«Proletkult» brauchte, um innovativ zu sein, künstlerische Autonomie. Lunatscharski war bereit, der Bewegung auch nach der Auflösung ihrer eigenständigen Organisation ein beträchtliches Maß an Freiheit zuzugestehen, konnte sich aber auf die Dauer nicht gegen Lenin und das Politbüro durchsetzen. Als «Proletkult» 1925 der zusätzlichen Kontrolle der Gewerkschaften unterstellt wurde, setzte sein Verfall ein. Unter der Vorherrschaft Stalins verlor die Bewegung alles, was bis dahin ihre internationale Faszination ausgemacht hatte. Damit neigte sich auch die Phase dem Ende zu, in der Bolschewismus und künstlerische Avantgarde zwei Seiten einer Medaille zu sein schienen, in der es auch «Mitläufern», ja selbst zurückgekehrten Emigranten möglich war, ohne ständige Angst vor Zensur und Geheimpolizei ihren Beitrag zur sowjetischen Kultur zu leisten, und die Akademie der Wissenschaft auch noch erklärte Kritiker der Lehren von Marx und Lenin zu ihren Mitgliedern machen konnte.
Doch auch die frühe Sowjetunion hatte bereits ihre staatliche Geheimpolizei. 1922 trat die GPU (Staatliche Politische Verwaltung), die dem Innenministerium untergeordnet war, an die Stelle der «vorstaatlichen» Tscheka. Im Jahr darauf wurde aus der GPU die OGPU (Vereinigte Staatliche Politische Verwaltung). Sie hatte den Status einer obersten Behörde, verfügte über Sitz und Stimme in der Regierung, dem Rat der Volksbeauftragten, und wurde wie zuvor die Tscheka von dem gebürtigen Polen Feliks Dzierzynski geleitet. Mit ihrer Vorgängerin, der Tscheka, teilte die OGPU auch das Hauptquartier, die berüchtigte Lubjanka in Moskau. Die OGPU durfte fortan, wie Manfred Hildermeier schreibt, «im ganzen Land gegen ‹Konterrevolution›, Spionage und Banditenwesen» kämpfen. Sie konnte in allen Republiken Dependancen errichten, Truppen stationieren und Lager eröffnen. Dabei war sie allein dem SNK und dem CIK (dem Rat der Volksbeauftragten und dem Exekutivkomitee der Sowjets, H. A. W.), mithin keiner regionalen Instanz, verantwortlich. Mit dieser Aufwertung der einstigen Notstandsorganisation par excellence erklärte die Verfassung im zentralen Bereich der Herrschaftssicherung und neueren Ordnung endgültig den Ausnahmezustand zum Normalfall. Die OGPU trat als dritte Säule des revolutionären Regimes neben die monopolistisch-autoritäre Partei und die zunehmend loyale, elitäre und gesamtsstaatsbewußte Armee.»
Die Bolschewiki waren zur Zeit der Gründung der Sowjetunion nicht nur im Verhältnis zu anderen Staaten, sondern auch innerhalb der internationalen Arbeiterbewegung längst nicht mehr so isoliert wie 1918/19. Das wurde bereits beim Zweiten Weltkongreß der Kommunistischen Internationale deutlich, der am 19. Juli 1920 in Petrograd zusammentrat und vom 23. Juli bis zum 7. August in Moskau tagte. Seit dem Gründungskongreß im März 1919 war die Dritte Internationale beträchtlich angewachsen: Von den 217 Delegierten aus 36 Ländern vertraten 152 kommunistische Parteien und Organisationen. Die wichtigsten Delegationen aber waren nicht kommunistische, sondern linkssozialistische Parteien mit großem Anhang in der Wählerschaft: die Sozialistische Partei Italiens, die Sozialistische Partei Frankreichs, die Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands, die kurz zuvor, bei den Reichstagswahlen vom 6. Juni 1920, mit einem Stimmenanteil von 18,6 Prozent einen sensationellen Erfolg errungen hatte, und die Arbeiterpartei Norwegens. Zwei der genannten Parteien waren freilich noch keine Mitglieder der Komintern, sondern hatten lediglich Unterhändler mit beratender Stimme entsandt, die über die Bedingungen eines Beitritts verhandeln sollten: die deutschen Unabhängigen und die französischen Sozialisten.
Vieles kam zusammen, was den Linksruck in der europäischen Arbeiterschaft bewirkt hatte: die Enttäuschung über den Verlauf der mitteleuropäischen Revolutionen, die nach Meinung der entschiedenen Linken viel zu wenig an den gesellschaftlichen und politischen Verhältnissen geändert hatten; das Scheitern der großen Streikbewegungen von 1919 und 1920; der Zorn auf das Versagen der Zweiten Internationale im Krieg und die Unwilligkeit vieler ihrer Mitgliedsparteien, den Gründen dieses Versagens selbstkritisch nachzugehen, und nicht zuletzt die Bewunderung für die Partei, die als einzige eine proletarische Revolution zuwege gebracht hatte, die sich im Abwehrkampf gegen die Konterrevolution und die alliierte Intervention an der Macht behauptet und zu Beginn des Zweiten Weltkongresses, auf dem Höhepunkt des russisch-polnischen Krieges, drauf und dran schien, das siegreiche rote Banner nach Mitteleuropa zu tragen.
In Italien war der Beitritt zur Dritten Internationale auf dem Parteitag der Sozialisten in Bologna im Herbst 1919 von der Mehrheit unter Serrati gegen den Widerstand der Reformisten um Turati und Treves erfolgt, die aber in der Partei verblieben. Die französischen Sozialisten hatten sich auf ihrem Straßburger Parteitag Ende Februar 1920 zwar gegen den Beitritt zur Kommunistischen Internationale ausgesprochen, aber ihre Übereinstimmung mit deren grundlegenden Prinzipien, namentlich mit der Diktatur des Proletariats, zum Ausdruck gebracht und die Verbindung zur Zweiten Internationale abgebrochen. Die USPD hatte sich auf ihrem Berliner Parteitag im März 1919 zum Rätesystem, zur Diktatur des Proletariats und zum kompromißlosen Klassenkampf bekannt, war aber tief in Sympathisanten und Gegner des Bolschewismus gespalten.
Lenins theoretische Vorbereitung des Zweiten Weltkongresses war die im April und Mai 1920 verfaßte Schrift «Der ‹linke Radikalismus›, die Kinderkrankheit im Kommunismus». Sie war nicht nur eine scharfe Abrechnung mit putschistischen, syndikalistischen und prinzipiell antiparlamentarischen Abweichungen von der richtigen, der marxistischen Auffassung, sondern zugleich ein Manifest, in dem er für die Lehren der bolschewistischen Revolution den Anspruch auf Allgemeingültigkeit erhob. Eine Kernthese lautete: «Die Erfahrungen der siegreichen Diktatur des Proletariats in Rußland haben denen, die nicht zu denken verstehen und nicht in die Lage kamen, sich über diese Frage Gedanken zu machen, deutlich gezeigt, daß unbedingte Zentralisation und strengste Disziplin des Proletariats eine der Hauptbedingungen für den Sieg über die Bourgeoisie sind.»
Die konkrete Nutzanwendung dieser Doktrin waren die zum größten Teil von Sinowjew formulierten «21 Bedingungen» für die Aufnahme in die Komintern, die der Kongreß am 6. August mit allen gegen zwei Stimmen verabschiedete. Sie sahen die straffe Unterordnung aller Mitgliedsparteien unter die Beschlüsse von Kongreß und Exekutivkomitee der Dritten Internationale vor. Die Kommunistischen Parteien (auch dieser Name wurde jetzt obligatorisch) übernahmen das sowjetische Prinzip des «demokratischen Zentralismus»: Die Weisungen des «mit der Fülle der Macht, Autorität und den weitestgehenden Befugnissen ausgestatteten Parteienzentrums» mußten mit «eiserner Disziplin» befolgt werden. Regelmäßige Säuberungen der Parteiorganisationen sollten ideologische Abweichungen verhindern. An die Stelle «reformistischer» Politiker und gemäßigter Linkssozialisten, der sogenannten «Zentrumsleute», hatten überall «bewährte Kommunisten» zu treten. Neben dem legalen Parteiapparat war, zwecks Vorbereitung der Revolution, eine illegale Parallelorganisation aufzubauen. «Notorische Opportunisten» wie Kautsky und Hilferding oder die sozialistischen Parteiführer Turati, Longuet und MacDonald durften keiner Mitgliederpartei angehören. Gegen die reformistischen Gewerkschaften war ein «hartnäckiger Kampf» zu führen. Propaganda und Agitation mußten dem Programm der Kommunistischen Internationale entsprechen. Folglich bedurften neue oder abgeänderte Parteiprogramme der Bestätigung durch den Kongreß oder das Exekutivkomitee der Komintern.
Das Exekutivkomitee, abgekürzt EKKI, war den vom Zweiten Kongreß verabschiedeten Statuten zufolge das leitende Organ der Komintern zwischen den Weltkongressen. Die Hauptarbeit des EKKI lastete «auf der Partei des Landes, wo auf Beschluß des Weltkongresses das Exekutivkomitee seinen Sitz hat», also auf den russischen Kommunisten. Sie durften daher auch fünf Vertreter mit beschließender Stimme in das EKKI entsenden (und mit Sinowjew dessen Generalsekretär stellen). Dazu kam, gleichfalls mit beschließender Stimme, je ein Vertreter der «10 bis 13 bedeutendsten kommunistischen Parteien, deren Liste von dem ordentlichen Weltkongreß bestätigt wird». Die übrigen kommunistischen Parteien konnten je einen Vertreter mit beratender Stimme in das Exekutivkomitee entsenden.
Der Zweck der 21 Bedingungen und der Statuten war eindeutig: Alle kommunistischen Parteien sollten sich den Weisungen der Moskauer Zentrale, des EKKI, fügen. Dieses Gremium aber kontrollierten die Bolschewiki. Wer die 21 Bedingungen annahm, mußte radikal mit den demokratischen Traditionen der westlichen Arbeiterbewegung brechen und die Vormachtstellung einer Partei akzeptieren, deren Aufbau und Politik sich nur aus spezifisch russischen Verhältnissen erklären ließ. Das Zarenreich war von den großen europäischen Emanzipationsbewegungen, von der Renaissance und der Reformation über die Aufklärung und die «bürgerlichen» Revolutionen des 18. und 19. Jahrhunderts bis hin zum klassischen Liberalismus nicht ernsthaft erschüttert worden; es gab in Rußland kein Bürgertum im europäischen Sinn, dafür das Millionenheer landarmer und landhungriger Bauern, die erst in den 1860er Jahren aus der Leibeigenschaft entlassen worden waren; ein brutaler Polizeistaat hatte die frühe Arbeiterbewegung in den Untergrund gedrängt und dadurch die Organisationsform des geheimen Verschwörerbundes begünstigt.
Die Partei der Bolschewiki war ein Ausdruck extremer wirtschaftlicher und politischer Rückständigkeit. Sich von einer solchen Partei Denkweise und Kampfformen vorschreiben zu lassen war vor 1917 im Westen keinem Sozialisten in den Sinn gekommen, und die russischen Führer hatten noch 1919 als selbstverständlich angenommen, daß das Zentrum der Weltrevolution sich westwärts, nach Deutschland, verlagern würde, sobald dort das Proletariat die Macht ergriffen hatte. Erst die Niederlage der revolutionären Bewegungen außerhalb Rußlands und die eigene Selbstbehauptung gegenüber einer Welt von Feinden ließen die Bolschewiki 1920 zu der Ansicht gelangen, daß es nur einen Weg zur proletarischen Revolution gab: denjenigen, den sie eingeschlagen hatten.
