfassung und damit legitim gewesen, und wenn es je Aussichten gab, die Etablierung der Diktatur zu verhindern, dann im März 1933. Daß die Sozialdemokratie sowohl den Putsch als auch seine unmittelbare Folge, das Verbot des Republikanischen Schutzbundes, tatenlos hinnahm, hing wohl auch mit dem Trauma vom Juli 1927 zusammen: Die Angst vor einem neuen Ausbruch blinder Massengewalt wirkte nach. Als die Sozialdemokraten auf einem Parteitag im Oktober 1933 bewaffneten Widerstand, unter anderem für den Fall eines Verbots von Partei und Gewerkschaften, ankündigten, klang die Drohung hohl. Im Februar 1934, als die sozialistischen Arbeiter Österreichs tatsächlich zu den Waffen griffen, war es zu spät: Das austrofaschistische Regime verfügte inzwischen über alle Machtmittel, die nötig waren, um die Erhebung niederzuwerfen.

In Ungarn, das mit Österreich bis 1918 durch eine Personal- und Realunion verbunden gewesen war, begann die autoritäre Umformung des Staatswesens sehr viel früher als im ehemaligen Kernland der cisleithanischen Reichshälfte. Die Weichen wurden gestellt, als am 1. März 1920 der Oberbefehlshaber der ungarischen Truppen, Admiral Miklós Horthy von Nágybánya, zum Reichsverweser gewählt wurde. An den Wahlen vom Januar 1920 hatten die Sozialdemokraten aus Protest gegen den «weißen» Terror, der seinerseits eine Reaktion auf die kurze Phase der kommunistischen Rätediktatur unter Béla Kun war, nicht teilgenommen, so daß die rechts von ihnen stehenden Parteien im Parlament unter sich waren. Horthy proklamierte noch im März Ungarn als Monarchie mit vakantem Thron. Zwei Versuche Karls I., des letzten Habsburgerkaisers, der im November 1918 nicht als König von Ungarn abgedankt hatte, sich, gestützt auf Teile der Armee, erneut zum Träger der Stephanskrone zu machen, scheiterten 1921: Der Reichsverweser wünschte eine Restauration der Monarchie im Sinne des Habsburgers schon deswegen nicht, weil sie unweigerlich die Alliierten auf den Plan gerufen hätte. Ein Gesetz vom Oktober 1921 beendete die Thronrechte des Hauses Österreich für alle Zeiten.

Eine Nationalitätenfrage im engeren Sinn gab es für Ungarn nach dem Vertrag von Trianon kaum noch: Neun Zehntel der Bewohner, darunter auch die Roma, bekannten sich zur magyarischen, knapp 7 Prozent zur deutschen Muttersprache. Geblieben war das Problem des Umgangs mit den Juden, die etwa 6 Prozent der Bevölkerung, aber rund die Hälfte der Rechtsanwälte und Ärzte stellten und über großen Einfluß in Handel und Banken verfügten. Der Antisemitismus, der in Ungarn schon im 19. Jahrhundert weit verbreitet war, erhielt, ähnlich wie in Bayern, durch die Rätediktatur neuen Auftrieb: Da Juden in der kommunistisch geführten Regierung eine prominente Rolle gespielt hatten, wurden sie pauschal verdächtigt, auf den Umsturz der bestehenden Verhältnisse zu sinnen und Feinde des ungarischen Volkes zu sein. Bereits unter der ersten von drei «Grafenregierungen», der von Graf Pál Teleki, ging Ungarn 1920/21 zur Verdrängung der Juden aus dem Staatsapparat und, durch Einführung eines rigiden Numerus clausus an den Hochschulen, zur Verminderung der Zahl jüdischer Studenten und Akademiker über.

Eine Bodenreform, die diesen Namen verdient hätte, fand nicht statt. Zwar erhielten die ärmsten Bauern auf Drängen der Kleinlandwirtepartei ein wenig zusätzliches Land als Eigentum, aber rentabel wurde die bäuerliche Parzellenlandwirtschaft mit ihren Zwergbetrieben dadurch nicht. Der Großgrundbesitz blieb unangetastet, seine gesellschaftliche und politische Macht ungebrochen.

Der Nachfolger des Grafen Teleki war Graf István Bethlen. Er gewährte den Sozialdemokraten eine Art «Toleranzedikt», nachdem diese im Dezember 1921 unter dem strikt antikommunistischen Vorsitzenden Károlyi Peyer sich in einem Geheimabkommen mit dem Ministerpräsidenten verpflichtet hatten, keine Agitation im öffentlichen Dienst und unter den Landarbeitern zu betreiben sowie auf politische Streiks und republikanische Propaganda zu verzichten. 1922 gelang es Bethlen, die größeren Fraktionen der Nationalversammlung in einer «Einheitspartei» zu verschmelzen. Ein neues Wahlgesetz schränkte das aktive Wahlrecht so drastisch ein, daß es nur noch der Hälfte der erwachsenen Bevölkerung zustand. Das Prinzip der geheimen Wahl galt fortan nur für die größeren Städte, nicht mehr für die ländlichen Wahlkreise.

Das Ergebnis der Wahlen vom 2. Juni 1922 fiel ganz im Sinne der Regierung aus. Es gab zwar eine liberale und sozialdemokratische Opposition und eine freie Presse, aber die Machtposition der Regierung Bethlen, die bis 1931 im Amt blieb, war dadurch nicht zu erschüttern. Die Westmächte honorierten die Stabilisierung der politischen Verhältnisse im September 1922 durch die Aufnahme Ungarns in den Völkerbund und halfen dem Land, 1924 mit Hilfe einer Völkerbundsanleihe die grassierende Inflation zu überwinden. In den Jahren danach erholte sich die ungarische Wirtschaft; das Land erlebte einen Industrialisierungsschub, der bis zur Weltwirtschaftskrise anhielt.

Die ungarische Außenpolitik stand ganz im Zeichen der Revision des Vertrags von Trianon, wobei die Regierung Bethlen zunächst nur die Rückgabe von Gebieten forderte, die von einer mehr oder minder rein ungarischen Bevölkerung bewohnt wurden. Dahinter stand ein ehrgeiziges, von fast allen Parteien, gesellschaftlichen Gruppen und der Öffentlichkeit getragenes Programm: die Wiederherstellung des historischen Ungarn, wie es vor 1914 bestanden hatte. Als mögliche Partner bei der Verwirklichung dieser Vision betrachtete Bethlen das faschistische Italien: Mit ihm wurde im April 1927 ein Freundschaftsvertrag abgeschlossen. Großbritannien hingegen, von Bethlen ebenfalls umworben, ließ sich zu einer ähnlichen Geste nicht bewegen.

Das Ende der Regierung Bethlen kam im August 1931, als Ungarn im Zuge der Weltwirtschaftskrise an den Rand des Staatsbankrotts geriet. Bethlens Nachfolger, Graf Gyula Károlyi, stürzte im September 1932, weil er für seine rigorose Sparpolitik im Parlament keine ausreichende Unterstützung fand. Zum neuen Ministerpräsidenten ernannte Horthy den ehemaligen Hauptmann Gyula Gömbös de Jákfa, der ihm bei der Niederwerfung des zweiten Restaurationsversuchs Karls I. im Oktober 1920 entscheidend geholfen hatte. Gömbös, der sogleich auch den Vorsitz der nunmehr «Partei der Nationalen Einheit» genannten Einheitspartei übernahm, hatte einen breiten Rückhalt in den Mittelschichten. Er war ein glühender Nationalist und radikaler Antisemit, der aus seiner Sympathie für den italienischen Faschismus (und später auch für den deutschen Nationalsozialismus) keinen Hehl machte. Der Kampf gegen den Vertrag von Trianon wurde seit 1932 zur Richtschnur und zum obersten Ziel der ungarischen Politik erhoben.

Dabei blieb es auch nach Gombös’ Tod im Oktober 1936 unter seinen beiden Nachfolgern, Koloman Darányi und, seit Mai 1938, Béla Imrédy. Der letztere wurde im Februar 1939 von Horthy zum Rücktritt gezwungen, nachdem ruchbar geworden war, daß eine der Urgroßmütter des Ministerpräsidenten Jüdin gewesen war. Sein Nachfolger Pál Graf Teleki führte im Mai 1939 zwar eine scharf antisemitische Gesetzgebung ein, ging aber andererseits entschieden gegen die ungarischen Gefolgsleute der deutschen Nationalsozialisten, die Pfeilkreuzler unter Férenc Szálasi, vor. Sein Versuch, Ungarn auch außenpolitisch auf eine gewisse Distanz zum «Dritten Reich» festzulegen, sollte im Frühjahr 1941 ein tragisches Ende nehmen: Als Horthy und die Militärführung sich gegen den erbitterten Widerstand des Ministerpräsidenten zu Komplizen von Hitlers Überfall auf das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen machten, beging Teleki Selbstmord.

Noch krisenreicher als in Ungarn verlief die Zeit zwischen dem Ersten Weltkrieg und der Weltwirtschaftskrise im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen. Als das weitaus schwierigste innenpolitische Problem erwies sich das Verhältnis zwischen den orthodoxen Serben und den katholischen Kroaten, die in der Volkszählung von 1921 statistisch in einer Nation, der serbokroatischen, zusammengefaßt wurden. Ihr gehörten knapp vier Fünftel der Gesamtbevölkerung an; auf die Slowenen entfielen 8,5 Prozent; dazu kamen kleinere deutsche, madjarische und albanische Minderheiten. (Die Montenegriner, Mazedonier und die muslimischen Bosniaken wurden nicht eigens erfaßt, sondern der serbokroatischen Nation zugeschlagen.) Das Wahlgesetz vom Juli 1920 gab allen männlichen Bürgern über 21 Jahren (unabhängig vom Alphabetisierungsgrad, der 1921 zwischen 91,2 Prozent in Slowenien und 16,2 Prozent in Mazedonien schwankte und im Landesdurchschnitt bei 48,5 Prozent lag) das aktive Wahlrecht; das Verhältniswahlrecht begünstigte die Zersplitterung des Parteiwesens und erschwerte stabile Regierungsmehrheiten. Bis 1928 lösten sich in Belgrad 28 Kabinette ab; keines der Parlamente erlebte das Ende der vierjährigen Legislaturperiode.

Aus den Wahlen vom November 1920 gingen die zentralistischen Parteien als Sieger und die Föderalisten als Verlierer hervor. Am 28. Juni 1921 wurde die Verfassung des Königreichs mit knapper, serbischer Mehrheit angenommen. Sie fiel, da sich die föderalistische Kroatische Bauernpartei der Mitwirkung an den Beratungen verweigert hatte, noch unitarischer aus, als es nach der Zusammensetzung des Parlaments, der Skupschtina, zu erwarten gewesen war. An die Stelle der bisherigen, überwiegend historischen Verwaltungseinheiten – Serbien, Montenegro, Bosnien-Herzegowina, Dalmatien, Kroatien-Slawonien, Slowenien und die Vojvodina – traten nach dem Vorbild der französischen Departements gebildete Verwaltungsbezirke (oblasti), denen keine Autonomierechte zustanden. Die militanteste Oppositionspartei waren die Kommunisten, die 58 von insgesamt 401 Abgeordneten stellten und damit nach Demokraten und Altradikalen die drittstärkste Partei bildeten. Nach mehreren von ihren Anhängern verübten Attentaten auf Mitglieder der Regierung wurden die kommunistischen Organisationen am 3. August 1921 verboten und die Mandate der kommunistischen Abgeordneten für ungültig erklärt. Kurz darauf, am 16. August, starb König Peter. Seine Nachfolge trat sein Sohn, der Prinzregent, als König Alexander I. an.

Im November 1925 schien es, als sei ein Ausgleich zwischen Serben und Kroaten zum Greifen nahe: Der Führer der zeitweilig verbotenen Kroatischen Bauernpartei, Stjepan Radic, trat als Unterrichtsminister in ein Kabinett des Ministerpräsidenten Nikola Pašic ein. Doch der Gegensatz zwischen Zentralisten und Föderalisten war dadurch nicht zu überbrücken. Im Frühjahr 1926 brach Radic mit Pašic’ Nachfolger Uzunovic; seit dem Februar 1927 war seine Partei nicht mehr in der Regierung vertreten. Am 20. Juni 1928 erschoß ein Abgeordneter der serbischen Altradikalen im Parlament drei Abgeordnete der Kroatischen Bauernpartei, unter ihnen Stjepan Radic’ Bruder Pavle, und verletzte zwei weitere, darunter Stjepan Radic selbst, schwer. Am 8. August erlag der Parteiführer seinen Verletzungen. Die Kroaten nahmen fortan an den Sitzungen der Skuptschina nicht mehr teil. Am 6. Januar 1929, dem orthodoxen Weihnachtsfest, zog König Alexander aus den ständigen Regierungskrisen einen radikalen Schluß: Er löste das Parlament auf und setzte die Verfassung von 1921 außer Kraft. Zum Ministerpräsidenten ernannte er einen unpolitischen General, Pera Zivkovic. So begann eine neue Phase in der Geschichte des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen: die auf das Militär gestützte Königsdiktatur.

Die Beziehungen des (seit Oktober 1929 offiziell so genannten) Königreichs Jugoslawien zu seinen Nachbarn gestalteten sich vor wie nach dem Putsch des Königs überwiegend schwierig. Zwischen Belgrad und Sofia war die Mazedonienfrage strittig. (Mazedonien war 1913 nach dem zweiten Balkankrieg zwischen Serbien, Griechenland und Bulgarien aufgeteilt worden.) Auf die Vojvodina, wo überwiegend Madjaren lebten, erhob Ungarn historische Ansprüche. Von Albanien hätte das südslawische Königreich gern größere Gebiete an der Mittelmeerküste übernommen, was aber nach der Festlegung der albanischen Grenzen durch eine alliierte Botschafterkonferenz im November 1921 nicht mehr aktuell war. Italien hatte sich in Istrien und an der dalmatinischen Küste Gebiete gesichert, in denen es starke slowenische und kroatische Minderheiten, zusammen rund eine halbe Million Menschen, gab. Die Rechte seiner Minderheiten zu achten hatte sich das Königreich 1919 in einem Minderheitenschutzvertrag verpflichtet: Schutz vor ungarischen Revisionsbestrebungen sollte die «Kleine Entente» gewähren, zu der sich im August 1920 unter französischem Patronat das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen mit der Tschechoslowakei zusammengeschlossen hatte. Im Juni 1921 folgte ein entsprechender Vertrag mit Rumänien, das sich seinerseits zwei Monate zuvor mit der Tschechoslowakei verbündet hatte.

Gegenüber Italien erwies sich das neue Königreich verständigungsbereit, als es im Vertrag von Rapallo der Umwandlung Rijekas (Fiumes) in einen Freistaat und der Abtretung von Zadar (Zara) an Italien zustimmte, ohne auf einem analogen Minderheitenschutz zu bestehen, wie es ihn den ethnischen Italienern in seinem Staatsgebiet zugestand. Im Januar 1924, inzwischen war in Rom Mussolini an der Macht, folgte der «Pakt von Rom», auch «Adriapakt» genannt, in dem Belgrad der Angliederung Fiumes an Italien zustimmte und dafür einen Teil des bisherigen Freistaatsgebiets einschließlich des Hafens Baros erhielt. Beide Staaten verpflichteten sich für die Dauer von fünf Jahren überdies zu freundschaftlicher Zusammenarbeit, zur Aufrechterhaltung des Status quo und zur Neutralität im Fall eines unprovozierten Angriffs.

In der Skuptschina fand der Vertrag, ebenso wie ein anschließendes Handels- und Schiffahrtsabkommen mit Italien, nur eine knappe Mehrheit. Mehrere technische Zusatzabkommen, die sogenannten «Nettuno-Konventionen», stießen in der Öffentlichkeit auf so viel Widerstand, daß die Regierung sie zunächst zurückzog. Mussolinis Reaktion bestand im italienisch-albanischen Ausgleichsvertrag vom November 1926 und im Freundschafts- und Schiedsvertrag mit Ungarn vom April 1927, die man beide in Belgrad als gezielte Herausforderungen, ja als Einkreisungspolitik verstand. Der «Adriapakt», der im Januar 1929 auslief, wurde daher, obwohl das Parlament die Nettuno-Konventionen inzwischen doch noch ratifiziert hatte, nicht erneuert. Einen gewissen Ausgleich für den Verlust des Partners Italien hatte sich das südslawische Königreich bereits im November 1927 durch einen Bündnisvertrag mit Frankreich verschafft.

Das Verhältnis zu Bulgarien wurde seit dem Sommer 1926 durch eine Reihe von Überfällen und Anschlägen einer Organisation mazedonischer Freischärler, der IMRO (Innere Revolutionäre Organisation), belastet – Aktionen, die im Jahr darauf zu einer vollständigen Sperrung der Grenze zwischen beiden Staaten führten. Eine deutliche Besserung des bilateralen Verhältnisses trat erst 1934, nach einem Offiziersputsch in Sofia und der kurz darauf erfolgten Ausschaltung der IMRO, ein. Gegenüber Athen gelang es Belgrad nicht, seine Forderungen auf eine Hoheitszone in Saloniki und ein Abkommen zum Minderheitenschutz durchzusetzen. Im März 1929, zwei Monate nach Errichtung der Königsdiktatur, wurde ein Schiedsvertrag mit Griechenland geschlossen, in dem von diesen Zielen keine Rede war und der auch keine Bündnispflichten enthielt. Im Februar 1934 wurden die bisherigen bilateralen Verträge zwischen Jugoslawien, Rumänien, Griechenland und der Türkei in einen vierseitigen Balkanpakt umgewandelt. Fortan waren die Unterzeichnerstaaten zu wechselseitigem Beistand verpflichtet, wenn sich ein Balkanstaat am Angriff eines Nichtbalkanstaates auf einen anderen Balkanstaat beteiligte.

Unter den gesellschaftspolitischen Problemen ragte auch im König reich der Serben, Kroaten und Slowenen die Agrarfrage hervor. Eine vom Parlament im Mai 1922 beschlossene Enteignung des Großgrundbesitzes gegen Entschädigung traf vor allem die ehedem habsburgischen Gebiete. Ein Viertel der so gewonnenen Fläche wurde neu besiedelt, ein weiteres bewaldetes Viertel wurde in Staatseigentum überführt und rund die Hälfte den bisherigen Pächtern übereignet. Die Probleme der landwirtschaftlichen Überbevölkerung und der Zersplitterung des Bodens in unrentable Klein- und Kleinstbetriebe wurden dadurch ebensowenig gelöst wie in anderen Staaten Südost- und Ostmitteleuropas.

Die Königsdiktatur Alexanders I. begann 1929 mit der Aufhebung der Pressefreiheit, dem Verbot der politischen Parteien und dem Versuch, mit Hilfe neuer und größerer Verwaltungseinheiten, der Banate (banonina), und einer straffen Zentralisierung des Staatsaufbaus die Bildung einer südslawischen Nation voranzutreiben. Demselben Ziel diente auch der im Oktober 1929 eingeführte neue Staatsname «Königreich Jugoslawien». Doch längst nicht alles, was der König plante, wurde verwirklicht: Am Widerstand der orthodoxen Kirche Serbiens scheiterte sein Vorhaben, die Schrift und den Kalender zu vereinheitlichen; es blieb also beim Nebeneinander von lateinischem und kyrillischem Alphabet und von gregorianischem und julianischem Kalender, so daß die großen christlichen Feste weiterhin an unterschiedlichen Tagen gefeiert wurden. Der alte Gegensatz zwischen Ost- und Westkirche, zwischen den byzantinisch und den habsburgisch geprägten Teilen des neuen Staates ging viel tiefer und wirkte sehr viel stärker nach, als die Konstrukteure einer einzigen, der jugoslawischen Nation wahrhaben wollten.

Im September 1931 erließ Alexander eine neue Verfassung, die zwar einige der bürgerlichen Grundrechte enthielt, das Verbot politischer Parteien aber bestätigte und darüber hinaus die Bildung von Vereinigungen auf religiöser, nationaler und regionaler Grundlage untersagte. Das Wahlgeheimnis wurde beseitigt; das Wahlgesetz schrieb für die Wahl der Skuptschina ein Verfahren auf Grund gesamtstaatlicher Kandidatenlisten und mit einer einheitlichen Mindestzahl an Unterstützern in sämtlichen Wahlbezirken vor, das die stärkste Liste massiv begünstigte (sie erhielt zwei Drittel der Mandate) und der staatlichen Wahlmanipulation breiten Raum ließ. Neben der Volksvertretung sah die Verfassung einen Senat vor, dessen Mitglieder teils vom König ernannt, teils vom Volk gewählt wurden.

Die größte Herausforderung des jugoslawischen Staatswesens war auch unter der Königsdiktatur der kroatische Nationalismus. Anfang 1929 gründete der Zagreber Rechtsanwalt Dr. Ante Pavelic eine zunächst «Domabran» (Heimwehr), dann «Ustascha» («Empörer») genannte terroristische Untergrundorganisation, die die vollständige Unabhängigkeit Kroatiens, also die Zerschlagung Jugoslawiens, zu ihrem Programm erhob und in ihrem Radikalismus wie in ihrer Ideologie der mazedonischen IMRO nicht nachstand. Vom faschistischen Italien und von Ungarn unterstützt, betrieben die Anhänger der Ustascha eine rege Auslandspropaganda. In Kroatien selbst verübten sie seit 1931 Bombenattentate, unter anderem auf den Orientexpreß. Ein Aufstandsversuch im Sommer 1932 schlug mangels bäuerlicher Unterstützung fehl. Geplant war auch ein Anschlag auf König Alexander anläßlich dessen Besuchs in Zagreb im Dezember 1933. Er fand nicht statt, weil der Attentäter zuletzt von der Durchführung absah.

Im Jahr darauf erreichten die kroatischen Extremisten ihr Ziel: Am 9. Oktober 1934 wurde König Alexander I. zusammen mit dem französischen Außenminister Louis Barthou in Marseille von einem Angehörigen der IMRO, der im Auftrag einer Exilgruppe der Ustascha handelte, ermordet. An die Stelle Alexanders trat sein minderjähriger Sohn Peter II., der letzte König von Jugoslawien. Die tatsächliche Leitung der Staatsgeschäfte ging an die Regierung über, die seit 1935 von dem Geschäftsmann und Politiker Milan Stojadinovic geführt wurde. Da Frankreich sich dem Belgrader Drängen auf Bestrafung Italiens und Ungarns, der staatlichen Förderer der Ustascha, widersetzte und der Völkerbundsrat keine Sanktionen gegen die beiden Mächte beschloß, näherte sich Jugoslawien in der Folgezeit immer stärker einer Macht an, von der es inzwischen auch wirtschaftlich in hohem Maß abhängig war: dem nationalsozialistischen Deutschland.

Das schwierigste Problem blieb auch unter Stojadinovic der kroatische Nationalismus. Bei den Wahlen vom Mai 1935 erhielt die landesweit auftretende, nach dem Führer der kroatischen Bauernpartei und Nachfolger von Stjepan Radic, Vladko Macek, benannte «Liste Macek» 35,4 Prozent der Stimmen, während die Regierungsliste auf 62 Prozent kam. Infolge der einseitig die Regierungspartei begünstigenden Bestimmungen des Wahlgesetzes entfielen aber auf diese 301, auf die oppositionelle Liste nur 35 Mandate, was Macek und seine Anhänger mit dem Boykott der Skuptschina beantworteten. Bei den Wahlen vom Juli 1938 erzielte die «Liste Macek» sogar 40,2 Prozent, aber noch weniger Sitze als drei Jahre zuvor, nämlich 61 von insgesamt 371. Auf Grund der «Märzverfassung» von 1921 stand das aktive und passive Wahlrecht allen Männern und Frauen zu, die das 21. Lebensjahr vollendet hatten und im Besitz der bürgerlichen Rechte waren.

Auch aus außenpolitischen Gründen, obenan dem im März 1938 erfolgten «Anschluß» Österreichs an das Deutsche Reich, der eine gemeinsame deutsch-jugoslawische Grenze zur Folge hatte, wuchs in Belgrad die Einsicht in die Notwendigkeit einer Verständigung mit der kroatischen Autonomiebewegung. Sie erfolgte im August 1939 unter dem Politiker, der im Februar die Nachfolge von Stojadinovic angetreten hatte: Dragiša Cvetkovic. Kroatien wurde, den Forderungen von Macek entsprechend, in eine Banschaft mit einem eigenen Landtag, einer eigenen Regierung und einem Banus an der Spitze umgewandelt. Die Belgrader Zentralregierung verlor wichtige Kompetenzen und wurde umgebildet: Macek übernahm das Amt des stellvertretenden Ministerpräsidenten in der Regierung Cvetkovic; vier Mitglieder seiner Partei übernahmen wichtige Ministerien. Jugoslawien schien auf dem besten Weg, sich in Richtung einer multinationalen Föderation autonomer Staaten zu entwickeln. Die Probe aufs Exempel konnte aber nicht mehr gemacht werden: Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges verhinderte die volle Umsetzung des «Sporazum» – des Ausgleichs, den Cvetkovic und Macek im August 1939 vereinbart hatten.

Anders als Jugoslawien war Polen keine Neuschöpfung. Es erlangte nach dem Ersten Weltkrieg die staatliche Unabhängigkeit zurück, die ihm 1795 durch die dritte polnische Teilung genommen worden war. Polen war immer ein Teil des alten lateinischen Westens gewesen, es war im Unterschied zu Jugoslawien nicht belastet durch das fortwirkende Schisma zwischen Rom und Byzanz. Was seine innere Entwicklung anging, verlief sie aber ähnlich krisenreich wie die der meisten ostmitteleuropäischen und südosteuropäischen Staaten.

Die äußeren Umrisse des wiedererstandenen Polen lagen bereits fest, als am 5. und 12. November 1922 die zweiten Wahlen zum Sejm stattfanden. Wie bei den vorangegangenen Wahlen vom Januar 1919 gab es auch diesmal keine klaren Mehrheitsverhältnisse: Die Linke, zu der man außer den Sozialisten auch die Bauernpartei Wyzwolenie rechnen mußte, verlor in beträchtlichem Maß an Stimmen, während die Rechte in Gestalt der Nationaldemokraten und zweier kleinerer Parteien kräftig zulegte. Die früheren Mittelparteien waren stark geschrumpft. Nur wenn die nationalen Minderheiten mitwirkten, auf die etwa ein Fünftel der Sitze entfiel, konnten Mehrheiten für eine Regierung zustande kommen.

Zunächst stand die Wahl eines Staatspräsidenten durch beide Häuser des Parlaments, Senat und Sejm, an. Pilsudski, der bisherige Staatschef, lehnte eine Kandidatur ab, weil die Verfassung vom 17. März 1921 dem Staatsoberhaupt nur geringe Befugnisse einräumte und er nicht von seinen Gegnern, den Nationaldemokraten, abhängig werden wollte. Die Wahl fiel am 9. Dezember 1922 im fünften Wahlgang auf einen Abgeordneten von Wyzwolenie, Professor Gabryel Naturowicz. Daß er nur mit Hilfe nichtpolnischer und nicht zuletzt jüdischer Abgeordneter ins Amt gelangt war, löste eine heftige antisemitische Hetze der Rechten aus und kostete ihn das Leben: Er wurde am 16. Dezember, eine Woche nach seiner Wahl, von einem fanatischen Anhänger der Nationaldemokraten durch Revolverschüsse ermordet. Zu seinem Nachfolger wählten die beiden Kammern am 20. Dezember Stanislaw Wojciechowski, einen Mann von schwachem politischen Profil aus der rechten Bauernpartei, der bis Mai 1926 im Amt blieb und als ehemaliger Sozialist freundschaftliche Beziehungen zu Pilsudski unterhielt. Eine parlamentarische Mehrheit für einen Ministerpräsidenten aber fand sich nicht, so daß der Präsident («Marschall») des Sejm schließlich am 17. Dezember den General Wladyslaw Sikorski mit der Bildung eines kleinen überparteilichen Beamtenkabinetts beauftragte, das dann rund fünf Monate lang vom Sejm toleriert wurde.

Am 28. Mai 1923 gelang dem Führer der rechten Bauernpartei Piast, Wincenty Witos, der 1921/22 schon einmal Ministerpräsident gewesen war, die Bildung eines Mitte-Rechts-Kabinetts. Pilsudski nahm das zum Anlaß, auch seine Ämter als Generalstabschef und Vorsitzender des Engeren Kriegsrats niederzulegen und sich auf sein Landgut bei Sulejówek zurückzuziehen. Mit dem zweiten Kabinett Witos begann die Zeit der parlamentarischen Vorherrschaft, die bis zum Militärputsch Pilsudskis vom Mai 1926 dauern sollte. In diesen drei Jahren, in denen die Regierungen, durchweg Beamtenkabinette, noch dreimal wechselten, standen innenpolitische Probleme im Vordergrund des öffentlichen Interesses: die Bekämpfung der Inflation, die Agrar- und die Nationalitätenfrage.

Die Stabilisierung der Währung gelang unter der Regierung des Finanzexperten Wladyslaw Grabski. Im April 1924 wurde der (ursprünglich auf Parität mit dem Schweizer Franken festgelegte) Zloty eingeführt, über dessen Kaufkraft und Wechselkurs die im Prinzip unabhängige Bank Polski zu wachen hatte. Eine durchgreifende Agrarreform fand hingegen nicht statt, da der polnische Großgrundbesitz in der starken Rechten einen wirkungsvollen Verteidiger seiner Interessen besaß. Land abgeben mußten nach dem Inkrafttreten der Bodenreform vom Dezember 1925 im wesentlichen nur deutsche Grundbesitzer in den Westgebieten, was aber für die Schaffung eines breiten bäuerlichen Mittelbesitzes nicht ausreichte. Die polnische Landwirtschaft war weiterhin geprägt vom Gegensatz zwischen extensiv wirtschaftendem, auch für den Export produzierenden Großgrundbesitz und der Subsistenzwirtschaft nicht rentabler kleinbäuerlicher Höfe. Polen blieb in der Zwischenkriegszeit ein nur schwach industrialisiertes Agrarland mit dem typischen Problem ostmitteleuropäischer Gesellschaften: der durch Realteilung bedingten Besitzzersplitterung und ländlichen Überbevölkerung.

Den nichtpolnischen Minderheiten gewährte die Verfassung von 1921 volle Gleichberechtigung. Tatsächlich sah die Rechte in den parlamentarischen Vertretern der nationalen Minderheiten, gleichviel ob es Deutsche, Juden oder Litauer waren, keine vollwertigen Volksvertreter. Im Fall der Ukrainer und Weißruthenen gab es Ansätze einer Assimilierungspolitik, die aber dadurch erschwert wurde, daß im östlichen Galizien eine starke antipolnische Bewegung entstand, die 1922 mit einigem Erfolg die Wahlen boykottierte. Die Juden wurden von den Nationaldemokraten und den anderen Rechtsparteien, auch der Piast, mit notorischem Mißtrauen betrachtet und nach Kräften diskriminiert, die Deutschen im Gebiet um Posen und den Pomerellen an der unteren Weichsel zur Abwanderung nach Deutschland gedrängt. (Über die Hälfte der dort lebenden Deutschen, rund eine halbe Million Menschen, tat diesen Schritt.) In keiner der Regierungen der Zwischenkriegszeit gab es einen Minister aus den Reihen der nationalen Minderheiten, und für die höchsten regionalen Verwaltungsposten, den Wojewoden, und, auf Kreisebene, den Starost, galt dasselbe. Die polnische Politik orientierte sich am Ziel des homogenen Nationalstaates westlicher Prägung – einem Ziel, das mit der tatsächlichen ethnischen Vielfalt eines Nationalitätenstaates nicht zusammenpaßte.

Für die polnische Außenpolitik war die Anlehnung an Frankreich grundlegend, mit dem Warschau im Februar 1921 einen Bündnisvertrag und ein geheimes Militärabkommen abgeschlossen hatte. Hinzu kamen ein Bündnisvertrag mit Rumänien vom März 1921 und Freundschaftsverträge mit Lettland und Estland vom März 1922, die alle eine antisowjetische Stoßrichtung hatten. Ein entsprechendes Abkommen mit Finnland wurde vom Parlament in Helsinki nicht ratifiziert. Umgekehrt fand eine im November 1921 von den beiden Außenministern unterzeichnete Konvention mit der Tschechoslowakei über eine begrenzte Zusammenarbeit beider Länder im Sejm keine Mehrheit. Im April 1925 wurde dann doch ein Abkommen mit Prag über Fragen des strittigen Teschener Gebiets ratifiziert, das aber weit hinter der gescheiterten Vereinbarung von 1921 zurückblieb.

Gespannt blieb nach der Annexion des Gebiets um Wilna im März 1922 das Verhältnis zu Litauen, zu dem keine diplomatischen Beziehungen bestanden. Zu Deutschland gab es solche Beziehungen, aber sie verbürgten noch längst keine zwischenstaatliche Normalität. Das Deutsche Reich war nicht bereit, sich mit dem Verlust seiner nunmehr polnischen Ostgebiete, obenan Westpreußen und das südliche Oberschlesien, abzufinden; es stellte die Legitimität des östlichen Nachbarstaates mehr oder minder ausdrücklich in Frage und begann im Juni 1925 mit einem Handelskrieg gegen Polen, unter dem besonders die Freie Stadt Danzig zu leiden hatte. Polen baute seinerseits systematisch als Konkurrenz für Danzig den Hafen Gdingen (Gdynia) aus. Eine Wende zum Besseren war, was das deutsch-polnische Verhältnis betraf, Mitte der zwanziger Jahre nicht abzusehen. Wenn es für das immer noch tiefkatholische Polen einen gewissen Ausgleich für die fehlende Anerkennung seines territorialen Besitzstandes durch den großen Nachbarn im Westen gab, war es das Konkordat vom Februar 1925: Darin ordnete der Vatikan die katholischen Bistümer neu, und zwar entsprechend den Staatsgrenzen der Nachkriegszeit.

Von einer kontinuierlichen Regierungsarbeit konnte angesichts der Gegensätze zwischen den Parteien und der häufigen Kabinettswechsel in den Jahren nach 1918 nicht die Rede sein. Meist waren es persönliche Intrigen und parteitaktische Manöver, die zum Sturz der einen und zur Einsetzung einer anderen Regierung führten. Am 13. November 1925 versuchte Pilsudski Präsident Wojciechowski in einem persönlichen Gespräch für eine Eindämmung des parlamentarischen Systems zu gewinnen, konnte aber die verfassungsrechtlichen Bedenken des Staatsoberhaupts nicht entkräften. Zwei Tage später deutete der Marschall in einer Rede vor Legionsoffizieren an, daß er künftig nicht nur mit Worten gegen diejenigen vorgehen werde, die nach seiner Ansicht «den Staat kraftlos machten und die strafende Hand der Gerechtigkeit aufhielten».

Einen Verbündeten fand Pilsudski in General Zeligowski, dessen Ernennung zum Kriegsminister im Kabinett des Grafen Skrzynski er im November 1925 hatte durchsetzen können. Zeligowski half Pilsudski bei der militärischen Vorbereitung des nunmehr fest geplanten Putsches, indem er Regimenter sammelte, die dem Marschall treu ergeben waren. Eine weitere Regierungskrise, ausgelöst durch den Rücktritt Skrzynskis und die Bildung eines von der Linken heftig bekämpften Mitte-Rechts-Kabinetts unter Wincenty Witos am 5. Mai 1926, nutzte Pilsudski, um zum entscheidenden Schlag auszuholen. Am 12. Mai besetzte er an der Spitze von 15 Regimentern den Warschauer Stadtteil Praga auf dem rechten Weichselufer. Zwei Tage dauerten die heftigen Kämpfe mit den Regierungstruppen. Den Ausschlag für den Sieg des Marschalls gab die Partei, die er einst geführt, von der er sich aber längst innerlich gelöst hatte: die Sozialistische Partei Polens (PPS). Sie rief einen Generalstreik aus und verhinderte so den Transport regierungstreuer Truppen in die Hauptstadt. In der Nacht vom 14. zum 15. Mai traten Staatspräsident Wojciechowski und Ministerpräsident Witos zurück. Die letzten Kämpfe beschloß Pilsudski am 22. Mai 1926 mit einem Appell zur Versöhnung, in dem er dem Patriotismus der Unterlegenen seine Reverenz erwies.

Mit dem Militärputsch vom Mai 1926 begann die erste, vier Jahre währende Phase des autoritären Regimes Józef Pilsudskis. Der Marschall regierte zu Beginn dieser «moralischen Diktatur» zunächst nicht selbst; er ließ regieren. Das Amt des Ministerpräsidenten übertrug der Sejm-Marschall auf Betreiben Pilsudskis dem Mathematikprofessor Kazimierz Bartel, dem Vorsitzenden der kleinen Fraktion der Arbeiterpartei. Pilsudski selbst übernahm im neuen Kabinett das Amt des Kriegsministers. Als Senat und Sejm ihn am 31. Mai mit Zweidrittelmehrheit zum Staatspräsidenten wählten, lehnte er, wie schon vier Jahre zuvor, die Annahme des protokollarisch höchsten Staatsamtes ab und sorgte dafür, daß statt seiner der Chemieprofessor Ignacy Mozcicki gewählt wurde. Durch eine Verfassungsnovelle vom 2. August 1926, die mit Hilfe der Rechten verabschiedet wurde, erhielt der Präsident die Vollmacht, das Parlament aufzulösen und in der Vakanz zwischen den Sessionen Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, die unter dem Vorbehalt einer späteren Genehmigung durch das Parlament standen. Außerdem durfte die Regierung, wenn das Parlament den Haushalt nicht rechtzeitig verabschiedete, Ausgaben im Rahmen des vorangegangenen Budgets tätigen.

Die Macht hatte Pilsudski auf revolutionäre Weise, im Stil eines spanischen «pronunciamiento», übernommen. Die Verfassungsänderungen vom August 1926 waren als solche nicht revolutionär. Die Notstandsvollmachten des Präsidenten gingen nicht über die Befugnisse des deutschen Reichspräsidenten nach Artikel 48 der Weimarer Reichsverfassung hinaus. Die Klausel über den Nothaushalt fiel nicht aus dem Rahmen des in parlamentarischen Demokratien Üblichen heraus. Das Parlament wurde nicht aufgelöst, die Opposition nicht unterdrückt, die Presse nicht zensiert. Der gewaltsam herbeigeführte Regimewechsel bewirkte eine innenpolitische Stabilisierung, die anfangs mehr die Züge einer konservativen Demokratie als die einer Militärdiktatur trug – von einer «faschistischen» Diktatur, die Pilsudski verabscheute, ganz zu schweigen.

Im Oktober 1926 übernahm der Marschall dann doch selbst das Amt des Ministerpräsidenten. Er bildete ein überwiegend konservatives Kabinett, was zu einer Entfremdung zwischen Pilsudski und der PPS führte. Der Abstand zu seiner einstigen politischen Heimat vergrößerte sich, als Pilsudski, der selbst aus dem niederen Adel stammte, Ende Oktober 1926 durch einen Besuch auf dem Schloß der Radziwills demonstrativ seine Nähe zum östlichen Landadel unterstrich. Die hartnäckigsten Gegner des Marschalls waren aber weiterhin die Nationaldemokraten um Roman Dmowski und die Piast um Wincenty Witos. Um sich eine einigende parlamentarische Basis zu verschaffen, ließ Pilsudski rechtzeitig vor den Wahlen zum Sejm und Senat im März 1928 durch den ihm treu ergebenen Oberst Walery Slawek einen Parteilosen Block der Zusammenarbeit mit der Regierung (BBWR) bilden, der zwar über kein fest umrissenes Programm verfügte, unter Bauern und städtischen Mittelschichten aber zahlreiche Anhänger gewann.

Aus den Wahlen von 1928 ging der BBWR mit 122 von 444 Mandaten als stärkste Fraktion hervor. Dramatische Verluste mußten die Nationaldemokraten und Piast hinnehmen, während die Parteien der Linken, auf die insgesamt etwa 140 Sitze entfielen, starke Gewinne verbuchen konnten. Da die Zusammensetzung des Sejm keine feste Mehrheit für die Regierung verbürgte, überließ Pilsudski das Amt des Ministerpräsidenten persönlichen und politischen Vertrauten, zunächst Kazimierz Bartel, dann dem bisherigen Unterrichtsminister Kazimierz Switalski, danach erneut Bartel und schließlich im März 1930 Slawek. Er selbst blieb Kriegsminister und auch in dieser Funktion die beherrschende Persönlichkeit des Regimes. Zu seinen schärfsten Kontrahenten wurde der neugewählte Sejmmarschall, der Sozialist Ignacy Daszynski. Als Bedrohung empfand der «starke Mann» der Regierung die zunehmend intensivere parlamentarische Zusammenarbeit der Linken und der Mittelparteien, die im Oktober 1929 ein reguläres Bündnis, «Centrolew» oder «Zentrumslinke» genannt, eingingen. Pilsudski reagierte darauf mit heftigen verbalen Attacken auf das Parlament und die oppositionellen Parlamentarier, flankiert von massiven Einschüchterungsversuchen.

Nach dem Sturz der Regierung Switalski durch ein Mißtrauensvotum am 5. Dezember 1929 spitzte sich der Machtkampf zwischen Exekutive und Legislative immer mehr zu. Im Juni 1930 fand ein Kongreß der oppositionellen Kräfte in Krakau statt, dem im September weitere Kundgebungen für die Freiheit und gegen die Diktatur in ganz Polen folgen sollten. Am 25. August übernahm Pilsudski wieder selbst das Amt des Ministerpräsidenten. Vier Tage später löste Staatspräsident Moocicki das Parlament auf. Anfang Oktober ließ Pilsudski 18 seiner parlamentarischen Widersacher, darunter Witos, einige Abgeordnete der ukrainischen Minderheit und prominente Sozialisten, verhaften, die anschließend in der Festung Brest-Litowsk mißhandelt und gedemütigt wurden.

Die Parlamentswahlen vom 17. und 23. September 1930 waren schon nicht mehr frei. Sie fanden in einem Klima der politischen Einschüchterung und der militärischen Willkür statt und erbrachten ein Ergebnis, das weitgehend den Wünschen der Regierung entsprach: Mit 243 von 444 Mandaten verfügte der Regierungsblock im Sejm über eine sichere Mehrheit; die «Centrolew» und die nationalen Minderheiten mußten schwere Verluste hinnehmen. Noch eindeutiger fiel die gouvernementale Mehrheit im Senat aus. Eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erreichte die Regierung allerdings nicht, so daß an die rasche Verabschiedung einer neuen Verfassung, wie Pilsudski sie erstrebte, vorerst nicht zu denken war. Seit Dezember 1930 begnügte sich der Marschall wieder mit dem Amt des Kriegsministers; das Amt des Ministerpräsidenten überließ er, wie in den Jahren zuvor, von ihm ausgesuchten Vertrauensmännern, durchweg Obersten der Armee.

Die Regierungen der Obristen versuchten mit Notverordnungen und einschneidenden Sparmaßnahmen der Weltwirtschaftskrise Herr zu werden, die inzwischen auch Polen voll erfaßt hatte. Nach Massenstreiks, die die PPS seit Februar 1932 in den wichtigsten Industriegebieten organisierte, wurden die Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit sowie die richterliche Unabhängigkeit eingeschränkt. Am 23. März 1933 (dem gleichen Tag, an dem etwas ganz Ähnliches im Deutschland Adolf Hitlers geschah) verabschiedete der Sejm ein Ermächtigungsgesetz, das der Regierung die Vollmacht gab, nicht nur Verordnungen, sondern auch Dekrete mit Gesetzeskraft zu erlassen, was auf eine weitgehende Selbstausschaltung des Parlaments hinauslief.

Polen befand sich seit dem Herbst 1930 in der zweiten Phase seiner autoritären Transformation, die von ihren Befürwortern als «sanacja» (Sanierung) bezeichnet wurde, aber durchaus eine Diktatur genannt zu werden verdient. Es gab zwar immer noch eine relativ freie Presse, eine Vielzahl von Parteien und einen gewissen Schutz der individuellen Freiheiten, aber von einer durch freie Wahlen legitimierten Staatsführung konnte keine Rede mehr sein. Der entscheidende Machtfaktor war das Militär, das Parlament führte spätestens seit dem Ermächtigungsgesetz vom März 1933 nur noch ein Schattendasein. An diesem Zustand änderte auch die Verfassung vom 23. April 1935 nichts, die dem autoritären Präsidialstaat eine neue Rechtsgrundlage verschaffte. Knapp drei Wochen später, am 12. Mai, starb im Alter von 67 Jahren der Mann, der mehr als jeder andere zur Wiedererrichtung eines selbständigen Polen beigetragen hatte, aber auch wie kein zweiter verantwortlich war für die fortschreitende Einschränkung der innenpolitischen Freiheit: der Erste Marschall von Polen, Józef Pilsudski.

Wie Polen war sein nordöstlicher Nachbar Litauen ein Agrarland mit ganz überwiegend katholischer Bevölkerung. Im April 1919 war Antanas Smetona, ein Publizist der nationalen Rechten, zum Staatspräsidenten gewählt worden. Aus den Wahlen zur Verfassunggebenden Versammlung gingen ein Jahr später, im April 1920, die Christlichen Demokraten als Sieger hervor. Sie erhielten mit 59 von 112 Sitzen die absolute Mehrheit; 29 entfielen auf die Volkssozialisten, 14 auf die Sozialdemokraten, 9 auf die nationalen Minderheiten. (Die Juden stellten mit 7,5 Prozent der Bevölkerung die stärkste Nationalität; die Polen kamen nach der litauischen Volkszählung von 1923 auf mindestens 3,25, die Deutschen auf 1,5 Prozent.) Die völkisch-nationalistische Partei Tautininkai brachte keinen Kandidaten durch. Die Kommunistische Partei war verboten.

Regierung und Parlament nahmen ihren Sitz in der provisorischen Hauptstadt Kaunas. Die Verfassung vom 1. August 1922 sah einen Präsidenten mit überwiegend repräsentativen Aufgaben vor. Er verfügte aber über ein suspensives Veto gegen Gesetze, sofern diese vom Seimas, dem Einkammerparlament, nicht mit Zweidrittelmehrheit angenommen worden waren, und über das Recht, das Parlament aufzulösen. Als Hauptstadt bestimmte die Verfassung Wilna (litauisch Vilnius), das aber im März 1922 mitsamt dem umliegenden Gebiet durch einen einseitigen Akt Warschaus in den polnischen Staat eingegliedert worden war. Die Wilna-Frage stand einer Normalisierung des Verhältnisses zu Polen dauerhaft entgegen; sie übte eine geradezu traumatisierende Wirkung auf die litauische Politik der Zwischenkriegszeit aus.

Der Wunsch nach einer Kompensation für den Verlust des von Polen annektierten Gebiets spielte auch eine Rolle, als litauische Truppen am 10. Januar 1923, einen Tag vor der französischen Ruhrbesetzung, das Memelland, das nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Versailles einem interalliierten Kondominium mit einem französischen Oberkommissar unterstellt worden war, besetzten. In dem bislang zu Deutschland gehörenden Gebiet überwog nach der Volkszählung von 1910 die Zahl der deutschsprachigen Bewohner knapp die der litauischsprachigen (71.000 gegenüber 67.000). Eine Botschafterkonferenz der Alliierten übertrug die Souveränität über das Memelgebiet im Februar 1923 an Litauen, knüpfte daran aber zwei Bedingungen: die Gewährung eines Autonomiestatus und der polnischen Mitbenutzung des Hafens von Memel (Klaipeda). Die zweite Forderung erfüllte Litauen wegen des Streits um Wilna nicht, der ersteren trug es durch die Memelkonvention vom 8. Mai 1924 zwischen Litauen und den Alliierten Rechnung.

Das Memelgebiet erhielt dadurch einen eigenen Landtag und in Gestalt eines fünfköpfigen Landesdirektoriums eine eigene Regierung. Obwohl die ersten Landtagswahlen vom Oktober 1925 den deutschen Parteien eine überwältigende Mehrheit brachten (sie stellten 27 von 29 Abgeordneten), wurden durch den vom litauischen Präsidenten berufenen Gouverneur zehn Jahre lang gegen den Willen des Landtags nur Litauer, die von außerhalb der Region kamen, an die Spitze des Landesdirektoriums gestellt. Das Verhältnis zu Deutschland wurde dadurch nachhaltig belastet. Doch es gab einen wichtigen Unterschied zum Konflikt mit Polen: Zwischen Kaunas und Berlin bestanden diplomatische Beziehungen, zwischen Kaunas und Warschau nicht.

Die Besetzung des Memelgebiets fiel in eine Zeit innenpolitischer Instabilität: Bei den Wahlen vom Oktober 1922 hatten die Christlichen Demokraten ihre absolute Mehrheit eingebüßt; sie eroberten sie erst im Mai 1923 nach einer Parlamentsauflösung durch Präsident Stulginskis zurück. Das wichtigste innenpolitische Vorhaben der zwanziger Jahre war die Agrarreform, die angesichts der bäuerlichen Prägung des Landes eine vergleichsweise geringe Brisanz besaß. Ein Gesetz vom April 1922 sah für den kirchlichen, adligen oder sonstigen privaten Landbesitz, sofern er über 80 Hektar hinausging, eine Enteignung gegen Entschädigung vor. 1928 wurde die Obergrenze auf 150 Hektar angehoben. Nutznießer der Umverteilung waren in der ersten Phase landlose oder landarme Kleinbauern, in der zweiten auch Kommunen und gemeinnützige Einrichtungen. Die betroffenen Großgrundbesitzer waren meist Polen oder Russen, so daß die Eingriffe in die überkommenen Eigentumsverhältnisse neben der sozialen auch eine ethnische Dimension hatten: Sie dienten der Stärkung des Litauertums. Im Mai 1926 fanden erneut Parlamentswahlen statt, an denen erstmals auch die Memelländer teilnehmen konnten. Die Sieger waren diesmal die Linksparteien: Die Volkssozialisten kamen auf 22, die Sozialdemokraten auf 15 und damit zusammen auf 37 von insgesamt nunmehr 85 Sitzen; die Christlichen Demokraten erhielten nur noch 30 Mandate. Mit Hilfe der jüdischen und der polnischen Abgeordneten wurden zwei Volkssozialisten in die höchsten Ämter gewählt: Mykolas Slezevicius als Staatspräsident und Kazys Grinius als Ministerpräsident.

Die Linksregierung stieß, unter anderem wegen eines im September 1926 abgeschlossenen Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion, auf schärfste Opposition der Christlichen Demokraten, der völkischen Tautininkai, die erstmals mit 5 Abgeordneten im Seimas vertreten waren, und, am gefährlichsten, des Militärs. Am 17. Dezember 1926 putschte General Povilas Plechavicius, offenbar angeregt von Pilsudskis Coup vom Mai. Das Parlament wurde besetzt, die Regierung abgesetzt, das Amt des Staatspräsidenten an Antanas Smetona, das des Ministerpräsidenten an den früheren Regierungschef Augustinas Voldemaras, den Vorsitzenden der radikal nationalistischen Vereinigung Gelezinis Vilkas, übertragen. Der letztere bildete eine Regierung aus Christlichen Demokraten und Tautininkai. Vier Monate später, am 12. April 1927, löste Präsident Smetona den Seimas auf, ohne gleichzeitig Neuwahlen auszuschreiben. Damit begann eine neunjährige autoritäre Herrschaft, während derer es in Litauen keinerlei gewähltes Parlament mehr gab.

Gestützt auf die Armee, baute Smetona in der Folgezeit seine Machtstellung immer weiter aus. Eine neue Verfassung, die am 15. Mai 1928 verkündet wurde, konzentrierte alle Staatsgewalt beim Präsidenten. Im September 1929 löste Smetona, der sich als «Führer der Nation» feiern ließ, Ministerpräsident Voldemaras ab und ersetzte ihn durch seinen Schwager Juozas Tubelis. Nach einem mißglückten Militärputsch vom Juni 1934 und einem Bauernstreik vom Sommer 1935 zog das Regime die Zügel noch schärfer an. Die Oppositionsparteien mußten im Februar 1936 ihre Tätigkeit auf Grund eines neuen Vereinsgesetzes einstellen; die Wahlen vom Juni 1936, die ersten seit 1926, waren so organisiert, daß nur noch Tautininkai Abgeordnete stellen konnte. Das Einparteienparlament verabschiedete am 11. Februar 1938 eine autoritäre Verfassung, die ein parlamentarisch verbrämtes Präsidialregime vorsah und die Pflichten der Bürger sehr viel stärker betonte als ihre Rechte. Der Staat verpflichtete sich zwar, die Gewissens- und die Religionsfreiheit zu schützen, von Meinungs-, Versammlungs- und Pressefreiheit aber war keine Rede.

Praktische Auswirkungen hatte die Verfassung nicht mehr. Einen Monat nach ihrer Verabschiedung erzwang Polen durch ein Ultimatum die Aufnahme diplomatischer Beziehungen und die Anerkennung der bestehenden Grenze, also den Verzicht auf Wilna und seine Umgebung. Parlamentswahlen nach dem Verhältniswahlrecht, wie die Verfassung sie vorsah, sollte Litauen nicht mehr erleben.

Wie die Litauer gehörten auch die Letten zu den Völkern der baltischen Sprachfamilie, denen ebenfalls die ausgelöschten oder in den Ostpreußen aufgegangenen Pruzzen zuzurechnen waren. Die 1918/19 entstandene Republik Lettland umfaßte mit Lettgallen, Kurland und dem südlichen Livland Gebiete, die bis zum Untergang des Zarenreiches russischer Herrschaft unterworfen waren. Der nördliche Nachbar Lettlands, die Republik Estland, umschloß die ehedem russische Provinz gleichen Namens und die nördlichen vier Kreise Livlands. Die Esten gehörten wie die Finnen zur finnisch-ugrischen Sprachfamilie. Anders als Litauen, das katholisch blieb, waren Estland, Livland und Kurland seit der Reformationszeit evangelisch-lutherisch geprägt (was sich auch darin äußerte, daß fast die gesamte Bevölkerung des Lesens und Schreibens kundig war). Die Oberschicht bestand aus Deutschbalten; fast der gesamte Großgrundbesitz war in der Hand deutschbaltischer Adliger. Seit dem späten 19. Jahrhundert wurden Estland, Livland und Kurland, seit 1918 Estland und Lettland unter dem Begriff Baltikum zusammengefaßt; Litauen wurde erst später, verstärkt seit den dreißiger Jahren, dieser Ländergruppe zugeschlagen. Einen Beitrag zum neuen Sprachgebrauch leistete die «Baltische Entente», die entstand, als Litauen am 12. September 1934 einem bereits 1923 abgeschlossenen lettisch-estnischen Bündnis beitrat.

Die Verfassungen Estlands und Lettlands vom Juni 1920 beziehungsweise Februar 1922 gaben dem Parlament mehr Macht als der Regierung. Estland kannte keinen Staatspräsidenten; der Ministerpräsident fungierte zugleich als Staatsoberhaupt. In Lettland wurde der Staatspräsident von der Saeima, dem Parlament, gewählt; er war Oberbefehlshaber der Armee und konnte Notverordnungen erlassen, nicht aber das Parlament auflösen. In beiden Staaten wurde die Volksvertretung nach dem Verhältniswahlrecht gewählt; wie in Litauen besaßen Männer und Frauen das aktive und passive Wahlrecht. Der anfänglichen Zersplitterung folgte eine Konzentration auf drei Lager: eine Bauernpartei, eine bürgerliche Mittelpartei und die Sozialdemokraten. Am stärksten waren in Estland wie in Lettland die Bauernparteien; aus ihnen gingen die beiden wichtigsten Führer der Zwischenkriegszeit hervor: der estnische Minister- und spätere Staatspräsident Konstantin Päts und der lettische Staats- und Ministerpräsident Karlis Ulmanis. Die Kommunistische Partei wurde in Lettland als Reaktion auf den Bürgerkrieg 1920 verboten; in Estland erging ein entsprechendes Verbot Ende 1924 nach der Niederschlagung eines kommunistischen Umsturzversuchs durch General Johan Laidoner, den Helden des Freiheitskampfes und Oberbefehlshaber der estnischen Truppen.

Reine Nationalstaaten waren beide Länder nicht. Die zweitstärkste ethnische Gruppe waren die Russen mit einem Bevölkerungsanteil von 10,6 Prozent in Lettland im Jahr 1934 und 8,2 Prozent in Estland im Jahr 1935. Die Deutschen hatten um dieselbe Zeit in Lettland einen Bevölkerungsanteil von 3,2 Prozent und in Estland von 1,5 Prozent. Nur in Estland gelang, wovon im Zusammenhang mit den Minderheitenschutzverträgen schon die Rede war, eine weithin als vorbildlich betrachtete Lösung der Nationalitätenfrage: der Ausgleich von 1925. Er gewährte den nichtestnischen Volksgruppen, wenn sie sich dies wünschten, volle Kulturautonomie – ein Recht, von dem die deutsche wie die jüdische Minderheit Gebrauch machte. Lettland hingegen betrieb seit 1930 eine Politik der «Lettisierung», die zu starken Spannungen mit der deutschen Minderheit führte.

Estland und Lettland waren die einzigen ostmitteleuropäischen Staaten, die eine radikale Agrarreform durchführten. In beiden Ländern wurde der meist deutschbaltische Großgrundbesitz enteignet; etwa zwei Drittel der landwirtschaftlich genutzten Fläche wurde an bäuerliche Neusiedler verteilt; Waldbesitz ging in Staatseigentum über. In Estland erhielten die bisherigen Großgrundbesitzer, wenn sie an der Landzuweisung teilnahmen, etwa 3,6 Prozent ihres Besitzes zurück; 1926 wurde ihnen eine Entschädigung in Höhe von etwa 3 Prozent des tatsächlichen Besitzwertes gewährt, später auch in Form einer Zuweisung von Restgütern bis zu 50 Hektar. In Lettland gab es keine Entschädigung, wohl aber konnten die bisherigen Herren Restgüter von höchstens 50 Hektar behalten. Beide Staaten blieben ganz überwiegend agrarisch geprägt; der Anteil der in der Industrie beschäftigten Personen an der erwerbstätigen Bevölkerung belief sich in Estland um 1930 auf 17,4, in Lettland auf 13,5 Prozent.

Wie die meisten ostmitteleuropäischen Staaten erlebten auch Estland wie Lettland unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise schwere Staatskrisen, die zur Abwendung von der parlamentarischen Demokratie und zur Errichtung autoritärer Regime führten. In Lettland verlief dieser Prozeß wesentlich radikaler als in Estland. Im Mai 1934 schaltete Ministerpräsident Ulmanis durch einen Staatsstreich die äußerste Rechte und die äußerste Linke aus. Die Verfassung wurde aufgehoben, die Tätigkeit von Parlament und Parteien sistiert, eine Regierung aus Vertretern der gemäßigten Parteien gebildet und die Gesetzgebungsbefugnis auf die Exekutive übertragen. Im April 1936 übernahm Ulmanis zusätzlich zum Amt des Ministerpräsidenten auch das des Staatspräsidenten.

In Estland hatte sich die Regierung des starken Drucks einer rechtsradikalen antiparlamentarischen Bewegung, des Verbandes der Freiheitskämpfer, kurz «Vapsen» genannt, zu erwehren, der sich an faschistischen Vorbildern und namentlich an dem der noch zu erörternden finnischen Lapua-Bewegung orientierte. Eine von der «Vapsen» angestrengte Volksabstimmung über eine Verfassungsreform, die das parlamentarische durch ein Präsidialsystem ersetzte, war mit fast 73 Prozent Ja-Stimmen höchst erfolgreich. Den Nutzen aus den Verfassungsänderungen von 1933 zog aber Ministerpräsident Päts. Er übernahm die neuen außerordentlichen Befugnisse des Staatsoberhaupts, verhängte, um einen rechtsradikalen Staatschef zu verhindern, den Ausnahmezustand, übertrug den Oberbefehl an General Laidoner (der als Oberbefehlshaber 1925 zurückgetreten war), ließ die Führer der «Vapsen» verhaften und vertagte sowohl die Wahl des Staatspräsidenten wie die des Parlaments. Die Volksvertretung stimmte dem Ausnahmezustand zu; auch die Sozialdemokraten sahen in der Diktatur des konservativen Päts ein wesentlich kleineres Übel als in einer der «Vapsen». Seit Oktober 1934 wurde das Parlament nicht mehr einberufen, die Tätigkeit der Parteien sistiert. Päts regierte fortan mit Dekreten; die Bewegung der Freiheitskämpfer wurde nach der Aufdeckung eines Putschversuchs 1935 verboten.

Durch einen Volksentscheid ließ Päts seinen Kurs im Februar 1936 bestätigen. Eine neue, von einer Konstituierenden Nationalversammlung beschlossene Verfassung vom August 1937 führte ein System mit einem starken Präsidenten und einer Staatsversammlung ein, die aus zwei Kammern bestand: der aus Wahlen nach dem Mehrheitswahlrecht hervorgegangenen Abgeordnetenkammer und dem teils gewählten, teils ernannten Staatsrat. Im April 1938 ließ Päts sich vom Volk zum Präsidenten der Republik wählen. Die von ihm praktizierte «gelenkte Demokratie» unterschied sich sowohl von dem instabilen parlamentarischen System, in dem zwischen 1919 und 1933 die Regierungen sich im Durchschnitt jeweils acht Monate und 20 Tage hatten im Amt halten können, als auch von der autoritären Diktatur der Jahre 1934/35. Estland war damit am Vorabend des Zweiten Weltkriegs das bei weitem liberalste unter den, wenn man Litauen mitzählt, drei baltischen Republiken.

Auch auf der anderen Seite des Finnischen Meerbusens stand in der Zwischenkriegszeit das Schicksal der parlamentarischen Demokratie mehr als einmal auf des Messers Schneide. Bis weit in die dreißiger Jahre hinein mußte Finnland mit der Gefahr eines gewaltsamen Umsturzes der radikalen Rechten rechnen, und immer wieder versuchte die im August 1918 in Rußland gegründete, von Anfang an illegale Kommunistische Partei Finnlands durch Tarnorganisationen und gezielte Gewerkschaftsarbeit Massen für einen zweiten Anlauf in Richtung einer roten Revolution hinter sich zu bringen. Die Sozialdemokraten hingegen wandten sich unter Führung von Väinö Tanner vom Radikalismus der Bürgerkriegszeit ab und dem Reformismus der skandinavischen Arbeiterparteien zu: eine notwendige Voraussetzung für das parlamentarische Zusammenwirken mit den gemäßigten bürgerlichen und bäuerlichen Parteien, dem das Land eine Reihe von Arbeiterschutzgesetzen, ein Gesetz über die sechsjährige Schulpflicht und die Bodenreform von 1922 verdankte, die sich gegen den finnland-schwedischen Großgrundbesitz richtete. 1926/27 gelangte Tanner als Chef einer von der Schwedischen Volkspartei tolerierten sozialdemokratischen Minderheitsregierung ins Amt des Ministerpräsidenten, in dem er sich freilich nur ein knappes Jahr lang behaupten konnte.

Die Regierungen waren unter der Präsidentschaft des liberalen Kaarlo Ståhlberg in den Jahren 1919 bis 1926 wie unter der seines Nachfolgers Lauri Kristian Relander von der Agrarunion von 1925 bis 1931 fast immer Minderheitskabinette. Alle standen unter dem massiven Druck der staatlich geförderten, weit rechts stehenden und scharf antikommunistischen Schutzkorps, einer während der Bürgerkriegszeit gegründeten Organisation der Landesverteidigung, die 1919 fast 100.000 Mitglieder zählte. Auf ihr Betreiben ging die Regierung des Ministerpräsidenten Kyösti Kallio im August 1923 mit größerer Härte gegen die von den Kommunisten ferngesteuerte Finnische Arbeiterpartei vor: Ihre 27 Parlamentsabgeordneten und zahlreiche Funktionäre wurden verhaftet und wegen Vorbereitung zum Hochverrat zu Freiheitsstrafen verurteilt; die Partei wurde aufgelöst.

Das Verbot warf die Kommunisten nur vorübergehend zurück. Eine neue Tarnorganisation, der Wahlbund Sozialistischer Arbeiter und Kleinbauern, zog 1927 erstmals und 1929 mit zusätzlichen Mandaten in den Reichstag ein. In den Gewerkschaften hatten die Kommunisten bereits 1920 die Mehrheit erobert. Ein achtmonatiger Hafenarbeiterstreik 1927/28 führte zu neuen scharfen Kampfmaßnahmen des Staates: Die meisten Führer der illegalen Kommunistischen Partei wurden im April 1928 festgenommen und wegen Vorbereitung des Hochverrats zu Zwangsarbeit im Lager Tammisaari verurteilt. Ein Jahr später, im Mai 1929, verließen die Sozialdemokraten die Führungsgremien des Finnischen Gewerkschaftsbundes und gründeten den neuen Zentralverband der Gewerkschaften Finnlands. Der linke Gewerkschaftsbund, der sich inzwischen von der Kommunistischen Partei losgesagt hatte, wurde im Juli 1930 durch Gerichtsbeschluß verboten. Die Kommunisten sammelten sich in den 1929 gegründeten illegalen Roten Gewerkschaften, denen es aber nicht gelang, größere Arbeitermassen für ihre Demonstrationen auf die Straße zu bringen.

Die Bedrohung von rechts verkörperten im ersten Jahrzehnt nach der Unabhängigkeit die Schutzkorps, die sich zum größten Teil aus der bäuerlichen Bevölkerung, sodann aus Beamten und Angestellten rekrutierten. Wegen der scharfen Polemik eines prominenten Schutzkorpsführers gegen die Politik von Außenminister Rudolf Holsti, der eine enge Zusammenarbeit mit den baltischen Staaten, Polen und den Westmächten anstrebte, entließ Staatspräsident Ståhlberg im Sommer 1921 den Oberkommandierenden der Schutzkorps, Oberst von Essen. Den Vorschlag der Schutzkorps, General Mannerheim zu seinem Nachfolger zu ernennen, wies Kriegsminister Jalander entschieden zurück. Um einen möglichen Staatsstreich der Rechten abzuwenden, bemühte sich der ehemalige Reichsverweser Svinhufvud als Vermittler um einen Kompromiß, der schließlich im September 1921 gefunden wurde: Jalander trat zurück; die Selbstverwaltung der Schutzkorps wurde erweitert und der Jägeroberst Lauri Malmberg zu ihrem Oberbefehlshaber ernannt, der dann bis zur Auflösung der Schutzkorps im Jahre 1944 diese Funktion ausüben sollte.

Im Jahr darauf, am 14. Februar 1922, wurde Innenminister Ritavuori von Rechtsradikalen ermordet: Er war zur Zielscheibe der Nationalisten geworden, die ihm vorwarfen, er habe sich Sowjetrußland gegenüber zu nachgiebig verhalten. Den Hintergrund des Attentats bildete die Krise um Ostkarelien: Dort hatte 1921 ein Aufstand gegen die Sowjetisierung dieses größtenteils finnischsprachigen Gebiets begonnen. Die Erhebung stieß auf starke Sympathien in Finnland und führte zu einer Bewegung für den Anschluß Ostkareliens, ja zum Einsatz finnischer Freiwilliger jenseits der Grenze zu Sowjetrußland. Im Sommer 1922 wurde der Konflikt durch einen Grenzfriedensvertrag mit Moskau vordergründig beigelegt.

Die Ostkarelienfrage spielte auch eine Rolle in dem Machtkampf innerhalb des Offizierskorps, der 1924 zwischen den als konservativ geltenden ehemaligen zaristischen Offizieren und den jüngeren, in Deutschland ausgebildeten Jägeroffizieren entbrannte. Die letzteren genossen die Unterstützung Malmbergs, der 1924 auch das Amt des Verteidigungsministers übernahm. Der Befehlshaber der Streitkräfte, Generalmajor Wilkman, wurde zunächst zu einem längeren Studienaufenthalt im Ausland genötigt. Im Mai 1926 entließ ihn Staatspräsident Relander. Wilkmans Nachfolger wurde der erst sechsunddreißigjährige Jägermajor Aarne Sihvo: ein klarer Sieg der jüngeren und radikaleren Kräfte des Offizierskorps über die älteren und moderateren.