Am Streit um die Annahme oder Ablehnung der 21 Bedingungen zerbrachen mehrere Arbeiterparteien des Westens. Die erste dieser Parteien war die USPD. Die meisten ihrer Funktionäre und Zeitungen waren entschieden gegen die Unterwerfung unter das Moskauer Diktat, bei den Mitgliedern aber sah es anders aus. Die Entscheidung fiel bereits bei der Urwahl der Delegierten zu dem Parteitag, der im Oktober 1920 in Halle stattfand. Gewählt wurden die Delegierten beider Lager in Mitgliederversammlungen nach dem Grundsatz der Verhältniswahl; sie gingen mit einem imperativen Mandat nach Halle. Auf die Liste der Befürworter der 21 Bedingungen entfielen knapp 58, auf die der Gegner 42 Prozent. Ihre Mehrheit verdankten die ersteren vor allem Arbeitern, die nicht in die sozialdemokratische Tradition hineingeboren, sondern erst in Krieg und Nachkriegszeit politisiert worden waren.
Auf dem Parteitag erlebten die Delegierten eine dramatische Auseinandersetzung zwischen Grigorij Sinowjew und Rudolf Hilferding und eine bewegende Anklagerede eines der angesehensten Führer der verfolgten Menschewiki, Julius Martow, gegen den blutigen Terror der Bolschewiki. Der Ausgang der Abstimmung aber stand schon vorher fest: Es wurden 236 Stimmen für und 156 Stimmen gegen die Annahme der 21 Bedingungen gezählt. Im Dezember 1920 schloß sich die linke Mehrheit mit der KPD auf einem gemeinsamen Parteitag in Berlin zur Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands zusammen. Die unterlegene Minderheit blieb zunächst eine selbständige Partei, die ihren bisherigen Namen behielt.
Bei der linken Mehrheit der französischen Sozialisten stießen die 21 Bedingungen auf weniger vorbehaltlose Zustimmung als beim linken Flügel der USPD. Der Generalsekretär der Partei, Ludovic-Oscar Frossard, und der Chefredakteur der Parteizeitung «Humanité», Marcel Cachin, die am Zweiten Weltkongreß teilgenommen hatten, weigerten sich auf dem Parteitag in Tours im Dezember 1920 zunächst, Vertreter der widerstrebenden Minderheit, darunter «Zentristen» wie Jean Longuet und Paul Faure, auszuschließen. Ein Telegramm, das Lenin, Sinowjew und andere Mitglieder des EKKI unterzeichnet hatten, machte den Delegierten dann aber klar, daß Moskau einen solchen Verstoß gegen den Beschluß der Komintern nicht hinnehmen würde. Mit der klaren Mehrheit von 3028 gegen 1022 von den Delegierten vertretenen Stimmen wurde der Anschluß an die Kommunistische Internationale beschlossen. Der Parti Communiste (Section Française de l’Internationale Communiste) zählte etwa 140.000, die SFIO um Longuet nur noch 30.000 Mitglieder. In den folgenden Jahren kehrten sich die Mehrheitsverhältnisse aber um: Die SFIO zählte 1924 fast 100.000, der PC noch 68.000 Stimmen. Bei den Parlamentswahlen vom Mai 1924 erwiesen sich die Sozialisten ebenfalls als die stärkere Partei: Sie erhielten fast 1,7 Millionen, die Kommunisten nur 800.000 Stimmen.
Ein gutes halbes Jahr nach der Spaltung der alten Sozialistischen Partei mußte auch die Confédération Générale du Travail (CGT), die Dachorganisation der sozialistischen Gewerkschaften, über ihren künftigen Weg entscheiden. Auf ihrem Kongreß in Lille fielen im Juli 1921 sogar Schüsse, ehe eine relativ knappe Mehrheit den Anschluß an die kurz zuvor, zeitgleich mit dem Dritten Weltkongreß der Komintern, in Moskau gegründete Rote Gewerkschafts-Internationale (RGI) ablehnen konnte. Die Minderheit unter Führung der Eisenbahner und Bauarbeitergewerkschaften fand sich mit ihrer Niederlage nicht ab und erklärte die CGT für gespalten. Im Juni 1921 wurde in Saint-Etienne ein eigener kommunistischer Gewerkschaftsbund, die Confédération Générale du Travail Unitaire (CGTU) gegründet, die sich im Jahr darauf der RGI anschloß. Die Spaltung war mit einem massiven Rückgang der Mitgliederzahlen verbunden: 1920 hatten die sozialistischen Gewerkschaften etwa 2 Millionen Mitglieder gezählt; 1924 kamen CGT und CGTU auf weit weniger als 1 Million, von denen rund zwei Drittel den sozialistischen und ein Drittel den kommunistischen Gewerkschaften angehörten.
Die Entwicklung in Italien wies manche Ähnlichkeiten mit der in Frankreich auf. Wie Frossard wehrte sich auch Serrati gegen den Ausschluß der gemäßigten Kräfte. Lenin, der Italien am Vorabend einer proletarischen Revolution wähnte, bestand aber auf der uneingeschränkten Annahme der 21 Bedingungen und verlangte nunmehr nicht nur den Ausschluß von Turati, sondern auch, falls er bei seiner Linie blieb, den von Serrati. Diese Botschaft hatte eine Delegation des EKKI unter dem ungarischen Kommunisten Mátyás Rákosi, einem einstigen Mitglied der Räteregierung unter Béla Kun, und dem führenden bulgarischen Parteitheoretiker Christo Kabaktschieff, den italienischen Genossen zu überbringen.
Die wichtigsten Gesprächspartner der Moskauer Emissäre waren, neben Serrati und seinen Verbündeten, die «reinen Kommunisten» innerhalb der Sozialistischen Partei. Diese waren ihrerseits in drei Gruppen gespalten: Links standen die konsequent antiparlamentarischen Kräfte um Amadeo Bordiga, den Redakteur der Zeitschrift «Il Soviet», in der Mitte die Gruppe um die Zeitschrift «Ordine Nuovo» und ihren Gründer Antonio Gramsci, die die Bedingungen vorbehaltlos unterstützte und die Wahlbeteiligung und parlamentarische Betätigung der Kommunisten bejahte, rechts die Gruppe Marabini-Graziadei, die mit Gramsci weithin übereinstimmte, eine Spaltung der Partei aber für verfrüht hielt. Den «reinen Kommunisten» standen die «Unitären Kommunisten» um Serrati und die «Konzentrationisten» um Turati, Treves und Modigliani gegenüber, denen sich auch der Generalsekretär des Gewerkschaftsbundes, Ludovico d’Aragona, zugesellte. Die «reinen Kommunisten» konnten die Abgesandten des EKKI für die uneingeschränkte Annahme der 21 Bedingungen gewinnen, Serratis «Unitarische Kommunisten» hingegen nicht.
Die Entscheidung fiel im Januar 1921 auf dem Parteitag von Livorno. Auf den Antrag der Serrati-Gruppe entfielen 98.000, auf den der «reinen Kommunisten» knapp 59.000 und auf den der Gruppe um Turati annähernd 15.000 Stimmen. Delegierte, die 981 Stimmen vertraten, enthielten sich der Stimme. Nach der Bekanntgabe des Abstimmungsergebnisses verließen die «reinen Kommunisten» den Versammlungsraum und riefen unmittelbar danach in Gegenwart von Rákosi und Kabaktschieff im Theater San Marco den Partito Comunista Italiano ins Leben.
Lenin und das EKKI sahen in der Parteispaltung einen großen Erfolg der revolutionären Sache. Bei den Parlamentswahlen vom Mai 1921 zeigte sich jedoch, daß die Kommunisten nur eine kleine Minderheit des italienischen Proletariats hinter sich hatten: Auf sie entfielen 13, auf die Sozialisten 128 Mandate. (Die ungeteilte Sozialistische Partei hatte bei den vorangegangenen Wahlen im November 1919.156 Sitze erobert.) Eine Spaltung der Gewerkschaften blieb der italienischen, anders als der französischen Arbeiterbewegung erspart: Die Kommunisten gehörten weiterhin der Confederazione generale del lavoro an. Doch die Spaltung der Sozialistischen Partei reichte völlig aus, um eine gemeinsame Abwehr der immer gewalttätiger auftretenden Faschisten unter Benito Mussolini unmöglich zu machen. Lenin hatte in Livorno einen Pyrrhussieg errungen.
Zu einem völligen Fehlschlag wurde der Versuch, die britische Arbeiterbewegung zu spalten. Auf einem Parteitag der Labour Party in Scarborough im Juli 1920 wurde ein Antrag der kleinen (der Arbeiterpartei angeschlossenen) British Socialist Party, der Dritten Internationale beizutreten, mit überwältigender Mehrheit abgelehnt. Die Independent Labour Party, eine andere Untergliederung der Labour Party, verwarf im gleichen Jahr mit großer Mehrheit einen Anschluß an die Komintern; im März 1921 wurden die 21 Bedingungen vom Parteitag in Southport mit 618 zu 97 Stimmen abgelehnt. Für die Labour Party als Ganze verstand sich das Nein zur Unterwerfung unter ein Moskauer Diktat ohnehin von selbst. Auf der Parteikonferenz von 1923 erklärte deren Präsident, der Fabier Sidney Webb, der Gründer des britischen Sozialismus sei nicht Karl Marx, sondern Robert Owen gewesen, und der habe «nicht den ‹Klassenkampf›, sondern die uralte Lehre von der menschlichen Bruderschaft gepredigt, die Hoffnung, den Glauben, die lebendige Tatsache der menschlichen Verbundenheit».
In seiner «Geschichte der Internationale» hat der Historiker Julius Braunthal auf den evolutionären Grundzug der englischen Geschichte seit der Glorious Revolution von 1688/89 verwiesen und diese Erfahrung als Hauptgrund dafür genannt, daß sich die britische Arbeiterbewegung weder Marx noch später Lenin anschloß. Durch die Konzentration aller Macht im Parlament und die Ausweitung des Wahlrechts seien schließlich auch der Arbeiterklasse die Tore zur Macht geöffnet worden. «Sie konnte nun hoffen, ohne Bürgerkrieg und Revolution, im Ringen um die Seelen der Volksmehrheit, die sozial der Arbeiterklasse angehört, durch die Eroberung des Parlaments die Macht im Staat zu gewinnen. Der Bürgerkrieg als Methode im Kampf um den Sozialismus war jedenfalls ein fremdes Element im Gedankenbild des englischen Sozialismus gewesen. Die Theorien des Bolschewismus – die Verherrlichung der Gewalt als schöpferische Kraft des Sozialismus, der blutige Bürgerkrieg als eine unvermeidbare Phase im Kampf um den Sozialismus, die terroristische Diktatur als unerläßliches Instrument seiner Verwirklichung – vermochten in den Massen der englischen Sozialisten keinen sympathischen Widerhall zu erwecken; sie standen in Disharmonie zu ihren traditionellen Vorstellungen und Gefühlen.» Es war nach alledem nicht erstaunlich, daß die 1920 gegründete Kommunistische Partei Großbritanniens über den Status einer linken Splittergruppe nie hinauskam.
Für den Teil der sozialistischen Linken, der sich den 21 Bedingungen nicht unterwerfen wollte, ergab sich aus der Erfahrung des Jahres 1920 die Notwendigkeit, sich enger zusammenzuschließen. Ein Anschluß an die Zweite (oder, wie man sie wegen der Führungsrolle der Labour Party und des Sitzes ihres Sekretariats gern nannte, die Londoner) Internationale kam nicht in Frage: Diese hatte sich auf ihrem Kongreß in Genf Anfang August 1920 ohne jede Einschränkung zur parlamentarischen Demokratie bekannt und das kommunistische System als Tyrannei einer kleinen Minderheit gebrandmarkt. Auf eine enge Zusammenarbeit der Parteien, die weder der Moskauer noch der Londoner Internationale angehörten, drängten vor allem die Independent Labour Party, die im Frühjahr 1920 auf ihrem Glasgower Parteitag ihre Verbindungen zur Zweiten Internationale gelöst hatte, die USPD und die Sozialdemokratische Partei der Schweiz.