Dafür, daß die Ostkarelienfrage und die Idee einer finnischen Sprachgemeinschaft nicht in Vergessenheit gerieten, sorgte vor allem die 1922 von Studenten gegründete Akademische Karelien-Gesellschaft (AKS), der es binnen kurzem gelang, die große Mehrheit der finnischsprachigen Studentenschaft hinter sich zu bringen. Außer Ostkarelien rechneten die Propagandisten dieser Vereinigung auch das zu Rußland gehörende Ingermanland, die norwegische Finnmark und das schwedische Västerbotten der großfinnischen Kulturnation zu. Seit 1924 konzentrierten sich die Bemühungen der AKS ganz auf die Zurückdrängung der schwedischen Sprache aus der finnischen Hoch- und Alltagskultur. (Etwa elf Prozent der finnischen Bevölkerung sprachen Schwedisch; von den Studenten der Universität Helsinki war es ein Viertel, von den Professoren die Hälfte.) Den Forderungen der gemäßigten Vertreter der sprachlichen Minderheit trug ein neues Sprachengesetz von 1922 Rechnung, das Festlegungen über den Gebrauch des Schwedischen im Umgang mit Behörden und Gericht sowie auf kommunaler Ebene enthielt. Ein Gesetzentwurf über die Organisationsform der Universität Helsinki wurde auf Betreiben der AKS so abgeändert, daß fortan nur noch eine kleine Minderheit der Professoren auf Schwedisch unterrichten konnte. Das Fernziel der «echtfinnischen» Bewegung mit der AKS als hartem Kern war damit aber noch längst nicht erreicht: ein einsprachiges Finnland.

Wirtschaftlich war Finnland in der Zwischenkriegszeit noch weitgehend von der Landwirtschaft geprägt: 1920 waren drei Viertel (75 Prozent), 1940 noch fast zwei Drittel (63 Prozent) der erwerbstätigen Bevölkerung im Agrarsektor beschäftigt. Eine weltweite Agrarkrise schlug hier infolgedessen Ende der zwanziger Jahre voll durch. Vor allem auf dem Lande trat nun die Sprachenfrage vorübergehend wieder hinter den politischen und sozialen Kämpfen zwischen dem «weißen» und dem «roten» Finnland zurück. Im November 1929 wurden bei einer Feier des kommunistischen Jugendverbandes im ostbottnischen Lapua den Teilnehmern von wütenden Nationalisten die roten Hemden vom Leib gerissen. Das war der Ausgangspunkt der stark bäuerlich geprägten Lapua-Bewegung, die sich rasch radikalisierte und bereits im Dezember die seit August 1929 amtierende dritte Regierung Kallio ultimativ zu gesetzlichen Maßnahmen gegen die Kommunisten und alle Vereinigungen aufforderte, die nach Meinung der Petenten gegen das Gesetz und die guten Sitten verstießen.

Im Januar 1930 kam das Parlament diesem Verlangen weitgehend nach. Eine Einschränkung der Pressefreiheit aber, wie die Lapua-Bewegung sie forderte, lehnte der Reichstag ab, was die rechtsradikalen Aktivisten mit der Zerstörung von Druckmaschinen einer in Vaasa erscheinenden linkssozialistischen Zeitung beantworteten. Der nächste Schritt waren Hunderte von Entführungen von Politikern, Funktionären und Anhängern der radikalen Linken: Sie wurden an die Grenze zur Sowjetunion gebracht, die sie passieren sollten, um sich in ihre angebliche politische Heimat zu begeben. Drei der Entführungen des Sommers 1930 endeten mit dem Tod der Opfer. Gerichtsprozesse gegen die Täter wurden dadurch ad absurdum geführt, daß sich Hunderte von Lapua-Kämpfern für schuldig erklärten.

Das Kabinett Kallio scheute vor einem energischen Einschreiten zurück, weil es für diesen Fall eine Solidarisierung zwischen Schutzkorps und Anhängern der Lapua-Bewegung fürchtete. Einem drohenden Staatsstreich der äußersten Rechten konnte die Regierung nur noch durch ein vom Vermittler Svinhufvud ausgehandeltes Zugeständnis abwehren: das Versprechen eines endgültigen Verbots kommunistischer Organisationen. Nach der Verabschiedung eines entsprechenden Gesetzes zum Schutz der Republik trat das dritte Kabinett Kallio am 2. Juli 1930 zurück. Zum neuen Ministerpräsidenten ernannte Präsident Relander Pehr Evind Svinhufvud. Unmittelbar nach der Konstituierung des neuen Kabinetts wurden zwei Abgeordnete der Sozialistischen Arbeiter- und Kleinbauernpartei während einer Sitzung des Verfassungsausschusses des Reichstags entführt. Die Regierung erreichte ihre Freilassung nur, weil sie zusagte, ihrerseits alle kommunistischen Abgeordneten verhaften zu lassen.

Da der Reichstag der Regierung auf ihrem Kampfkurs nicht vorbehaltlos folgte, löste Präsident Relander das Parlament auf und ordnete Neuwahlen für den 1. und 2. Oktober 1930 an. Die eigentliche Gewinnerin war die rechte Sammlungspartei. Die Sozialdemokraten konnten zwar auch einige Mandate hinzugewinnen, aber eine verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit des Regierungslagers nicht verhindern. Nachdem die antikommunistischen Gesetze angenommen worden waren, verzichtete die Lapua-Bewegung auf den Umsturzplan, den sie für den Fall der Ablehnung vorbereitet hatte.

Der Herbst 1930 markierte den Höhepunkt der Gefahr, die für die demokratischen Einrichtungen von der Lapua-Bewegung ausging. Als Anhänger derselben im Oktober den ehemaligen Staatspräsidenten Ståhlberg und seine Frau entführten und damit gegen ein von der eigenen Führung erlassenes Verbot solcher Aktionen verstießen, wandte sich die öffentliche Meinung gegen diese Träger einer finnischen Spielart von Faschismus. Der knappe Sieg, den Svinhufvud bei den Präsidentschaftswahlen vom 1. März 1931 errang (151 Wahlmänner stimmten für ihn, 149 für Ståhlberg), entzog der Lapua-Bewegung einen Großteil der bisherigen Angriffsflächen. Svinhufvud übertrug General Mannerheim den Vorsitz des neu organisierten Verteidungsrats. Ein neuerlicher Umsturzversuch der Lapua-Bewegung im September 1931 bekämpfte die Regierung mit den gesetzlichen Mitteln, die sie sich unter dem Druck der äußersten Rechten vom Reichstag hatte bewilligen lassen. Da sich das Gros der Schutzkorps loyal verhielt, konnte die Lapua-Bewegung im März 1932 vom Innenminister aufgelöst werden.

Die Nachfolgeorganisation, die Vaterländische Volksbewegung (IKL), versprach, sich im Rahmen der Legalität zu bewegen, übernahm aber vom italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus Kampfformen und Symbole wie die Uniformierung (darunter ein schwarzes Hemd mit einem blauen Schlips) und, allerdings nur im Fall ihrer Jugendorganisation, den «Hitler-Gruß», die erhobene Rechte. Bei den Wahlen vom Juli 1933 kam die IKL auf 14 Mandate, während die Sammlungspartei von 42 auf 18 Sitze schrumpfte. Den größten Erfolg errangen die Sozialdemokraten, die 12 Sitze hinzugewannen und jetzt 78 Abgeordnete stellten. Im April 1934 erging ein allgemeines Uniformverbot. Kurz darauf entflammte der Sprachenstreit aufs Neue. Der Entwurf eines Gesetzes zur Reorganisation der Universität Helsinki scheiterte an der Obstruktion der Anhänger der «echtfinnischen» Bewegung. 1937 wurde finnisch schließlich durch Reichsgesetz zur Unterrichtssprache an der Universität Helsinki erklärt. Schwedisch aber blieb noch lange die Sprache eines Großteils der gebildeten Oberschicht.

Im Februar 1936 verlor der seit 1932 amtierende, zur Fortschrittspartei gehörende Ministerpräsident Kivimäki die Unterstützung der Schwedischen Volkspartei und damit die parlamentarische Mehrheit. Aus den Wahlen vom Juli 1936 gingen erneut die Sozialdemokraten mit nunmehr 83 Abgeordneten als Sieger hervor. Die Partei Väinö Tanners erklärte sich bereit, erstmals seit 1927 wieder in eine Regierung einzutreten, was Präsident Svinhufvud aber zurückwies. Ministerpräsident wurde zum vierten Mal Kyösti Kallio von der Agrarunion. Im Jahr darauf, am 1. März 1937, wurde Kallio mit den Stimmen der Sozialdemokraten zum neuen Staatspräsidenten gewählt. Damit entfiel das letzte Hindernis, das einer Regierungskoalition aus Sozialdemokraten, Agrarunion und Fortschrittspartei entgegenstand. Den Ministerpräsidenten dieses breitesten Bündnisses seit der Erringung der Unabhängigkeit stellte die kleine Fortschrittspartei mit Aimo Kajander; der Sozialdemokrat Tanner übernahm das Finanzministerium, Rudolf Holsti von der Fortschrittspartei wurde erneut Außenminister. Der aus den Reihen der Agrarier stammende Innenminister Urho Kekkonen verbot mit Zustimmung des Kabinetts im Mai 1938 die Jugendorganisation der IKL. Das Verbot der rechtsradikalen Partei selbst, das Kekkonen im November aussprach, scheiterte indes am Amtsgericht Helsinki.

Die Verständigung zwischen Sozialdemokraten und Agrarunion war die wichtigste Ursache der Stabilisierung des demokratischen Systems. Die allmähliche wirtschaftliche Erholung tat das Ihre, um weitere Stimmengewinne der IKL zu verhindern und die Gefahr eines rechtsradikalen Umsturzes zu bannen. Seit Mitte der dreißiger Jahre näherte sich Finnland unverkennbar dem Entwicklungstrend der anderen nordischen Demokratien an, mit denen es zwar nicht sprachlich, wohl aber konfessionell, durch seine protestantisch-lutherische Prägung und einem hohen Alphabetisierungsgrad verbunden war. Was Dänemark, Schweden und Norwegen unter dem maßgeblichen Einfluß der Sozialdemokraten bereits zuvor begonnen hatten, tat nun vermehrt auch Finnland: Es legte den Grund für einen Wohlfahrtsstaat nordeuropäischer Prägung.

Auch auf außenpolitischem Gebiet rückten die nordischen Demokratien näher zusammen. Zwischen Finnland und Schweden hatte, abgesehen von der Sprachenfrage, lange der Streit um die Ålandinseln gestanden: Sie hatten eine schwedische Bevölkerung, die den Anschluß an Schweden wünschte, blieben aber mit Zustimmung des Völkerbunds unter bestimmten Auflagen, darunter dem Verbot des Festungsbaus, bei Finnland. Im Herbst 1933 schloß sich Finnland mit Schweden, Dänemark, Norwegen, Belgien und Luxemburg zu den «Oslo-Staaten» zusammen, die sich zu einer engen Zoll- und handelspolitischen Zusammenarbeit bekannten. 1934 nahm Finnland erstmals an einem Ministertreffen der skandinavischen Staaten teil. Im Jahr darauf legte sich die Regierung Kivimäki auf eine engere Zusammenarbeit mit den skandinavischen Staaten zwecks Sicherung der gemeinsamen Neutralität fest: eine Reaktion auf die drohende Gefahr eines neuen großen europäischen Krieges.

Kompliziert blieben die Beziehungen mit der Sowjetunion. Im Januar 1932 hatte Finnland zwar einen Nichtangriffspakt mit Moskau abgeschlossen (was im gleichen Jahr auch Estland und Lettland taten). Im Sommer 1935 aber begann von Sowjetkarelien aus eine Kampagne gegen die finnischen Nationalisten, der schließlich auch die meisten der in der Sowjetunion lebenden Führer der illegalen Kommunistischen Partei Finnlands zum Opfer fielen. Den stalinistischen Terror überlebten fast nur die finnischen Kommunisten, die in finnischen Gefängnissen inhaftiert waren. Späteren Schätzungen zufolge kamen in den stalinistischen Lagern, dem «Archipel Gulag», 20.000 Finnen ums Leben. Die großfinnische Propaganda lieferte Moskau Gründe, Finnland Annexionsabsichten in bezug auf Ostkarelien und Ingermanland zu unterstellen. Umgekehrt fühlte sich Finnland vom Bau strategisch wichtiger Eisenbahnlinien in Ostkarelien bedroht. Solange in Finnland die konservativen Kräfte mit Svinhufvud an der Spitze das Sagen hatten, wurde das Deutschland Hitlers als die, verglichen mit der Sowjetunion Stalins, bei weitem weniger gefährliche Großmacht betrachtet. Aber auch nach dem Wiedereintritt der Sozialdemokraten in die Regierung blieb die Furcht vor Moskau und dem internationalen Kommunismus stark genug, um jede Art von antideutscher Frontstellung Finnlands zu verhindern.

Anders als Finnland erlebte die Tschechoslowakei zwischen 1918 und 1938 keine innere Krise, die das parlamentarische System ernsthaft in Gefahr brachte. Die Tschechoslowakische Republik war der am stärksten industrialisierte, bürgerlichste, politisch stabilste und in diesem Sinn «westlichste» unter den neuen Staaten Ostmitteleuropas. Zugleich war es, neben Frankreich, der «laizistischste» unter den ursprünglich katholischen Staaten Europas. Die Verfassung vom 29. Februar 1920 bezeichnete die Tschechoslowakei ganz im Sinne der berühmten französischen Formel von der «nation une et indivisible», als ein einheitliches und unteilbares Ganzes. Einen Sonderstatus genoß lediglich die ehedem ungarische Karpato-Ukraine (Podkarpatská Rus), die eine zumindest nominelle Selbstverwaltung und einen eigenen Gouverneur erhielt. Die gesetzgebende Gewalt lag beim Abgeordnetenhaus, das von den volljährigen Männern und Frauen für die Dauer von sechs Jahren nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wurde, und dem Senat, der ebenfalls aus allgemeinen Wahlen hervorging und auf acht Jahre gewählt wurde. Der Präsident wurde von beiden Kammern des Parlaments auf sieben Jahre gewählt; er verfügte über ein suspensives Veto gegen Gesetze, die von beiden Kammern angenommen worden waren. Die Regierung war dem Abgeordnetenhaus verantwortlich und konnte von diesem durch ein Mißtrauensvotum zum Rücktritt gezwungen werden.

Als Staatssprache bezeichnete das gleichzeitig mit der Verfassung verabschiedete Sprachengesetz das Tschechoslowakische, das tatsächlich aus zwei Sprachen, der tschechischen und der nah mit ihr verwandten slowakischen, bestand. Den anderssprachigen Minderheiten wurden, wenn sie in einem Gerichtsbezirk nach der jeweils letzten Volkszählung mindestens von 20 Prozent der Bevölkerung gesprochen wurde, der Gebrauch ihrer Sprache im Verkehr mit Behörden und Gerichten sowie die Errichtung eigener Schulen gestattet. Die Tschechen und Slowaken machten 1921 mit knapp 8,8 Millionen (64,35 Prozent) die größte Bevölkerungsgruppe aus; es folgten die Deutschen mit 3,1 Millionen (22,94 Prozent), die Ungarn mit 745.000 (3,38 Prozent), die Karpato-Ukrainer mit 461.000 (3,4 Prozent), die Juden mit 180.000 (1,32 Prozent) und «Polen und andere» mit 102.000 Staatsbürgern (0,75 Prozent).

Das Verhältniswahlrecht begünstigte eine große Parteienvielfalt. Auf tschechoslowakischer Seite gab es zwei Parteien rechts der Mitte, die Nationaldemokraten und die Agrarier, zwei sozialistische Parteien, nämlich die Sozialdemokraten und die eher kleinbürgerlichen Nationalsozialisten, sowie die katholische Volkspartei als klassische Mittelpartei. Diese fünf Parteien, «pětka» genannt, waren die eigentlichen Staatsgründungs- und die häufigsten Regierungsparteien. In der Slowakei kamen zu den genannten Parteien noch die katholische Slowakische Volkspartei und die weit rechts stehende, aber unbedeutende Slowakische Nationalpartei hinzu. Die größten sudetendeutschen Parteien bestanden aus den Sozialdemokraten, dem Bund der Landwirte und der Christlich-Sozialen Partei, die sich ideologisch zu stark voneinander unterschieden, um je einen Block bilden zu können. Die Ungarn der Slowakei sammelten sich in einer Sozialdemokratischen und einer Christlich-Sozialen Partei. Die einzige Partei, die sich konsequent über- und international gab, war die 1918 in Rußland gegründete Kommunistische Partei, in der vor allem Tschechen und Deutsche aktiv waren. Im ersten, 1920 gewählten Parlament, für das sie noch nicht kandidierte, war sie nur infolge von Übertritten linker sozialdemokratischer Abgeordneter vertreten; bei den zweiten Wahlen von 1925 zog sie erstmals mit gewählten Abgeordneten in die Volksvertretung ein.

Die beiden maßgeblichen Politiker der Tschechoslowakischen Republik in der Zwischenkriegszeit waren Tomáš Masaryk, der Staatspräsident der Jahre 1918 bis 1935, und Edvard Beneš, der von 1918 bis 1935 ununterbrochen das Amt des Außenministers innehatte und 1935 Masaryks Nachfolge als Staatspräsident antrat. Die Prager Kabinette waren zu keiner Zeit rein bürgerliche oder rein sozialdemokratische, sondern meist «klassenübergreifende» Koalitionsregierungen. In den ersten sechs Jahren nach Verabschiedung der Verfassung gab es mehrfach Minderheitsregierungen und Beamtenkabinette, die jeweils nur kurz amtierten. Im Oktober 1926 gelang es dem Agrarier Antonin Švehla, erstmals zwei bürgerliche deutsche Parteien, die Christlich-Sozialen und den Bund der Landwirte, später, im Januar 1927, durch Zugeständnisse in Richtung größerer Autonomie auch die Slowakische Volkspartei für eine Kabinettsbeteiligung zu gewinnen.

Bereits 1920 und damit viel früher als die bürgerlichen deutschen Parteien hatten sich die deutschen Sozialdemokraten zur parlamentarischen Mitarbeit auf dem Boden des neuen Staates bereit erklärt. Ende 1929 stellten sie mit ihrem Vorsitzenden Ludwig Czech zum ersten Mal ein Kabinettsmitglied: Czech wurde Minister für Sozialfürsorge im zweiten Kabinett von František Udrzal, einem Politiker der Bauernpartei. Ohne Beteiligung der deutschen Parteien war 1921 eine Agrarreform beschlossen worden, die aber, anders als in Polen, nicht einseitig zu Lasten der Großgrundbesitzer einer nationalen Minderheit, hier der Deutschen und der Ungarn, ging. Eine Verwaltungsreform von 1927/28 verlief für die Sudetendeutschen insofern enttäuschend, als durch die Zusammenlegung des ehemals österreichischen Teils von Schlesien mit Mähren die Bildung eines Landes Schlesien unmöglich wurde, in dessen Landtag Deutsche und Polen zusammen vermutlich über eine Mehrheit verfügt hätten. Insgesamt waren die Sudetendeutschen Ende der zwanziger Jahre sehr viel besser in den tschechoslowakischen Staat integriert als Ungarn und Polen.

Die größten Probleme für den staatlichen Zusammenhalt warfen die slowakischen Autonomisten auf, die sich in der Slowakischen Volkspartei um den katholischen Priester Andrej Hlinka organisiert hatten. Bei den ersten Parlamentswahlen im April 1920 kamen sie auf zwölf Mandate. Fünf Jahre später konnten sie die Zahl ihrer Abgeordneten verdoppeln und sich damit an die Spitze aller slowakischen Parteien setzen. Zur Zäsur im Verhältnis zwischen der Prager Regierung und der Slowakischen Volkspartei wurde ein Prozeß gegen den Abgeordneten Vojtdch Tuka, den Gründer der «Rodobrana», einer slowakischen Heimatwehr. Dieser stellte den gemeinsamen Staat der Tschechen und Slowaken radikal in Frage und wurde im Oktober 1929 wegen militärischen Verrats und Hochverrats zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt. Das Urteil löste in der Slowakei heftige Empörung aus und führte dazu, daß die Slowakische Volkspartei aus der Regierung ausschied und zu einer entschiedenen Oppositionspolitik überging. Der Parteivorsitzende Hlinka vertrat in der Folgezeit die Forderung nach kultureller Autonomie und politischer Selbstverwaltung der Slowakei so radikal, daß er in Prag immer mehr als Separatist wahrgenommen wurde.

Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise radikalisierte sich die politische Stimmung in den von der Depression besonders betroffenen, von der verarbeitenden Industrie geprägten sudetendeutschen Gebieten. Die am weitesten rechts stehende Gruppierung, die 1904 (zunächst unter dem Namen Deutsche Arbeiterpartei) gegründete Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei (DNSAP), die 1929 8 von 66 deutschen Mandaten im Prager Abgeordnetenhaus erhalten hatte, erfreute sich bald eines wachsenden Zulaufs enttäuschter ehemaliger Wähler der «aktivistischen», das heißt zur Regierungsbeteiligung grundsätzlich bereiten deutschen Parteien. Als sie nach dem Vorbild von Hitlers SA eine paramilitärische Formation aufzubauen begann, mußte sie sich einem Gerichtsverfahren stellen, als dessen Ergebnis ein Parteiverbot zu erwarten war. Dem kam die DNSAP im Herbst 1933 durch Selbstauflösung zuvor. Ihre Nachfolge trat die Sudetendeutsche Heimatfront an, die der Turnlehrer und Vorsitzende der Sudetendeutschen Turnerschaft, Konrad Henlein, am 1. Oktober 1933 ins Leben rief.

Nichts förderte den Aufstieg der neuen Sammlungsbewegung so sehr wie die vermeintlichen oder tatsächlichen, propagandistisch weidlich ausgeschlachteten Erfolge des «Dritten Reiches» im Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit. Bei den Parlamentswahlen vom Mai 1935 erhielt Henleins Sudetendeutsche Partei (dies der offizielle Name seit Ende April 1935) 44 Sitze und damit zwei Drittel aller deutschen Mandate. Was sie propagierte, war noch nicht die Abspaltung des Sudetengebiets und der Anschluß an Deutschland, sondern weitgehende Autonomie. Insgesamt stellten die Gruppen, die den tschechoslowakischen Staat aus unterschiedlichen Gründen ablehnten oder im Sinn nationaler Autonomie von Grund auf neu organisieren wollten, mehr als ein Drittel der Abgeordneten des Prager Parlaments: Zu den 44 deutschen und 22 slowakischen Autonomisten kamen 9 ungarische Nationalisten, 6 Vertreter der tschechischen faschistischen Partei um den früheren Generalstabschef Radola Gajda und 30 Kommunisten. Die letzteren wurden seit 1929 von einem erklärten Gefolgsmann Stalins geführt: von Klement Gottwald, dem späteren Ministerpräsidenten der Jahre 1946 bis 1948 und Staatspräsidenten von 1948 bis 1953, der sich 1934 einer drohenden Verhaftung durch die Flucht in die Sowjetunion entziehen konnte. Das Anwachsen der rechten und linken Opposition war ein Krisenzeichen, gefährdete aber nicht die Bildung einer parlamentarischen Mehrheitsregierung: Auch nach 1935 waren die «aktivistischen» deutschen Parteien mit mindestens zwei Ministern im Prager Kabinett vertreten.

Außenpolitisch lehnte sich die Tschechoslowakei vor allem an Frankreich an, mit dem sie im Januar 1924 ein reguläres Bündnis einging. Innerhalb der «Kleinen Entente», des tschechoslowakisch-jugoslawisch-rumänischen Vertragssystems von 1920/21, fiel Prag die Rolle des «primus inter pares» zu. Das galt besonders für die Zeit der intensivierten politischen, militärischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit seit 1929, die im Februar 1933 die Form eines Organisationspaktes mit einem Ständigen Rat der Außenminister, einem Ständigen Sekretariat und einem gemeinsamen Wirtschaftsrat annahm. Zum revisionistischen Ungarn blieb das Verhältnis gespannt, und für Polen galt in abgeschwächter Form dasselbe: Zwischen beiden Staaten stand der Streit um das Teschener Gebiet, der durch ein bilaterales Abkommen vom April 1925 nur vordergründig beigelegt werden konnte.

Mit dem Deutschen Reich, das durch den Versailler Vertrag das kleine Hultschiner Ländchen an die Tschechoslowakei hatte abtreten müssen, entwickelte sich in der Zeit der Weimarer Republik hingegen ein korrektes, ja alles in allem gutes Verhältnis. Nach der «Machtübernahme» der Nationalsozialisten im Januar 1933 sollte es sich freilich bald zum Schlechteren wandeln. Das Gefühl der Bedrohung durch Deutschland mündete in eine Annäherung an die Sowjetunion: Mit ihr nahm Prag im Juni 1934 diplomatische Beziehungen auf; im Mai 1935, folgte ein Beistandspakt, der allerdings an die Bedingung einer gleichzeitigen militärischen Unterstützung Frankreichs geknüpft war.

Als Tomáš Masaryk im Dezember 1935 im Alter von 85 Jahren sein Amt als Staatspräsident aufgab und Edvard Beneš seine Nachfolge antrat, war die innere und äußere Lage der Tschechoslowakei sehr viel weniger gefestigt als noch fünf Jahre zuvor. Verglichen mit den anderen neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas erschien die Tschechoslowakei aber immer noch als ein Hort demokratischer Stabilität. Die Welle der autoritären Transformation, die alle Staaten «Zwischeneuropas» und zeitweise sogar Finnland erfaßt hatte, brach sich in dem am höchsten entwickelten der neuen Staaten an der etablierten politischen Kultur pragmatischer Zusammenarbeit zwischen der Sozialdemokratie auf der einen, den bürgerlichen und agrarischen Kräften auf der anderen Seite: ein Befund, der ein Schlaglicht auf den engen Zusammenhang von gesellschaftlicher Rückständigkeit und autoritären Krisenlösungen wirft.[18]

Autoritäre Transformation (II):
Vom Balkan zur Pyrenäenhalbinsel

Eine autoritäre Transformation erlebten in der Zwischenkriegszeit nicht nur die meisten der neuen Staaten «Zwischeneuropas», sondern auch manche, die es schon vor 1914 gegeben hatte, darunter die (mit Ausnahme des überwiegend islamischen Albanien) orthodox, also nicht westlich geprägten Balkanstaaten, die ihre Unabhängigkeit im 19. oder (im Fall Albaniens) im frühen 20. Jahrhundert erlangt hatten, und die beiden Länder der iberischen Halbinsel, die zu den alten Staaten des katholischen Okzidents gehörten.

Rumänien, der Partner der Tschechoslowakei in der «Kleinen Entente» und im strikt geographischen Sinn kein Teil des Balkans, trat trotz seiner Niederlage im Kampf gegen die Mittelmächte gestärkt in die Zwischenkriegszeit ein: Noch kurz vor dem demütigenden Frieden von Bukarest hatte es im April 1918 Bessarabien annektiert; dank des Sieges der damaligen Verbündeten, der Westmächte, erhielt es bald darauf große ehemals ungarische Gebiete, darunter Siebenbürgen, und, nach einem heftigen Streit mit Serbien, zwei Drittel des Banats. Das neue, knapp 16 Millionen Einwohner zählende Großrumänien war ein Nationalitätenstaat: Nach den Volkszählungen der Vorkriegszeit waren nur zwei Drittel der Bevölkerung ethnische Rumänen; die stärkste Minderheit stellten mit knapp 12 Prozent die Madjaren. Bis zur Volkszählung von 1930 verschoben sich infolge der Auswanderung von nichtethnischen Rumänen die Gewichte zugunsten der Titularnation: Auf sie entfielen jetzt etwa 72 Prozent der Bevölkerung, auf die madjarische Minderheit knapp 8, auf die deutsche etwas über 4 Prozent. In Frage gestellt wurde der neue Staat von den Madjaren, die den Anschluß an Ungarn erstrebten, und von den Bulgaren der Dobrudscha, die sich mit Bulgarien vereinigen wollten, nicht aber von den Deutschen Siebenbürgens, die sich als loyale Bürger Rumäniens fühlten.

Nach der Verfassung von 1866, die bis 1923 das Staatsgrundgesetz bildete, war Rumänien eine konstitutionelle Monarchie. Die neue Verfassung, die am 29. März 1923 in Kraft trat, beließ es bei diesem Zustand. Unter beiden Verfassungen führten Wahlen fast immer zum Sieg der Partei, die gerade den vom König berufenen Ministerpräsidenten stellte. Wahlberechtigt (und zur Stimmabgabe verpflichtet) waren seit 1923, ungeachtet eines noch immer weit verbreiteten Analphabetismus, die Rumänen männlichen Geschlechts, die das 21. Lebensjahr vollendet hatten. Das Wahlgesetz vom 27. März 1925 sorgte dafür, daß die Partei, die mindestens 40 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen erhielt, automatisch mindestens 70 Prozent der Mandate zugesprochen bekam. Der Einfluß der jeweiligen Regierung auf den Ausgang der Wahl war in der Regel nahezu unbegrenzt, so daß der Begriff «parlamentarische Demokratie» im Hinblick auf das Rumänien der Zwischenkriegszeit fehl am Platz ist.

Am 20. Juli 1927 starb nach dreizehnjähriger Regierungszeit König Ferdinand I. aus dem Hause Hohenzollern-Sigmaringen. Seine Nachfolge trat, da Kronprinz Carol wegen einer außerehelichen Affäre mit seiner Geliebten Helene Lupescu, einer Jüdin, seinem Anspruch auf den Thron entsagt hatte, dessen jüngerer Bruder, der damals erst fünfjährige Prinz Michael an, so daß zunächst ein Regentschaftsrat die tatsächliche Staatsspitze bildete. Im Juni 1930 ließ sich Carol, nachdem er seine Beziehungen zu Madame Lupescu vorübergehend unterbrochen hatte, dann doch von der Nationalversammlung als Carol II. zum König ausrufen.

Zu den größten innenpolitischen Problemen gehörte die Agrarfrage. Sie stellte sich besonders dringend im sogenannten «Regat», dem Altreich, wo 5 Prozent der Grundbesitzer über 60 Prozent des Bodens besaßen. Mehrere Gesetze, die für einzelne Regionen unterschiedliche Regelungen enthielten, führten zu einer Umverteilung des Bodens, und zwar zu Lasten des Großgrundbesitzes, der weitgehend abgeschafft wurde, und zugunsten der Mittel- und Kleinbauern. Das Resultat war dennoch unbefriedigend: Die überwältigende Mehrheit der Bauern, fast 85 Prozent, bewirtschafteten weniger als 5 Hektar des landwirtschaftlich nutzbaren Bodens. Die meisten Höfe waren reine Subsistenzbetriebe; für den Export produzierte nur eine kleine Minderheit der Landwirte. Die Ausfuhr von Agrarerzeugnissen ging infolgedessen nach dem Inkrafttreten der entsprechenden Gesetze aus den Jahren 1918 und 1921 entsprechend stark zurück.

Bei den Wahlen vom Mai 1928, die ausnahmsweise ohne amtliche Manipulation abgehalten wurden, setzte sich die Nationale Bauernpartei («Nationalzaranisten») unter Iuliu Maniu durch. Da es Maniu, dem neuen Ministerpräsidenten, nicht gelang, mit den Folgen der schweren Agrarkrise fertig zu werden, büßte er bald viel von den Sympathien ein, die ihm die Bauern entgegenbrachten. Kurz nach dem Regierungsantritt Carols II. wurde Maniu entmachtet; im Oktober 1930 trat er zurück. Bei den Wahlen vom Juni 1931, die auf ähnliche Weise von «oben» manipuliert wurden wie die meisten Wahlen vor 1928, erlitt die Nationale Bauernpartei eine schwere Niederlage.

Im Oktober 1932 gelangte Maniu nochmals für kurze Zeit ins Amt des Ministerpräsidenten. Während des Jahres 1933 lösten unter dem Eindruck einer schweren Finanzkrise mehrere Regierungen der «Nationalzaranisten» einander in raschem Wechsel ab. Im November 1933 ernannte der König den Vorsitzenden der Nationalliberalen Partei, Ion Duca, zum Regierungschef. Sechs Wochen später, am 29. Dezember, wurde Duca von Aktivisten der «Eisernen Garde», einem rechtsextremen, entschieden antisemitischen Kampfbund, ermordet. Er war nicht das erste Opfer dieser Organisation des rumänischen Faschismus, die als Erkennungszeichen ein blaugelbrotes Band mit dem Hakenkreuz trug: Im Oktober 1924 hatte der Gründer und Führer Corneliu Zelea Codreanu, der Sohn eines polnischen Vaters namens Zelinski und einer deutschen Mutter, den Polizeipräfekten Constantin Manciu erschossen. Die Tat Codreanus wurde nicht geahndet: Seine Richter solidarisierten sich demonstrativ mit ihm und sprachen ihn frei.

Unter Ducas Nachfolger Gheorgiu Tatarescu, der bis 1937 im Amt blieb, trat eine gewisse finanzielle und wirtschaftliche Stabilisierung ein. Die «Eiserne Garde», ursprünglich die «Legion des Heiligen Michael» genannt, wurde verboten; sie fand jedoch in der Organisation «Alles für das Land» eine Nachfolgeorganisation, die bei den Wahlen von Dezember 1937 auf 16 Prozent der abgegebenen Stimmen kam. Da keine Partei bei dieser Wahl die Marke von 40 Prozent (und damit eine sichere Mandatsmehrheit) erreichte, fühlte sich Carol ermächtigt, einen Ministerpräsidenten nach eigenem Gutdünken zu ernennen. Er entschied sich für den Dichter und entschiedenen Antisemiten Octavian Goga, den Vorsitzenden der Christlichen Nationalisten, die 9 Prozent der Stimmen erhalten hatten. Da dieser keine parlamentarische Mehrheit zustande brachte, löste der König das Parlament auf und errichtete im Februar 1938, ähnlich wie Alexander I. 1929 in Jugoslawien, eine Königsdiktatur à la Bukarest. Er berief ein Kabinett der nationalen Konzentration unter dem Patriarchen Myron Cristea, ließ die Verfassung aufheben und alle Parteien verbieten. Ein manipuliertes Plebiszit verschaffte dem Putsch des Monarchen den Schein der Legitimität; eine neue Verfassung vom 27. Februar 1938 stattete das autoritäre Regime mit einem Anschein von Legalität aus. Die illegale Eiserne Garde, die Urheberin zahlloser Terrorakte, wurde erneut verfolgt, ihr Führer Codreanu verhaftet und Ende November 1938 auf Weisung des Königs «auf der Flucht erschossen», also ermordet. Im Jahr darauf fiel Innenminister Armand Calinescu, der entschiedenste Gegner der Eisernen Garde, einem Attentat von Anhängern Codreanus zum Opfer.