An einer Vorkonferenz in Bern beteiligten sich im Dezember 1920 außer diesen Parteien die sozialistischen Parteien Frankreichs, Österreichs und der Tschechoslowakei sowie die russischen Menschewiki, die damals noch keine reine Exilpartei waren. Der Zusammenschluß zu einer eigenen Internationale, der Internationalen Arbeitsgemeinschaft sozialistischer Parteien, von der Komintern spöttisch «Internationale 2½» genannt, erfolgte im Februar 1921 in Wien. An dem Treffen nahmen 20 sozialistische Parteien aus 13 Ländern, vertreten durch 71 Delegierte, teil. An die Spitze der Wiener Internationale (dies der gängige Name) trat als Sekretär der Österreicher Friedrich Adler. Die neue Internationale grenzte sich vom «reformistischen Ministerialismus» ebenso scharf ab wie vom Sektierertum der Kominternparteien, schloß aber in der Folgezeit eine zweckgebundene Zusammenarbeit mit den beiden konkurrierenden Internationalen nicht aus.
Das tat seit ihrem Dritten Weltkongreß, der vom 22. Juni bis 12. Juli 1921 in Moskau stattfand, auch die Komintern nicht mehr. In fast allen Ländern außerhalb Sowjetrußlands in die Defensive gedrängt, ließen die Bolschewiki das EKKI im Dezember 1921 Leitsätze für eine «Einheitsfrontpolitik» von Kommunisten, Sozialdemokraten und Gewerkschaften verabschieden, wobei die neue Taktik natürlich mit unvermindert scharfen Angriffen auf die «Reformisten» aller Schattierungen einherging und den Hauptzweck verfolgte, die Masse der Arbeiter von den Parteien der beiden anderen Internationalen zu den kommunistischen Parteien herüberzuziehen. Die Wiener Internationale lud daraufhin Mitte Januar 1922 die Exekutiven der Moskauer und der Londoner Internationale zu einer allgemeinen Konferenz ein, auf der allerdings nicht die ideologischen Gegensätze zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten, sondern erstens die ökonomische Lage Europas und die Aktion der Arbeiterklasse und zweitens der Abwehrkampf des Proletariats gegen die Reaktion diskutiert werden sollten.
Die von der Wiener Internationale angeregte Konferenz kam tatsächlich zustande: Sie fand Anfang April 1922 im Berliner Reichstagsgebäude statt. Die Dritte Internationale nahm teil, weil sie sich davon Erfolge für ihre Einheitsfronttaktik versprach, die Zweite, weil sie nicht als Saboteur des Einigungsstrebens dastehen wollte. Bei der Annahme der Einladung machte die letztere aber auch ihre Vorbehalte deutlich: Auf der Konferenz sollte auch über das Schicksal der politischen Gefangenen in Sowjetrußland und über das Schicksal Georgiens gesprochen werden, wo die Bolschewiki ein Jahr zuvor durch ihre militärische Intervention die Regierung der Menschewiki gestürzt und ein kommunistisches System an die Macht gebracht hatten. Außerdem sollten die Kommunisten zusichern, daß sie künftig keine Zellenbildung in den Gewerkschaften mehr betreiben würden.
Tatsächlich wurde die Berliner Konferenz, trotz aller Vermittlungsversuche der österreichischen Sozialisten Friedrich Adler und Otto Bauer, zu einem Schlagabtausch zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Karl Radek, der Hauptsprecher der Dritten Internationale, war aber, weil er sein Hauptziel, einen großen Weltarbeiterkongreß als Plattform internationaler kommunistischer Propaganda, nicht gefährden wollte, schließlich zu Zugeständnissen an die Reformisten bereit. In der georgischen Frage stimmte er einer Untersuchungskommission zu, die von den Exekutiven der drei Internationalen eingesetzt werden sollte. Was die 47 Sozialrevolutionäre betraf, die zu diesem Zeitpunkt in sowjetischen Gefängnissen auf Prozeß und Todesurteil warteten, so durften die beiden anderen Internationalen Verteidiger nach Moskau schicken; Todesurteile sollten nicht verhängt werden. Daraufhin beschloß die Konferenz die Bildung einer Neunerkommission, deren Hauptaufgabe es war, eine «allgemeine Konferenz» vorzubereiten. An die Arbeiter aller Länder erging die Aufforderung, gemeinsame Demonstrationen zu veranstalten für den Achtstundentag und gegen die «kapitalistische Offensive», für die «russische Revolution, für das hungernde Rußland, für die Aufnahme der politischen und wirtschaftlichen Beziehungen aller Staaten mit Sowjetrußland» und für die «Herstellung der proletarischen Einheitsfront in jedem Land und in der Internationale».
Zurück in Moskau, wurden die Delegierten der Komintern jedoch sogleich von Lenin streng gerügt. Sie hätten den «geschickten Vertretern der bürgerlichen Diplomatie» und den «Bevollmächtigten der II. und der zweieinhalbten Internationale» Konzessionen gemacht, ohne selber Konzessionen zu erhalten, schrieb er am 11. April in der «Prawda». Mit der Zusage, daß Vertreter aller drei Internationalen zum Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre zugelassen und daß keine Todesstrafen verhängt werden sollten, hatte die Delegation der Komintern nach Lenins Meinung einen zu hohen Preis gezahlt. Die Ratifizierung der Berliner Übereinkunft durch das EKKI war daher von zweifelhaftem Wert.
Die erste Sitzung der Neunerkommission fand am 23. Mai 1922 unter Vorsitz Friedrich Adlers in Berlin statt. Es war zugleich die letzte Sitzung. Radek forderte ultimativ die unverzügliche Einberufung eines Weltarbeiterkongresses; die Vertreter der beiden anderen Internationalen lehnten dies ab, da die Komintern ihre Zusagen nicht erfüllt habe. Die Moskauer Delegierten erklärten daraufhin ihre Mandate für erledigt. Tags darauf beschuldigte die Komintern die Londoner und die Wiener Internationale, sie hätten die Neunerkommission bewußt gesprengt. Die neue Parole an die Arbeiter aller Länder lautete: «Bildet die Einheitsfront von unten auf» – gegebenenfalls also gegen die Führungen der «reformistischen» Parteien und Gewerkschaften.
Das Interesse der Komintern an einem Weltarbeiterkongreß war unverkennbar zurückgegangen, nachdem es Sowjetrußland gelungen war, seine außenpolitische Isolierung auf andere Weise zu durchbrechen. Wenige Tage nach der Berliner Konferenz der drei Internationalen begann in Genua eine Weltwirtschaftskonferenz, das erste internationale Treffen, zu dem die Regierungen der Westmächte auch Sowjetrußland eingeladen hatten. Aus Moskauer Sicht war es nützlich, die eigenen Interessen auf allen Ebenen zu vertreten, der Regierungsebene ebenso wie der Klassenebene. «Realpolitik» im Verhältnis zwischen der Sowjetregierung und den kapitalistischen Mächten und revolutionäre, von Moskau finanziell und personell massiv unterstützte Untergrundarbeit bis hin zu gewaltsamen Umsturzversuchen in ebendiesen Staaten standen in keinem unauflösbaren Widerspruch zueinander, wenn man sie in ihrem «dialektischen» Zusammenhang sah. Und so wichtig Europa für die Sache der Weltrevolution war, es gab auch andere Erdteile, in denen es das kapitalistische Weltsystem herauszufordern galt: in den Kolonien und Halbkolonien Asiens, Afrikas und Lateinamerikas, in denen vorerst keine kommunistische, sondern zunächst einmal national-bürgerliche Revolutionen auf der Tagesordnung standen.
Im September 1920 bereits organisierte das EKKI einen Kongreß der Arbeiter und Bauern des Nahen Ostens in Baku, auf dem Sinowjew zum «Heiligen Krieg» gegen das imperialistische England aufrief. Im Januar 1922 tagte erst in Moskau, dann in Petrograd der Erste Kongreß der kommunistischen und revolutionären Organisationen des Fernen Ostens, an dem neben den Kommunistischen Parteien Chinas, Japans, Koreas und Holländisch-Indiens sowie revolutionären Gruppen aus der Mongolei auch Vertreter der nationalistischen Kuomintang aus Südchina teilnahmen. Die Delegierten verabschiedeten eine Resolution, die die klassische Parole des Kommunistischen Manifests im antikolonialen Sinn erweiterte: «Proletarier aller Länder und unterdrückte Völker der ganzen Welt, vereinigt Euch!» Der Aufruf gipfelte in einer «Kriegserklärung» an die Adresse der japanischen, amerikanischen, englischen, französischen und sonstigen Imperialisten. «Wir erklären Krieg auf Leben und Tod dem käuflichen Nachbetern und Lakaien unserer Unterjocher in China. Wir erklären Krieg auf Leben und Tod dem heuchlerischen amerikanischen Imperialismus und den habgierigen britischen Räubern. Hinaus aus China und Korea, aus Indochina und Holländisch-Indien! Weg von den Inseln des Stillen Ozean! Nieder mit allen Eindringlingen im Fernen Osten!»
Im November 1922 jährte sich der 5. Jahrestag der Oktoberrevolution. In Moskau tagte um diese Zeit der Vierte Weltkongreß der Kommunistischen Internationale. Lenin, von seinem ersten Schlaganfall kaum genesen, verteidigte in seinem Redebeitrag die Neue Ökonomische Politik, er kritisierte eine Resolution des Dritten Weltkongresses über den organisatorischen Aufbau der Kommunistischen Parteien, weil sie zu sehr vom russischen Geist durchdrungen sei, und zog aus der Entwicklung seit 1917 Schlüsse, die fern von revolutionärer Euphorie waren. Der Gegner könne die Kommunisten leicht zu einem Angriff provozieren und damit auf viele Jahre hinaus zurückwerfen. «Ich meine also, daß der Gedanke, daß wir uns auf die Möglichkeit des Rückzuges vorbereiten müssen, eine sehr große Bedeutung hat, und nicht allein vom theoretischen Standpunkt aus. Auch vom praktischen Standpunkt aus müssen alle Parteien, die sich anschicken, in nächster Zeit zu einer direkten Offensive gegen den Kapitalismus überzugehen, jetzt auch daran denken, wie der Rückzug zu sichern sei.»
Das Ziel der Weltrevolution hatte Lenin nicht aufgegeben; er bekannte sich vielmehr auch in seiner letzten Rede vor einem Kongreß der Komintern ganz ausdrücklich dazu. Aber er war inzwischen zu der Einsicht gelangt, daß der Weg dorthin sehr viel länger und schwieriger sein würde, als er zur Zeit der Oktoberrevolution geglaubt hatte.[11]
Drei Wahlen und eine
Sezession:
Großbritannien in der Nachkriegszeit
Als Sinowjew im September 1920 in Baku zum «Heiligen Krieg» aufrief, war das eine Kampfansage nicht nur an die britische Präsenz in Vorderasien, sondern an das Empire überhaupt. In Europa kam als Hauptgegner Sowjetrußlands neben Großbritannien auch Frankreich in Frage, aber im Zweifelsfall sprach auch hier ein gewichtiger Grund für den Vorrang Englands: Die Londoner City war nach wie vor das internationale Finanzzentrum, und ebendies machte Großbritannien aus Moskauer Sicht zur Vormacht der kapitalistischen Welt.