Außenpolitisch hatte sich Rumänien 1921 mit der Tschechoslowakei und Jugoslawien zur «Kleinen Entente» zusammengetan und überdies ein Bündnis mit Polen abgeschlossen. Im Juni 1926 folgten Bündnis- und Freundschaftsverträge mit Frankreich und Italien sowie erneut mit Polen. Nach der Einrichtung der nationalsozialistischen Diktatur verbesserte sich das Verhältnis zu Deutschland: Das «Dritte Reich» war aufs höchste am Import von Agrarprodukten und Erdöl aus Rumänien interessiert, während ihm gleichzeitig daran lag, Südosteuropa, also auch Rumänien, durch Export industriell von sich abhängig zu machen.

Gewissermaßen als Gegengewicht zur verstärkten deutschrumänischen Zusammenarbeit auf wirtschaftlichem Gebiet suchte Carol II. die politische Allianz mit Frankreich zu festigen. Ganz auf dieser Linie lagen der Balkanpakt mit der Türkei, Griechenland und Jugoslawien vom Februar 1934, der unter der Regierung Tatarescu abgeschlossen wurde. Im gleichen Jahr nahm Bukarest diplomatische Beziehungen mit der Sowjetunion auf, nachdem diese die Souveränität Rumäniens über Bessarabien anerkannt hatte. Zu einem Beistandspakt mit Moskau aber, wie ihn die Tschechoslowakei im Mai 1935 abschloß, konnte sich Rumänien nicht durchringen: Er hätte das nationalsozialistische Deutschland allzu sehr herausgefordert und der antikommunistischen Stimmung breiter Bevölkerungskreise schroff widersprochen. Die radikale antisemitische Rechte war durch die Königsdiktatur zwar äußerlich zurückgedrängt worden, sie blieb aber eine starke gesellschaftliche und politische Kraft mit einem beträchtlichen Anhang unter Studenten, Kleinbürgern und Bauern.

Rumäniens südlicher Nachbar, Bulgarien, war das Balkanland schlechthin: geographisch der Balkanhalbinsel zugehörig, kulturell von der Orthodoxie und den Jahrhunderten der osmanischen Herrschaft geprägt und, anders als Griechenland, Albanien und teilweise auch Jugoslawien, nicht der mittelmeerischen Welt zugewandt. Wie alle Balkanländer litt das Agrarland Bulgarien unter seiner ökonomischen Rückständigkeit und weit verbreitetem Analphabetismus. Von den nationalen Problemen war die mazedonische Frage das ernsteste: Die Untergrundtätigkeit der terroristischen IMRO (Innere Mazedonische Revolutionäre Organisation) belastete, wovon schon die Rede war, das Verhältnis zu Jugoslawien schwer. Im Jahr 1920 waren 83,4 Prozent der 4,8 Millionen zählenden Bevölkerung ethnische Bulgaren. Die größte nationale Minderheit bildeten mit 11 Prozent die Türken. Mit Griechenland wurde im Zusammenhang mit dem Friedensvertrag von Neuilly im November 1919 ein Bevölkerungsaustausch vereinbart und in den Jahren darauf vollzogen. Am meisten schmerzte Bulgarien der Verlust der zu erheblichen Teilen bulgarisch besiedelten südlichen Dobrudscha an Rumänien: ein in Neuilly bestätigtes Ergebnis des zweiten Balkankrieges von 1913.

Vor wie nach 1918 bildete das Königreich Bulgarien gemäß der fortgeltenden Verfassung von 1879 eine konstitutionelle Monarchie. An der Spitze des Staates stand von 1918 bis 1943 König Boris III. aus dem Hause Sachsen-Coburg-Gotha. Wahlberechtigt waren alle Männer, die das 21. Lebensjahr vollendet hatten und im Besitz der bürgerlichen Rechte waren. Da um 1920 noch vier Fünftel der Bevölkerung auf dem Lande lebten, spielte die Bauernbewegung eine große Rolle im politischen Leben; anders als in Rumänien aber gelang es in Bulgarien auch den Kommunisten, einen beträchtlichen Teil der Landbevölkerung auf ihre Seite zu ziehen. Nach den Wahlen vom August 1919 berief Boris den Führer der regionalen Bauernpartei, Alexander Stambolijski, an die Spitze einer Koalitionsregierung, die auch von den Sozialdemokraten getragen wurde. Die schärfste Oppositionspartei waren die Kommunisten, die bei den Gemeindewahlen vom Dezember 1919 große Erfolge verbuchen konnten und kurz darauf durch einen von ihnen organisierten Streik der Transportarbeiter das Wirtschaftsleben des Landes bis Februar 1920 schwer beeinträchtigten.

Das zweite Kabinett Stambolijski stellte ab Mai 1920 die Bauernpartei allein. Zu den ersten legislatorischen Maßnahmen der neuen Regierung gehörte die Einführung einer allgemeinen Arbeitsdienstpflicht, die für Männer ein Jahr, für Frauen ein halbes Jahr dauerte, im Juni 1920: eine «Errungenschaft», die 13 Jahre später vom nationalsozialistischen Deutschland in Gestalt des Reichsarbeitsdienstes übernommen wurde. Höchst umstritten war die Agrarreform vom Mai 1921, durch die der private Bodenbesitz, soweit er 30 Hektar überstieg, enteignet wurde. Da die Politik Stambolijskis ausgesprochen antiurbane Züge trug, stieß sie in den Städten auf wachsende Opposition. Zu den Gegnern des Ministerpräsidenten gehörten auch große Teile des Offizierskorps. Aus seinen Reihen kamen die Putschisten, die im Juni 1923 mit Billigung des Königs die Regierung Stambolijski stürzten. Der bisherige Regierungschef, ein Befürworter einer Verständigung mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, wurde am 14. Juni von fanatischen Anhängern der IMRO ermordet. Seine Nachfolge hatte inzwischen Alexander Zankoff, ein parteiloser Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Sofia, übernommen.

Dem Staatsstreich der Offiziere folgte im September 1923 ein kommunistischer Aufstand unter Führung des Parteivorsitzenden Georgi Dimitroff und des von der Komintern in seine Heimat entsandten bulgarischen Sekretärs Vasil Kolaroff. Die Erhebung wurde binnen weniger Tage blutig niedergeschlagen; Dimitroff, Kolaroff und einigen am Aufstand beteiligten Führern der Bauernpartei gelang die Flucht ins Ausland. Die Wahlen von November 1923 führten zu einem Sieg der offiziösen Regierungspartei, der Demokratischen Vereinigung, und der mit ihr zusammenarbeitenden Sozialdemokraten. Bis 1931 konnte sich die Demokratische Vereinigung an der Macht behaupten, was Bulgarien zu einer für «balkanische» Verhältnisse erstaunlichen innenpolitischen Stabilität verhalf.

Von schweren Erschütterungen blieb aber auch dieses südosteuropäische Land nicht verschont. Sie gingen zumeist von der Kommunistischen Partei aus, die 1924 nach neuerlichen Unruhen verboten worden war, aber im Untergrund aktiv blieb. Auf eine Serie politischer Attentate folgte am 16. April 1925 ein Bombenanschlag auf die Sophienkathedrale in Sofia, der den versammelten Ministern und Offizieren mit dem König an der Spitze galt. Boris III. und die Mitglieder der Regierung entgingen dem ihnen zugedachten Schicksal; es gab aber weit über hundert Tote, darunter mehrere Generäle und der Bürgermeister von Sofia, und über 300 Verletzte. Ein halbes Jahr lang galt in Bulgarien der Ausnahmezustand. Die Popularität der Kommunisten ging nach dem Terrorakt stark zurück; die Bauernpartei distanzierte sich von der äußersten Linken, und es dauerte zwei Jahre, bis in Form der Unabhängigen Arbeiterpartei eine kommunistische Ersatzorganisation entstand, die sich in der Folgezeit auch an den Parlamentswahlen beteiligte.

Bei den Wahlen von 1931 siegten trotz massiver Beeinflussung durch die Regierung die im Nationalen Block zusammengeschlossenen Oppositionsparteien unter Führung der Bauernpartei. Die innere Zerstrittenheit des Nationalen Blocks ging aber so weit, daß die Regierung des Ministerpräsidenten Nikola Mušanoff im Mai 1934 ihre parlamentarische Mehrheit verlor. Die Auflösung des Parlaments durch König Boris nutzte eine antiparlamentarisch gesinnte Vereinigung von Offizieren, Intellektuellen und Politikern der Bauernpartei mit Namen «Zveno» (Bindeglied) am 19. Mai 1934 zu einem Staatsstreich. Die neue Regierung unter Oberst Kimon Georgiew verhängte den Ausnahmezustand, setzte die Verfassung von 1879 teilweise außer Kraft und ergriff einschneidende Sparmaßnahmen. Im Juni erging ein Verbot aller Parteien und politischen Vereinigungen. Die größte Anstrengung erforderte die Zerschlagung der IMRO; ihr Führer Ivan Mihajloff und einige seiner Mitstreiter entkamen ins Ausland, von wo aus sie die Organisation wiederzubeleben versuchten. Die militante Opposition von links wurde mit Hilfe einer Notverordnung vom 31. August 1934 systematisch unterdrückt.

Wie die Regierung des Nationalen Blocks, so war auch die der Offiziere innerlich zerstritten: Überzeugten Monarchisten standen entschiedene Republikaner gegenüber. König Boris, der den Putsch vom Mai 1934 mehr hingenommen als unterstützt hatte, griff im Januar 1935 aktiv in das Geschehen ein, indem er Georgiew aus dem Amt des Ministerpräsidenten entfernte. Die Nachfolger wechselten häufig und mußten ihre Kabinette immer wieder umbilden. Im Oktober 1937 erließ Boris ein neues Wahlgesetz, das das Parlament verkleinerte, das Frauenwahlrecht einführte und nur noch die Kandidatur von Einzelpersonen, nicht mehr von Parteien und politischen Vereinigungen zuließ. Die Wahlen vom März 1938 gestatteten eine relativ freie Stimmabgabe und brachten den Kandidaten, die der Regierung nahestanden, eine sichere Mehrheit: Sie erhielten 104, die oppositionellen Bewerber 56 Sitze. Das 1935 etablierte autoritäre Regime Boris’ III. war eine Königsdiktatur, aber, verglichen mit Jugoslawien unter Alexander I. und Rumänien unter Carol II., die liberalste im Südosteuropa der Zwischenkriegszeit.

Als einen der Gründe für den Umsturz vom Mai 1934 hatten die putschenden Offiziere die ernste politische Lage des Landes genannt, womit sie die politische Isolierung Bulgariens durch den Balkanpakt meinten, den die Türkei, Griechenland, Jugoslawien und Rumänien im Februar 1934 abgeschlossen hatten. Dessen antibulgarische Spitze war in der Tat unverkennbar. König Boris lag am meisten an einem Ausgleich mit Jugoslawien, und im Januar 1937 erreichte er nach teilweise schwierigen Verhandlungen, worauf er seit langem hingearbeitet hatte: den Abschluß eines Freundschafts- und Nichtangriffspaktes mit dem Nachbarland. Ein Nichtangriffsvertrag mit dem Balkanpakt, im Juli 1938 in Saloniki unterzeichnet, befreite Bulgarien von den Rüstungsbeschränkungen des Friedensvertrags von Neuilly und ermöglichte es ihm, Truppen in der entmilitarisierten Zone an der griechischen Grenze zu stationieren.

Ähnlich wie Rumänien baute auch Bulgarien in den dreißiger Jahren seine Handelsbeziehungen zu Deutschland aus, das traditionell der wichtigste Abnehmer bulgarischer Agrarerzeugnisse war und von dem Bulgarien seinerseits die meisten Industrieprodukte bezog. Eine engere außenpolitische Bindung an das «Dritte Reich» aber vermied Boris, und es gelang ihm, diese Linie über den Beginn des Zweiten Weltkrieges hinaus beizubehalten.

Kein Balkanland hat in der Zwischenkriegszeit so viele gewaltsame Umstürze und Umsturzversuche erlebt wie Griechenland. Auf die türkischen Siege im griechisch-türkischen Krieg folgten im Frühherbst 1922 revolutionäre Unruhen, die die Anhänger des Ministerpräsidenten der Jahre 1910 bis 1915 und 1917 bis 1920, Eleftherios Venizelos, wieder an die Macht brachten. König Konstantin I. mußte am 27. September 1922 zugunsten seines Sohnes Georg II. abdanken. Das neue Regime venizelistischer Offiziere schrieb sich in die Annalen der griechischen Geschichte mit einem Schauprozeß gegen fünf führende Politiker der gestürzten Regierung und den letzten Oberkommandierenden der griechischen Streitkräfte in Kleinasien ein: Die Angeklagten wurden, obwohl strafrechtlich nichts gegen sie vorlag, zum Tod verurteilt und trotz internationaler Proteste im November 1922 hingerichtet. Der Justizmord verschärfte die unheilvolle Polarisierung zwischen Venizelisten und Antivenizelisten: ein Gegensatz, der die beiden folgenden Jahrzehnte prägen sollte.

Ein Umsturzversuch von Teilen des Militärs im Oktober 1923, ausgelöst durch ein Wahlgesetz, das die Gegner von Venizelos benachteiligte, scheiterte nach wenigen Tagen. An den Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung im Dezember 1923 nahmen die Antivenizelisten nicht teil. Nach dem Wahlsieg der verbündeten Liberalen und Republikaner wurde Georg II. faktisch zur Abdankung genötigt; im März 1924 proklamierte die Konstituante die Republik; eine Volksabstimmung bestätigte im April diese Entscheidung. Eine Stabilisierung der parlamentarischen Demokratie, die Griechenland de facto seit der liberalen Verfassung von 1863 war, gelang in den folgenden Jahren trotz eines gewissen wirtschaftlichen Aufschwungs zwischen 1924 und 1926 nicht. Ende Juni 1925 putschte General Theodoras Pangalos. Entgegen den Versprechungen, die er zunächst der weiter amtierenden Regierung von Alexandros Papanastasiou, einem Politiker der sozialdemokratischen Republikanischen Union, gegeben hatte, löste er im September die Nationalversammlung ohne Ausschreibung von Neuwahlen auf und ließ sich im April 1926 zum Präsidenten der Republik wählen.

In die Zeit der Diktatur des Generals Pangalos fiel eine schwere außenpolitische Krise: die Besetzung der grenznahen entmilitarisierten Zone Bulgariens auf Grund eines Grenzzwischenfalls. Der Völkerbund zwang Griechenland Ende Oktober 1925 zum Rückzug und zur Zahlung einer Entschädigung. Die wirtschaftliche und finanzielle Lage des Landes verschlechterte sich während der Herrschaft Pangalos’ dramatisch – einer der Gründe für den Sturz des Regimes durch General Georgios Kondilis im August 1926. Aus den Wahlen vom November desselben Jahres gingen die republikanischen Parteien als Sieger hervor. Am 2. Juni 1927 trat eine neue Verfassung, die dritte seit 1925, in Kraft. Sie schuf ein Zweikammersystem, in dem die gesetzgebende Gewalt bei der Abgeordnetenkammer (Boulé) und einem Senat (Gerousía) lag, wobei das Oberhaus zum größeren Teil aus direkt gewählten, zum kleineren aus von Kammer und Senat bestimmten Mitgliedern bestand.

Im Mai 1928 kehrte Venizelos an die Macht zurück, nachdem zuvor eine Regierung der großen Koalition aus republikanischen und gemäßigt royalistischen Parteien an wirtschafts- und finanzpolitischen Streitfragen zerbrochen war. Damit begann eine vierjährige Phase relativer Stabilisierung, in der die Rechtssicherheit, unter anderem durch Schaffung eines Obersten Verwaltungsgerichts, wuchs und Griechenland Freundschaftsverträge mit Italien, Jugoslawien und der Türkei abschloß. Die innenpolitischen Spannungen aber hielten an, und unter dem Einfluß der Weltwirtschaftskrise verlor die griechische Währung, die Drachme, etwa drei Viertel ihres Wertes. Venizelos erwog eine Stärkung der Exekutive nach dem Vorbild der deutschen Präsidialkabinette seit 1930, unternahm aber nichts, was einen demokratischen Machtwechsel bei den Parlamentswahlen vom September 1932 erschwert hätte.

Die Gewinner dieser Wahlen waren die royalistische Volkspartei unter Panajotis Tsaldaris, die zusammen mit kleineren republikanischen Parteien die Regierung bildete. Die Mehrheitsverhältnisse erwiesen sich aber als außerordentlich prekär, so daß Präsident Kounthouriothes das Parlament bereits fünf Monate später wieder auflöste und Neuwahlen, diesmal nach dem inzwischen eingeführten Mehrheitswahlrecht, für den 5. März 1933 anordnete. Die Volkspartei und zwei kleinere Rechtsparteien erhielten bei dieser Wahl die absolute Mehrheit, was den venizelistischen General Nikolaos Plastiras tags darauf zu einem Staatsstreich veranlaßte, der jedoch im Offizierskorps nur eine schwache Rückendeckung fand und deshalb fehlschlug. Unter der neuen Regierung Tsaldaris spitzte sich der Gegensatz zwischen Venizelisten und Antivenizelisten weiter zu. Im März 1935 putschten ein letztes Mal die Anhänger von Venizelos; sie scheiterten an fehlendem Massenrückhalt und mangelnder militärischer Vorbereitung. Venizelos flüchtete ins Ausland; er starb im März 1936 in Paris.

Der Umsturzversuch der Venizelisten gab den antiparlamentarischen und antirepublikanischen Kräften im Regierungslager Auftrieb. Die gemäßigten Royalisten gewannen zwar die Parlamentswahl vom Juni 1935. Im Oktober aber wurde Tsaldaris von radikalen monarchistischen Offizieren zum Rücktritt gezwungen. Seine Nachfolge trat General Georgios Kondilis an, der zugleich das Amt des Reichsverwesers übernahm. Nachdem die gemäßigte Mehrheit der royalistischen Volkspartei aus der Kammer ausgezogen war, proklamierte diese die Wiederherstellung des Königtums und die Rückkehr zur Verfassung von 1911. Eine manipulierte Volksabstimmung erbrachte im November 1935 eine Mehrheit von fast 98 Prozent für die Wiederherstellung der Monarchie und damit für ein neues Königtum Georgs II.

Frei waren hingegen die Parlamentswahlen vom Januar 1936, die zu einem annähernden Gleichgewicht von Venizelisten und Antivenizelisten führten und den 15 Abgeordneten der Kommunistischen Partei die Rolle des «Züngleins an der Waage» verschafften. Da das Militär keine von den Kommunisten abhängige Regierung hinnehmen wollte, ernannte Georg, der am 25. November 1935 aus dem Exil nach Griechenland zurückgekehrt war, um die Disziplin im Heer wiederherzustellen, den General und Führer der Freisinnigen Partei, Ioannis Metaxas, im März 1936 zum Heeresminister und nach dem Tod des gemäßigten und überparteilichen Ministerpräsidenten Demertzis im April auch zu dessen Nachfolger.

Metaxas war von vornherein entschlossen, mit dem parlamentarischen System radikal zu brechen. Streiks ließ er mit äußerster Härte durch die Polizei niederwerfen; im August 1936 führte er auf dem Weg eines Staatsstreichs eine autoritäre Diktatur ein, die sich in vielem an das Vorbild des faschistischen Italien anlehnte. Die politischen Parteien wurden verboten, Zeitungen und Zeitschriften der Zensur unterworfen, Gewerkschaften, Verbände und Hochschulen von oppositionellen Kräften gesäubert. Der neu errichtete Staatssicherheitsdienst verfolgte politische Gegner mit einer bisher ungekannten Brutalität, wobei er sich auf die Hilfe zahlreicher Spitzel stützen konnte. Paramilitärische Verbände, darunter eine organisierte Staatsjugend, eine verbreitete Uniformierung und ein radikaler Nationalismus als Staatsideologie vervollständigten das Bild einer Rechtsdiktatur, deren harten Kern das gleichgeschaltete Militär bildete. Bei aller Annäherung an die Machtstruktur und die Herrschaftsmittel der faschistischen Regime achtete Metaxas aber darauf, außenpolitisch nicht von Rom und Berlin abhängig zu werden und gute Beziehungen mit den Westmächten zu unterhalten.

Die Häufigkeit, mit der in Griechenland zwischen 1922 und 1936 geputscht wurde, erinnerte nachgerade an lateinamerikanische Republiken. Eine tiefere Ursache von parlamentarischer Labilität und autoritärer Stabilisierung war die reaktionäre Grundhaltung der orthodoxen Kirche, der auch die Verfassung von 1927, und zwar demonstrativ in ihrem ersten Artikel, den privilegierten Status der vorherrschenden Religion gewährte. Mit dem Einfluß des orthodoxen Klerus hing der niedrige Grad der Volksbildung zusammen: Noch 1928 waren 23 Prozent der männlichen und 58 Prozent der weiblichen Bevölkerung des Lesens und Schreibens unkundig. Der Anteil der in der Land- und Forstwirtschaft und der Fischerei tätigen Bevölkerung stieg von 1920 bis 1928 von 58 auf 61 Prozent; die vielen bäuerlichen Zwergbetriebe waren unrentabel und hemmten das Wirtschaftswachstum. Den Ton gaben wenige Familienklans an, die vorrangig die Interessen ihrer jeweiligen Klientel bedienten.

Das Regime des Generals Metaxas brachte den Griechen zwar einige soziale Verbesserungen wie Mindestlöhne, kürzere Arbeitszeiten und eine Sozialversicherung. Als eine Modernisierungsdiktatur aber ließ sich seine Herrschaft nicht bezeichnen: Die gesellschaftliche Rückständigkeit blieb Griechenland nach 1936 ebenso erhalten wie eine politische Kultur, die von tief verfeindeten Lagern, politisierenden Militärs und verbreiteter Korruption bestimmt wurde.

Was für Griechenland gilt, trifft auf Albanien in ungleich höherem Maß zu: In der politischen Entwicklung, die das Land in der Zwischenkriegszeit durchlief, spiegelte sich gesellschaftliche Rückständigkeit. Noch 1945 machten die Analphabeten 80 Prozent der Bevölkerung aus. Albanien war um 1918 noch ein fast reines Agrarland; es war der einzige überwiegend islamische Staat Europas. Etwa 70 Prozent der Bewohner waren Muslime, 20 Prozent Orthodoxe, 10 Prozent katholische Christen. Die Oberschicht bildeten muslimische Großgrundbesitzer («Beys»), aus denen sich die herrschenden Klans rekrutierten; die Masse der Bevölkerung bestand aus zumindest formell freien Bauern und Hirten, die wirtschaftlich von den Familien der Grundherren abhingen. In Tirana, das 1920 zur Hauptstadt erklärt wurde, lebten damals 15.000, im Lande insgesamt weniger als eine Million Menschen. Seine Unabhängigkeit hatte Albanien 1912 im Gefolge des Ersten Balkankrieges erhalten. Im Ersten Weltkrieg war der Süden von griechischen, italienischen und französischen Truppen, der Norden erst von serbischen, dann österreich-ungarischen und nach deren Abzug teilweise wieder von südslawischen Armee-Einheiten besetzt worden.

Die Grenzen und der Bestand Albaniens waren nach 1918 zunächst durch Ansprüche der beiden Nachbarstaaten, Griechenlands und des neuen Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen, sowie durch Italien bedroht. Italien betrachtete Albanien als künftiges Protektorat und hielt als Faustpfand Valona (Vlona) besetzt, bis es nach heftigen Kämpfen im Sommer 1920 auch diese Bastion räumen mußte. Am 2. August 1920 erkannte Rom die Integrität und Unabhängigkeit Albaniens an und verpflichtete sich zum Abzug aller Truppen aus dem albanischen Festland. Von einigen Grenzgebieten abgesehen, die um diese Zeit noch von griechischen und südslawischen Verbänden besetzt waren, war Albanien damit frei. Im Dezember 1920 erfolgte seine Aufnahme in den Völkerbund.

In den Monaten zuvor hatte eine zunächst von Suleyman Bey Delvina, dann, seit November, von Elias Bey Vrioni geführte Regierung mit Sitz in Tirana ihre Autorität über ganz Albanien ausdehnen können. Im April 1921 wurde nach dem gleichen, aber indirekten Männerwahlrecht ein Parlament gewählt, in dem zwei Parteien, die von Großgrundbesitzern dominierte Fortschrittspartei und die etwas weiter links stehende Volkspartei vertreten waren. Zwecks Abwehr eines Aufstandes des katholischen Stammes der Mirditen wurde im Oktober eine neue Regierung unter Pandel Evangheli eingesetzt; ihre beherrschende Persönlichkeit war Kriegsminister Ahmed Bey Zogu, der die Erhebung rasch und energisch niederwarf. Seit Dezember 1921 war er Innenminister im neuen Kabinett von Dscharfer Ypi. Als solcher schlug er im Frühjahr 1922 einen weiteren, gegen ihn gerichteten Aufstand nieder. Im Dezember übernahm er das Amt des Ministerpräsidenten. Die Grenzen Albaniens lagen mittlerweile dank der Entscheidung einer alliierten Botschafterkonferenz vom September 1922 fest: Es waren im wesentlichen die von 1913; das südslawische Königreich und Griechenland mußten ihre Truppen vom albanischen Territorium zurückziehen.

Zur politischen Kultur des Landes gehörten politische Morde, die, entsprechend der Tradition der Blutrache, von Angehörigen der konkurrierenden Klans verübt wurden. Einem Attentat auf Zogu, bei dem dieser verletzt wurde, im Februar 1924 folgte im April ein von Zogu veranlaßter tödlicher Anschlag auf den Abgeordneten Avni Rustem. Dieser Mord löste einen neuen, diesmal landesweiten Aufstand aus. Er endete mit dem Einzug der Rebellen in die Hauptstadt und nötigte Zogu, der inzwischen als Ministerpräsident zurückgetreten war, zur Flucht ins benachbarte Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen.

Von dort aus eroberte Zogu an der Spitze einer von Jugoslawien bewaffneten Truppe im Dezember 1924 die Macht in Tirana zurück. Mitte Januar 1925 ließ er sich vom Rumpfparlament zum Ministerpräsidenten und Oberkommandierenden der albanischen Streitkräfte wählen. Am 22. Januar proklamierte das Parlament die Republik, womit die zunächst in der Schwebe gelassene Frage der Staatsform fürs erste geklärt war. Am 31. Januar ließ sich Zogu auf die Dauer von sieben Jahren zum Präsidenten wählen und eine Verfassung verabschieden, die dem Staatsoberhaupt außerordentlich weitgehende Befugnisse einräumte.

Damit begann eine 14 Jahre währende persönliche Diktatur Zogus, zu deren Kennzeichen neben einem entschiedenen Nationalismus auch politische Morde gehörten, die vom ersten Mann des Staates in Auftrag gegeben wurden. Wirtschaftlich versuchte der Präsident, das Land durch Konzessionen an italienische und britisch-persische Erdölgesellschaften zu stärken. Außenpolitisch lehnte er sich, um nicht übermäßig vom südslawischen Nachbarn abhängig zu werden, verstärkt an Italien an. 1926 und 1927 wurden die beiden Tiranapakte abgeschlossen, von denen der zweite eine gegenseitige Pflicht zur Verteidigung des Vertragspartners im Fall des Angriffs einer dritten Macht festlegte. Tatsächlich bedeutete der Pakt wegen der militärischen Schwäche der von Zogu geschaffenen albanischen Miliz eine einseitige Schutzverpflichtung Italiens gegenüber dem Land auf der Ostseite der Adria.

Im Sommer 1928 ließ Zogu beide Kammern des Parlaments auflösen und eine Konstituante wählen, die die Verfassung von 1925 so änderte, daß Zogu am 1. September 1928 zum «König von Albanien» gewählt werden konnte. Die neue Verfassung vom 1. Dezember 1928 bezeichnete Albanien als «demokratisches, parlamentarisches und erbliches Königreich». Dieses übernahm, ähnlich wie die Türkei Kemal Atatürks, Gesetzbücher anderer Staaten, darunter von Frankreich den Code Civil und vom faschistischen Italien das Strafgesetzbuch. Die Verwaltung wurde nach französischem Vorbild im zentralistischen Sinn organisiert. Eine Agrarreform aus dem Jahr 1930 nahm sich auf dem Papier radikaler aus als in der Praxis: Die Obergrenze des zulässigen privaten Grundbesitzes lag bei 40 Hektar für den einzelnen Eigentümer und jeweils weiteren 15 Hektar für die Ehefrau und jedes Kind. Zunächst mußten die Grundherren jedoch nur ein Drittel des in Frage kommenden Besitzes an die staatliche Agrarbank verkaufen; verpflichteten sie sich zur Modernisierung, konnten sie den verbleibenden Besitz noch für die Dauer von 15 Jahren behalten.

Während der Weltwirtschaftskrise wurde Albanien immer abhängiger von italienischen Krediten. Eine Zollunion, wie Mussolini sie wünschte, um eine Sicherheit für weitere Anleihen zu schaffen, konnte Italien zwar nicht durchsetzen (nicht einmal durch eine Flottendemonstration vor Durazzo, albanisch Durrës, im Juni 1934), wohl aber Bedingungen, die tief in die Souveränität Albaniens eingriffen. Seit 1935 war das Land ein wirtschaftliches Protektorat des faschistischen Italien. Für die politische Unterwerfung Albaniens bedurfte es aber noch anderer internationaler Rahmenbedingungen, die erst die europäische Krise am Vorabend des Zweiten Weltkrieges schuf.

Wenn es irgendein westliches Land gab, das im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts immer wieder Anlaß bot, von «balkanischen» Verhältnissen zu sprechen, dann war es Portugal. Die Revolution von 1910, die den Übergang von der Monarchie zur Republik brachte, hatte nicht zur Stabilisierung geführt. Die Regierungen wechselten so häufig wie wohl nirgendwo sonst in Europa. Aufstände, gern «Revolutionen» genannt, Staatsstreiche und Bombenanschläge waren so zahlreich, daß sie außerhalb Portugals kaum noch Aufsehen erregten. Im Januar 1915 erlebte das Land unter dem General Joaquim Pereira Pimento de Castro seine erste Diktatur. Sie war indes nur von kurzer Dauer. Im April 1915 wurde sie durch eine «Revolution» gestürzt, an der sich auch Teile von Armee und Marine beteiligten.

Im Ersten Weltkrieg war Portugal, trotz seiner traditionell engen Bindung an Großbritannien, zunächst neutral geblieben. 1916 trat es dann doch auf der Seite der Entente in den Krieg ein und schickte etwa 100.000 Soldaten nach Flandern und in die afrikanischen Kolonien. Der Kriegseinsatz, der insgesamt 35.000 Tote und Verwundete forderte, und der zunehmende Mangel an Lebensmitteln lösten seit Sommer 1917 heftige Unruhen und Streiks der Anarchosyndikalisten aus. Die Regierung, die von der Demokratischen Partei gestellt wurde, antwortete mit der Verhängung des Ausnahmezustands, konnte damit aber die Ordnung nicht wiederherstellen. Die allgemeine Unzufriedenheit rief eine Gruppe von Offizieren und Zivilisten auf den Plan, die im Dezember 1917 mit einem Staatsstreich den führenden Kopf der Verschwörer, den Mathematikprofessor an der Universität Coimbra und früheren Botschafter in Berlin, Sidónio Paes, an die Macht brachte.

Paes führte das allgemeine Wahlrecht für Männer ein, ließ sich selbst zum Präsidenten wählen, gründete eine eigene Nationalrepublikanische Partei und errichtete eine Art plebiszitärer Präsidialdiktatur, die die konkurrierenden Parteien und die Gewerkschaften unterdrückte und sich auch deswegen der Unterstützung der katholischen Kirche, der Unternehmer und Grundbesitzer sowie der Armee erfreute. Im Dezember 1918 wurden zwei Attentate auf Paes verübt: Das erste mißlang, beim zweiten wurde er von Pistolenkugeln tödlich getroffen.

So kurz die Diktatur von Sidónio Paes war, so wirkte sie doch noch lange nach – als eine Vorform der faschistischen Regime der Zwischenkriegszeit. Zu deren Wegbereitern gehörte in Portugal der «Integralismo Lusitano» mit seinem maßgeblichen Ideologen António Sardinha, der sich stark an das Vorbild von Charles Maurras und der Action française anlehnte. In derselben Richtung wurde nach der Rückkehr zur Verfassung von 1911 der «Nationale Kreuzzug» aktiv, eine Organisation der radikalen Rechten, die die Ablösung der parlamentarischen Demokratie durch ein autoritäres Regime anstrebte. Neben Integralisten und Nationalisten opponierten auch die Monarchisten gegen die bestehende Ordnung. Sie unternahmen mehrere Umsturzversuche, auf die die Republikaner mit einem Aufruf zur Volksbewaffnung antworteten. Einen mörderischen Höhepunkt erreichte die innere Unruhe in der «Blutnacht» vom 19. Oktober 1921.

Als einzige zuverlässige Ordnungsmacht erschien angesichts des politischen Chaos vielen Angehörigen der besitzenden Schichten, namentlich den Großgrundbesitzern und der katholischen Kirche, immer mehr das Militär. Teile des Heeres, die diese Sicht teilten, unternahmen im April 1925 einen Umsturzversuch, der aber am Widerstand einiger Regimenter und der Republikanischen Nationalgarde scheiterte. Im Mai 1926 putschte das Militär erneut, und diesmal mit Erfolg: Die Regierung der Demokratischen Partei wurde gestürzt. Im Juli 1926 löste General Antonio Carmona den eher unpolitischen Führer der Erhebung, General Gomes da Costa, ab und errichtete eine Militärdiktatur. Im April 1928 ließ er sich zum Präsidenten wählen: ein Amt, das er bis zu seinem Tod im Jahr 1951 innehatte.

Die größte Herausforderung des neuen Regimes war die Sanierung der Finanzen. Mit dieser Aufgabe wurde im April 1928 der Professor der Wirtschafts- und Finanzwissenschaften an der Universität Coimbra, Oliveira Salazar, betraut. Salazar wurde, da er mit seiner rigorosen Stabilisierungspolitik Erfolg hatte, rasch zum «starken Mann» der Regierung. Im Juli 1932 trat er auch formell als Ministerpräsident an ihre Spitze; er behielt diese Position 36 Jahre lang, bis zum September 1968.

Die neue Verfassung vom 19. März 1933 machte aus Portugal formell ein Präsidialregime, in dem der Ministerpräsident nur dem Staatspräsidenten verantwortlich war. Tatsächlich war Ministerpräsident Salazar die beherrschende Figur. Die Abgeordneten der Nationalversammlung wurden nach einem abgestuften, also ungleichen Wahlrecht gewählt. Das Oberhaus, die Ständekammer, war berufsständisch gegliedert, wobei Arbeitgeber und Arbeitnehmer getrennt vertreten waren. Ein Arbeitsstatut vom September 1933 verbot Streiks und Aussperrungen. Ebenfalls aus dem Jahr 1933 stammten Dekrete über die Pressezensur und die Einschränkung der Versammlungsfreiheit. Beide trugen erheblich dazu bei, daß die Wahlen stets im Sinn der Regierung ausfielen. Der «Estado Novo» Salazars lehnte sich, ähnlich wie der Austrofaschismus, eng an das Ideal eines christlichen Ständestaates an, wie es in der Enzyklika «Quadragesimo anno» von Papst Pius XI. aus dem Jahr 1931 entwickelt worden war. Der Begriff «Klerikalfaschismus» kam der Wirklichkeit nahe, traf sie aber dennoch nicht ganz: Staat und Kirche blieben getrennt. Zwischen beiden kam es, da die Kirche nicht als juristische Person anerkannt war, immer wieder zu Konflikten, die erst 1940 durch ein Konkordat beigelegt wurden.

Für den Massenrückhalt sollten vor allem die 1930 geschaffene Staatspartei, die União Nacional, sowie die sechs Jahre später ins Leben gerufene paramilitärische Miliz, die Legião Portuguesa, und die ebenfalls 1936 gegründete Staatsjugend, die Mocidade Portuguesa, sorgen. Doch die Staatspartei hatte lediglich eine dienende, die Regierung stützende Funktion; anders als in vollentwickelten faschistischen (oder kommunistischen) Regimen war sie kein eigenständiger Machtfaktor. Für die Einschüchterung und Unterdrückung aller oppositionellen Kräfte war vorrangig die 1933 entstandene Geheime Staatspolizei, die Policia de Vigilância e de Defesa do Estado, die 1945 in Policia Internacional e de Defesa do Estado umbenannt wurde, zuständig. Zu ihrem Apparat gehörten Sondergerichte, Spezialgefängnisse und eine große Zahl von Spitzeln. Staatsideologie war ein mystischer Nationalismus, in dessen Mittelpunkt der Kult der katholischen Sendung Portugals und seines Kolonialreiches stand.

Portugal blieb unter dem «Estado Novo» ein Agrarland: 1940 machten die in der Industrie beschäftigten Arbeiter nur ein Fünftel der erwerbstätigen Bevölkerung aus. Die Wirtschaftspolitik war auf weitgehende Autarkie ausgerichtet und förderte ungewollt die ökonomische Stagnation. Die Zahl der Analphabeten, die 1911 bei 70 Prozent der Bevölkerung lag, ging nur langsam zurück. Von einer Modernisierungsdiktatur war der «neue Staat» also weit entfernt, von der für totalitäre Systeme typischen ideologischen Dynamik freilich auch. Der Außenwelt gegenüber trat der Salazarismus defensiv auf. Die Zustimmung, die das autoritäre System fand, war nicht nur eine Folge von Repression und Propaganda. Sie war auch eine Reaktion auf die anhaltende Erfahrung von Instabilität und Chaos in den Jahren vor 1926 und wie diese eine Folge der gesellschaftlichen Rückständigkeit des Landes – eines Erbes, für das der reaktionäre Iberokatholizismus einen Großteil der Verantwortung trug.

Anders als Portugal blieb Spanien im Ersten Weltkrieg bis zuletzt neutral – auch dann noch, als deutsche Unterseeboote 1917 im Zeichen des uneingeschränkten U-Boot-Krieges spanische Handelsschiffe versenkten. Im gleichen Jahr geriet das oligarchische System des Königreichs mehrfach in ernste Bedrängnis. 1916 hatten sich die bürgerlichen Offiziere des Heeres, die dort seit der sozialen Öffnung des Militärs unter der Cortes-Verfassung von 1812 den Ton angaben, in Juntas de Defensa zusammengeschlossen, die die adligen Großgrundbesitzer, die Regierung und das parlamentarische System scharf angriffen. Im August 1917 forderten sie König Alfons XIII. auf, zusammen mit ihnen und allen reformwilligen Kräften das Regime zu Fall zu bringen, das sie für ihre schlechte Besoldung, das innenpolitische Chaos und die Korruption verantwortlich machten. Der König verweigerte sich dem Staatsstreich, die Juntas aber blieben bestehen und bildeten weiterhin eine Gefahr für die konstitutionelle Ordnung.

Eine andere Herausforderung ging von einer parlamentarischen Fronde aus, die von der katalanischen Lliga Regionalista unter Francesc Cambó, den Republikanern und Alejandro Lerroux und den Sozialisten um Pablo Iglesias getragen wurde. Die oppositionellen Abgeordneten hätten vermutlich einiges bewirken können, wenn sie eine Allianz mit den Juntas zustande gebracht hätten. Die aber waren zu vorsichtig, um sich auf eine Verbindung mit katalanischen Regionalisten, Republikanern und Sozialisten einzulassen.

Wirklich gefährlich aber wurde die Lage, als sich im Sommer 1917 der soziale Protest gegen die wirtschaftlichen Nutznießer der Kriegskonjunktur, der Exporteure von Rohstoffen, Agrar- und Industrieprodukten, radikalisierte. Im August 1917 erweiterte sich ein Streik der Eisenbahner und Hafenarbeiter unter maßgeblicher Beteiligung von Sozialisten wie Francisco Largo Caballero und Julián Besteiro zu einem unbefristeten Generalstreik. Die Regierung des konservativen Ministerpräsidenten Eduardo Dato e Iradier antwortete mit der Verhängung des Belagerungszustandes und warf die kämpfenden Arbeiter binnen weniger Tage mit Hilfe der Armee nieder. Besonders blutig verliefen die Polizei- und Militäraktionen in Barcelona und im asturischen Bergbaugebiet, wo sich der junge Major Francisco Franco durch sein entschiedenes Vorgehen gegen die Streikenden einen Namen machte. Die proletarische Erhebung scheiterte auch deshalb, weil sie unter den Reformkräften in Parlament und Heer keine Verbündeten fand: Die einen wie die anderen dachten nicht daran, mit klassenkämpferischen Sozialisten gemeinsame Sache zu machen.

Im Februar 1918 fanden Neuwahlen zu den Cortes, dem Parlament, statt, die, wie üblich, von den örtlichen «Kaziken» gesteuert und manipuliert wurden. Einen Monat später kam eine Große Koalition aus Konservativen und Liberalen unter Antonio Maura y Montana zustande, die sich aber infolge der unüberbrückbaren Gegensätze zwischen beiden Parteien nur knapp acht Monate an der Macht behaupten konnte. Es folgten kurzlebige Kabinette, die sich seit dem Frühjahr 1919 durch eine Streikbewegung der andalusischen Landarbeiter herausgefordert sahen, bei der erstmals bolschewistische Parolen wie Hochrufe auf Lenin und die Sowjets sowie die Forderung nach einer Kollektivierung des Bodens laut wurden. Die Unruhe hielt auch unter dem letzten Kabinett Dato an, das seit Mai 1920 amtierte und der Anarchie nicht nur mit Hilfe der Guardia Civil, sondern auch mit einer sozialpolitischen Offensive, darunter der Schaffung eines Arbeitsministeriums und der Einführung einer Sozialversicherung, Herr zu werden versuchte. Doch die radikale Linke überzeugte Dato damit nicht: Am 8. März 1921 wurde er von katalanischen Anarchisten in Madrid ermordet.

In den Jahren 1919 bis 1921 schien Spanien mehr als einmal am Rand des Bürgerkrieges zu stehen. In Barcelona prallten immer wieder von den Unternehmern gedungene «pistoleros» und militante Anarchosyndikalisten aufeinander; in Andalusien kam es zu zahllosen Landbesetzungen. Gleichzeitig machte sich der Einfluß der russischen Bolschewiki geltend. Die sozialistische Dachgewerkschaft, die Unión General de Trabajadores (UGT), und der Partido Socialista Obrero Español (PSOE) lehnten einen Beitritt zur Dritten Internationale zwar mit unterschiedlichen Mehrheiten ab, konnten aber eine Spaltung der marxistischen Arbeiterbewegung nicht verhindern. Im April 1920 entstand eine erste, ein Jahr darauf eine zweite kommunistische Partei, die sich im März 1922 zum Partido Comunista de España (PCE) zusammenschlossen. Die anarchosyndikalistische Confederación Nacional de Trabajo (CNT) bekannte sich zwar zu einem Agrarkommunismus, sah aber in der russischen Oktoberrevolution kein Vorbild und verweigerte den Beitritt zur Dritten Internationale beziehungsweise der Roten Gewerkschafts-Internationale.

1921 war zudem noch das Jahr einer verheerenden Niederlage der spanischen Streitkräfte in dem seit 1909 währenden, im Ersten Weltkrieg unterbrochenen Kolonialkrieg in Spanisch-Marokko: Der Aufstand der Rifkabylen unter Abd el-Karim erreichte im Juli 1921 einen blutigen Höhepunkt im «Desastre de Annual», bei dem Spanien mehr als 12.000 Soldaten verlor. Die internationale Erschütterung, die von diesem Ereignis ausging, trug wesentlich dazu bei, daß der Ruf nach einer Ordnungsdiktatur, am besten einer des Militärs, auf immer mehr Widerhall stieß.

Zwei Jahre später war es so weit: Am 13. September 1923 putschte, auf Drängen einer Gruppe hoher Madrider Offiziere und, vor allem, führender Kreise des katalanischen Großbürgertums, der Generalkapitan von Barcelona, Miguel Primo de Rivera, gegen die Regierung des Ministerpräsidenten Manuel García Prieto. Da die Regierung sich ihres Rückhalts im Militär unsicher war, trat sie zurück, woraufhin Alfons XIII. Primo de Rivera mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragte. Die Entscheidung des Monarchen war ein Nein zum Bürgerkrieg und ein Ja zur Militärdiktatur.

Damit war der Putsch formal legalisiert. Die faktische Legitimation des neuen Regimes war zunächst eine rein negative: das Versagen des parlamentarischen Systems, das nicht imstande gewesen war, das staatliche Gewaltmonopol durchzusetzen und damit die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu gewährleisten. Die Tatsache, daß das «pronunciamiento» (der spanische Begriff für Militärrevolte) ein seit langem nicht mehr funktionstüchtiges System beseitigte, verschaffte dem Staatsstreich eine überwiegend positive Resonanz in der Presse und der öffentlichen Meinung. Das galt auch für die erste Amtshandlung der Regierung Primo de Rivera: die Suspension einiger der wichtigsten Grundrechtsartikel der Verfassung von 1876, darunter jener, die die Presse-, die Versammlungs- und die Vereinigungsfreiheit garantierten.

Die wichtigsten gesellschaftlichen Stützen der Militärdiktatur waren die Großgrundbesitzer, die katalanische Industriebourgeoisie und die katholische Kirche, der weitreichende Privilegien auf dem Erziehungssektor eingeräumt wurden. Das Gros des Militärs verhielt sich zunächst distanziert. In dieser Elite gewann Primo de Rivera verstärkten Rückhalt erst durch die militärischen Erfolge, die er, nach einem Angriff Abd el-Karims auf Französisch-Marokko durch eine koordinierte französisch-spanische Offensive in Nordafrika errang: 1927 konnte der Kolonialkrieg im wesentlichen als beendet gelten.

Am erstaunlichsten war, daß die Sozialistische Partei und die UGT sich zur Zusammenarbeit mit der neuen Regierung bereit fanden. Das lag vor allem an dem sozialen «appeal» des Generals Primo de Rivera, der gute persönliche Beziehungen zu Largo Caballero, dem Sekretär der UGT und späteren Führer der Sozialisten, unterhielt und mit der Förderung des Baus preiswerter Sozialwohnungen sowie der Schlichtung von Tarifkonflikten durch gemeinsame, paritätisch besetzte Kommissionen von Arbeitgebern und Arbeitnehmern die gemäßigte Linke zu beeindrucken vermochte. Die als nicht integrierbar geltenden Teile des Proletariats wurden hingegen, beginnend mit dem Verbot der Anarchosyndikalistischen Gewerkschaft CNT, bekämpft, die Führer der Kommunisten nach Generalstreiks an der Biskaya und in Asturien 1927 verhaftet. Ein Verbot traf auch die katalanische Lliga Regionalista. Die monarchistischen Parteien lösten sich bald nach dem Putsch auf; viele ihrer Mitglieder traten in die gouvernementale Einheitspartei, die 1924 gegründete Unión Patriotica, ein.

Im Dezember 1925 bildete Primo de Rivera ein Militärdirektorium, dem zivile Fachminister zugeordnet und verantwortlich waren. Zu den Schwerpunkten der Regierungsarbeit gehörten eine protektionistische Wirtschaftspolitik, die der Industrialisierung Spaniens diente, und eine Modernisierung der Infrastruktur durch den Bau von modernen Autostraßen, die Regulierung von Flüssen, die Anlage von Staudämmen und die künstliche Bewässerung trockener Regionen. Angestrebt wurde auch die Wiederaufforstung von Gebieten, die durch jahrhundertealte Abholzung verkarstet waren – eines der größten Umweltprobleme auch des heutigen Spanien. Eine mindestens ebenso drängende Aufgabe aber packte das Regime nicht an: eine Agrarreform. Sie hätte einen Konflikt mit den Großgrundbesitzern heraufbeschworen – einer Machtelite, auf deren Unterstützung Primo de Rivera nicht verzichten zu können glaubte.

Die Wünsche einer anderen wichtigen Gruppe nahm er weniger ernst: die des katalanischen Bürgertums. Es hatte sich 1923 nicht zuletzt deshalb auf die Seite des Generals gestellt, weil dieser als Anwalt regionaler Autonomie galt. Als er 1925 von diesem Programm abrückte, begann die Entfremdung zwischen ihm und einem wichtigen Träger seiner Herrschaft. Noch weniger Wert legte der General auf den Beifall der Intellektuellen, von denen viele, unter ihnen auch der Philosoph José Ortega y Gasset, 1923 Verständnis für den Militärputsch geäußert hatten. Die anfängliche Zustimmung ließ aber rasch nach, als der ganz und gar unintellektuelle Primo de Rivera sich öffentlich gegen oppositionelle Professoren und Studenten wandte und 1928 nach Protesten gegen das Regime sogar die Universität Madrid schließen ließ. Mehrere Professoren, auch Ortega, gaben daraufhin ihre Lehrstühle auf; der Philosoph Miguel Unamuno y Jugo und der Historiker Gregorio Marañon y Posadillo gingen zeitweilig ins Exil.

Seit Beginn der Weltwirtschaftskrise im Herbst 1929 verschlechterte sich die ökonomische und finanzielle Lage Spaniens dramatisch. Im Januar 1930 trat Finanzminister José Calvo Sotelo zurück, weil er mit den Problemen von Staatsverschuldung, steigenden Preisen und Abwertung der Peseta nicht fertig wurde. Ein anderes Krisenzeichen war die offenkundige Hilflosigkeit der Regierung in der Verfassungsfrage. Auf Drängen des Königs hatte Primo de Rivera im September eine beratende Versammlung aus überwiegend konservativen Honoratioren einberufen, die knapp zwei Jahre später, im Juli 1929, einen Verfassungsentwurf vorlegte. Dieser wich von der Verfassung von 1876, deren Restauration kaum jemand wünschte, in wesentlichen Punkten ab, wurde aber von Liberalen, Monarchisten und Republikanern nahezu einhellig verworfen, da sie keine parlamentarisch verantwortliche Regierung vorsah. Aus einem anderen Grund lehnte der König den Entwurf ab: Die Autoren wollten ihm gewisse Prärogativen entziehen. Damit war das Schicksal der Vorlage besiegelt. Die Regierung zog sie zurück.

Eine Verfassung, die aus den Schwächen und dem Versagen des früheren parlamentarischen Systems Konsequenzen zog und den Grund für eine funktionstüchtige repräsentative Demokratie legte, und ein Wahlgesetz, das der Wahlmanipulation örtlicher oder zentraler Autoritäten und der Zersplitterung der Parteien einen Riegel vorschob, hätte das Ende der Militärdiktatur, zugleich aber auch eine Art nachträgliche Rechtfertigung derselben bedeutet. Zu diesem historischen Schritt war Primo de Rivera nicht bereit und wohl auch nicht fähig. Fatal aber war für ihn letztlich der Verlust der Unterstützung durch das Militär, hervorgerufen durch eine Heeresreform, die den Offiziers- und Mannschaftsbestand massiv vermindern sollte. Am 26. Januar 1930 sah sich der Diktator genötigt, den zehn regionalen Generalkapitanen die Vertrauensfrage zu stellen. Sie fiel negativ aus. Alfons XIII. veranlaßte Primo de Rivera daraufhin am 28. Januar zum Rücktritt. Der gestürzte Machthaber begab sich ins freiwillige Exil nach Paris, wo er knapp sieben Wochen später an seiner Zuckerkrankheit starb.

Sein Nachfolger, General Dámaso Berenguer, ein politischer Gegner Primo de Riveras und bisher Chef des Königlichen Militärkabinetts, machte die Heeresreform rückgängig und entließ zahlreiche Beamte, die sein Vorgänger eingesetzt hatte. Die von Berenguer proklamierte Rückkehr zur Verfassung von 1876 wies keinen Ausweg aus der Krise. Im August 1930 schlossen sich republikanische und sozialistische Politiker mit Führern der katalanischen Linken im «Pakt von San Sebastián» zu einem Bündnis für Reformen und die Einführung der Republik zusammen. Maßgebliche Intellektuelle wie Ortega und der nach Spanien zurückgekehrte Marañon sprachen sich nunmehr offen für die Republik aus, und auch im Heer begannen sich die republikanisch gesinnten Offiziere organisatorisch zusammenzuschließen.

Am 18. Februar 1931 wurde Berenguer durch Admiral Juan Bautista Aznar abgelöst, der auch den früheren liberalen Ministerpräsidenten Graf Alvaro de Romanones in sein Kabinett aufnahm und Berenguer als Kriegsminister behielt. Bei den Gemeindewahlen vom 12. April 1931 (die die Regierung ausschrieb, um Wahlen auf nationaler Ebene noch hinausschieben zu können) siegten die Republikaner und Sozialisten in den größeren Städten, während auf dem Lande (und damit in Spanien insgesamt) die Monarchisten die Oberhand gewannen. Die Regierung mit Aznar an der Spitze betrachtete den Wahlausgang in einer panikartigen Reaktion als Plebiszit für die Republik. Tatsächlich wurde in mehreren Städten, darunter in Madrid, die Republik ausgerufen – die Zweite Republik, denn schon einmal, 1873/74, war Spanien eine Republik gewesen. Dem Ultimatum eines Revolutionskomitees unter Niceto Alcalá Zamora beugte sich am 14. Dezember auch König Alfons XIII.: Er verließ Spanien, ohne auf seine Thronrechte zu verzichten, auf dem Seeweg von Cartagena nach Marseille.

Der Sturz der Monarchie war das Ergebnis des Unvermögens der Militärdiktatur, die Probleme zu lösen, an denen das parlamentarische System 1923 gescheitert war: die Agrarfrage, das Verhältnis von Zentralgewalt und Regionen, die Stellung von Kirche und Militär, die Durchsetzung des staatlichen Gewaltmonopols gegenüber den Kräften der Anarchie. Die letzteren traten bereits kurz nach dem Regimewechsel den Beweis an, daß sie aus der Geschichte nichts gelernt hatten: Auf Gerüchte hin, die Monarchisten bereiteten Anschläge auf die Republik vor, wurden in der Nacht zum 11. Mai 1931 in Madrid, anschließend auch in anderen Teilen Spaniens und besonders in Andalusien zahllose Klöster und Kirchen niedergebrannt.

Aus den Wahlen zu den Verfassunggebenden Cortes am 28. Juni 1931 gingen die Sozialisten mit 114 Sitzen als stärkste Fraktion hervor; zusammen mit den linksrepublikanischen Parteien, auf die 125 Abgeordnete entfielen, und regionalistischen Gruppen verfügten sie über eine regierungsfähige Mehrheit. Die Opposition bestand aus 89 antisozialistischen und antiklerikalen Radikalen sowie aus zersplitterten Gruppen von Liberalen, Rechtsrepublikanern, Agrariern und Traditionalisten (oder Karlisten). Die Monarchisten hatten zum Boykott der Wahlen aufgerufen und waren im Parlament nicht vertreten.

Am 9. Dezember 1931 nahm die Konstituante mit 175 gegen 59 Stimmen die Verfassung der spanischen Republik an. Sie war liberal und strikt laizistisch gehalten, stellte ausdrücklich fest, daß der spanische Staat keine offizielle Religion habe, wies religiösen Bekenntnisgemeinschaften den Status von Vereinen zu, beseitigte den bisherigen Haushalt für die Geistlichkeit, gab allen Männern und Frauen, die das 23. Lebensjahr vollendet hatten, das gleiche aktive und passive Wahlrecht, schützte das Privateigentum, erlaubte aber eine Enteignung, in der Regel gegen Entschädigung, zum Zweck des sozialen Nutzens und ließ die Bildung autonomer Regionen innerhalb des spanischen Einheitsstaates zu. Der Präsident der Republik wurde von den Mitgliedern der Cortes und von einer gleich großen Zahl von Wahlmännern und -frauen auf die Dauer von sechs Jahren gewählt; er hatte, abgesehen vom Recht der Parlamentsauflösung, überwiegend repräsentative Funktionen. Die Minister hingen vom Vertrauen der Cortes ab. Im Interesse der Staatssicherheit konnte die Regierung bestimmte Grundrechte durch eine Verordnung vorbehaltlich der nachträglichen Zustimmung der Cortes zeitweise außer Kraft setzen.

Spanien hatte, so schien es, seine autoritäre Transformation hinter sich und eine demokratische Zukunft vor sich. Doch die antirepublikanische Rechte besaß, auch wenn sie auf eine parlamentarische Vertretung verzichtet hatte, noch immer einen starken Rückhalt in der Gesellschaft, und das nicht nur in deren obersten Schichten. Die republikanischen Kräfte waren ihrerseits zutiefst in sich gespalten. Das zeigte sich schon bei der Agrarreform von 1932. Die bürgerlichen Republikaner wollten das enteignete Land der Großgrundbesitzer an landarme Bauern verteilen; ihre sozialistischen Koalitionspartner erstrebten eine Verstaatlichung und kollektive Bewirtschaftung der Latifundien. Das Gesetz vom September 1932 war ein Kompromiß: Es gab der Regierung weitreichende Enteignungsbefugnisse, überließ die Frage der privaten oder kollektiven Bewirtschaftung des enteigneten Bodens aber den Landgemeinden, was zu einer erheblichen Verzögerung bei der praktischen Umsetzung der Reform führte und wachsende Unzufriedenheit in der Landbevölkerung zur Folge hatte.

Auch die Sozialisten waren in sich gespalten: Der Parteivorsitzende und Präsident der Cortes, Julián Besteiro, wollte die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung dem demokratischen Prozeß, also einer ferneren Zukunft überlassen. Arbeitsminister Francisco Largo Caballero hingegen, der 1932 an die Spitze des PSOE trat, bewegte sich unter dem Eindruck des Wachstums der anarchosyndikalistischen CNT nach links und wurde immer mehr zum Verfechter eines kompromißlosen Klassenkampfes, ja der Diktatur des Proletariats. Einig waren sich die Sozialisten und die Linksrepublikaner, die seit Dezember 1931 mit dem scharf antiklerikalen Manuel Azaña y Diaz den Ministerpräsidenten der Koalitionsregierung stellten, immerhin in der Katalonien-Frage: Am 9. Dezember 1932 erhob das «Katalanische Institut» das Katalanische neben dem Spanischen zur Amtssprache; Katalonien erhielt ein eigenes Parlament, eine eigene Regierung, die Generalitat, und eine weitreichende Verwaltungsautonomie.

Auf der gemäßigten Rechten formierte sich im Februar 1933 unter Führung des Rechtsanwalts José Maria Gil Robles y Quiñones die Confederación Española de Derechas Autónomas (CEDA), eine christlich-konservative Partei, die die Frage Republik oder Monarchie offen hielt und sich an der päpstlichen Soziallehre orientierte, also eine berufsständische Erneuerung der Gesellschaft befürwortete. Die CEDA bildete einen Teil der Acción Popular, einer konservativen Sammlungsbewegung, in der Gil Robles ebenfalls eine maßgebende Rolle spielte. Rechts von der CEDA standen die Monarchisten, die sich teils in der Alfons XIII. ergebenen Renovación Española, teils bei den «Karlisten», den Anhängern der absoluten Monarchie, sammelten.

Weit radikaler noch traten die milizartig organisierten, im Oktober ins Leben gerufenen Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista (JONS) auf, die sich für eine umfassende Rekatholisierung Spaniens einsetzten. Die äußerste Rechte aber bildeten nicht sie, sondern die Falange Española, ein im Oktober 1933 von José Antonio Primo de Rivera, dem Sohn des Diktators, gegründeter, dem Beispiel der italienischen Faschisten nacheifernder Kampfverband. Im Februar 1934 schlossen sich die JONS und die Falange unter Führung José Antonio Primo de Riveras zu einer einzigen Organisation zusammen: der Falange Española de las Juntas de Ofensiva Nacional-Sindicalista. Äußeres Erkennungszeichen waren die blauen Hemden, die ihre Mitglieder trugen. Außerdem gab es noch eine rechte Fronde, innerhalb des Militärs: die Unión Militar Española (UME), die vorrangig die von Azaña durchgesetzte Militärreform und besonders deren Kern, die Verkleinerung des Offizierskorps und die Unterstellung des Militärs unter die Kontrolle der (ihrerseits parlamentarisch kontrollierten) Regierung, bekämpfte.

Im September 1933 zerbrach die Koalition der Sozialisten und Republikaner. Aus den Neuwahlen gingen die Rechten als Sieger hervor. Sie kamen auf 217 Sitze; auf die Mitte entfielen 163, auf die Linke lediglich 93 Abgeordnete. Über eine tragfähige Mehrheit aber verfügte die Rechte nicht. Das Ergebnis schwieriger Verhandlungen war eine Minderheitsregierung aus Radikalen und Unabhängigen unter dem bürgerlichen Radikalen Alejandro Lerroux, die auf die parlamentarische Unterstützung der CEDA angewiesen war. Mit der ersten Regierung Lerroux endete die zweijährige Reformphase der spanischen Republik, das «bienio de reformas». Es begann das schwarze Doppeljahr, das «bienio negro», in dem viele Reformen der ersten Phase außer Kraft gesetzt wurden. Die Nutznießer der Revision waren die Kirche und die Großgrundbesitzer: Antiklerikale Gesetze wurden aufgehoben, frühere Eigentümer erhielten beschlagnahmtes Land zurück.

Das Erstarken der Rechten war auch eine Reaktion auf die zunehmende Militanz der Anarchosyndikalisten der CNT, die im Laufe des Jahres 1933 immer mehr Zulauf hatte und im Dezember einen regelrechten Aufstand gegen die Regierung zu entfesseln versuchte. Die Rücknahme der Agrarreform steigerte den Radikalismus auf Seiten der Linken. Im Mai 1934 riefen die Gewerkschaften zu einem Landarbeiterstreik auf. Daran beteiligten sich auch die UGT Largo Caballeros und die bislang gemäßigte sozialistische Landarbeitergewerkschaft, die nunmehr die soziale Revolution propagierte. Die Regierung erklärte den Ausstand für illegal und organisierte Notmaßnahmen zur Einbringung der Ernte. Die Streikbewegung, die zeitweise auch auf Madrid und andere Städte übergriff, erreichte keines ihrer Ziele. Sie trug aber erheblich zur weiteren gesellschaftlichen und politischen Polarisierung Spaniens bei.

Anfang Oktober gingen die Radikalen eine reguläre Koalition mit der CEDA ein, wobei Lerroux erneut das Amt des Ministerpräsidenten übernahm. Da Gil Robles sich in den Monaten zuvor immer mehr nach rechts bewegt hatte, erklärte Largo Caballero den Regierungseintritt der CEDA zur Machtergreifung des Faschismus nach italienischem und deutschem Vorbild und rief die Arbeitermassen zum Generalstreik auf. In den meisten Städten brachen die proletarischen Aktionen, an denen die Anarchisten sich nicht beteiligten, nach wenigen Tagen zusammen. Nicht so in Katalonien und Asturien: In Barcelona proklamierte die Generalitat unter Lluis Companys, dem Führer der Esquierra Republicana de Catulunya (Republikanische Linke Kataloniens), am 6. Oktober die Unabhängigkeit Kataloniens innerhalb einer spanischen Bundesrepublik. Die Regierung ließ die Erhebung mit Hilfe des Militärs niederschlagen; die Autonomie Kataloniens wurde suspendiert.

In Asturien weitete sich der Generalstreik zum Bergarbeiteraufstand, ja zum regionalen Bürgerkrieg aus, in dessen Verlauf die Städte Oviedo und Gigon in die Hände der proletarischen Revolutionäre fielen und die Räterepublik proklamiert wurde. Die Regierung setzte auch hier Militär ein, darunter auf Anraten der kommandierenden Generäle Manuel Goded Llopis und Francisco Franco die Fremdenlegion, die entscheidenden Anteil am Sieg über die Rifkabylen in Spanisch-Marokko gehabt hatte. Nach zwei Wochen war der Aufstand, an dem sich bis zu 30.000 Bergarbeiter beteiligt hatten, niedergeworfen. Den zahllosen «roten» Greueltaten folgten womöglich noch schrecklichere der «Weißen». Die Zahl der Toten lag bei 1300, die der Verwundeten bei 3000. Im Anschluß an die fehlgeschlagene «Oktoberrevolution» kam es zu Zehntausenden von Verhaftungen. Zwanzig Führer der Aufstände wurden zum Tode verurteilt, zwei von ihnen exekutiert. Gegen die Begnadigung der übrigen, darunter Companys, durch Präsident Alcalá Zamora protestierte die CEDA, die deswegen zeitweilig sogar vorübergehend die Regierung verließ. Caballero und mehrere seiner Kampfgefährten wurden zu dreißig Jahren Gefängnis verurteilt. Daß sie diese Strafe voll würden verbüßen müssen, glaubte kaum jemand.

Es folgten erbitterte parlamentarische Kämpfe zwischen der Linken und der Rechten über die Niederschlagung der Oktoberaufstände, weitere Rücknahmen von Reformen, im Mai 1935 die Ernennung von Gil Robles zum Kriegsminister sowie die von diesem verfügte Ernennung von General Franco zum Generalstabschef und schließlich Ende 1935 die Aufdeckung von Korruptionsskandalen, in die führende Politiker der Radikalen verwickelt waren. Präsident Zamora sah angesichts der zunehmenden Instabilität schließlich keine Alternative mehr zur Auflösung der Cortes. Sie erfolgte am 7. Januar 1936. Rund eine Woche später, am 15. Januar, schlossen sich Linksrepublikaner, Sozialisten und Kommunisten zur «Volksfront» (Frente Popular) zusammen und stellten eine gemeinsame Kandidatenliste auf. Auf Drängen Caballeros faßten die Sozialisten den verhängnisvollen Beschluß, im Fall eines Wahlsieges der Linken keine Ministerämter zu übernehmen. Die Anarchisten, die die Wahlen bisher boykottiert hatten, beteiligten sich am 16. Februar 1936 erstmals an einem Urnengang.

Die Volksfront war die Gewinnerin der Wahl. Auf sie entfielen 4,2 Millionen Stimmen, auf die Rechte, die als «Nationale Front» angetreten war, knapp 3,8 Millionen, auf die Mitte etwa 680.000. Das Wahlgesetz prämierte die stärkste Liste und verhalf der Linken zu 278 Abgeordneten und damit zur absoluten Mehrheit. Davon entfielen 100 Sitze auf die Sozialisten, 87 auf die Izquierda Republicana, 36 auf die katalanische Linke und 17 auf die Kommunisten. Die Opposition kam auf 134, die Mitte einschließlich der 10 Basken auf 55 Mandate. Da der PSOE, die größte Fraktion, auf seiner Wahlaussage beharrte und keine Minister stellte, verständigten sich die Parteien der Volksfront darauf, den Regierungschef der Jahre 1931 bis 1933, Manuel Azaña y Diaz, einen bürgerlichen Republikaner, erneut zum Ministerpräsidenten zu machen. Eine der ersten Amtshandlungen der neuen Regierung bestand darin, die Generäle Franco und Goded auf Kommandostellen fern des Machtzentrums abzuschieben: Franco auf die Kanarischen Inseln, Goded auf die Balearen.