Auf der Insel selbst stellten sich 1918 bald Zweifel ein, ob der Weltkrieg die Weltstellung Großbritanniens nicht doch nachhaltig erschüttert hatte. England hatte zwar den größten Teil des afrikanischen Kolonialbesitzes des Deutschen Reiches übernommen, aber die Radikalisierung des indischen und des arabischen Nationalismus war auch eine Kriegsfolge, und zwar eine, die dem Bestand des Empire sehr gefährlich zu werden drohte. 1,3 Millionen indische Soldaten waren während des Krieges an allen Fronten eingesetzt worden; daß die Überlebenden sich dauerhaft mit dem kolonialen Status ihrer Heimat abfinden würden, war in höchstem Maß unwahrscheinlich.
Anders als die Kolonien hatten die weißen Dominions aus freien Stücken Soldaten zur Unterstützung des Mutterlandes entsandt: Kanada eine halbe Million, von denen 57.000 fielen, Australien 332.000 und Neuseeland 112.000; bei den beiden letzteren Dominions lagen die Zahlen der Gefallenen bei 59.000 beziehungsweise 17.000. Auf die Kriegführung hatten die Dominions seit 1917 durch ihre Vertreter im neugeschaffenen Imperial War Cabinet Einfluß nehmen können, dem außer ihnen drei Vertreter Indiens, ein Vertreter Neufundlands, die fünf Mitglieder des britischen Kriegskabinetts sowie der Kolonialminister und der Staatssekretär für Indien angehörten.
Vier Jahre nach Kriegsende mußte Großbritannien zur Kenntnis nehmen, daß es künftig nicht mehr ohne weiteres mit einer derartigen Opferbereitschaft rechnen durfte. Als sich im türkisch-griechischen Krieg Anfang September 1922 türkische Truppen Tschanak in der neutralen Dardanellenzone näherten, drohte eine Zeit lang eine militärische Eskalation, ja ein Krieg zwischen der Türkei und Großbritannien. (Frankreich und Italien hatten während der Tschanakkrise ihre Truppenverbände bereits aus der neutralen Zone abgezogen.) In London drängte vor allem Kolonialminister Winston Churchill auf ein hartes Vorgehen gegenüber den Türken, und er wußte dabei Premierminister Lloyd George auf seiner Seite. Der kanadische Premierminister William Lyon Mackenzie King, der Regierungschef der Jahre 1921 bis 1930 und 1935 bis 1948, aber erklärte sogleich, daß das Dominion, dessen Regierung er führte, im Fall einer britischen Kriegserklärung sich, anders als 1914, nicht mehr automatisch als im Kriegszustand befindlich betrachten werde. Ähnlich äußerte sich der südafrikanische Premierminister Smuts. Diese Warnungen trugen erheblich zur Schwächung der Londoner «Kriegspartei» und zur friedlichen Lösung des britisch-türkischen Konflikts bei.
Kanada tat im Jahr nach der Tschanakkrise einen weiteren Schritt in Richtung Emanzipation vom Mutterland. Es schloß im März 1923 ein Fischereiabkommen mit den USA, ohne die britische Botschaft in Washington einzuschalten. Die Imperial Conference, die wenig später in London tagte, bestätigte das Recht der Dominions, Verträge mit dritten Staaten zu schließen. Für die weißen Dominions war der Weg damit frei zur Errichtung von Vertretungen in allen Ländern, mit denen sie diplomatische Beziehungen aufnehmen wollten – ein Recht, auf das Australien und Neuseeland, im Unterschied zu Kanada, vorerst noch keinen Wert legten. Großbritannien schuf seinerseits ein neues Amt, das Dominions Office, das gleichberechtigt neben das Colonial Office trat, auch wenn beide Ämter zunächst noch an der Spitze in Personalunion verbunden waren.
Innenpolitisch stand Großbritannien in der frühen Nachkriegszeit im Zeichen erbitterter Arbeitskämpfe und sozialer Unruhen. Ende Januar 1919 traten 70.000 Werft-, Dock- und Bergarbeiter im schottischen Industriegebiet am Clyde und im nordirischen Belfast mit dem Ruf nach der 40-Stunden-Woche in einen wilden Streik. Am Rathaus von Glasgow zogen Arbeiter im Verlauf heftiger Unruhen eine rote Fahne auf, woraufhin die Regierung den Belagerungszustand verhängte und eine 10.000 Mann starke, schwer bewaffnete Truppe mitsamt Panzern in die schottische Industriemetropole schickte. Da auch Hunderttausende von Bergarbeitern und Eisenbahnern im übrigen Land mit Streik drohten, die Bergarbeitergewerkschaft zudem die Vergesellschaftung («nationalization») der Kohlegruben forderte, schien ein landesweiter Generalstreik nicht mehr fern.
Das Militär stellte die Ordnung in Glasgow und anderen Orten rasch wieder her, für die Eindämmung der sozialen Unruhen reichte aber die Drohung mit dem Einsatz von Waffengewalt nicht aus. Die liberal-konservative Koalitionsregierung von Premierminister David Lloyd George setzte daher eine Royal Commission unter Vorsitz des hohen Richters Sir John Sankey ein, die die Lage im Kohlenbergbau untersuchen sollte. An dieser Kommission wie an der Ende Februar 1919 berufenen National Industrial Conference beteiligten sich neben Unternehmern und Experten auch die Gewerkschaften und die Labour Party. Ein erster vorläufiger Bericht der Sankey-Kommission, der im März 1919 vorgelegt wurde, trug ihre Handschrift und kam den Forderungen der Bergleute in Sachen Arbeitszeit und Lohnerhöhung weit entgegen. Der endgültige Bericht vom Juni 1919 befürwortete mit einer Stimme Mehrheit, der Stimme Sankey, die Nationalisierung der Kohlengruben. Die Regierung weigerte sich, dieser Empfehlung Folge zu leisten, erfüllte aber einige soziale Forderungen der Bergleute, was eine kurze Beruhigung bewirkte.
Im Juni 1919 traten die Arbeiter der Baumwollfabriken, im Juli die Waliser Bergleute in den Streik, woraufhin die Regierung auch in Wales Militär einsetzte. Im Herbst folgten Streiks der Eisenbahnarbeiter und der Beschäftigten der Werkstätten von Armee und Marine. Soweit die Regierung selbst mit den Gewerkschaften verhandelte, zeigte sie in Fragen der Lohnerhöhung und der Arbeitszeitverkürzung Entgegenkommen. In Sachen Nationalisierung des Bergbaus aber blieb sie hart: Es blieb beim Nein zu den Empfehlungen der Royal Commission.
Als im Frühjahr des Depressionsjahres 1921 die im Krieg eingeführte Staatskontrolle des Kohlenbergbaus zu Ende ging, nahmen die Unternehmer das zum Anlaß, Lohnsenkungen anzukündigen. Die Bergarbeitergewerkschaft, die Miners’ Federation, konterte dies mit der Forderung nach staatlicher Lohnaufsicht und einem nationalen Lohnpool und gewann dafür die Unterstützung der Gewerkschaften der Eisenbahner und der Transportarbeiter, mit denen sie sich 1914 zur «Triple Alliance» zusammengeschlossen hatte. Zum Generalstreik aber, der die Antwort auf die alsbald erfolgte Zurückweisung dieser Forderung durch Regierung und Unternehmer sein sollte, kam es nicht. Unter dem Eindruck eines drohenden Militäreinsatzes ging der Generalsekretär der Bergarbeitergewerkschaft, Frank Hodges, am 15. April 1921, dem «Schwarzen Freitag» der britischen Gewerkschaftsbewegung, auf einen Vermittlungsvorschlag ein, der lediglich eine zeitweilige Lohnerhöhung bringen sollte. Der Vorstand der Miners’ Federation lehnte den Vorschlag zwar ab, die Gewerkschaften der Eisenbahner und Transportarbeiter aber fühlten sich ihrer Solidaritätspflicht nunmehr enthoben. Die «Triple Entente» war zerbrochen.
Die isolierten Bergleute traten dennoch in den Streik, der bis zum Juli 1921 dauern sollte. Am Ende des Ausstands stand eine Vereinbarung, die für die einzelnen Bergbaugebiete eine Ankopplung regionaler Mindestlöhne an die Prozente der Kohlengruben vorsah. Die Bergarbeitergewerkschaft bezahlte ihren Mißerfolg mit einem drastischen Rückgang ihrer Mitgliederzahlen und dem Verlust der beherrschenden Stellung, die sie bisher im britischen Gewerkschaftsbund, dem Trade Union Congress, innegehabt hatte.
Insgesamt war die Gewerkschaftsbewegung im Verlauf des Krieges erstarkt: Ihre Mitgliederzahlen stiegen von 4 Millionen im Jahr 1914 auf 6,5 Millionen im Jahr 1920 und bis 1926 weiter auf 8,3 Millionen. Mit den Gewerkschaften wuchs auch die Labour Party: Sie zählte 1914 1,6, 1919 3,5 und 1920 fast 4,4 Millionen Mitglieder. Ihre Stimmenzahlen stiegen von einer halben Million bei der letzten Vorkriegswahl 1910 auf 2,2 Millionen im Dezember 1918 und 4,2 Millionen bei den Unterhauswahlen vom November 1922.
Auch nachdem sie im Dezember 1918 aus der Allparteienregierung von Lloyd George ausgeschieden war, behielt die Labour Party erheblichen Einfluß auf Politik und Gesetzgebung. Die beiden wichtigsten sozialpolitischen Gesetze der frühen Nachkriegszeit wären ohne den Druck, der von ihr und den Gewerkschaften ausging, kaum zustande gekommen: das nach dem ersten Gesundheitsminister, dem Mediziner Christopher Addison, benannte Wohnungs- und Stadtplanungsgesetz vom Juli 1919, das den staatlich geförderten Wohnungsbau einleitete, und das Gesetz über die Arbeitslosenversicherung von 1920. Es erweiterte die 1911 eingeführte Versicherung für Arbeitnehmer der Bau-, Maschinenbau- und der Schiffbauindustrie auf alle Industriezweige aus. Sie sah Beiträge von Arbeitgebern und Arbeitnehmern vor, soweit die letzteren weniger als 50 Pfund Sterling im Jahr verdienten. Wenn sie mindestens zwölf Wochen lang Beiträge gezahlt hatten, konnten sie im Fall der Erwerbslosigkeit 15 Wochen lang Arbeitslosenunterstützung beziehen. Als kurz nach der Verabschiedung des Gesetzes die Konjunktur einbrach und die Arbeitslosenzahlen stark anstiegen, mußte der Staat einspringen – und das auch nach Ablauf der gesetzlich vorgesehenen Unterstützungsdauer.
Das brisanteste Problem der britischen Politik der Jahre 1919 bis 1921 war der Kampf um die Unabhängigkeit Irlands, der mit der Proklamierung der irischen Republik durch die Dáil Éireann, das revolutionäre irische Parlament, am 21. Januar 1919 begann. Der Regierung der Sinn Féin unter Eamon de Valera gelang es, sich einen breiten Rückhalt in der katholischen Bevölkerung zu verschaffen, wobei sich die neuen Parish Counts, örtliche Schiedsgerichte, als überaus hilfreich erwiesen. Den militärischen Unabhängigkeitskampf hatten die Irish Volunteers der Irish Republican Army (IRA) mit der Polizei des Vereinigten Königreiches, der Royal Irish Constabulary, und ihren freiwilligen Hilfstruppen, meist Weltkriegsteilnehmern im Offiziersrang, auszufechten. Es war ein blutiger Guerillakrieg, der auf beiden Seiten mit großer Brutalität geführt wurde und bis weit in das Jahr 1921 hinein andauerte.
Eine politische Lösung sollte aus Londoner Sicht der Government of Ireland Act vom Dezember 1920 bringen. Er sah eine Teilung Irlands in zwei Staaten vor, wobei der größere im Süden auch drei der überwiegend katholischen Grafschaften Ulsters umfassen sollte. Gemeinsames Staatsoberhaupt war dem Gesetz zufolge der König von England. Das vorgesehene Zweikammersystem sollte auch dazu dienen, den protestantischen Grundbesitzern des Südens zu einer Vertretung im Oberhaus des neuen Staates zu verhelfen. Doch angenommen wurde das Gesetz nur vom neu geschaffenen Parlament Ulsters. Im Süden gewann Sinn Féin 124 von 128 Sitzen im Unterhaus, weigerte sich aber, die Mandate auszuüben. Das Parlament konnte also seine Arbeit nicht aufnehmen. Statt auf eine militärische Lösung des Konflikts zu setzen, entschied sich London für Verhandlungen mit den irischen Republikanern.
Das erste Ergebnis der Gespräche zwischen den Regierungen von Lloyd George und Eamon de Valera war ein Waffenstillstand, der am 11. Juli 1921 vereinbart wurde. Am schwierigsten war der Versuch, einen Ausgleich zu finden zwischen dem republikanischen Credo der Iren und dem Drängen der Briten auf einen Dominionstatus Irlands (wobei Ulster, wenn es dies wollte, weiter dem Vereinigten Königreich angehören sollte). An der Spitze der Delegation aus Dublin, die im Herbst 1921 die Verhandlungen über die Verbindung Irlands zum Empire führte, standen der gemäßigte Arthur Griffith und einer der Führer des bewaffneten Aufstands, Michael Collins. Beide stimmten am 6. Dezember einem Vertragstext zu, der vorsah, daß Irland als Dominion dem Empire angehören und der König von England auch weiterhin König von Irland sein sollte. Außerdem sicherte sich Großbritannien einige Flottenstützpunkte in Irland, gestand dem Freistaat ansonsten aber die staatliche Unabhängigkeit, auch in finanzieller Hinsicht, zu.
In Irland stieß das Abkommen auf heftigen Widerspruch der entschiedenen Republikaner. Am meisten empörte sie der beabsichtigte Treueid der Beamten, Richter, Minister und Abgeordneten auf den Träger der britischen Krone in seiner Eigenschaft als Oberhaupt der Nationen, welche zusammen das «British Commonwealth of Nations» bildeten. Am 7. Januar 1927 nahm das irische Parlament den Vertrag nach heftiger Debatte mit der knappen Mehrheit von 64 zu 57 Stimmen an, woraufhin de Valera, der die volle Zugehörigkeit zum Empire und damit den Vertrag ablehnte, als Ministerpräsident zurücktrat und von Griffith abgelöst wurde. Die Öffentlichkeit, die katholischen Bischöfe und die Mehrheit der Irish Republican Brotherhood, der politischen Sammlungsbewegung der irischen Nationalisten, begrüßten den Vertrag, da er Irland der Unabhängigkeit so nahe brachte, wie das unter den gegebenen Umständen möglich erschien.
Die radikale Minderheit ließ sich davon nicht beeindrucken. Im April 1922 besetzte eine Gruppe von Offizieren der IRA einige öffentliche Gebäude in Dublin und gab damit das Signal zum irischen Bürgerkrieg. De Valera bildete eine Gegenregierung; an die Spitze der Regierungstruppen trat Collins. Mit Hilfe von Kanonen, die sich die Dubliner Regierung von den Briten auslieh, konnte er die Rebellen in der Hauptstadt nach heftigen Kämpfen niederwerfen; er selbst wurde im August 1922 aus dem Hinterhalt erschossen. Nach schweren Niederlagen der radikalen Republikaner ordnete de Valera schließlich am 24. Mai 1923 die Einstellung des Feuers an.
Die Spaltung der Unabhängigkeitsbewegung aber dauerte an. Im Sommer 1923 fanden die ersten freien Wahlen statt, an denen entsprechend der Verfassung vom Dezember 1922 auch die Frauen gleichberechtigt teilnehmen konnten. Die Vertragsgegner erlangten 35 der insgesamt 128 Mandate, nahmen sie aber nicht an. Auf den gemäßigten Flügel von Sinn Féin, der sich unter dem Namen Cumannnan Gaedheal als selbständige Partei konstituierte, entfielen 58, auf die übrigen Befürworter des Vertrags, darunter die irische Labour Party, 35 Sitze. An die Spitze der Regierung trat, an Stelle des verstorbenen Griffith, der moderate William T. Cosgrave. Eine Gruppe der entschieden republikanischen Kräfte unter de Valera schloß sich 1926 zu einer Partei, der Fianna Fáil, zusammen und stellte sich im Jahre 1927 auf den Boden des britisch-irischen Vertrages. Die 44 Abgeordneten der Fianna Fáil, die bei den Wahlen von 1927 in den Dáil gelangten, leisteten (mit dem Argument, daß dies nur eine Formalität sei) den Treueid auf den König von England. Der Freistaat begann, sich zu einer «normalen» westlichen Demokratie zu entwickeln.
Das Verhältnis zwischen dem Freistaat und dem überwiegend protestantischen Norden blieb gespannt. Nachdem es nicht gelungen war, im Rahmen einer gemeinsamen Grenzkommission die Grenze zwischen den sechs nördlichen und den 16 südlichen Counties zugunsten des Freistaates zu korrigieren, schloß dieser 1925 ein Abkommen mit Großbritannien, das die bestehenden Grenzen, von wenigen Abweichungen abgesehen, bestätigte. Die Katholiken des Nordens, die ein Drittel der Bevölkerung stellten, nahmen 1925 erstmals ihre Sitze im Belfaster Unterhaus ein, wo die probritischen Unionisten über eine unangefochtene Mehrheit verfügten. Die Feindschaft zwischen Protestanten und Katholiken wurde dadurch nicht gemildert. Sie stieg noch, als mit dem Aufstieg von Fianna Fáil die Befürworter einer Wiedervereinigung Irlands im Süden an Boden gewannen. Die radikalen Republikaner Ulsters verweigerten sich der Mitarbeit im Parlament. Über ihren militärischen Arm, die IRA, trugen sie, im Wettstreit mit den paramilitärischen Einheiten des protestantischen Oranierordens, entscheidend dazu bei, daß Ulster noch auf viele Jahrzehnte der Unruheherd Großbritanniens blieb.
Die Staatswerdung Irlands war eine historische Zäsur: Sie zog einen Schlußstrich unter vier Jahrhunderte englischer Fremdherrschaft, die mit der Unterwerfung der Insel unter Heinrich VIII. begonnen hatte. Die Konservativen hatten sich seit der Ära Gladstone gegen alle Versuche der Liberalen aufgelehnt, Irland die Home Rule zu gewähren, und sich auch noch nach 1918 der Aufkündigung der Union mit England entgegengestemmt. Unmittelbar nach dem Weltkrieg aber einen großen Krieg zur Verhinderung der Sezession Irlands zu führen waren auch die wenigsten Tories bereit. So fanden sie sich schließlich auf Drängen Lloyd Georges mit einer Lösung ab, die es der englischen Krone ermöglichte, fürs erste wenigstens den Schein der Oberhoheit über Irland zu wahren. Daß dies nur eine Zwischenstation auf dem Weg zur vollen Souveränität sein würde, dürften auch die meisten Tories geahnt haben.
Die Entlassung Irlands in die Unabhängigkeit war die letzte große Leistung des Kabinetts Lloyd George. Im Herbst 1922 mehrten sich die Zeichen, die auf ein baldiges Ende der liberal-konservativen Koalition hindeuteten. Am 7. Oktober veröffentlichte die «Times» einen Brief des konservativen Parteiführers und Lordsiegelbewahrers Andrew Bonar Law, worin dieser sich von der als herausfordernd und gefährlich empfundenen Türkeipolitik des Premierministers distanzierte. Auch vom Außenminister, Lord Curzon, wußten nicht nur die Eingeweihten, daß er nicht länger bereit war, Lloyd George zu unterstützen. Am 19. Oktober trafen sich 275 konservative Unterhausabgeordnete im Carlton Club, um über den künftigen Weg ihrer Partei zu beraten. Am Ende stand eine klare Mehrheit von 185 zu 88 Stimmen für die Beendigung der Koalition. Noch am gleichen Tag trat David Lloyd George vom Amt des Regierungschefs zurück. Am 24. Oktober übernahm Bonar Law seine Nachfolge. Lord Curzon blieb Außenminister; das Schatzministerium übernahm der bisherige Handelsminister Stanley Baldwin, der «kommende Mann» der Tories, die sich seit der staatlichen Verselbständigung Irlands nicht mehr Unionist Party, sondern wieder Conservative Party nannten.
Die erste Amtshandlung der neuen Regierung war die Auflösung des Unterhauses. Aus den Neuwahlen vom November 1922 gingen die Konservativen mit 347 Sitzen als Sieger hervor. Sie verfügten über einen Vorsprung von 87 Mandaten gegenüber der Opposition. Einen großen Erfolg verbuchte auch die Labour Party, die die Zahl der Abgeordneten von zuletzt 75 auf 142 steigern konnte. Die Liberalen der beiden Richtungen, also Asquith und Lloyd George, erlangen zusammen 117 Sitze – ein Minus von 45 Mandaten gegenüber den Wahlen vom Dezember 1918.
Bonar Law blieb nur ein halbes Jahr im Amt. Im Mai 1923 trat er wegen einer schweren Erkrankung zurück; im Oktober starb er. Sein Nachfolger wurde Stanley Baldwin, der den Tories bis 1937 seinen Stempel aufdrücken sollte, obwohl er sich bis dahin in seinen Ämtern nicht besonders hervorgetan hatte. Das drängendste Problem seines ersten Kabinetts war die hohe Arbeitslosigkeit, die Baldwin mit hohen Schutzzöllen zu bekämpfen gedachte, wie sie während des Krieges für Kraftfahrzeuge, Uhren und Musikinstrumente eingeführt worden waren. Im Oktober 1923 kündigte er einen umfassenden Zollschutz für die britische Wirtschaft an. Da sein Vorgänger Bonar Law sich ein Jahr zuvor öffentlich darauf festgelegt hatte, daß sich am Zollsystem nichts Wesentliches ändern würde, hielt Baldwin Neuwahlen für unumgänglich. Sie fanden am 6. Dezember 1923 statt und zeitigten ein Ergebnis, das die Pläne des Premiers zunichte machte. Die Konservativen blieben zwar die stärkste Partei, verloren aber gegenüber dem Vorjahr 90 Mandate. Die Wahlsieger waren die Labour Party und die Liberalen, die beide die Rückkehr zum Freihandel gefordert hatten. Labour konnte die Zahl seiner Mandate von 142 auf 192 steigern; die Liberalen erhielten 158 statt 117 Sitze.
Zusammen waren Labour und Liberale also stärker als die Konservativen. Da Baldwin keine Regierungsmehrheit zustande brachte, erteilte König Georg V. den Auftrag zur Regierungsbildung an den Labourführer James Ramsay MacDonald. Seit dem 23. Januar 1924 stand er an der Spitze der ersten Labour-Regierung, die zwar über keine eigene parlamentarische Mehrheit verfügte, aber von den Liberalen toleriert wurde. Die Politik des neuen Kabinetts war eher liberal als sozialistisch. Schatzkanzler Philip Snowden schaffte die Schutzzölle aus der Kriegszeit ab und senkte die Steuern. Das Ziel, die Arbeitslosigkeit mit Hilfe öffentlicher Arbeiten abzubauen, konnte er auf diesem Weg nicht erreichen. Das Etikett «sozial» verdiente sehr viel eher die kommunale Förderung des Wohnungsbaus für Arbeiterfamilien, die Gesundheitsminister Arthur Greenwood mit beträchtlichem Erfolg einleitete.