Auf eine Stabilisierung der inneren Lage deutete im Frühjahr 1936 nichts hin. Viele Siegesparaden der Linken schlugen in Krawalle, Angriffe auf Kirchen und Zeitungsredaktionen sowie die Stürmung von Gefängnissen um. Zu den Befreiten gehörten auch Companys und Caballero. Auf dem Land prallten plündernde Landarbeiter und Guardia Civil aufeinander; Pistoleros der Falange und der Federación Anarquista Iberica verübten Attentate auf politische Gegner; große Teile der CEDA-Jugend liefen, angeführt von Francos Schwager Serrano Suñer, zur Falange über; Largo Caballero, seit 1932 Vorsitzender des PSOE, kündigte in vielen Reden im ganzen Land unter dem Beifall von Sozialisten und Kommunisten die nahende proletarische Revolution an. Um dieselbe Zeit bereiteten militärische Verschwörer unter der Ägide von General Emilio Mola Vidal den Sturz der Volksfrontregierung vor; zu den Beteiligten gehörte neben Franco und Goded auch General José Sanjurjo, der bereits im August 1932 einen ersten, rasch niedergeschlagenen, Putschversuch gegen die Republik unternommen hatte. Die Falange des inzwischen inhaftierten José Antonio Primo de Rivera und die Monarchisten, sowohl die Karlisten wie die Anhänger Alfons’ XIII., waren in die Planungen einbezogen. Gil Robles wußte vom Vorhaben Molas, spielte aber bei der Vorbereitung des Unternehmens keine aktive Rolle.

Im Mai 1936 wechselte Azaña ins Amt des Staatspräsidenten. Neuer Ministerpräsident wurde der Linksrepublikaner Santiago Casares Quiroga, der deutlich links von seinem Vorgänger stand. Die neue Regierung forcierte die steckengebliebene und teilweise rückgängig gemachte Agrarreform, konnte damit aber nicht verhindern, daß es weiterhin zu Landarbeiterstreiks und illegalen Landbesetzungen kam. In der ersten Julihälfte verging kaum ein Tag ohne politische Morde. Am 12. Juli wurde ein Leutnant der republikanischen Guardia de Asalto (Sturmgarde), José Castillo, von Falangisten ermordet. Es war ein Racheakt: Castillo hatte im April bei einem Feuergefecht einen prominenten Falangisten erschossen. Die Reaktion der Sturmgardisten war die Ermordung eines der bekanntesten Politiker der Rechten, des monarchistischen Abgeordneten und ehemaligen Finanzministers Calvo Sotelo. Er wurde in der Nacht vom 12. zum 13. Juli 1936 von uniformierten Angehörigen der Guardia de Asalto aus seiner Madrider Wohnung geholt, in ein Auto gezwungen und dort durch Genickschüsse getötet.

Der Mord an Calvo Sotelo schockierte das bürgerliche Spanien zutiefst und beschleunigte die Umsturzplanung der militärischen Fronde. Unter dem Eindruck des Verbrechens der Sturmgarde stellten die Karlisten ihre verbliebenen Differenzen mit den Verschwörern zurück. Als Termin für das Losschlagen setzte Mola den 17. Juli, 17 Uhr, fest; das Signal zur nationalen Erhebung gegen das Spanien der Volksfront sollte von der Garnison in Melilla in Spanisch-Marokko kommen. Damit lag der Plan für eine Aktion fest, die die spanische Krise schlagartig in eine europäische verwandelte: die Auslösung des Spanischen Bürgerkrieges.

In den Jahren zwischen 1931 und 1936 war, um den Historiker Walther L. Bernecker zu zitieren, das «Grundproblem der spanischen Gesellschaft deutlich geworden, das die Modernisierung und die Durchführung einer ‹bürgerlichen› Revolution in Spanien verhinderte: Es war die Konfrontation zwischen der grundbesitzenden und in archaischen Strukturen verwurzelten Oligarchie mit ihren Verbündeten, die zu keinerlei Veränderung ihrer aus dem 19. Jahrhundert überkommenen Stellung bereit waren, und den Sektoren der Land- und Industriearbeiter, die in der Republik das Vehikel zur Überwindung ihrer überkommenen Benachteiligung erblickten und sich, nachdem sie in ihrer Hoffnung auf schnelle Veränderung ihrer Situation enttäuscht worden waren, von der bürgerlich-demokratischen Republik ebenso abwandten, wie ihre ‹Klassenfeinde› dies bereits getan hatten. Der Bürgerkrieg war das Ergebnis dieser unüberbrückbaren Gegensätze und der verzweifelte Versuch zuerst der Rechten, in Reaktion darauf dann auch der Linken, ihr Gesellschafts-, Wirtschafts- und Staatsmodell, das mit reformistisch-friedlichen Mitteln nicht zu erreichen war, gewaltsam durchzusetzen.»

Doch es waren nicht nur soziale Strukturen und kollektive Mentalitäten, die in der Zeit der Zweiten Republik aufeinanderprallten. Es waren Akteure aus Fleisch und Blut, die Verantwortung für die zunehmende Polarisierung trugen: Politiker wie Manuel Azaña, der, unterstützt von der gesamten Linken, dem katholischen Spanien den Kampf ansagte und damit Menschen verprellte, die die Republik bei einer einfühlsameren Politik vielleicht für sich hätte gewinnen können; wie Gil Robles, der seine Vision von einer berufsständisch geordneten Gesellschaft, wenn es dafür keine parlamentarische Mehrheit gab, notfalls auch mit Hilfe des Militärs verwirklichen wollte; wie Largo Caballero, der sich immer mehr als «spanischer Lenin» fühlte und feiern ließ und nach seinem Linksruck eher kommunistische als sozialdemokratische Positionen vertrat. Eine Kompromißpolitik, sei es in Form von Mitte-rechts- oder Mitte-links-Bündnissen, war infolge der Radikalisierung der ursprünglich eher gemäßigten Kräfte immer weniger möglich. Davon profitierten die Extremisten der Linken und der Rechten: die Anarchisten und Anarchosyndikalisten auf der einen, die vereinten Faschisten und Nationalsyndikalisten auf der anderen Seite. Der äußersten Rechten war auch der nationalistische Flügel des Offizierskorps zuzurechnen. Von ihm sollte im Sommer 1936 der entscheidende Anstoß zu jenem dreijährigen blutigen Bürgerkrieg ausgehen, in dem sich die seit langem aufgestauten inneren Konflikte Spaniens entluden.[19]

Evolution der Demokratie: Von Schweden bis zur Schweiz

Verglichen mit den Staaten des Mittelmeerraumes und des Balkans boten die drei skandinavischen Königreiche in der Zwischenkriegszeit ein fast schon idyllisches Bild. Schweden, Norwegen und Dänemark waren im Ersten Weltkrieg neutral geblieben; sie hatten erst vom drastisch ansteigenden Export an die kriegführenden Mächte profitiert, dann aber, seit 1917, unter dem deutschen U-Boot-Krieg schwer zu leiden gehabt. In den Jahren zwischen der Nachkriegsdepression und der Weltwirtschaftskrise zeichneten sich ihre Volkswirtschaften durch hohe Wachstumsraten aus; trotz Massenarbeitslosigkeit nach 1929 geriet das demokratische System in keinem der drei Staaten in eine ernste Krise. In Dänemark, Schweden und Norwegen gewann die Sozialdemokratie nach 1918 mehr oder minder stetig an Einfluß. In den dreißiger Jahren war sie die stärkste politische Kraft Nordeuropas, die dort, wo sie regierte, tiefgreifende soziale Reformen durchsetzen konnte.

Unmittelbar nach Kriegsende sprach zunächst wenig für eine solche Entwicklung: Die Arbeiterbewegung spaltete sich auch in Skandinavien. Den Anfang machte Schweden, wo sich 1917 der linke Flügel der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei aus Protest gegen die Bildung einer Koalition aus Liberalen und Sozialdemokraten von der Mutterpartei trennte und als Unabhängige Sozialistische Partei verselbständigte. 1921 spalteten sich dann auch die Unabhängigen: Die Mehrheit konstituierte sich als Kommunistische Partei, die Mitglied der Dritten Internationale wurde. Das war aber noch nicht das Ende des Spaltungsprozesses. Wegen Widerstands gegen die Linie der Komintern wurden 1923 die Parteiführung um Carl Höglund und etwa 3000 ihrer Anhänger aus der Kommunistischen Internationale ausgeschlossen, woraufhin sie eine neue Partei, die Unabhängige Kommunistische Partei, gründeten. 1929 ereilte die zunächst moskauloyale KP unter Karl Kilbom dasselbe Schicksal: Sie wurde wegen Rechtsabweichung aus der Komintern ausgeschlossen und nannte sich fortan Nationalkommunistische Partei. Die Rest-KP blieb eine Splitterpartei. Die Linkssozialisten hatten sich bereits 1923 wieder der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei angeschlossen.

Anders als in Schweden übernahmen in Norwegen im Frühjahr 1918 die Radikalen die Führung der Norwegischen Arbeiterpartei. Im März 1919 beteiligte sich die Arbeiterpartei an der Gründung der Kommunistischen Internationale; der gemäßigte Flügel konstituierte sich 1921 als Norwegische Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die aber nur eine Minderheit der Arbeiterschaft repräsentierte. Der Vorsitzende der nach links gerückten Arbeiterpartei, Martin Tranmael, war aber ebensowenig wie sein schwedischer Genosse Carl Höglund ein «Bolschewik», sondern ein Verfechter innerparteilicher Demokratie. Im September 1923 kam es zum endgültigen Bruch mit Moskau: Ein Kongreß der Arbeiterpartei beschloß den Austritt aus der Komintern; der Rest bildete die Kommunistische Partei Norwegens, die wie ihre schwedische Schwester eine Splitterpartei blieb. 1927 schlossen sich die Arbeiterpartei und die Sozialdemokratische Partei wieder zu einer Partei zusammen und legten damit den Grundstein für deren Aufstieg zur größten Partei des Königreichs. Sehr viel später als in Schweden und Norwegen, nämlich erst 1922, kam es in Dänemark zur Gründung einer Kommunistischen Partei. Sie gelangte über eine Kümmerexistenz nicht hinaus: Bei den Wahlen von 1924 entfielen auf sie etwa 6000, auf die Sozialdemokraten knapp 470.000 Stimmen.

Schweden trat mit zwei wichtigen verfassungspolitischen Neuerungen in die Nachkriegszeit ein: 1919 wurde das allgemeine gleiche Männerwahlrecht für die erste und das Frauenwahlrecht für die zweite Kammer des Reichstags eingeführt. Im Jahr darauf gab sich die Schwedische Sozialdemokratische Arbeiterpartei ein neues, reformistisches Programm, das eine progressive Einkommenssteuer, eine hohe Erbschaftssteuer und eine Arbeitslosenversicherung, aber auch eine Vergesellschaftung von Großbetrieben und eine Staatskontrolle über private Unternehmungen forderte. Im März 1920 beauftragte König Gustav V. den Vorsitzenden der Sozialdemokraten, Hjalmar Branting, mit der Regierungsbildung. Kriegsminister dieser ersten von Sozialdemokraten geführten Regierung der Welt, die ohne vorhergehenden Umsturz an die Macht gelangte, wurde der Redakteur Per Albin Hansson, einer der Väter des neuen Parteiprogramms.

Das erste Kabinett Branting blieb, da es mit seinem Gemeindesteuerprogramm scheiterte, nur wenige Monate im Amt. Bei den Wahlen von 1920 stieg die Sozialdemokratie zur stärksten Partei auf. Branting bildete erneut die Regierung. Im April 1923 trat er, nachdem er sich mit dem Plan einer Arbeitslosenunterstützung nicht hatte durchsetzen können, zurück. Sein Nachfolger, der konservative Ernst Trygger, tat denselben Schritt, als die Wahlen vom Herbst 1924 an der Kräfteverteilung in der zweiten Kammer nichts Wesentliches änderten. Es folgten Minderheitskabinette erst unter sozialdemokratischer, dann von 1926 bis 1928 unter freisinniger, von 1928 bis 1930 unter konservativer und von 1930 bis 1932 wieder unter freisinniger Führung. Die erste rein sozialdemokratische Regierung bildete 1932 Per Albin Hansson. Er war nach Brantings Tod im Jahr 1925 an die Spitze der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei getreten.

Eine der wichtigsten innenpolitischen Streitfragen war die Prohibition. Zu den Vorkämpfern eines völligen Verbots der Herstellung und des Verkaufs von alkoholischen Getränken gehörte der Führer der Volksfreisinnigen, Gustav Ekman, der von 1926 bis 1928 und von 1930 bis 1932 das Amt des Ministerpräsidenten innehatte. Ein konsultatives Referendum, ermöglicht durch eine Verfassungsänderung aus der Zeit der zweiten Regierung Branting, erbrachte im August 1922 aber lediglich ein Staatsmonopol, verbunden mit einer scharfen Prohibition des Verkaufs alkoholischer Getränke. (In Norwegen und Finnland waren schon 1919 Prohibitionsgesetze verabschiedet worden, die 1926 beziehungsweise 1932 wieder aufgehoben wurden; in Norwegen beide Male auf Grund von Volksbefragungen.)

Nach 1929 geriet auch Schweden in den Strudel der Weltwirtschaftskrise. 1931 mußte das nordische Königreich im Sog Großbritanniens den Goldstandard aufgeben. Im Herbst 1932 beging Schwedens mächtigster Unternehmer, Ivar Kreuger, der Mann an der Spitze des marktbeherrschenden Streichholzkonzerns Svenska Tändsticks AB (STAB), und, was so gut wie niemand wußte, ein betrügerischer Spekulant großen Stils, in Paris Selbstmord. Sein Tod löste den «Kreuger-Krach», den Zusammenbruch seines Finanzimperiums, aus.

Nach den Wahlen vom September 1932 gelangten wieder die Sozialdemokraten, die die absolute Mehrheit nur knapp verfehlten, an die Macht. Mit einer kurzen Unterbrechung im Jahr 1936 stellten sie fortan bis 1976 den Ministerpräsidenten; bis zu seinem Tod im Oktober 1945 war Per Albin Hansson Inhaber dieses Amtes. In seiner Regierungszeit beschleunigte sich der Wandel der Agrar- zur Industriegesellschaft: 1920 waren 44 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung in der Land- und Forstwirtschaft sowie in der Fischerei beschäftigt, 1940 nur noch 29; der Anteil der in der Industrie beschäftigten Personen stieg von 35 auf 36 Prozent. Die Arbeitslosigkeit, die im März 1933 ihren Höhepunkt erreichte, bekämpfte die regierende Koalition aus Sozialdemokraten und Bauernbund mit Notstandsarbeiten, Stützungsmaßnahmen für die Landwirtschaft und Einfuhrbeschränkungen. Hanssons soziale Vision war das «Volksheim» (folkhemmet), das er 1928 in einer Rede vor der zweiten Kammer beschrieb: eine auf der Versöhnung der Klassengegensätze beruhende Gesellschaft, die die Grundlage eines spezifisch sozialdemokratisch gefärbten Patriotismus bilden sollte.

«In einem guten Heim sind Gleichheit, Rücksicht, Zusammenarbeit und Hilfsbereitschaft die Hauptregeln», erläuterte Hansson den Begriff «Volksheim». «Wenn man dies alles auf das Heim einer Nation und eines Bürgers überträgt, dann bedeutet dies das Verschwinden der sozialen Barrieren, die heute die Bürger trennen.» Der Begriff «Volksheim» entstammte ursprünglich der bäuerlich-konservativen Vorstellungswelt des frühen 20. Jahrhunderts. Er war nicht zuletzt eine Antwort auf eine traumatische Erfahrung: die Armutsemigration, durch die Schweden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Viertel seiner Bevölkerung verloren hatte. Seit den dreißiger Jahren wurde «Volksheim» in den Worten des deutschen Skandinavisten Bernd Henningsen zum «Topos der wohlfahrtsstaatlichen Ziviltheologie» der schwedischen Sozialdemokratie und darüber hinaus zu einem Merkmal der skandinavischen «Konsensdemokratie». Der zentrale Gedanke war der der sozialen Sicherheit (trygghet), die zu gewährleisten eine Verpflichtung des Staates war. Die Sicherheit verlangte eine Umverteilung der ökonomischen Ressourcen und eine Förderung der gesellschaftlichen Gleichheit. Vor diesem Hintergrund erschienen soziale Ausgaben nicht mehr als finanzielle Belastung des Staates, sondern als Investition zur Ankurbelung der Wirtschaft, in die Sicherung des sozialen Friedens und die Festigung der Demokratie.

1934 setzte die Regierung Hansson eine vom Staat unterstützte freiwillige Arbeitslosenversicherung durch, der 1935 ein Volkspensionsgesetz folgte, das die unzulängliche, 1913 eingeführte allgemeine «Volksrente» ablöste: zwei Säulen des schwedischen Wohlfahrtsstaates, der sich damals herauszubilden begann. 1937 wurden Gesetze über Mutterhilfe, Kinderfürsorge und die bedingte Legalisierung von Abtreibungen verabschiedet, 1938 das Recht der Arbeitnehmer auf einen zweiwöchigen Jahresurlaub verankert. Zum «schwedischen Modell» gehörte wesentlich auch die Zusammenarbeit zwischen Arbeit und Kapital, wie sie 1938 im Badeort Saltsjöbaden bei Stockholm zwischen Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden vereinbart wurde: Auf freiwilliger Basis sollten strittige Fragen, möglichst ohne Streiks und Aussperrungen, einvernehmlich geregelt werden. Der Staat war an den Absprachen nicht unmittelbar beteiligt; er förderte aber die Kooperation der Tarifpartner, weil sie es ihm erleichterte, ein immer dichteres Netz der sozialen Sicherheit zu knüpfen.

Das «Volksheim» hatte jedoch auch seine Kehrseite: den Konformitätsdruck, der jedem, auch einem milden Kollektivismus innewohnt. In einer Hinsicht war die schwedische Spielart des Kollektivismus im übrigen keineswegs milde: im Hinblick auf die sozialdarwinistische Ausgrenzung, ja Unterdrückung von als sozial minderwertig eingestuften Menschen. Bereits 1922 wurde mit breiter, parteiübergreifender Unterstützung in Uppsala das weltweit erste staatliche Institut für Rassenbiologie gegründet. Dahinter stand die gemeinsame Überzeugung rechter und linker Eugeniker, daß die Gesamtheit für eine gesunde Selektion des Nachwuchses zu sorgen hatte. Einig waren sich Rechte und Linke auch darin, daß dem unübersehbaren Geburtenrückgang mit einer «pronatalistischen» Politik entgegengewirkt werden mußte – mit Maßnahmen zugunsten von Eltern, die als erbbiologisch wertvoll zu betrachten waren.

Als minderwertig galten den Eugenikern namentlich Schwachsinnige – ein Begriff, unter dem zunehmend auch Asoziale und Frauen von ausgeprägter sexueller Promiskuität verstanden wurden. Ein erstes Sterilisierungsgesetz erging 1935 unter der Regierung Hansson, ebenso das zweite, deutlich verschärfte von 1941. Die Zustimmung der Betroffenen zur Sterilisierung verlor dabei immer mehr an Bedeutung. Bei für unmündig erklärten Personen war die Einwilligung nicht erforderlich. Von Freiwilligkeit konnte aber auch bei als rechtsmündig eingestuften Menschen meist nicht die Rede sein. Dazu war der indirekte Zwang zu massiv.

Konservative Eugeniker neigten dazu, die höheren Gesellschaftsschichten als erbbiologisch besonders wertvoll einzuschätzen und den Unterschichten dieses Prädikat zu versagen. Rechte Rassebiologen unterschieden zudem zwischen höher- und minderwertigen Rassen. Die vom amerikanischen Taylorismus geprägten sozialdemokratischen Befürworter eines «social engineering», obenan Alva und Gunnar Myrdal, zwei spätere Nobelpreisträger (Gunnar 1974 für Wirtschaftswissenschaften, seine Frau Alva 1982 für Verdienste um den Weltfrieden), dachten ebenfalls in den Kategorien von «superioren» und «inferioren» Eltern, lehnten aber eine Rassenhierarchie ebenso ab wie die Gleichsetzung von gehobenem gesellschaftlichen Status und hoher erbbiologischer Qualifikation. Sie setzten auf eine Verbesserung der Wohnverhältnisse, der Volksgesundheit und der Volksbildung.

Gleichwohl gab es einen erheblichen Fundus an Übereinstimmung von linker und rechter Eugenik. Der biologische Auslesegedanke war beiden gemeinsam; Linke und Rechte wollten die Zahl der «Minderwertigen» vermindern und den persönlichen Willen der Einzelnen den vermeintlichen Interessen des Kollektivs unterordnen. In den Worten der deutschen Historikerin Ann-Judith Rabenschlag: «Für die Rassebiologen war dieses Kollektiv die Rasse, für die Sozialingenieure das Volksheim.»

Eine Konsequenz aus dem sozialdarwinistischen Auslesegedanken zogen die schwedischen Eugeniker aber nicht: Sie wurden keine Anwälte der «Euthanasie», wie sie bereits 1920, also lange vor der nationalsozialistischen Herrschaft, zwei bekannte deutsche Wissenschaftler, der Strafrechtler Karl Binding und der Psychiater Alfred Hoche, in ihrem Buch «Die Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens» forderten. Die beiden Autoren lieferten damit auch eine nachträgliche Rechtfertigung einer nach 1914 nicht nur in Deutschland üblichen Praxis: Geisteskranke waren in den Hungerjahren des Ersten Weltkrieges gezielt unterernährt worden, so daß die Zahl der Todesfälle in den «Irrenanstalten» erheblich anstieg.

In Norwegen, das erst seit der Auflösung der Union mit Schweden im Jahr 1905 ein unabhängiger Staat war, konnten die bürgerlichen Parteien länger als in Schweden ihre Vormachtstellung behaupten. Die beherrschende Figur war bis Mitte der dreißiger Jahre der Führer der bürgerlichen «Venstre» (Linke), Johann Ludwig Mowinckel, der in den Jahren 1924 bis 1926, von 1928 bis 1931 und zuletzt von 1933 bis 1935 an der Spitze der Regierung stand. Die Sozialdemokraten konnten erstmals im Januar 1928, nachdem sie bei den Wahlen zum Storting die stärkste Partei geworden waren, den Ministerpräsidenten stellen. Doch für ihr sozialistisches Programm gab es keine parlamentarische Mehrheit: Schon nach zwei Wochen wurde die von Christopher Hornsrud geführte Arbeiterregierung durch ein Mißtrauensvotum gestürzt. Das Amt des Regierungschefs übernahm kurz darauf erneut Mowinckel.

Die Weltwirtschaftskrise traf das Schiffahrtsland Norwegen härter als Schweden: Um die Jahreswende 1932/33 waren zeitweilig 42 Prozent der gewerkschaftlich organisierten Arbeitnehmer arbeitslos. Die Wahlen von 1930 führten zu einem Rechtsruck. Die politische Führung ging nunmehr in die Hände der Bauernpartei (Bondeparti) über. Unter dem Ministerpräsidenten Peter Kolstad wurde der weit rechts stehende ehemalige Major im Generalstab Vidkun Quisling zum Verteidigungsminister ernannt. Nachdem er 1933 aus dem Kabinett ausgeschieden war, gründete Quisling eine neue, den italienischen Faschisten und den deutschen Nationalsozialisten nacheifernde Partei, die «Nasjonal Samling», die aber weder bei den Wahlen von 1933 noch bei denen von 1936 den Einzug ins Parlament schaffte.

Die Wahlsiegerin von 1933 war die Arbeiterpartei, auf die rund 40 Prozent der Stimmen entfielen. Aber erst zwei Jahre später, im März 1935, konnte sie durch eine Koalition mit der Bauernpartei das bürgerliche Kabinett Mowinckel ablösen. Ministerpräsident wurde der einstige Ziegeleiarbeiter Johan Nygaardsvold, der bis zur deutschen Besetzung Norwegens im März 1940 die Regierung führte. Das Amt des Außenministers übernahm der Historiker Halvdan Koht, das des Justizministers der Jurist Trygve Lie, der in den Jahren 1946 bis 1952 als erster Generalsekretär der Vereinten Nationen weltweites Ansehen gewinnen sollte.

Unter Nygaardsvold, einem erklärten Reformisten, begann auch in Norwegen die Entwicklung eines sozialdemokratisch geprägten Wohlfahrtsstaates. Die Einführung einer Volkspension für alle Norweger, die das 70. Lebensjahr vollendet hatten, fand breite Unterstützung, ebenso 1938 die Arbeitslosenversicherung. Finanziert wurde die neue Sozialpolitik zu einem großen Teil durch höhere Steuern. Die Arbeitslosigkeit sank aber nur langsam: 1939 lag sie noch bei 18 Prozent der organisierten Arbeitnehmer. Die Sozialstruktur Norwegens hatte sich mittlerweile stark verändert, und sie wandelte sich weiterhin – weg von der ländlichen Agrar-, hin zur städtischen Industrie- und Dienstleistungsgesellschaft. 1920 waren 36 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung im primären, dem landwirtschaftlichen Sektor und 27 Prozent im sekundären Sektor, also in Handel und Industrie, beschäftigt; drei Jahrzehnte später, 1950, lauteten die entsprechenden Zahlen 26 und 35 Prozent.

Ähnliche Verschiebungen gab es in der Zwischenkriegszeit in Dänemark. Hier waren 1920 33 Prozent der erwerbstätigen Bevölkerung im primären und 29 Prozent im sekundären Sektor beschäftigt; 1940 führte der sekundäre Sektor mit 33 Prozent, während der Primäre auf 29 Prozent zurückgefallen war. Die politische Führung des Königreichs lag seit 1924 meist in den Händen der Sozialdemokraten, die mit Thorvald Stauning den Ministerpräsidenten der Jahre 1924 bis 1926 und 1929 bis 1942 stellten. Schon als Mitglied einer sozialliberalen Koalitionsregierung aus der bürgerlichen Radikalen Venstre und den Sozialdemokraten hatte Stauning, der erste nordische «Arbeitsminister», den Achtstundentag, zumeist in Staatsbetrieben, seit 1920 auch in privaten Unternehmungen durchgesetzt, wie denn die dänische Sozialpolitik in den Bereichen Invalidenversicherung, Arbeitslosenunterstützung und Altersrente auch schon vor 1924 große Fortschritte machte. Das Kabinett, das Stauning im April 1924 bildete, war eine Koalitionsregierung aus Sozialdemokraten und Politikern der Radikalen Venstre. Ihr gehörte erstmals auch eine Frau, die Historikerin Nina Bang, als Unterrichtsministerin an. Das Hauptproblem der dänischen Innenpolitik bildete nach 1918 die hohe Arbeitslosigkeit. Um die Jahreswende 1925/26 waren rund 30 Prozent der organisierten Arbeitnehmer erwerbslos. Da die von Stauning geplante langfristige Krisenbekämpfung dem bürgerlichen Koalitionspartner als zu «sozialistisch» erschien, schieden die Sozialdemokraten 1926 aus der Regierung aus. Im April gelang ihnen, gestützt auf einen großen Wahlerfolg, unter Staunings Führung die Rückkehr an die Macht. Vier Jahre später erreichte die Arbeitslosigkeit mit etwa 40 Prozent der organisierten Arbeitnehmer ihren Höhepunkt – eine Folge vor allem der zuerst von Deutschland, dann von Großbritannien verfügten Einfuhrbeschränkungen (zu denen zuvor aber auch Dänemark selbst seine Zuflucht genommen hatte). Den wachsenden Bedarf an Sozialleistungen finanzierte die Koalition von Sozialdemokraten und Radikaler Venstre zu einem Teil aus Kürzungen des Verteidigungsetats.

Am 30. Januar 1933, dem Tag, an dem in Deutschland Adolf Hitler an die Macht kam, wurde in der Kopenhagener Privatwohnung von Stauning der «Kanslergade-Vergleich» zwischen Regierungs- und Oppositionsparteien abgeschlossen: ein Reformwerk mit stark planwirtschaftlichen Zügen, in dem der staatlichen Valutazentrale die Aufgabe der Wirtschaftssteuerung zufiel. Zum Programm von 1933 gehörten ein neues Gesetz über die (teilweise staatsfinanzierte) Arbeitslosenversicherung, ein Gesetz über die Volksversicherung, das die Beiträge zur Alters- und Invaliditätsversicherung erhöhte, und eine Reform der 1922 eingeführten Altersrente («Folkepension») für Dänen, die das 65. Lebensjahr vollendet hatten: Die Höhe der Beiträge bestimmte fortan der Staat. Aus allen Wahlen der dreißiger Jahre gingen die Sozialdemokraten als Sieger hervor. Eine Reform der Verfassung aber, durch die die erste Kammer, das Landsting, abgeschafft werden sollte, konnten Sozialdemokraten und Radikale Venstre nicht durchsetzen: Eine Volksabstimmung im Mai 1939 erbrachte nicht die erforderliche Zustimmung von 45 Prozent der stimmberechtigten Däninnen und Dänen.

Dänemark war das einzige nordische Land, das sein Territorium im Gefolge des Ersten Weltkrieges vergrößern konnte. Das Königreich erhielt durch eine vom Vertrag von Versailles angeordnete Volksabstimmung im Februar und März 1920 das ganz überwiegend dänischsprachige Nordschleswig zurück, das es 1864 nach dem deutsch-dänischen Krieg verloren hatte. Die Rückgewinnung von «Südjütland», so der dänische Name der Region, bildete psychologisch auch eine Art Ausgleich für den Verkauf der karibischen Jungferninseln (Virgin Islands) an die USA, eine durch Volksabstimmung bestätigte Entscheidung der linksliberalen Regierung des Ministerpräsidenten Carl Theodor Zahle, im Jahr 1917, und die Konstituierung Islands als selbständiger, aber mit Dänemark in Personalunion verbundener Staat am 1. Dezember 1918. Die Insel im Nordatlantik, die sich rühmen konnte, mit dem im Jahr 930 erstmals zusammengetretenen Althing das älteste Parlament der Welt zu besitzen, war 1541 von Dänemark unterworfen worden. 1904 hatte Island das Recht der Selbstverwaltung erhalten. Die neugewonnene Souveränität wurde durch eine Volksabstimmung bestätigt. Während des Zweiten Weltkrieges, im Juni 1944, wurde die Unabhängigkeit vervollständigt: Eine Volksabstimmung hob die Personalunion mit der dänischen Krone auf; Island verwandelte sich in eine Republik.

Strittig gestaltete sich die Grönlandfrage. Grönland war 1815 nach der Auflösung der dänisch-norwegischen Personalunion bei Dänemark verblieben. Die USA erkannten 1917 die größte Insel der Welt im Zusammenhang mit dem Kauf des dänischen Teils der Jungferninseln als rechtmäßige Kolonie Dänemarks an. Norwegen aber erhob Ansprüche auf die Ostküste Grönlands, wobei Walfanginteressen eine ausschlaggebende Rolle spielten. Ein 1924 abgeschlossener Vertrag zwischen Oslo und Kopenhagen, der den Forderungen norwegischer Walfänger entgegenkam, stellte diese nicht dauerhaft zufrieden. Als die Regierung in Oslo, die von der Bauernpartei geführt wurde, 1931 eine Besetzung der Mygg-Bucht durch eine Gruppe von Norwegern offiziell anerkannte, spitzte sich der Konflikt zu. Dänemark schaltete den Internationalen Gerichtshof in Den Haag ein, der die Besetzungen (1932 war eine zweite hinzugekommen) im April 1933 für rechtswidrig und ungültig erklärte. Die Mehrheit des norwegischen Storting stellte sich auf den Boden des Völkerrechts und damit gegen die eigene Regierung. Damit war dieser innerskandinavische Zwist ausgeräumt.

Zwölf Jahre zuvor bereits, im Juni 1921, war ein anderer Streitfall zwischen zwei nordischen Ländern ebenfalls auf höherer Ebene entschieden worden: Schweden akzeptierte den Beschluß des Völkerbunds, daß die von ethnischen Schweden bewohnten Ålandinseln bei Finnland verblieben. Die Genfer Entscheidung wurde im gleichen Jahr durch einen von zehn Staaten unterzeichneten Vertrag ergänzt, der die militärische Neutralisierung der Inseln festlegte. Unkontrovers war hingegen die Anerkennung des Status von Spitzbergen: Eine Reihe von Ländern, unter ihnen die Vereinigten Staaten, Großbritannien, Frankreich und Dänemark, sprachen Norwegen den Besitz der kohlereichen Inselgruppe in der Arktis zu. Die Sowjetunion stimmte vier Jahre später, nach ihrer Anerkennung durch Norwegen, dieser Regelung zu. 1925 nahm Norwegen Spitzbergen offiziell in Besitz.

Die Zusammenarbeit zwischen den nordischen Demokratien wurde im Verlauf der dreißiger Jahre immer intensiver. 1930 vereinbarten Norwegen, Schweden und Dänemark mit den Niederlanden, Belgien und Luxemburg eine zoll- und handelspolitische Zusammenarbeit, die sogenannte «Oslo-Konvention», der sich 1933 auch Finnland anschloß. Ein gemeinsames Verteidigungsbündnis der nordischen Staaten aber, auf das seit der «Machtergreifung» der Nationalsozialisten in Deutschland Dänemark drängte, kam, da Schweden auf strikter Neutralität beharrte, nicht zustande.

Was die skandinavischen Länder jenseits aller vertraglichen Vereinbarungen miteinander verband, war eine weithin gemeinsame politische Kultur. Zu ihren Grundlagen gehörten ein freies, selbstbewußtes Bauerntum, eine pragmatische, auf konkrete Verbesserungen drängende Arbeiterbewegung und, nicht zuletzt, eine vom Geist des Luthertums geprägte breite Volksbildung. Es war das Zusammenwirken dieser Faktoren, das Skandinavien nach 1918 zu einer sicheren Heimstatt der Demokratie machte, ja zur Evolution eines neuen, des nordischen Typs von moderner Demokratie führte: einer auf soziale Teilhaberechte und friedlichen Interessenausgleich gestützten Form von «representative gouvernment».[20]

Daß die Demokratie sich in Skandinavien während der Zwischenkriegszeit behaupten konnte, war, wenn man die Geschichte der Jahre vor 1918 in Rechnung stellt, keine Überraschung. Erstaunlich war hingegen, daß das parlamentarische System auch in einem Land bestehen blieb, das erst 1921 seine Unabhängigkeit erkämpft hatte und in den folgenden beiden Jahren von einem heftigen Bürgerkrieg erschüttert worden war: im Freistaat Irland. Die politische Stabilisierung des jungen Staates begann 1927, als sich die Partei der ehedem radikalen Republikaner, die Fianna Fáil unter Eamon de Valera, auf den Boden des britisch-irischen Vertrages von 1921 stellte und nach den beiden Wahlen vom Juni und September jenes Jahres, aus denen sie jeweils gestärkt hervorging, die Rolle der parlamentarischen Opposition gegen die Regierung von William T. Cosgrave übernahm.