Die erste Labour-Regierung war gerade eine Woche im Amt, als sie einen spektakulären Schritt tat: Am 1. Februar 1924 erkannte sie die Sowjetunion diplomatisch an. Diesem Paukenschlag folgten langwierige Verhandlungen über ein neues Handelsabkommen und einen Vertrag, der die Frage der russischen Vorkriegsschulden und die Rechte der britischen Bürger in der Sowjetunion regelte und seinerseits die Voraussetzung für eine britische Anleihe bilden sollte. Als die entsprechenden Vereinbarungen am 6. August 1924 unterzeichnet wurden, hagelte es Proteste bei den Konservativen und den Liberalen der Richtung Lloyd George: Der Labour-Regierung wurde vorgeworfen, sie habe durch die Abmachungen mit der Sowjetunion gegen vitale britische Interessen verstoßen.
Ob MacDonald im Unterhaus eine Mehrheit für die Abkommen finden würde, war zweifelhaft. In dieser Situation kam es dem Kabinett höchst ungelegen, daß der Herausgeber des kommunistischen Wochenblattes «Workers Weekly», J. R. Campbell, einen vermutlich vom Vorsitzenden der Kommunistischen Partei Großbritanniens, Harry Pollitt, verfaßten Artikel veröffentlichte, in dem die britischen Arbeiter aufgefordert wurden, sich nicht an Kriegen zu beteiligen, in denen sie gegen ihre eigenen Klassenbrüder kämpfen müßten. Eine Anklage wegen Aufrufs zur Meuterei wurde vom Generalstaatsanwalt rasch wieder zurückgezogen – wie die Konservativen behaupteten, auf Druck der Regierung. MacDonald bestritt am 30. September im Unterhaus den Versuch einer Einflußnahme auf die Justiz, konnte damit aber einen Tadelsantrag der konservativen Opposition nicht verhindern. Der Premierminister verband daraufhin die Abstimmung mit der Vertrauensfrage. Am 9. Oktober mußte der Premier dann doch einräumen, daß er mit der Staatsanwaltschaft über den Fall Campbell gesprochen hatte. In der anschließenden Abstimmung über den konservativen Antrag unterlag die Regierung mit 368 zu 198 Stimmen. MacDonald antwortete mit der Auflösung des Unterhauses und der Anordnung von Neuwahlen – den dritten innerhalb von zwei Jahren.
Am 25. Oktober, vier Tage vor der Wahl, veröffentlichte die «Times» einen angeblichen Brief von Grigorij Sinowjew vom 15. September, in dem der Generalsekretär des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale die britischen Kommunisten aufforderte, die Labour Party unter ihre Kontrolle zu bringen und die Revolution vorzubereiten. Eine Kopie des Schriftstücks war auch der «Daily Mail» und am 10. Oktober dem Foreign Office zugespielt worden, das seinerseits die «Times» informierte – zusammen mit einem Protest, in dem die Echtheit des Dokuments unterstellt wurde. Tatsächlich war der «Sinowjew-Brief» eine Fälschung russischer Emigranten in Wien. In welchem Ausmaß er den Ausgang der Wahlen beeinflußte, muß offen bleiben.
Bei den Wahlen vom 29. Oktober gewann die Labour Party zwar auf Kosten der Liberalen leicht an Stimmen, die Zahl ihrer Mandate aber sank von 192 auf 151. Die Liberalen, die am 10. Oktober gegen die Regierung MacDonald gestimmt hatten, stellten nur noch 42 Abgeordnete; ihr Stimmenanteil fiel von 30 auf knapp 18 Prozent. Die Konservativen erzielten einen Stimmenanteil von 48 Prozent und 414 Sitze, was einen Gewinn von 161 Mandaten bedeutete. Ein prominenter Liberaler, Winston Churchill, der seit 1906 zahlreiche Kabinettsposten, darunter die des Handels-, des Kriegs- und des Kolonialministers, innegehabt hatte, wurde als «Constitutionalist» mit der Unterstützung vieler konservativer Wähler ins Unterhaus gewählt. Er schloß sich dort der Partei an, der er bereits vor seinem Übertritt zu den Liberalen im Jahre 1904 angehört hatte: den Tories. In der neuen Regierung übernahm Churchill das Amt des Schatzkanzlers. Premierminister wurde erneut Stanley Baldwin. Er sollte fast fünf Jahre lang, bis zu den Unterhauswahlen vom 30. Mai 1929, an der Spitze der Regierung stehen.
Die Unterhauswahlen vom Oktober 1924 markieren nicht nur das Ende der britischen Nachkriegszeit und das, was Baldwin, ähnlich wie vor ihm schon der amerikanische Präsident Warren Harding, als «Rückkehr zur Normalität» bezeichnete. Der Wahlsieg bedeutete auch die Etablierung des neuen Zweiparteiensystems: Nicht mehr die Liberale Partei, sondern die Labour Party war nun die große Widersacherin der Tories. Die Liberalen hatten sich im späten 19. Jahrhundert zur Zusammenarbeit mit der aufsteigenden Arbeiterbewegung entschlossen, aber sie blieben eine bürgerliche Honoratiorenpartei und waren darum schon strukturell nicht fähig, die Arbeitermassen dauerhaft an sich zu binden. Den Konservativen hingegen gelang es, sich zur Volkspartei der rechten Mitte zu wandeln und durch eine volkstümliche Rhetorik und soziale Versprechungen einen erheblichen Teil der Arbeiterschaft zu sich herüberzuziehen: Auch im Oktober 1924 gewannen sie mehr Arbeiterstimmen als die Labour Party. Diese hatte die Grenzen ihres Wachstums aber, wie sich zeigen sollte, noch längst nicht erreicht. Nach den Wahlen vom Mai 1929 mußte Baldwin sein Amt als Premierminister an den Politiker abtreten, den er im November 1924 abgelöst hatte: an Ramsay MacDonald.[12]
Konfrontationen und Kompromisse:
Frankreich 1919–1922
Wie in Großbritannien so war auch in Frankreich schon bald nach Kriegsende von der seit 1914 immer wieder feierlich beschworenen nationalen Einheit nicht mehr viel zu spüren. Frankreich war das Land, das, gemessen an der Bevölkerungszahl, die meisten Kriegstoten zu beklagen hatte: Über 10 Prozent der erwachsenen männlichen Bevölkerung waren gefallen. Die Kaufkraft des Franc erreichte Ende 1918 nur noch 28 Prozent des Vorkriegswertes; die Reallöhne waren 1919 um 15 bis 20 Prozent niedriger als 1914. Um die Arbeiter zu besänftigen, wurde im April 1919 der Achtstundentag eingeführt. Doch der Ausbruch von Streiks ließ sich durch solche Zugeständnisse nicht verhindern. Im Frühjahr 1919 traten nach den Grubenarbeitern die Arbeiter der Metallindustrie und der öffentlichen Verkehrsbetriebe der Hauptstadt in den Ausstand; nennenswerte praktische Ergebnisse hatten diese Arbeitskämpfe aber nicht.
Daß im Verlauf einiger dieser Streiks, namentlich in Paris, revolutionäre Parolen zu hören waren, steigerte die Angst des Bürgertums vor einer Ausbreitung des Bolschewismus. Ministerpräsident Clemenceau ließ sich, was Angriffe auf den Kommunismus betraf, von keinem anderen Politiker an Schärfe übertreffen. Rechtzeitig vor den Kammerwahlen vom 19. November 1919 schlossen sich die meisten Parteien, die die Regierung unterstützten, in einem Wahlbündnis, dem Bloc national, zusammen. Er konnte 437 von 616 Sitzen erobern. Das lag auch an einer Wahlrechtsreform, die gemeinsamen Kandidatenlisten, wenn sie in einem der acht bevölkerungsreichsten Departements die absolute Mehrheit der Stimmen erreichten, alle der dort zu vergebenden Mandate sicherte. Das Nachsehen hatten die übrigen Parteien. Die oppositionelle Linke erreichte 180 Sitze, von denen auf die bürgerlichen Radikalsozialisten, kurz «Radicaux» genannt, 88, die Sozialisten der SFIO 68 Sitze entfielen. Die rechte Mitte kam auf 130, die linke Mitte auf 100 Mandate. Die Wähler der Abgeordneten waren wie bisher nur die Franzosen männlichen Geschlechts: Das Frauenwahlrecht, das die Kammer bereits beschlossen hatte, war vom Senat verworfen worden.
Wenig später, im Januar 1920, stand die Wahl des Präsidenten der Republik an. Clemenceau, der Wahlsieger vom November, strebte die Nachfolge des Amtsinhabers Poincaré an, mußte aber zu seiner Überraschung erleben, daß viele der Abgeordneten, die ihn bisher unterstützt hatten, ganz andere Absichten verfolgten: Sie wünschten kein starkes, sondern ein lenkbares Staatsoberhaupt und entschieden sich darum für den politisch farblosen Kammerpräsidenten Paul Deschanel. Clemenceau trat daraufhin sofort als Ministerpräsident zurück und zog sich verbittert in die Provinz zurück. Seine Nachfolge übernahm Alexandre Millerand, ein ehemaliger Sozialist, der inzwischen dem rechten Spektrum zuzurechnen war. Als Deschanel wenige Monate nach seiner Wahl schwer erkrankte und im November 1920 zurücktreten mußte, wurde Millerand zu seinem Nachfolger gewählt. Neuer Ministerpräsident wurde nach einem kurzen Zwischenspiel im Januar 1921 Aristide Briand, auch er ein nach rechts gewanderter ehemaliger Sozialist.
In die Zeit, in der Millerand an der Spitze der Regierung stand, fielen neue große Arbeitskämpfe. Im Februar 1920 verlangten die Eisenbahner neben höheren Löhnen die Verstaatlichung der Eisenbahnen. Für den 1. Mai wurde der unbefristete Generalstreik beschlossen, an dem sich, nachdem die Dachorganisation der sozialistischen Gewerkschaften, die CGT, sich zur Unterstützung des Aufrufs durchgerungen hatte, auch Arbeiter aus anderen öffentlichen Betrieben sowie die Gewerkschaften der Bergleute, der Metall- und der Bauarbeiter, aber längst nicht alle Arbeiter und auch nicht alle Eisenbahner beteiligten. Millerand warf der CGT vor, sie bereite einen revolutionären Umsturz vor; Studenten und Gymnasiasten stellten sich als Streikbrecher zur Verfügung; die Eisenbahngesellschaften blieben unnachgiebig.
Ende Mai sah sich die CGT genötigt, zum Abbruch der Aktionen aufzurufen. Von den entlassenen Eisenbahnern wurden viele nicht mehr eingestellt. Eine vom Gerichtshof des Departements Seine im Januar 1921 verfügte Auflösung der CGT wurde nicht vollstreckt, an ihrer politischen Niederlage aber gab es nichts zu deuteln. Die Erfahrungen von 1920 trugen erheblich zu jener Spaltung erst der SFIO, dann auch der CGT bei, vor der bereits im Zusammenhang mit dem Zweiten Weltkongreß der Dritten Internationale die Rede war. Den größten Nutzen aus der Unzufriedenheit und Verbitterung im französischen Proletariat zogen die Kommunisten. Nutznießer der Spaltung der Arbeiterbewegung aber waren andere: vorneweg die Unternehmerverbände, die sich 1919 unter die Ägide von Handelsminister Étienne Clémentel zu einem einzigen Dachverband, der Confédération générale de la production française (CGPF), zusammengeschlossen hatten.
Frankreichs nichtkommunistische Linke stand deutlich links von der deutschen Sozialdemokratie. Auf ihrem ersten Nachkriegsparteitag im April 1919 in Paris bekannte sich die SFIO zum proletarischen Klassenkampf, der eine «unnachgiebige Opposition gegen die bürgerliche Macht» verlange, und verurteilte «jedwede Teilnahme an der Ausübung der Macht» (condamne toute participation à l’exercice de ce pouvoir). Damit zogen die Sozialisten einen Schlußstrich unter die «Union sacrée» der Kriegsjahre und kehrten zurück zur «Resolution Kautsky», auf die sich die Zweite Internationale auf ihrem Pariser Kongreß vom September 1900 verständigt hatte: Demnach war die Teilnahme von Sozialisten an einer bürgerlichen Regierung ein «gefährliches Experiment», das nur dann statthaft war, wenn es sich um «einen vorübergehenden Notbehelf und eine Zwangslage» handelte.
Der maßgebliche Sprecher der SFIO war seit der Spaltung der Partei in Sozialisten und Kommunisten auf dem Parteitag von Tours im Dezember 1920 der damals achtundvierzigjährige Léon Blum, der aus einer Familie des bürgerlichen Pariser Judentums entstammte und sich einen Namen als Literatur- und Theaterkritiker gemacht hatte. Er bemühte sich, den Gegensatz zu den Kommunisten nicht als unüberbrückbar, sondern als einen «Familienzwist» (une querelle de famille) erscheinen zu lassen. Blum hielt fest am Ziel der «Diktatur des Proletariats», die er zwar als eine Klassen- und Parteidiktatur, nicht aber, wie die Kommunisten, als eine Diktatur einiger weniger Parteiführer verstanden wissen wollte. Die einzige Form der Machtausübung, die die Sozialisten in der Zeit bis zur Eroberung der Macht durch die Arbeiterklasse für legitim erklärten, war die der Duldung (tolérance) eines bürgerlichen Linkskabinetts, wie sie erstmals nach den Wahlen vom Mai 1924 in Form des «Cartel des gauches» praktiziert wurde.
Der Unterschied zur deutschen Sozialdemokratie war markant: Hätte die SPD sich nach 1918 auf ihre Vorkriegsposition zurückgezogen und einer Koalition mit gemäßigten bürgerlichen Parteien verweigert, wäre es zur Errichtung der Weimarer Republik gar nicht erst gekommen. In Frankreich verließen sich die Sozialisten darauf, daß die Kräfte des republikanischen Bürgertums links der Mitte stark genug waren, um mit parlamentarischer Duldung der SFIO regieren zu können, wenn es die Wahlergebnisse denn erlaubten.
Zwischen den gespaltenen Linken und der Rechten war fast alles strittig, was auf der Tagesordnung der französischen Politik nach 1918 stand. Nicht einmal hinsichtlich der Behandlung der nach Frankreich zurückgekehrten Provinzen Elsaß und Lothringen gab es einen umfassenden nationalen Konsens: Die Kommunisten setzten sich für eine weitreichende Autonomie dieses Gebiets ein, waren damit jedoch völlig isoliert. Die Vertreibung von rund 200.000 «Altdeutschen», die sich erst nach der Annexion von 1871 in Elsaß und Lothringen niedergelassen hatten, darunter die Professoren der «Reichsuniversität» Straßburg und alle höheren Beamten, erfolgte 1918/19, ohne daß es darüber zu größeren Debatten in Frankreich gekommen wäre. (Auf Grund massiven amerikanischen Drängens erhielt rund die Hälfte der Ausgewiesenen später die Möglichkeit, an ihre bisherigen Wohnsitze zurückzukehren.)
Wenig kontrovers war auch die forcierte sprachliche und kulturelle Reassimilierung der Elsässer und deutschsprachigen Lothringer, die fortan als vornehmste Aufgabe von Schulen und Hochschulen betrachtet wurde. Für entschiedene Laizisten war es hingegen ein Ärgernis, daß die Trennung von Staat und Kirche, die durch das Gesetz vom 5. Dezember 1905 kodifizierte Errungenschaft des französischen Kulturkampfes, um die Gefühle der überwiegend katholischen Bevölkerung zu schonen, in Elsaß-Lothringen nicht eingeführt wurde: Ihre Gehälter erhielten die katholischen und protestantischen Geistlichen nunmehr vom laizistischen französischen Staat. Elsaß-Lothringen war damit der einzige Teil Frankreichs, in dem das unter Napoleon Bonaparte 1801 abgeschlossene Konkordat fortbestand.
Das regionale Arrangement mit der katholischen Kirche fügte sich gut in die allgemeine Kirchenpolitik der Regierungen des Bloc national. Briand bereitete, um der konservativen Rechten ein positives Signal zu geben, seit Beginn seiner Regierungszeit im Januar 1921 die Wiederaufnahme der 1904 abgebrochenen Beziehungen mit dem Vatikan vor, die dann im Mai 1921 vom Senat gebilligt wurde. Papst Pius XI., der im Februar 1922 zum Oberhaupt der katholischen Kirche gewählt wurde, zeigte sich seinerseits bereit, die Trennung von Staat und Kirche, außer in Elsaß-Lothringen, anzuerkennen, und erreichte damit die stillschweigende Duldung der Tätigkeit von Mönchsorden, die durch ein Gesetz von 1901 aufgelöst worden waren. Auf das Verhältnis zwischen Staat und Kirche entspannend wirkte sich auch ein symbolischer Akt aus: 1920 wurde Jeanne d’Arc, die Jungfrau von Orléans, heiliggesprochen und neben Maria, der Mutter Jesu, zur zweiten Patronin Frankreichs erklärt – eine Geste, die auch in kirchenfernen Kreisen des patriotischen Frankreich lebhaft begrüßt wurde.
Die Annäherung zwischen Staat und Kirche wurde von der laizistischen Linken ebenso bekämpft wie von traditionsbewußten Teilen des Klerus, die eine Verwischung der bislang klaren Fronten fürchteten. In der politischen Mitte hingegen konnte sich nun eine christlich-demokratische Partei, der 1924 gegründete Parti Populaire Démocratique (PPD), entfalten, der im Rahmen der Republik, so wie sie war, um Stimmen warb (und dabei sicher erfolgreicher gewesen wäre, hätten die Frauen schon das Wahlrecht gehabt, das sie erst 1944 erhielten). Einer der führenden Parlamentarier des PPD war der Metzer Rechtsanwalt Robert Schuman, der nach dem Zweiten Weltkrieg einer der Pioniere der westeuropäischen Integration werden sollte. Kirchentreue katholische Arbeiter fanden ihre gewerkschaftliche Heimat in der im Februar 1920 gegründeten Confédération des Travailleurs Chrétiens (CFTC), die zwar den Klassenkampf, nicht jedoch das Mittel des Streiks ablehnte und sich dabei auf das Manifest der katholischen Soziallehre, die Enzyklika «Rerum Novarum» von Papst Leo XIII. aus dem Jahr 1891, berief. Mit den 150.000 Mitgliedern, die sie 1920 zählte, war sie fast ein Zwerg, verglichen mit den 2 Millionen Mitgliedern der noch ungespaltenen CGT, aber doch in manchen Regionen stark genug, um von den Unternehmerverbänden als ernstzunehmender Kontrahent eingeschätzt zu werden.
Nicht nur im Verhältnis zur katholischen Kirche verdient die Regierung Briand das Prädikat «gemäßigt». Auch im wichtigsten Bereich der auswärtigen Politik, dem Verhältnis zum besiegten Deutschland, bemühte sich der Ministerpräsident, der zugleich auch das Amt des Außenministers innehatte, seit dem Sommer 1921 um einen Ausgleich. Ein erster Versuch in dieser Richtung war das «Wiesbadener Abkommen», das nach längeren Verhandlungen am 6. Oktober 1921 vom Minister für die befreiten Gebiete, Louis Loucheur, und dem deutschen Wiederaufbauminister Walther Rathenau unterzeichnet wurde. Es sah vor, daß die deutschen Reparationszahlungen an Frankreich in großem Umfang nicht in Goldmark, sondern in Form von Sachleistungen erbracht werden konnten, was einem weiteren Verfall der deutschen Währung entgegenwirken sollte. Da die französischen Industriellen in ihrer Mehrheit die Vereinbarung zu hintertreiben verstanden, zeitigte das von der Rechten scharf kritisierte Abkommen in der Praxis jedoch keine nennenswerten Folgen.
Als Deutschland wenig später ein Moratorium für die Reparationszahlungen forderte, reagierte der britische Premierminister Lloyd George positiv. Bei einem Besuch Briands in London im Dezember 1921 empfahl er seinem französischen Kollegen, auf das Berliner Ersuchen einzugehen. Briand war dazu bereit, nicht jedoch Präsident Millerand, der in der Abwesenheit des Regierungschefs die Sitzungen des Ministerrats leitete. Auf einer interalliierten Konferenz in Cannes Anfang Januar 1922 wurde das Thema erneut aufgegriffen. Lloyd George schlug nunmehr vor, das Problem im Rahmen einer Weltwirtschaftskonferenz zu lösen, zu der auch Deutschland und Sowjetrußland eingeladen werden sollten. Französisches Entgegenkommen in der Reparationsfrage wollte der Premier mit einer britischen Garantie für die französischen und die belgischen Grenzen, nicht jedoch für die Grenzen der mit Frankreich verbündeten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas honorieren.
Briand stimmte zu, woraufhin die Teilnehmer die Einberufung einer solchen Konferenz auf den 10. April in Genua beschlossen. Präsident Millerand und Raymond Poincaré, der Präsident des auswärtigen Ausschusses des Senats, intervenierten jedoch sogleich mit Telegrammen, die Briand desavouierten. Der Ministerpräsident kehrte nach Paris zurück, wo er am 12. Januar, ohne das als sicher anzunehmende Mißtrauensvotum der Kammer abzuwarten, seinen Rücktritt erklärte. Seine Nachfolge trat drei Tage später sein Kritiker Poincaré an, der wie Briand zugleich auch das Amt des Außenministers übernahm.
Das neue Kabinett stand deutlich rechts vom bisherigen. Das britische Garantieangebot knüpfte Poincaré an Bedingungen, die einer Ablehnung gleichkamen: Er verlangte ein Bündnis auf Gegenseitigkeit, das auch die Grenzen der ostmittel- und südosteuropäischen Staaten garantierte und auch für den Fall gelten sollte, daß Deutschland in die entmilitarisierte Zone des Rheinlandes einmarschierte. Außerdem dürfe es kein Junktim zwischen den Reparationen und dem Garantiepakt geben.
Die Weltwirtschaftskonferenz in Genua begann am 10. April und endete am 19. Mai 1922. Vertreten waren die meisten europäischen Staaten, darunter Deutschland und Sowjetrußland, außerdem Japan und die britischen Dominions, nicht jedoch die USA und die Türkei, die ebenfalls eingeladen worden waren. Chef der französischen Delegation war Justizminister Louis Barthou. Im Auftrag Poincarés verlangte er von Deutschland die unverzügliche Erfüllung seiner Reparationspflichten und von Sowjetrußland die Anerkennung der Vorkriegsschulden des Zarenreiches sowie die Entschädigung der ausländischen Aktionäre verstaatlichter Unternehmungen. Frankreich durchkreuzte damit erneut die britische Bereitschaft zu Zugeständnissen gegenüber den beiden «Parias», die erstmals nach dem Krieg an einer internationalen Konferenz teilnahmen. Ungewollt ebnete Paris damit den Weg zum deutschrussischen Vertrag von Rapallo, von dem an anderer Stelle noch die Rede sein wird. Daß die Weltwirtschaftskonferenz ergebnislos endete, war nicht nur, aber doch zu wesentlichen Teilen eine Folge der unnachgiebigen Haltung Frankreichs.