Unter Cosgrave, dem Vorsitzenden der konservativen Regierungspartei Cumannnan Gaedheal, hatte Irland 1925 ein Abkommen mit Großbritannien abgeschlossen, das die bestehende Grenze zum britisch gebliebenen Ulster festschrieb. Einen Schwerpunkt der Dubliner Regierungsarbeit bildete in den folgenden Jahren die Pflege der irischen Sprache, die Pflichtfach an den Schulen wurde und von den angehenden Beamten beherrscht werden mußte, den Vorrang des Englischen in großen Teilen des Landes aber nicht überwinden konnte. Außenpolitisch wirkte Irland zusammen mit Kanada und Südafrika auf die Anerkennung der Unabhängigkeit der britischen Dominions durch das Mutterland hin – ein Ziel, das durch die Empirekonferenz von 1926 und das Westminster-Statut von 1931 schrittweise erreicht wurde. Wirtschaftspolitisch orientierte sich Cosgrave am Freihandel, was dem Absatz irischer Agrarprodukte in Großbritannien, nicht aber der ohnehin noch sehr schwachen Industrie des Landes zugute kam.

Im Zuge der Weltwirtschaftskrise wuchs die Kritik an der liberalen Handelspolitik der Regierung Cosgrave. Nutznießer des Stimmungsumschwungs war die offen protektionistische Fianna Fáil. Aus den Parlamentswahlen vom Januar 1932 ging sie als stärkste Partei hervor; zusammen mit der Labour Party bildete sie die neue Regierung unter Führung Eamon de Valeras, der bis 1948 immer wieder im Amt des Ministerpräsidenten bestätigt wurde.

Das Verhältnis zu Großbritannien verschlechterte sich nach dem Wahlsieg der Republikaner dramatisch. Zu den ersten Maßnahmen der Regierung de Valera gehörte die Abschaffung des Treueids auf die britische Krone, den die irischen Abgeordneten bis dahin hatten leisten müssen. Eine andere, sehr viel folgenschwerere Entscheidung war die Einstellung der jährlichen Zahlungen an das Vereinigte Königreich, mit denen die britische Regierung ihre Zahlungen an Großgrundbesitzer bestritt, die im Zuge der Agrarreformen des späten 19. Jahrhunderts ihre Ländereien in Irland hatten aufgeben müssen. London antwortete mit hohen Einfuhrzöllen für irische Agrarerzeugnisse, woraufhin de Valera im Gegenzug den Import britischer Industrieprodukte durch hohe Zölle erschwerte – was ganz auf der Linie des industriellen Protektionismus lag, auf die Fianna Fáil sich festgelegt hatte.

Der Handelskrieg schadete dem Agrarland Irland weit mehr als der Industriemacht Großbritannien. Zwischen 1931 und 1938 ging das irische Bruttosozialprodukt um 3 Prozent zurück, während das des Vereinigten Königreiches um 27 Prozent wuchs. Im Februar sah sich Dublin zu einem Handelsvertrag mit Großbritannien genötigt, der die beiderseitigen Kampfmaßnahmen teilweise zurücknahm. Die endgültige Beilegung des Handelskrieges kam erst im April 1938, als sich die Regierung de Valera zu einer letzten Einmalzahlung zur Landablösung bereit erklärte, wofür London britische Marinestützpunkte auf irischem Boden an Irland zurückgab. Ein neuer Handelsvertrag öffnete der irischen Landwirtschaft nicht nur den britischen Markt, sondern auch den der von Großbritannien abhängigen Staaten des Commonwealth. Die Schließung der verbliebenen militärischen Einrichtungen erleichterte es Irland, im Zweiten Weltkrieg als einziges Land des Commonwealth neutral zu bleiben.

Von einer politischen Radikalisierung in der Zeit der Weltwirtschaftskrise blieb auch Irland nicht verschont. Im Februar 1933 gründete Eoin O’Duffy, der von der Regierung de Valera entlassene Chef der irischen Polizei, die Army Comrades Association (ACA). Die ACA war ein paramilitärischer Verband, der, wie die spanischen Falangisten, blaue Hemden trug, zunächst vor allem aus Veteranen bestand und sich der Partei Cosgraves, der Cumann na nGaedheal, als Saalschutz zur Verfügung stellte. Ihren Hauptfeind sah die ACA in der Irish Republic Army (IRA), die zunehmend in Konflikt mit der Regierung de Valera geraten war und während des Wahlkampfes vom Winter 1932/33 eine Reihe von Gewalttaten verübt hatte.

Im September 1933 schlossen sich die ACA, die sich inzwischen National Guard nannte, und die Cumann na nGaedheal mit anderen, kleineren Gruppen zu einer neuen Partei, der Fine Gael, zusammen. An ihre Spitze trat zunächst O’Duffy, aber von einer «Faschisierung» der irischen Rechten kann man trotz mancher äußeren Anlehnung an kontinentale Vorbilder nicht sprechen. Fine Gael blieb eine konservative Partei, die sich vorwiegend parlamentarisch betätigte – erst recht, seit 1935 der frühere Premierminister Cosgrave die Parteiführung übernahm. Die äußerste Linke bildete, in Ermangelung einer marxistischen oder gar kommunistischen Bewegung, die IRA. Sie wurde 1936 nach einer neuen Welle politischer Morde von der Regierung de Valera verboten, arbeitete im Untergrund aber diesseits und jenseits der Grenze zu Ulster weiter.

Am 1. Juli 1937 erhielt Irland eine neue Verfassung. Der Staatsname lautete fortan auf irisch Eire, auf englisch Ireland. Die Verfassung sollte für ganz Irland, also auch für Ulster, gelten. Eine Bezugnahme auf die britische Krone fehlte. An die Spitze des Staates trat ein auf sieben Jahre gewählter Präsident (Uachtarán na hÉireann), an die der Regierung der Premierminister (Taoiseach). Irisch war die erste, englisch die zweite Amtssprache. Das Parlament bestand aus zwei Kammern, dem Repräsentantenhaus und dem Senat. Für die Wahlen zum Repräsentantenhaus stand, wie schon nach der Verfassung von 1922, allen Männern und Frauen, die das 21. Lebensjahr vollendet hatten, das aktive und passive Wahlrecht zu. Die Verfassung bezeichnete Irland als souveränen, unabhängigen, demokratischen Staat. Die Präambel berief sich auf die Allerheiligste Dreifaltigkeit als Quelle aller Autorität. Der katholischen Kirche wurde, ungeachtet des Bekenntnisses zur Religionsfreiheit, eine besondere Stellung zuerkannt. Eine finanzielle Unterstützung des Staates erhielt sie aber ebensowenig wie die anderen anerkannten Religionen. Entsprechend der katholischen Lehre galt die Familie als natürliche und ursprüngliche Grundeinheit der Gesellschaft und die Ehe als unauflöslich. Ehescheidungen waren infolgedessen ausgeschlossen.

Keine andere europäische Verfassung des 20. Jahrhunderts gab sich derart «klerikal» wie die irische. Die katholische Kirche war aus Sicht der politischen Klasse Irlands ein unabdingbarer Bestandteil der nationalen Identität, ja deren wichtigste spirituelle Stütze. Aus diesem Geist erklärt sich, um den Historiker Michael Maurer zu zitieren, «eine Besonderheit Irlands im 20. Jahrhundert …, durch die es sich weitgehend von der europäisch-amerikanischen Moderne isolierte: restriktive Zensurpraxis und Pressepolitik. Die Liste der in Irland verbotenen Schriften ergibt einen Katalog der Moderne; Sexualität und Geburtenkontrolle waren verpönte Themen, aber auch politisch und wissenschaftlich Anstößiges wurde der irischen Bevölkerung über Jahrzehnte hinweg vorenthalten.» Es war kein Zufall, daß einer der größten irischen Schriftsteller des 20. Jahrhunderts, Samuel Beckett, den älteren Beispielen von George Bernard Shaw und James Joyce folgend, seine Heimat 1937, dem Jahr der neuen Verfassung, verließ und seine Werke fortan im Ausland, meist in Paris, verfaßte.

Das Gegenstück zur katholischen Variante einer rückwärts gewandten Geisteshaltung im Süden Irlands war der protestantische Fanatismus der Unionisten und ihres paramilitärischen Arms, des Oranierordens, im Norden der Insel. Obwohl mehr als ein Drittel der Bevölkerung Ulsters katholisch war, konnte von einer Gleichberechtigung der Konfessionen keine Rede sein. Das Parlament in Belfast wurde (entgegen dem Willen Londons und den Bestimmungen des britisch-irischen Vertrages von 1921) nicht nach dem Verhältniswahlrecht, sondern nach einem Mehrheitswahlrecht gewählt, das einseitig die Protestanten begünstigte. Denselben Effekt hatte die manipulierte Zuschneidung der Wahlkreise, das berüchtigte «gerrymandering». Im öffentlichen Dienst hatten Katholiken ungleich schlechtere Chancen als Protestanten. In den Jahren vor 1925 tat ein Wahlboykott der Katholiken ein übriges, um das Übergewicht der protestantischen Mehrheit zu verstärken.

Die Regierungsübernahme durch die Fianna Fáil im Süden bewirkte eine weitere Zuspitzung des konfessionellen Gegensatzes im Norden. Ein Ausnahmegesetz, das der Polizei nach der Teilung Irlands weitreichende, aber zeitlich befristete Sondervollmachten gewährt hatte, wurde 1933 auf unbestimmte Zeit verlängert. Die Wirtschaft Ulsters, eines frühzeitig industrialisierten Gebietes, befand sich seit langem im Niedergang; die Slums von Belfast suchten in Europa ihresgleichen; ohne die Zuschüsse aus London hätte die teilautonome Provinz nicht überleben können. Erst die Rüstung im Zeichen des Zweiten Weltkrieges verhalf dem Norden Irlands zu einer gewissen wirtschaftlichen Erholung, so daß sein Lebensstandard 1950 schließlich um 75 Prozent über dem des Südens lag.

Gegenüber dem übrigen Nordwesteuropa wirkten beide Teile Irlands in der Zwischenkriegszeit wirtschaftlich, sozial und mental zurückgeblieben. Im konfessionell gespaltenen Ulster überlagerte der Gegensatz zwischen Protestanten und Katholiken alle anderen Gegensätze, auch den zwischen Kapital und Arbeit. In dem zu über neun Zehntel katholischen Süden wurde hingegen 1937 demonstrativ ein Protestant, der Gründer der Gaelic League, Douglas Hyde, gewissermaßen als Gegengewicht zu den «ultramontanen» Elementen der neuen Verfassung, zum ersten Präsidenten gewählt.

Nicht der Gegensatz zwischen den Konfessionen, sondern der Streit um die richtige Art der nationalen Selbstbehauptung drängte im unabhängig gewordenen Irland den modernen Klassenkonflikt in den Hintergrund. Vermutlich hätte eine radikale klassenkämpferische Linke auch in Irland einer faschistischen Rechten einen Zulauf verängstigter Wähler aus den Mittelschichten gebracht. Es gab jedoch noch einen anderen Grund, weshalb der irische Freistaat am parlamentarischen System festhielt: die Prägung durch die politische Kultur Großbritanniens. Dieser Einfluß war so stark, daß er den langen und schließlich erfolgreichen Kampf um die Unabhängigkeit und die Teilung der Insel in einen überwiegend katholischen Süden und einen überwiegend protestantischen Norden überdauerte.

Anders als Irland gehörte das Königreich der Niederlande zu den wenigen Ländern Europas, deren Entwicklung von ungebrochener Kontinuität zwischen Vor- und Nachkriegszeit geprägt war. Im Ersten Weltkrieg hatten die Niederlande, im Unterschied zum südlichen Nachbarland Belgien, ihre Neutralität bewahren können. Das innenpolitisch wichtigste Kriegsjahr war 1917: Damals wurde das allgemeine gleiche Wahlrecht für Männer eingeführt. 1922, fünf Jahre später, kamen auch Frauen in den Genuß dieses Rechts. Gleichzeitig wurde das Mehrheitswahlrecht durch das Verhältniswahlrecht ersetzt.

Die Regierungen der Zwischenkriegszeit waren durchweg «bürgerlich». Das lag vor allem daran, daß die Sozialdemokratische Arbeiterpartei, die nach der Wahlrechtsreform von 1922 zur zweitstärksten Partei aufstieg, bis zum August 1939 eine Teilnahme an Koalitionskabinetten strikt ablehnte. Die Kommunistische Partei kam über den Status einer Splitterpartei nicht hinaus: Bei den Parlamentswahlen vor 1925 entfielen auf sie 36.000, auf die Sozialdemokraten 706.000 Stimmen. Die bürgerlichen Parteien hatten meist konfessionellen Charakter: auf protestantischer Seite die Christlich-Historische Union und die Antirevolutionäre Partei, auf katholischer Seite seit 1926 die Römisch-Katholische Staatspartei.

Zu Beginn der dreißiger Jahre bekamen auch die Niederlande die Weltwirtschaftskrise voll zu spüren. Angesichts eines drastischen Rückgangs der Börsenkurse und der Großhandelspreise sowie steigender Arbeitslosenzahlen bildete der Vorsitzende der Antirevolutionären Partei, Hendrikus Colijn, im Mai 1933 ein Krisenkabinett, das sich rasch auf ein Bündel von Maßnahmen zur Überwindung der Finanzkrise verständigte. Dazu gehörten Produktions- und Absatzregelungen sowie Schutzzölle für die Landwirtschaft, aber keine staatlichen Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Eine Abwertung des Guldens lehnte die Regierung ab; im September 1936 sah sich das dritte Kabinett Colijn dann aber doch genötigt, die Bindung des Guldens an den Goldpreis aufzugeben. Die Folge war eine Abwertung der niederländischen Währung um 20 Prozent – eine Korrektur, die die niederländische Wirtschaft binnen kurzem wieder international konkurrenzfähig machte. Die Arbeitslosigkeit aber sank nur langsam: Sie lag im Durchschnitt der Jahre 1935 bis 1939 höher als in irgendeinem anderen statistisch erfaßten Land Europas.

Colijn blieb bis zum Juli 1939 im Amt des Ministerpräsidenten. Von Anfang an sah er es als zentrale Aufgabe seines Kabinetts an, dem Radikalismus von rechts energisch entgegenzutreten. Als dessen Speerspitze präsentierte sich die Ende 1931 von dem Ingenieur Anton Adriaan Mussert in Utrecht gegründete Nationaal-Socialistische Beweging (NSB), die die deutschen Nationalsozialisten als Vorbild betrachtete und sie in vielem, bis hin zur Uniformierung, nachahmte. Im Herbst 1933 zählte sie etwa 20.000 Mitglieder; bei den Wahlen zur ersten Kammer des Landtags errang sie 1935 8 Prozent, bei den Wahlen zur zweiten Kammer 1937 noch 4,2 Prozent. Ein von der Regierung erlassenes, gegen die Mussert-Bewegung gerichtetes Uniformverbot wurde flankiert vom Verbot der Mitgliedschaft in der NSB für Beamte. Die katholischen Bischöfe der Niederlande warnten in mehreren Hirtenbriefen vor den einheimischen Nationalsozialisten. Einen breiten Massenrückhalt erlangte die Mussert-Bewegung nicht – ein Erfolg vor allem des geschlossenen Auftretens der größeren bürgerlichen Parteien und der Sozialdemokraten wie der ihnen nahestehenden Zeitungen.

Furcht vor der äußersten Linken spielte auch in den Niederlanden eine wichtige Rolle bei der Mobilisierung von Anhängern der radikalen Rechten. Ein von der NSB weidlich ausgeschlachtetes Ereignis, das zeitweilig große Beunruhigung hervorrief, war Anfang 1933 eine Meuterei auf dem Kriegsschiff «Zeven Provincien». Nicht nur Mussert und seine Mitstreiter, sondern auch große Teile der Bevölkerung sahen in dem Vorfall einen Anschlag der Dritten Internationale auf die Flotte und damit zugleich auf das niederländische Kolonialreich.

Tatsächlich waren kommunistische Aufstände in Java und Sumatra, zwei der größten Inseln von Niederländisch-Indien, dem heutigen Indonesien, 1926/27 nur nach schweren Kämpfen niedergeschlagen worden. In den Jahren danach ging die Führung der Unabhängigkeitsbewegung in Niederländisch-Indien mehr und mehr in die Hände radikaler Nationalisten um Achmed Sukarno über. In den dreißiger Jahren trat zu dieser Bedrohung eine weitere hinzu: die durch das immer aggressiver auftretende Japan. Von Einsicht in die Unhaltbarkeit der Kolonialherrschaft und die Legitimität des antikolonialen Befreiungskampfes waren die Niederlande zu jener Zeit aber noch weit entfernt. Der im frühen 17. Jahrhundert erworbene Kolonialbesitz in Südostasien galt als ein Unterpfand nationaler Größe. Die Angst, dieses Besitztum zu verlieren, war in den dreißiger Jahren nicht minder groß als die berechtigte Furcht, das Mutterland könne, wenn man der Mussert-Bewegung nicht entschieden entgegentrete, leicht zu einer Beute des Expansionsdrangs des nationalsozialistischen Deutschland werden.

Während die Niederlande ihren Kolonialbesitz zu bewahren strebten, konnte Belgien den seinen im Gefolge des Ersten Weltkrieges noch erweitern. 1916 besetzte die von weißen Offizieren geführte Söldnertruppe der Force Publique von Belgisch-Kongo im Zusammenhang mit einer britischen Offensive gegen Deutsch-Ostafrika einen Teil dieser Kolonie, nämlich Ruanda-Urundi, die heutigen Staaten Ruanda und Burundi. Auf Grund einer Absprache mit Großbritannien vom Mai 1919 erhielt Belgien das Völkerbundsmandat für die Verwaltung dieses Gebiets. 1925 wurde Ruanda-Urundi Belgisch-Kongo administrativ angegliedert.

Im Kongo-Staat König Leopolds II. war die einheimische Bevölkerung auf derart barbarische Weise ausgebeutet und drangsaliert worden, daß es darüber zu scharfen internationalen Protesten kam. Die Abtretung des privaten «Freistaates» an den belgischen Staat, zu der sich Leopold II. schließlich 1908 genötigt sah, änderte nicht viel am System der kolonialen Ausbeutung dieses riesigen, rohstoffreichen Gebietes. Die beherrschende Stellung innerhalb dieses Systems fiel der Union Minière du Haut Katanga zu, die 1906 mit dem Abbau der großen Kupfererzvorkommen von Katanga begonnen hatte. Die Union Minière wurde ihrerseits von der belgischen Société Générale kontrolliert, deren Aktien zur Hälfte in der Hand des Staates waren. Nach der Verschmelzung mit der Banque d’Outre-Mer im Jahre 1928 besaß die Société Générale 70 Prozent des gesamten in Belgisch-Kongo investierten Kapitals. Die Folge des Zusammenwirkens von Staat und Privatwirtschaft war die Entstehung des größten afrikanischen Industriegebietes, in dem schwarze Arbeiter zu Hungerlöhnen die Profite der weißen Eigentümer erwirtschafteten.

Mitte der zwanziger Jahre begann die Union Minière mit ihrer sogenannten «stabilisierten Arbeitskräftepolitik»: Die schwarzen Arbeiter und ihre Familien wurden unter primitivsten Bedingungen in der Nähe der Bergwerke angesiedelt, wodurch sie einer sehr viel intensiveren Kontrolle unterworfen waren als in der Zeit, in der sie noch Wanderarbeiter gewesen waren. Gegenwehr blieb nicht aus: Prophetische Bewegungen wie der «Kimbanguismus» und der «Kitwala-Kult» beriefen sich auf die Bibel, um damit ein Widerstandsrecht der unterdrückten Bevölkerung zu begründen. Die katholische Kirche Belgiens, die auf Grund des Konkordats von 1906 bei der Missionsarbeit in Belgisch-Kongo eine privilegierte Stellung genoß, war kein Verbündeter, sondern ein entschiedener Gegner solcher Art von Bibeldeutung. Was sie in den Missionsstationen für das Erziehungswesen tat, beschränkte sich auf die Ausbildung von Hilfskräften für einfachste Aufgaben in Produktion und Dienstleistungen aller Art. Belgisch-Kongo blieb auch nach dem Ersten Weltkrieg ein Paradebeispiel für die imperialistische Ausbeutung eines Kolonialgebietes, in dem die Interessen der Kapitalisten alles, die der schwarzen Arbeiter nichts bedeuteten.

Das Mutterland, das Königreich Belgien, erlebte nach dem Ersten Weltkrieg einen Demokratisierungsschub in Gestalt des allgemeinen gleichen Wahlrechts, das 1919 eingeführt wurde. (Die Frauen erhielten allerdings nur das aktive Wahlrecht, das passive erst 1949.) Die meist kurzlebigen Regierungen der Zwischenkriegszeit waren in der Regel entweder Kabinette der drei staatstragenden Parteien, der Katholiken, Sozialisten und Liberalen (so von 1918 bis 1921, 1926/27 und von 1936 bis 1939), oder katholisch-liberale Koalitionsregierungen (von 1921 bis 1925, von 1927 bis 1935 und erneut von April bis September 1939). 1925/26 und im Februar 1939 kam es zu Kabinetten von Katholiken und Sozialisten. Die Kommunisten zogen erstmals 1925 ins Parlament ein, spielten dort aber nur eine Randrolle.

Das beherrschende Thema der belgischen Innenpolitik war der Zusammenhalt des (wenn man von der kleinen deutschen Minderheit in Eupen-Malmedy absieht) binationalen Staates. Während des Ersten Weltkrieges hatte die deutsche Besatzungsmacht separatistische Bestrebungen in Flandern gefördert und bei einer Minderheit der flämischen «Aktivisten» kollaborationsbereite Partner gefunden. Nach 1918 gewann die gemäßigte Richtung der flämischen Autonomiebewegung, die eine föderalistische Umgestaltung Belgiens, vor allem aber eine Aufwertung der niederländischen Sprache auf Kosten der französischen, forderte, wieder die Oberhand. Sie tat es mit einigem Erfolg: 1930 wurde die Universität Gent in eine rein flämische Hochschule verwandelt. (Eine entsprechende Anordnung hatte die deutsche Besatzungsmacht bereits im März 1916 erlassen.) Zwischen 1932 und 1938 ergingen Gesetze über den öffentlichen Sprachgebrauch in Flandern, Wallonien und Brüssel, die den Wünschen der moderaten «Aktivisten» entgegenkamen.

Dem radikalen Flügel der flämischen Bewegung um den Vlaamsch Nationaal Verbond, der bei den Wahlen von 1935 die Zahl seiner Mandate von 8 auf 16 steigern konnte, war das nicht genug: Er machte sich für die weitgehende Autonomie Flanderns stark. Eine andere, sehr viel extremere Linie verfocht der 1931 von Joris Van Severen, einem früheren Abgeordneten der flämischen Frontistenpartei, gegründete Verbond van Dietsche Nationaalsolidaristen. Er propagierte einen großniederländischen Nationalstaat, der auch Französisch-Flandern einschließen und mit allen niederländischen und belgischen Kolonien ein Reich von mehr als 50 Millionen Einwohnern bilden sollte. (Später kamen auch, unter dem Banner der «großburgundischen» Idee, Wallonien und Luxemburg hinzu.) Der rechtsradikale Verband unterhielt eine Miliz, die Dinaso (ein Kürzel für «Dietsche Nationaalsolidaristen»). Ihre Mitglieder trugen dunkelgrüne Uniformen und grüßten mit dem erhobenen rechten Arm und dem Ruf «Heil t’Dinaso». Über einige tausend Mitglieder in Westflandern kam diese Spielart des belgischen Faschismus aber nicht hinaus.

Gefährlicher wurde dem belgischen Staat die aus der Katholischen Aktion hervorgegangene Bewegung der Rexisten, benannt nach dem rechtskatholischen Verlagshaus Rex in Löwen. Der rhetorisch hochbegabte Führer der Rexisten, Léon Dégrelle, ein Anhänger von Charles Maurras und seiner «Action française», griff seit 1935 die Politiker aller Parteien und das angeblich korrupte System mit bislang beispielloser Schärfe an und stellte die eigene Bewegung als die einzig wirkungsvolle Alternative zu Marxismus und Bolschewismus dar. («Rex ou Moscou!» lautete eine der groß plakatierten Parolen.) Dem aggressiven Wahlkampf von 1935 folgte ein triumphales Wahlergebnis: Die Rexisten stellten im neuen Parlament 21 von insgesamt 200 Abgeordneten.

Als Dégrelle zwei Jahre später, im April 1937, bei einer Ersatzwahl in Brüssel als Kandidat der Rexisten antrat, wendete sich das Blatt. Ministerpräsident Paul Van Zeeland vom Katholischen Block, der selbst bisher kein Mandat innegehabt hatte, ließ sich als Kandidat aller staatstragenden Parteien aufstellen. Auf den Ministerpräsidenten entfielen bei der Wahl 275.000, auf Dégrelle etwa 70.000 Stimmen. Zum Sieg Van Zeelands über Dégrelle trug wesentlich bei, daß sich Kardinal Josef Ernst Van Roy, vom Herausforderer um ein öffentliches Votum gebeten, gegen Dégrelle aussprach. Danach zerfiel die rexistische Bewegung rasch. Die mittelständischen und bäuerlichen Wähler, die sich ihr angeschlossen hatten, kehrten zu den bürgerlichen Parteien zurück. Ob man den Rexismus der Jahre 1935 bis 1937 als «faschistisch» bezeichnen kann, ist fraglich. So militant und demagogisch Dégrelle auftrat, so fehlten seiner Bewegung doch andere Merkmale faschistischer Parteien, obenan der Aufbau einer paramilitärischen, uniformierten Garde und die Anwendung von Gewalt gegenüber dem politischen Gegner.

In den zeitweiligen Erfolgen rechtsradikaler Organisationen spiegelten sich die schwere Wirtschaftskrise und ihre Folgen: hohe Arbeitslosigkeit, Lohnsenkungen bei den Bergarbeitern, große Streiks, mehrfache Abwertungen des belgischen Franc. Unter Paul Van Zeeland, der von März 1935 bis Oktober 1937 an der Spitze von katholisch-liberalsozialistischen Koalitionskabinetten stand, begann eine allmähliche wirtschaftliche Erholung. Sie trug mit dazu bei, daß Van Zeeland bei der Brüsseler Nachwahl vom April 1937 Dégrelle auf den zweiten Platz verweisen konnte. Noch wichtiger war das Zusammenstehen der drei Regierungsparteien. Es zeigte, daß die meisten Flamen und Wallonen etwas kannten, was ihnen wichtiger war als die Pflege ihrer sprachlichen und kulturellen Identität: das gemeinsame Interesse an der Bewahrung von Freiheit und Demokratie – und damit auch der Verfassung des belgischen Staates, die beides verbürgte.

Wie Belgien hatte auch Luxemburg im August 1914 erfahren müssen, daß seine völkerrechtlich verbürgte Neutralität keinen Schutz vor einem deutschen Einmarsch gewährte. In Belgien waren König Albert I. und die Regierung in den kleinen Teil von Westflandern ausgewichen, der nicht in deutsche Hände fiel. In Luxemburg setzten Großherzogin Marie Adelheid und die Regierung ihre Arbeit fort, soweit das unter den Bedingungen der Besetzung möglich war. (Anders als Belgien hatte Luxemburg dem Deutschen Reich nicht den Krieg erklärt, aber auf der Fortdauer seiner Neutralität bestanden.) Nach dem Einmarsch der Alliierten im November 1918 geriet das Land in eine schwere Krise: Die Sozialisten bildeten am 10. November einen Arbeiter- und Bauernrat nach russischem und deutschem Vorbild und verlangten den Rücktritt der Großherzogin und der Dynastie sowie die Sozialisierung der Schwerindustrie und die Einführung des Achtstundentags. Gleichzeitig agitierte eine profranzösische Bewegung für den Anschluß an Frankreich. Die Mehrheit der Abgeordnetenkammer beschloß am 13. November einen Volksentscheid über die künftige Staatsform und die Einsetzung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der die Praktizierung der Neutralität durch Krone und Regierung seit 1914 prüfen sollte.

Im Januar 1919 scheiterte ein Versuch der radikalen Linken, eine provisorische republikanische Regierung einzusetzen. Großherzogin Marie Adelheid verzichtete am 14. Januar zugunsten ihrer Schwester Charlotte auf den Thron und begab sich in ein Kloster. Im September 1919 konnte schließlich mit Zustimmung der Alliierten die Volksabstimmung über die künftige Staatsform stattfinden. Sie erbrachte eine knappe Vierfünftelmehrheit für die staatliche Selbständigkeit und die Beibehaltung der Dynastie.

Der von Luxemburg gewünschte Zollanschluß an Frankreich kam nicht zustande. Belgien strebte seinerseits eine Zollunion mit Luxemburg an, für die es einen hohen Preis zu zahlen bereit war: die geheime Militärallianz mit Frankreich vom 7. September 1920 für den Fall eines nichtprovozierten Angriffs Deutschlands, was die Preisgabe der belgischen Neutralität, einer Bedingung der Staatsgründung von 1831, bedeutete. Im Juli 1921 wurde der Vertrag über eine Zollunion zwischen Belgien und Luxemburg abgeschlossen – eine Vorstufe jener größeren, «Benelux» genannten Zollunion zwischen Belgien, den Niederlanden und Luxemburg, die am 1. Januar 1948 in Kraft trat. Die innenpolitische Beruhigung, die mit dem Volksentscheid vom September 1919 begonnen hatte, wurde gefördert durch die Einführung des allgemeinen gleichen Wahlrechts für Männer und Frauen Ende 1919. Bei den anschließenden Wahlen gewann die katholische Partei die absolute Mehrheit. Seit 1925 wurde das Großherzogtum von einer Koalition aus Katholiken, Liberalen und Konservativen regiert. Bis zur abermaligen Besetzung durch deutsche Truppen im Mai 1940 blieben der luxemburgischen Demokratie ernsthafte Erschütterungen erspart.

Im Gegensatz zu Belgien und Luxemburg hatte die Schweiz ihre Neutralität während des Ersten Weltkrieges unangefochten behaupten können. Im Herbst 1918 aber geriet die Eidgenossenschaft in eine schwere innenpolitische Krise. Pläne des Bundesrats, einen obligatorischen Zivildienst einzuführen, lösten in der Arbeiterschaft heftige Proteste aus. Als Anfang November in Zürich Truppen mobilisiert wurden, die eine geplante Kundgebung aus Anlaß des ersten Jahrestages der russischen Oktoberrevolution verhindern sollten, rief das kurz zuvor gegründete Oltener Aktionskomitee unter Vorsitz des linken Nationalrates Robert Grimm, ein faktisch in Konkurrenz zum sozialdemokratischen Parteivorstand eingesetztes Gremium, die Arbeiter zunächst zum örtlichen, dann zum landesweiten Generalstreik auf.

Der Ausstand begann am 12. November und veranlaßte Bundesrat und Bundesversammlung, das heißt Nationalrat und Ständerat, zum Einsatz von Armeeeinheiten unter dem Befehl von Oberstdivisionär Emil Sonderegger sowie zu einem bis zum 14. November befristeten Ultimatum an das Oltener Aktivistenkomitee. Da sich nur Teile der Arbeiterschaft am Streik beteiligt hatten, beugte sich das Komitee dem staatlichen Druck: Am 15. November wurde überall in der Schweiz die Arbeit wieder aufgenommen.

Eine Forderung der Streikenden, die Einführung der 48-Stunden-Woche, wurde 1919 erfüllt. Ohne positives Echo blieb hingegen der Ruf der Streikleitung nach sofortigen Neuwahlen und dem aktiven und passiven Wahlrecht für Frauen. Am 10. April 1919 wurden drei Organisatoren des Landesstreiks, darunter die Nationalräte Robert Grimm und Fritz Platten, wegen Meuterei zu sechs Monaten Gefängnis verurteilt. Eine weitere Folge des Landesstreiks war der Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Sowjetrußland, dem die Regierung in Bern eine aktive Mitwirkung an den Novemberereignissen unterstellte.

Bei den Wahlen zum Nationalrat wurde im Oktober 1919 erstmals nach dem (durch eine Volksabstimmung vom Oktober 1918 eingeführten) Verhältniswahlrecht gewählt. Die Verlierer waren die bislang dominierenden liberalen Freisinnigen, die bei den vorangegangenen Wahlen von 1916.105 Sitze errungen hatten und jetzt nur noch auf 60 Mandate kamen, sowie, in geringerem Umfang, die Katholisch-Konservativen, die Gewinner die neue Bauernpartei und die Sozialdemokratie. Die erstere erhielt auf Anhieb 29 Mandate, die letztere konnte die Zahl ihrer Abgeordneten von 22 auf 41 steigern. Eine Vertretung im Bundesrat wurde den Siegern aber vorläufig verwehrt: den Bauern bis 1929, den Sozialdemokraten, nicht zuletzt wegen ihrer Rolle beim Landesstreik, noch sehr viel länger, bis 1943. Im März 1921 wurde, nachdem die Sozialdemokratische Partei im Jahr zuvor einen Beitritt zur Dritten Internationale abgelehnt hatte, auch in der Schweiz eine Kommunistische Partei gegründet, die jedoch keine große politische Bedeutung erlangte. Im gleichen Jahr endete das 1914 eingeführte Regime der Vollmachten, das die Befugnisse des Bundesrates auf Kosten von Nationalrat und Ständerat beträchtlich erweitert hatte.

Die wichtigste außenpolitische Streitfrage der Nachkriegszeit war das Verhältnis der Schweiz zum Völkerbund. Angesichts der «ewigen Neutralität», der sich die Eidgenossenschaft seit dem frühen 16. Jahrhundert verschrieben hatte, verstand sich eine Mitgliedschaft im Völkerbund keineswegs von selbst – auch nicht, als feststand, daß dieser Genf zum Sitz seiner wichtigsten Organe machen würde. Der neugewählte Nationalrat befürwortete im November 1919 unter dem Vorbehalt der Neutralität einen Beitritt, band ihn aber an die Billigung in einer Volksabstimmung. Die Londoner Deklaration des Völkerbundsrates vom 13. Februar 1920, die die eventuellen Sanktionspflichten der Schweiz in Anbetracht ihrer Neutralität auf den nichtmilitärischen Bereich beschränkte, erleichterte eine positive Entscheidung.

Dennoch blieb die Beitrittsfrage weiter umstritten. Die Führungen der bürgerlichen Parteien bezogen eine positive Haltung, sprachen damit aber nur für einen Teil der Mitgliedschaft; in der Sozialdemokratie war der linke Flügel entschieden gegen eine Mitgliedschaft im Völkerbund. Die Volksabstimmung vom 16. Mai 1920 erbrachte eine klare Mehrheit von 415.000 zu 323.000 Stimmen für den Beitritt. Der Sieg des Ja war vor allem dem positiven Votum der frankophonen Kantone der Westschweiz zu verdanken; in der deutschsprachigen Schweiz waren dagegen die Nein-Sager in der Überhand. Entsprechend knapp fiel die Ja-Mehrheit im Ständerat aus.

Die offizielle Interpretation der Neutralität der Schweiz wandelte sich infolge des Eintritts in den Völkerbund: An die Stelle der «integralen» trat eine «differentielle», durch die Verpflichtung von wirtschaftlichen Sanktionen zum Schutz des Völkerfriedens eingeschränkte Neutralität. Gewissermaßen als Ausgleich der Abschwächung des Neutralitätsprinzips legte die Schweizer Außenpolitik, die von 1920 bis 1940 von dem Tessiner Bundesrat Giuseppe Motta geleitet wurde, Wert auf gute Beziehungen auch zu jenen Nachbarstaaten, von denen am ehesten Völkerrechtsbrüche zu erwarten waren: dem faschistischen Italien und, nach 1933, dem nationalsozialistischen Deutschland.

Im Zeichen der Weltwirtschaftskrise, die das exportorientierte und vom Fremdenverkehr abhängige Land schwer traf, formierte sich auch in der Schweiz eine militante Opposition gegen das parlamentarische System und alles, was links und liberal war. In der Frontenbewegung der frühen dreißiger Jahre gab, ungeachtet eines erheblichen Anteils von Arbeitern an der Mitgliedschaft, der gewerbliche Mittelstand den Ton an. «Mittelstand, erwache!» und «Die Schweiz den Schweizern!» lauteten zwei Parolen der Nationalen Front, der größten der rechtsradikalen Organisationen, die sich, was Führerkult, Uniformierung, Grußformen und Symbole betraf, an deutschen und italienischen Vorbildern ausrichtete. Der Landesführer der Nationalen Front, Rolf Henne, agitierte gegen den «jüdischen Kulturbolschewismus» und für die Einführung eines Numerus clausus zwecks Beschränkung der Zahl jüdischer Studenten. Als die Nationale Front ihren Antisemitismus aus taktischen Gründen milderte und sich auch sonst zu mäßigen begann, gründete Emil Sonderegger, der «Held» der Niederschlagung des Landesstreiks vom November 1918, 1933 den Volksbund, der seine Judenfeindschaft und seinen Antiparlamentarismus sehr viel offener äußerte. 1934, nach Sondereggers Tod, ging der Volksbund in der Eidgenössischen Front auf. Noch radikaler gaben sich die Nationalsozialistischen Eidgenossen, die einen Anschluß an das Deutsche Reich propagierten, und der Schweizer Faschismus, der einen ausgeprägten Kult um Mussolini betrieb und zu den Veranstaltern eines internationalen faschistischen Kongresses im Dezember 1934 in Montreux gehörte.

Nur eine der rechtsradikalen Organisationen, die Nationale Front, konnte 1933 bei einigen örtlichen Wahlen (unter anderem in Schaffhausen, wo sie auf mehr als 26 Prozent kam) größere Erfolge verbuchen. Drei Jahre später existierten nur noch wenige der insgesamt zwölf Fronten. Ihre größte Niederlage war das Scheitern des Versuchs einer Totalrevision der Bundesverfassung in autoritärer und ständestaatlicher Richtung in einer Volksabstimmung vom September 1935: 194.000 Ja-Stimmen standen 510.000 Nein-Stimmen gegenüber.

Bei den Nationalratswahlen von 1935 stiegen die Sozialdemokraten zur stärksten Partei auf. Da sie sich wieder, wie zuletzt 1914, uneingeschränkt zur Landesverteidigung bekannten, entspannte sich allmählich ihr Verhältnis zu den bürgerlichen Parteien. Zwei Jahre später begannen die Gewerkschaften, beginnend mit der der Metall- und Uhrenarbeiter, Friedensabkommen mit den Organisationen der Arbeitgeber zu schließen. Die wirtschaftliche Erholung tat das ihre, um die politische Lage zu beruhigen. In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre war von der Gefahr von rechts innerhalb der Schweiz nicht mehr viel zu spüren. Die gemäßigten Parteien, zu denen nun auch die Sozialdemokraten zählten, hatten sich behauptet; der 1936 gegründete Landesring der Unabhängigen um den Großkaufmann Gottlieb Duttweiler war mit seinem Eintreten für unbedingte Wirtschaftsfreiheit politisch sehr viel erfolgreicher als zuvor die Fronten. Die schweizerische Demokratie ging gefestigt aus den Krisenjahren hervor und konnte auch im Zweiten Weltkrieg ihre Unabhängigkeit behaupten.[21]

Der Faschismus an der Macht: Italien unter Mussolini

Der Begriff «faschistisch», mit dem die Schweizer Frontenbewegung wie viele andere rechte Bewegungen der Zwischenkriegszeit von zahlreichen Beobachtern gekennzeichnet wurde, hatte sich in den dreißiger Jahren längst von seiner italienischen «Urform» gelöst. Wenn marxistische oder liberale Kritiker vom «Faschismus» sprachen, meinten sie eine vom herkömmlichen Konservatismus unterschiedene Erscheinungsform rechter Bewegungen und Regime, die mit äußerster Militanz gegen ihre Gegner auf der Linken vorgingen und es verstanden, mit demagogischen, vor allem nationalistischen Parolen Massen hinter sich zu bringen. Den wichtigsten sozialen Rückhalt des Faschismus sahen die meisten zeitgenössischen Autoren in den städtischen und ländlichen Mittelschichten – jener gesellschaftlichen Zwischenzone zwischen Bourgeoisie und Arbeiterklasse, die sich von zwei Seiten, vom Großkapital und dem industriellen Proletariat, bedroht fühlte und es bisher nicht zu einer eigenständigen politischen Organisation gebracht hatte.

In Italien gehörte der linke Reformist Giovanni Zibordi zu den ersten, die sich mit der sozialen Basis des Faschismus umfassend auseinandersetzten. Er nannte Italien 1922 ein Land, in dem es einen «Überfluß am Kleinbürgertum» gebe. Im Faschismus erblickte Zibordi erstens eine «Konterrevolution des eigentlichen Bürgertums gegen eine ‹rote› Revolution, die es als Akt des Aufstandes außer im Sinn der Drohung nicht gegeben hat», zweitens «eine Revolution oder besser eine Konvulsion von kleinbürgerlichen deklassierten und unzufriedenen Schichten» und drittens eine «militärische Revolution». Mit dem letzten Begriff umschrieb Zibordi jene Teile des Offizierskorps, der Carabinieri und der Polizei, die, wie viele ehemaligen Soldaten, mit dem Faschismus sympathisierten, weil er für sie eine «Verlängerung des Kriegszustandes in der Innenpolitik und eine Chance des Krieges in der Außenpolitik» bedeutete. Die große Kraft des Faschismus habe bislang darin gelegen, «daß er in sich gegen das sozialistische Proletariat die bewußte und kalte Feindseligkeit der authentischen Bourgeoisie und die fanatische und verwirrte Abneigung jener Mittelschichten vereinigte, die, durch die Krise der Nachkriegszeit niedergedrückt, auf das Proletariat statt auf die herrschende soziale Klasse oder besser auf das herrschende soziale Regime den Groll ihres Mißbehagens wälzen».

Mit dem Hinweis auf bürgerliche, mittelständische und militärische Elemente wandte sich Zibordi gegen eine einseitige soziologische Deutung des Faschismus: Dieser war aus seiner Sicht auch, aber nicht nur eine Bewegung der Mittelschichten (ceti medi). Eine Berufsstatistik des Partito Nazionale Fascista (PNF) aus dem Jahr 1921 bestätigt dieses Urteil. Damals waren 24,3 Prozent der Mitglieder der «Fasci» Landarbeiter und 15,4 Prozent Industriearbeiter. Es folgten Studenten und Schüler mit 13, Bauern, Pächter und Halbpächter mit 11,9, Privatangestellte mit 9,9, Kaufleute, Handwerker und Händler mit 9,2, freie Berufe mit 6,6 und öffentliche Angestellte mit 4,7 Prozent.

Die Daten von 1921 verweisen auf ein sehr breites soziales Einzugsfeld des Faschismus, entkräften aber nicht die These von seiner besonderen Anziehungskraft auf die Mittelschichten. Gemessen an den jeweiligen Anteilen an der Bevölkerung im ganzen, waren die Land- und Industriearbeiter unter den Mitgliedern des PNF unterrepräsentiert, die Mittelschichten, besonders der «neue Mittelstand» der Angestellten, überrepräsentiert. Im besonderen Maß galt das für Schüler, Studenten und Lehrer – Gruppen, in denen es angesichts eines viel zu kleinen Angebots an verfügbaren Stellen eine verbreitete soziale Abstiegsangst gab.

Der Historiker Jens Petersen hat den PNF die «erste bürgerliche Massenpartei Italiens» genannt. In Anbetracht eines Arbeiteranteils von fast 40 Prozent drängt sich aber eher der Begriff «Volkspartei» auf. Von den anderen Parteien unterschieden sich die Faschisten auch dadurch, daß sie besonders viele Angehörige der jungen Generation in ihren Reihen zählten: 1921 machten Jugendliche unter 21 Jahren etwa ein Viertel der Mitgliedschaft aus. In der Provinz Reggio Emilia betrug das Durchschnittsalter der Mitglieder im Oktober 1922 25 Jahre. Mit rund 300.000 Mitgliedern Ende 1922 war der PNF schon zur Zeit des «Marsches auf Rom» die mitgliederstärkste Partei Italiens. Im ersten Jahr der Regierung Mussolini wuchs die faschistische Bewegung explosionsartig an: Im Dezember 1923 zählte sie 783.000 Mitglieder.

Der Regierung Mussolini gehörten nicht nur Faschisten an. Der «Duce», in Personalunion Ministerpräsident, Außen- und Innenminister, nahm parteilose Fachleute wie den früheren Generalstabschef Armando Diaz und Admiral Paolo Thaon di Revel (jenen als Kriegs-, diesen als Marineminister) sowie Mitglieder der christlich-demokratischen Popolari, der Demokratischen und der Liberalen Partei in sein Kabinett auf. Der prominenteste Liberale war der Philosoph Giovanni Gentile, der sich damals freilich schon auf den Weg vom Liberalismus zum Faschismus begeben hatte.

Ein faschistisches Kabinettsmitglied war der Finanzminister der Jahre 1922 bis 1925, Alberto De Stefani, ein Professor der Wirtschaftswissenschaften, der von 1923 bis 1925 zugleich auch das Schatzministerium leitete. Durch seine dem «laissez faire» verpflichtete unternehmerfreundliche Finanz- und Wirtschaftspolitik trug er wesentlich dazu bei, daß sich die Industrie geschlossen hinter die neue Regierung stellte. Was ihm besonders hoch angerechnet wurde, war die Sanierung der Finanzen auf der Grundlage der außerordentlichen Sondervollmachten, die Deputiertenkammer und Senat, befristet auf ein Jahr, der Regierung Mussolini gewährt hatten. Die Hoffnung der Liberalen auf die von Mussolini versprochene «normalizzazione» im allgemeinen und eine Auflösung der Sturmtruppen im besonderen erfüllte sich aber nicht: Die Squadre wurden im Januar 1923 in die Milizia Volontaria per la Sicurezza Nazionale, eine neue, ursprünglich nicht kasernierte, freiwillige Reservearmee eingegliedert, die Mussolini als «Duce del Fascismo» unterstand, keinen Eid auf den König zu leisten hatte, aber vom Staat finanziert wurde. Einen Monat zuvor schon, im Dezember 1927, war der faschistische Großrat, der Gran Consiglio del Fascismo, das oberste Beratungs- und Beschlußgremium des PNF, geschaffen worden. Damit begann die Herausbildung der für den Faschismus typischen Doppelstruktur: Der Oberste Rat stand in Konkurrenz zum Parlament, die faschistische Miliz war eine Machtsäule neben dem Heer.

Im März 1923 wurde die Associazione Nazionalista Italiana, der 1910 von Enrico Corradini gegründete Kampfverband des radikalen Nationalismus, mit der faschistischen Partei verschmolzen. Zwei ihrer Führer, Luigi Federzoni und Alfredo Rocco, übernahmen später Schlüsselressorts in der Regierung: Federzoni im Juni 1924 das Innen-, Rocco im Januar 1925 als Justizministerium. Ende April 1923 wurden die Minister der Popolari aus dem Kabinett entlassen, nachdem zuvor ein Kongreß der katholischen Partei in Turin Kritik an den fortdauernden Gewalttaten der Faschisten und ihrer Ideologie geübt und sich gegen die von Mussolini in die Wege geleitete Wahlrechtsreform ausgesprochen hatte. Im Juli 1923 wurde das neue Wahlgesetz verabschiedet, die «Legge Acerbo». Ihr einziger Zweck war es, dem «listone», der gemeinsamen Liste der Faschisten und ihrer bürgerlichen Verbündeten, der «fianchegiattori», eine solide Mehrheit zu verschaffen: Die erfolgreichste Liste erhielt, sofern mindestens ein Viertel der abgegebenen gültigen Stimmen auf sie entfiel, zwei Drittel der Sitze. In der Abgeordnetenkammer stimmten 235 Parlamentarier für und 140 gegen das Gesetz, im Senat war das Stimmenverhältnis 165 zu 41.

Unter den Nein-Stimmen waren die der Kommunisten und Sozialisten, der reformistischen Sozialdemokraten um Ivanoe Bonomi und der Abgeordneten der Demokratischen Partei Giovanni Amendolas. Die meisten Popolari enthielten sich der Stimme; die 39 Abgeordneten, die für oder gegen das Gesetz stimmten, wurden aus der Partei ausgeschlossen. Einige der dem Vatikan besonders nahestehende Senatoren der Popolari verließen daraufhin die Partei, was allgemein als Absage der Kurie an die katholische Partei verstanden wurde. Die Liberalen, unter ihnen die früheren Ministerpräsidenten Giolitti, Salandra und Orlando, stimmten für die Legge Acerbo und damit gegen das parlamentarische System. Noch immer sahen sie in der Regierung Mussolini das kleinere Übel, verglichen mit dem Chaos der frühen Nachkriegszeit. Den anhaltenden Terror lokaler Faschistenführer nahmen sie billigend in Kauf, da er sich nicht gegen sie, sondern gegen die Linke richtete.

Für den faschistischen Straßenterror bedeutete der «Marsch auf Rom» keine Zäsur: Die Zahl der Gewalttaten gegen politische Gegner ging nach der Regierungsübernahme Mussolinis nicht zurück. Allein zwischen dem 18. und dem 20. Dezember 1922 wurden, als Vergeltung für die Ermordung von zwei Faschisten, in Turin zwischen 11 und 22 (die Zahlenangaben schwanken) Kommunisten, Anarchisten und Sozialisten umgebracht. Verhaftungen und Verurteilungen von Gewalttätern aus den Reihen der Squadre waren äußerst selten. Verhaftet wurden hingegen in großer Zahl kommunistische Funktionäre: zwischen Dezember 1922 und Februar 1923 insgesamt 2235, 252 von ihnen im Zusammenhang mit der Verhaftung des ultralinken Parteiführers Amadeo Bordiga, eines erklärten Gegners einer Zusammenarbeit zwischen Kommunisten und Sozialisten. Im April 1923 wurde Bordiga vom Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale, das sich unter dem Eindruck der faschistischen Machtübernahme inzwischen auf die Taktik der linken Einheitsfront festgelegt hatte, als Parteiführer abgelöst. In der neuen, von der Komintern eingesetzten Parteiführung hatte die Gruppe um Bordiga keine Mehrheit mehr.

Die ersten Wahlen nach dem neuen Wahlgesetz fanden am 6. April 1924 statt. Der Wahlkampf war geprägt von Gewalttaten der Squadre gegen die oppositionelle Linke. Der Urnengang erbrachte trotz der massiven Einschüchterungen der Antifaschisten und zahlreicher Manipulationen «nur» 65 Prozent für die gemeinsame Liste der Faschisten und ihrer Verbündeten: Auf sie entfielen 356 Mandate, während die oppositionellen Parteien 141 Abgeordnete stellten, darunter 39 Popolari, 24 Reformisten des Partito Socialista Unitario (PSU), 22 sozialistische Maximalisten und 19 Kommunisten. In den nördlichen Regionen Piemont, Ligurien, Lombardei und Venetien hatten die Oppositionellen die Mehrheit errungen, im übrigen Italien der gouvernementale «listone».

Knapp acht Wochen nach der Wahl, am 30. Mai 1924, prangerte Giacomo Matteotti, der Sekretär der PSU, in der Deputiertenkammer den faschistischen Terror während des Wahlkampfes an und forderte, ständig von stürmischen Zwischenrufen der Mehrheit unterbrochen, die Annullierung der Wahl. Es blieb nicht bei verbalen Protesten der Faschisten. Am 10. Juni wurde Matteotti auf dem Weg ins Parlament am Lungotevere Arnaldo di Brescia von fünf Squadristen unter Führung von Amerigo Dumini überfallen, in ein Auto gezerrt und dort durch einen Dolchstoß in die Brust getötet. Die Leiche des sozialistischen Deputierten wurde erst am 16. August in der Macchia della Quartarella, einem Wald bei der Gemeinde Riano nahe Rom, entdeckt.

Das Verschwinden Matteottis stürzte Italien in einen Zustand höchster Erregung und den regierenden Faschismus in seine bisher tiefste Krise. Mit Ausnahme der Kommunisten und einiger unabhängiger Liberaler, darunter Giolitti, zogen die oppositionellen Abgeordneten unter Führung Amendolas, dem legendären antiken Beispiel der «secessio plebis» zu Beginn des 5. Jahrhunderts vor Christus folgend, aus der Kammer aus, um sich auf dem Aventin als die wahre Volksvertretung zu konstituieren. Mussolini behauptete am 13. Juni vor der Kammer, nur einer seiner Feinde habe sich eine derart teuflische Tat wie die vom 10. Juni ausdenken und ein solches Verbrechen verüben können. Tags darauf entließ er einige besonders diskreditierte faschistische Staatsfunktionäre wie den Leiter seines Presseamtes, Cesare Rossi, und den Unterstaatssekretär des Innenministeriums, Aldo Finci. Am 16. Juni gab Mussolini das Amt des Innenministers auf und übertrug es dem ehemaligen Nationalisten Luigi Federzoni. In den folgenden Wochen sorgte Polizeichef Emilio de Bono, bevor auch er entlassen (und zum Kommandierenden General der Miliz ernannt) wurde, dafür, daß die unmittelbar an der Tat beteiligten, mittlerweile verhafteten, Squadristen bis auf einen fliehen konnten und straffrei blieben.

Trotz aller Dementis zweifelte kaum jemand daran, daß die eigentliche und letzte Verantwortung an der Ermordung Matteottis, an der es seit Mitte August nichts mehr zu deuteln gab, beim Mann an der Spitze der Regierung lag. Doch zu irgendwelchen Aktionen der Gegner kam es nicht. Die Opposition auf dem Aventin hatte zwar endlich zu einer prekären Einheit gefunden, aber diese blieb praktisch folgenlos. Ein Generalstreik, wie die Kommunisten ihn forderten, wurde nicht ausgerufen, weil er dem Gros der antifaschistischen Abgeordneten als Spiel mit dem Feuer des Bürgerkriegs erschien. Statt dessen setzten viele, obenan Amendola, ihre Hoffnung auf ein Eingreifen König Umbertos II. Doch dieser verwies auf die Verantwortung der Deputiertenkammer, die seit dem Auszug der Opposition ein Rumpfparlament war, und des Senats, der der Regierung Mussolini am 26. Juni und am 5. Dezember das Vertrauen aussprach.

Am 27. Dezember veröffentlichte «Il Mondo», die Zeitung Amendolas, ein «Memoriale» des entlassenen Staatssekretärs Rossi, das Mussolini schwer belastete. Demnach hatte der «Duce» kurz nach Matteottis Rede vom 30. Mai zu Rossi gesagt: «Was macht diese Tscheka? (Cosa fa questa Ceka?). Was macht Dumini? Jener Mann (Matteotti, H. A. W.) sollte nach einer derartigen Rede aus dem Verkehr gezogen werden … (Quell’uomo dopo quel discorso non dovrebbe più circolare …).» Amerigo Dumini stand an der Spitze einer der bolschewistischen Geheimpolizei, der Tscheka, ähnlichen Organisation der Squadre. Mussolinis Worte, wenn sie denn so gefallen waren, konnten kaum anders gedeutet werden denn als Aufforderung, den oppositionellen Parlamentarier zum Schweigen zu bringen. Der Regierungschef als Auftraggeber eines Mordes: Rossis Memorandum schien den Verdacht der Antifaschisten in eine Gewißheit zu verwandeln.

Mussolini hatte im Spätsommer und Herbst 1924 lange geschwankt, ob er mehr auf radikale Faschisten wie Roberto Farinacci hören sollte, die ihn zu einem harten Vorgehen gegenüber der Opposition drängten, oder ob es besser wäre, die Zusammenarbeit mit seinen liberalen Unterstützern fortzusetzen, was auf politische Mäßigung hinauslief. Auf einem Parteitag der Liberalen in Livorno Anfang Oktober war die gouvernementale Richtung in der Minderheit geblieben. Im November wandten sich Giolitti und Orlando, Ende Dezember, nach der Veröffentlichung von Rossis «Memoriale», auch Salandra gegen die Regierung. Nach der Abwanderung seiner bisherigen Partner blieb dem «Duce» nur noch die Rückendeckung des harten Kerns der faschistischen Bewegung. Die Abwanderung seiner bisherigen Partner schwächte die Position Mussolinis. Wenn er an der Macht bleiben wollte, mußte er sich also stärker als zuvor auf den harten Kern der faschistischen Bewegung, die Radikalen, stützen. Deswegen entschloß sich der «Duce» um die Jahreswende 1924/25, die Krise durch einen Befreiungsschlag zu beenden, den man mit Fug und Recht einen Staatsstreich nennen kann – seinen zweiten, wenn man den «Marsch auf Rom» ebenfalls als Staatsstreich bewertet.

Am 3. Januar 1925 trat der Ministerpräsident, nachdem er tags zuvor seine Absichten mit dem König besprochen hatte, vor die Kammer. In seiner bisher wichtigsten Rede übernahm Mussolini persönlich die volle «politische, moralische und historische Verantwortung» für alles, was geschehen war. «Wenn der Faschismus nur Rhizinusöl und Gummiknüppel geworden ist und nicht vielmehr eine überlegene Leidenschaft der besten italienischen Jugend, dann ist es meine Schuld! Wenn der Faschismus eine kriminelle Vereinigung (un’associazione a delinquere) geworden ist, dann bin ich das Haupt dieser Vereinigung! … Wenn sich zwei Elemente im Kampf befinden und nicht nachgeben wollen, dann ist Gewalt die Lösung … Italien will Frieden, Ruhe und ungestörte Arbeit. Wir werden ihm Ruhe und ungestörte Arbeit sichern – wenn möglich in Liebe, wenn nötig mit Gewalt. Seien Sie gewiß meine Herren, daß innerhalb von 48 Stunden nach meiner Rede die Situation vollständig geklärt sein wird.» Um seine Provokation noch zu verschärfen, verwies der «Duce» die Abgeordneten auf eine Möglichkeit, die ihnen Artikel 47 der Verfassung vom März 1848 gewährte: das Recht, Minister des Königs anzuklagen und vor das Oberste Gericht zu stellen.

Der 3. Januar 1925 markiert einen Wendepunkt in der Geschichte des italienischen Faschismus. Um Begriffe von Wolfgang Schieder zu verwenden: Die «Bewegungsphase» war nun endgültig abgeschlossen, die eigentliche «Regierungsphase» begann. Das Regime etablierte sich als die offene Diktatur, auf die die Entwicklung seit dem «Marsch auf Rom» im Oktober 1922 angelegt war. Innerhalb der 48 Stunden, von denen Mussolini in seiner Rede gesprochen hatte, wurden die letzten Minister aus den Reihen der Liberalen Partei entlassen. Der ehemalige Nationalist Alfredo Rocco trat an die Spitze des Justizministeriums. Zahlreiche oppositionelle Zeitungen wurden beschlagnahmt und danach einer scharfen Zensur unterworfen. Das wichtigste Blatt des Landes, der traditionsreiche Mailänder «Corriere della Sera», hatte sich unter massivem Druck freilich schon im November 1924, nach der Entlassung des liberalen Chefredakteurs Luigi Albertini durch die Eigentümerfamilie Crespi, auf Regierungskurs begeben. Bald darauf übernahmen die Faschisten auch die Kontrolle über die Turiner «Stampa».

Am 7. Januar 1925 berichtete Innenminister Federzoni über seine Maßnahmen: Zahlreiche politische Clubs waren geschlossen, angeblich aufrührerische Organisationen aufgelöst, sämtliche politische Versammlungen verboten, viele verdächtige Häuser durchsucht und gefährliche Unruhestifter verhaftet worden. Die parlamentarische Opposition auf dem Aventin protestierte in einem Manifest vom 9. Januar gegen die Unterdrückung der bürgerlichen Freiheiten und sprach vom Beginn des «letzten Abschnitts des Konflikts zwischen Faschismus und Volk». Als einige der oppositionellen Abgeordneten in die Kammer zurückkehren wollten, wurde ihnen der Eintritt versperrt. Am 18. Februar 1925 wurde Roberto Farinacci, die treibende Kraft bei der Bekämpfung der unabhängigen Presse, vom Gran Consiglio zum Generalsekretär der faschistischen Partei gewählt. Unter Berufung auf Mussolini erklärte er, der Faschismus habe bisher nur eine Schlacht gewonnen, den Krieg müsse er noch gewinnen.

Die Opposition hätte nicht auf so breiter Front zerschlagen werden können, wäre sie rechtzeitig zu der Einsicht gelangt, daß sie nur dann etwas politisch bewirken konnte, wenn sie sich auf eine gemeinsame Strategie verständigte und sich an sie hielt. Die späte Kritik Giolittis, Orlandos und Salandras an der Politik Mussolinis wirkte wenig überzeugend, da sie durch ihre Zusammenarbeit mit den Faschisten ihre moralische Glaubwürdigkeit verspielt hatten. Der bürgerliche Liberalismus wurde zusätzlich dadurch geschwächt, daß seine wichtigsten gesellschaftlichen Stützen, die Industriellen und die Großgrundbesitzer, nicht daran dachten, sich mit einem System anzulegen, das ihre Interessen viel wirksamer schützte als die vorangegangenen Regierungen. Wer von den früheren Repräsentanten Italiens auf politische Betätigung verzichtete, konnte meist auch unter der Diktatur unbehelligt weiterleben. Prominente Vertreter des Geisteslebens wie der Philosoph Benedetto Croce, der sich erst Anfang 1924 unzweideutig gegen das faschistische Regime stellte, durften mit einem gewissen Maß an Nachsicht rechnen. Croces Zeitschrift «Critica» konnte weiter erscheinen, ohne daß sie sich ideologisch dem Faschismus unterwarf.

Die Maßnahmen vom Beginn des Jahres 1925 waren nur eine Etappe auf dem Weg in die faschistische Diktatur. Vorangetrieben wurde diese Entwicklung unter anderem durch die faschistischen Gewerkschaften, die «Sindacati nazionali», die sich Anfang 1922 unter Führung Edmondo Rossonis in der Confederazione Nazionale delle Corporazioni Sindacali zusammengeschlossen hatten. Die Sindacati propagierten einerseits die Überwindung des Klassenkampfes und die Zusammenarbeit von Kapital und Arbeit, hielten aber andererseits, im Unterschied zu den «gelben», unternehmerfreundlichen Gewerkschaften anderer Länder, am Mittel des Streiks fest. Innerhalb des PNF standen sie stets auf der Seite der Extremisten um Roberto Farinacci und Italo Balbo.

Das Bekenntnis zum Streik war kein bloß verbales. Anfang 1925 entfesselten die Sindacati nazionali eine antikapitalistische Kampagne, die im faschistischen Metallarbeiterstreik vom Februar und März gipfelte. Ein halbes Jahr später aber, am 2. Oktober 1925, schlossen die faschistischen Gewerkschaften mit der Dachorganisation der Unternehmerverbände, der Confindustria, den Patto di Palazzo Vidoni, in dem sie auf den Streik und ihre Verhandlungspartner auf die Aussperrung verzichteten. Einigkeit erzielten beide Seiten auch über die Beseitigung der Betriebsräte (commissioni interne), die die Faschisten nie unter ihre Kontrolle gebracht hatten. Die Sindacati nazionali sicherten sich das Monopol für den Abschluß von kollektiven Tarifverträgen, womit den anderen Gewerkschaften die Daseinsgrundlage entzogen wurde. Die sozialistische Confederazione Generale del Lavoro löste sich selbst auf. Im April 1926 wurden die Vereinbarungen vom Oktober des Vorjahres von Justizminister Rocco in Gesetzesform gebracht und die Spartenverbände (confederazioni) der Arbeitgeber und Arbeitnehmer, sofern sie mindestens ein Zehntel der Berufsangehörigen umfaßten, staatlich anerkannt.

Am 4. November 1925, einen Monat nach Abschluß des Patto di Palazzo Vidoni, versuchte ein ehemaliger Abgeordneter des Partito Socialista Unitario, Tito Zaniboni, ein Attentat auf Mussolini zu verüben, das im letzten Augenblick verhindert werden konnte, aber folgenreich war. Das Regime antwortete mit dem Verbot des PSU (ein Mitverschwörer Zanibonis, der General Luigi Capello, war Freimaurer) und den von Justizminister Rocco vorgelegten «Leggi fascistissime». Das wichtigste derselben war das Gesetz über den Capo del Governo, das den Ministerpräsidenten mit umfassenden außerordentlichen Vollmachten ausstattete und dem Parlament das Recht der Gesetzesinitiative entzog. Ein Gesetz vom 31. Januar 1926 gab der Exekutive das Recht, wann immer sie es für richtig hielt, Verordnungen mit Gesetzeskraft zu erlassen, womit die Gewaltenteilung faktisch aufgehoben war. Es folgten Gesetze, die die Stellung der Präfekten (auch gegenüber der faschistischen Partei) stärkten, die kommunale Selbstverwaltung abschafften (an die Stelle des gewählten Bürgermeisters, des «sindaco», trat der vom Staat ernannte «podestà»), die Journalisten in einer Zwangsorganisation zusammenfaßten und die Entlassung politisch unzuverlässiger Beamter erlaubten.

Ein wesentliches Merkmal der Leggi fascistissime war der Etatismus: Nicht die faschistische Bewegung, sondern der Staat gab den Ton an. Aber es war nicht der überkommene Staat, der die Partei zu seinem Instrument machte, sondern der faschistische Staat mit dem «Capo del governo e Duce del fascismo», Benito Mussolini, an der Spitze. Roberto Farinacci, der Exponent der Bewegung, mußte 1926 als Generalsekretär zurücktreten, viele seiner Anhänger gingen ihrer Parteiämter verlustig. Mit Farinacci wurden auch mehrere «ras» (regionale Parteiführer) entmachtet. Wer sich der neuen Linie anschloß, konnte auf seinem Posten verbleiben. Unter dem neuen Generalsekretär Augusto Turati, der dieses Amt bis 1930 ausübte, ordnete sich der Partito Nazionale Fascista fortschreitend dem Regierungsapparat unter.

Am 5. Januar 1927, zu Beginn des Jahres, in dem die Mitgliederzahl der faschistischen Partei die Millionengrenze überstieg, unterstellte der «Duce» die Segretari Federali, die regionalen Parteisekretäre, dem Präfekten. Wolfgang Schieder sieht darin «den Wendepunkt in der Entwicklung des PNF von der regierenden zur dirigierten Einheitspartei. Die Partei wandelte sich in eine bürokratische Massenorganisation von Karrieristen und angepaßten Mitläufern, die nicht vorrangig politisch motiviert waren. Sie verlor damit die aggressive Stoßkraft, die der Extremismus in die Partei gebracht hatte. Zugleich aber stellte sich heraus, daß sich auch das Integrationskonzept Mussolinis nur begrenzt verwirklichen ließ. Die traditionellen Eliten blieben der faschistischen Einheitspartei weitgehend fern und entzogen sich damit einer direkten politischen Kontrolle durch den faschistischen Diktator.»

Im Herbst 1926 war es erneut der gescheiterte Versuch eines Anschlags auf Mussolini, der eine Steigerung der repressiven Dynamik bewirkte: das Attentat des fünfzehnjährigen Anteo Zamboni, der unmittelbar darauf vom faschistischen Mob gelyncht wurde, am 31. Oktober in Bologna. Das Regime reagierte am 5. November mit der Auflösung aller Parteien, dem Verbot oppositioneller Zeitungen, der Schaffung einer besonderen politischen Polizei, der Divisione Polizia Politica, kuz «POLPOL» genannt, und der eigentlichen Geheimpolizei, der Organizzazione di Vigilanza e Repressione dell’Antifascismo (OVRA), der Annullierung sämtlicher Reisepässe und der Einführung einer neuen Maßnahme: der Verbannung von Oppositionellen, was Inhaftierung und oft auch Folter auf einer der «isole maledette» genannten Vulkaninseln, darunter Ustica und Lipari, bedeutete. Zu den Verbannten gehörte auch der Arzt und Schriftsteller Carlo Levi, der seine Erfahrungen 1945 in dem Roman «Christus kam nur bis Eboli» literarisch verarbeitet hat.