Der fortdauernde Gegensatz zu Deutschland bestimmte im Frühjahr 1922 auch die innenpolitische Debatte um ein neues Wehrgesetz. Die Regierung Poincaré bestand auf einem stehenden Heer von 400.000 Mann, verkürzte aber die Dienstzeit um die Hälfte, nämlich von 36 auf 18 Monate. Die oppositionellen Sozialisten hatten nicht die geringste Chance, ihr Konzept einer Volksmiliz mit kurzer Dienstpflicht durchzusetzen.
Im Sommer 1922, als die Nachkriegsdepression allmählich zu Ende ging, kam es erneut zu größeren Streikaktionen, die aber nicht mehr die Dimensionen von 1920 erreichten. Die französische Währung blieb schwach: Ihr Kurs sank zwischen Dezember 1920 und April 1922 gegenüber dem Pfund Sterling von 59 auf 48 Francs. Die französische Wirtschaft erholte sich 1922 nur langsam, während die exportorientierte deutsche Wirtschaft, bedingt durch die sehr viel höhere Geldentwertung, zu prosperieren schien. Poincaré hielt die deutsche Inflation für politisch gewollt, ja für einen Trick, mit dem das Reich versuchte, seinen Reparationspflichten zu entgehen. Deshalb blieb er in der Reparationsfrage hart und wies eine neue Berliner Moratoriumsforderung vom Juli 1922, die von Lloyd George verständnisvoll aufgenommen wurde, entschieden zurück. Vier Jahre nach Kriegsende deutete nichts auf eine Entspannung im deutsch-französischen Verhältnis und alles auf eine Konfrontation hin. Die «Politik der produktiven Pfänder», mit der die französisch-belgische Ruhrbesetzung vom Januar 1923 begründet wurde, warf ihre Schatten voraus.[13]
Selbstzerstörung einer
Demokratie:
Italiens Weg in den Faschismus
In Italien nahmen die sozialen Kämpfe der Nachkriegsjahre ungleich dramatischere Ausmaße an als in Frankreich oder England. Die Jahre 1919 und 1920 gingen als das «biennio rosso» in die Geschichte ein. Es war eine Zeit häufiger großer Streiks und der Besetzung von Ländereien und Fabriken. Im Sommer und Herbst 1919 traten die Beschäftigten der Eisenbahnen und der Post, die Tagelöhner der Po-Ebene und die Halbpächter (mezzadri) Mittelitaliens, ja sogar die Ministerialbeamten in den Ausstand; in Latium und anderen Teilen Mittelitaliens besetzten Bauern das Land der Großgrundbesitzer; mancherorts schlugen Proteste gegen die Teuerung in offenen Aufruhr um. Aus den Parlamentswahlen vom November 1919, bei denen erstmals nach dem Verhältniswahlrecht gewählt wurde, gingen die Sozialisten mit 165 Abgeordneten als stärkste Kraft hervor, gefolgt von den christlich-demokratischen Popolari, auf die 100 Sitze entfielen. Nur mit Hilfe der katholischen Volkspartei und schließlich von Notverordnungen konnte sich der liberale Ministerpräsident Francesco Nitti bis zum Juni 1920 an der Macht behaupten. Dann wurde er von dem «großen alten Mann» der Liberalen, Giovanni Giolitti, abgelöst, der dasselbe Amt erstmals 1892/93 und dann in den Jahren 1903 bis 1914 immer wieder innegehabt hatte.
Ihre Hochburgen hatten die Sozialisten im industriellen Norden des Landes, und nirgendwo waren sie so stark wie in Turin, wo der Kreis um die Zeitschrift «L’Ordine Nuovo» um Antonio Gramsci, Angelo Tasca und Palmiro Togliatti wirkte. In der piemontesischen Hauptstadt hatte im vorletzten Kriegsjahr, im August 1917, ein Arbeiteraufstand stattgefunden, der blutig niedergeworfen worden war, als Mythos des kämpfenden Proletariats aber nachwirkte; hier waren nach russischem Vorbild die ersten Arbeiterräte auf italienischem Boden gebildet worden. Für den äußersten linken Flügel der Sozialisten, aus dem nach der Parteispaltung auf dem Parteitag von Livorno im Januar 1921 die Kommunistische Partei Italiens hervorging, lag daher nichts näher als die Erwartung, Turin werde zum Ausgangspunkt der proletarischen Revolution auf der Apenninenhalbinsel, zum italienischen Petrograd, werden. Im April 1920 begann ein von den Unternehmern bewußt provozierter Streik der Turiner Metallarbeiter, in den die radikale Linke große Hoffnungen setzte. Dank der sorgfältig geplanten, höchst wirksamen Abwehrmaßnahmen des neugegründeten industriellen Dachverbandes, der Confindustria, wurde der Ausstand zu einem völligen Fehlschlag. Die Unternehmer und die politische Rechte zogen daraus den Schluß, daß die Linke besiegbar, die rote Revolution also noch aufzuhalten war.
Im September 1920 nahm die soziale Unruhe weiter zu. Nach dem Scheitern von Tarifverhandlungen in der norditalienischen Metallindustrie sperrten die Arbeitgeber die Belegschaften aus, was diese damit beantworteten, daß sie einige der größten Fabriken besetzten und dort die rote Fahne hißten. Die Aktionen wurden nicht von den Sozialisten gesteuert, sie waren spontan. Die Regierung Giolitti verzichtete auf den Einsatz von Polizei und verlegte sich aufs Abwarten. Das Kalkül des Ministerpräsidenten, das Experiment der Selbstverwaltung der Betriebe durch die Arbeiter werde binnen kurzem an seiner Ineffizienz scheitern, ging auf. Dennoch empfanden große Teile der italienischen Öffentlichkeit die Passivität der Regierung als Kapitulation vor einer radikalen Minderheit, die vor offenem Rechtsbruch nicht zurückschreckte. Die Staatsgewalt büßte infolge dieser Erfahrung viel an Autorität ein: ein Erosionsprozeß, der sich fortsetzte, als es im Herbst und Winter 1920/21 zu neuen Streiks und blutigen Ausschreitungen in Turin wie in der Toskana kam, auf die die Regierung wie ein neutraler Beobachter regierte, nämlich gar nicht.
Der Eindruck des Machtvakuums half einer Gruppierung, die entschlossen war, den Ausfall der Staatsautorität auf ihre Weise, durch systematische Anwendung von physischer und psychischer Gewalt gegen die Linke, auszugleichen: den (nach ihrem Symbol, dem Rutenbündel der römischen Liktoren, den «fasces», benannten) «fasci di combattimento», die Benito Mussolini am 23. März 1919 in Mailand gegründet hatte. Mussolini, 1883 in Predappio in der Provinz Forlì-Cesena geboren, war, nachdem er als Lehrer gescheitert war, 1902 in die Schweiz gegangen, wo er sich mit Gelegenheitsarbeiten durchschlug, in Obdachlosenheimen oder unter Brücken übernachtete, mit der russischen Revolutionärin Angelica Balabanoff in Verbindung trat, Georges Sorels «Betrachtungen über die Gewalt», Gustave Le Bons «Psychologie der Massen» und Schriften von Friedrich Nietzsche las sowie in Lausanne einige Vorlesungen des antiparlamentarischen Elitentheoretikers Vilfredo Pareto hörte.
Nach Ableistung des Wehrdienstes in Italien im Jahre 1906 begab sich Mussolini ins Trentino, von wo er 1907, von den österreichischen Behörden ausgewiesen, nach Italien zurückkehrte und dort als radikaler Syndikalist bei den Sozialisten eine Karriere begann, in deren Verlauf er es 1912 bis zum Chefredakteur des Parteiorgans «Avanti» brachte. Mit den Sozialisten brach er, als er im Oktober 1914 in das Lager der Interventionisten wechselte und kurz darauf mit finanzieller Unterstützung der Rüstungsindustrie und französischer Geldgeber ein eigenes Blatt, den nationalistischen «Popolo d’Italia», gründete. Von 1915 bis Anfang 1917 war er Soldat im Stellungskrieg an der Isonzofront, bis er nach einer Verwundung durch eine Explosion aus dem Militärdienst entlassen wurde. Danach nahm er den journalistischen und politischen Kampf an der «Heimatfront» wieder auf und wurde nach Kriegsende einer der beredtesten Verfechter der Parole vom «verstümmelten Sieg» und damit des italienischen Irredentismus.
Die Wendung von ganz links nach ganz rechts war im Fall Mussolini nicht so erstaunlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag. Ein «Marxist» im strikten Sinn war der spätere «Duce» nie gewesen; er war ein Eklektizist, ein Aktionist und ein Voluntarist; Sorels Lehre von der «action directe» beeindruckte ihn wohl auch deshalb, weil sie sich «links» wie «rechts» ausdeuten ließ und ihr Autor im Lauf seines Lebens zwischen den Extremen hin- und herschwankte. Entscheidend war für Mussolini, wo er jeweils die größte Chance der Selbstverwirklichung und der Akklamation für sich und seine jeweilige Position sah. Seit 1914 erschien ihm der Kult der Nation als das geeignete Vehikel, um seinen politischen Einfluß zu steigern und schließlich zur Macht zu gelangen. Entsprechend wählte er sich seine Anhänger und Verbündeten aus. Sie konnten, da die Linke internationalistisch, antiimperialistisch und antimilitaristisch war, nur auf der rechten Seite des politischen Spektrums stehen – Männer wie Gabriele D’Annunzio und die «Arditi», jene ehemaligen Elitesoldaten, die im April 1919 in Mailand das Gebäude des «Avanti», der einstigen Zeitung Mussolinis, in Brand steckten, um ein Signal des nationalen Aufbruchs zu setzen.
Neben Mailand war Triest ein früher Schauplatz von Aktivitäten der «fasci». Hier fanden sie einen nationalen Feind in Gestalt der Slowenen, die nicht umstandslos die österreichische zugunsten der italienischen Fremdherrschaft eintauschen wollten: Die Zerstörung des Hotels «Balkan», wo der Dachverband der slowenischen Organisationen, der «Narodni Dom», ihren Sitz hatte, am 14. Juli 1920 war ein frühes Beispiel faschistischen Terrors. Den eigentlichen Durchbruch aber erzielten die faschistischen Stoßtrupps, die «squadre», am 21. November 1920 in Bologna, einer Hochburg der Sozialisten. An jenem Tag wurde die neugewählte sozialistische Stadtverwaltung in ihr Amt eingeführt. Die Anhänger Mussolinis nahmen das zum Anlaß, schwere Krawalle auszulösen und eine bürgerkriegsartige Stimmung zu erzeugen. In den folgenden Wochen und Monaten gingen die schwarz uniformierten Fasci dazu über, Einrichtungen und Funktionäre der Linken in der gesamten Emilia-Romagna sowie in der Toskana und bald auch in weiten Teilen des übrigen Italien zu überfallen.
Zu den gewaltsamen Übergriffen auf die Sozialisten und Kommunisten kamen immer häufiger auch ähnliche Attacken auf die Popolari. Erzwungenes Trinken von Rizinusöl gehörte zu den gängigen Demütigungen der politischen Gegner. In der Emilia waren es die Grundbesitzer, die die «Schwarzhemden» finanzierten, um mit ihrer Hilfe unbotmäßige, mit den Linken sympathisierende Bauern einzuschüchtern und zu bestrafen. «Spedizioni punitive» (Strafexpeditionen) nannten die Squadristen die Überfälle, in denen sie blutige Vergeltung übten, wann immer sie sich durch Kommunisten oder Sozialisten provoziert fühlten oder einer der Ihren Opfer linker Gewalt geworden war. Das «biennio rosso» wurde seit Anfang 1921 von einen «biennio nero», von zwei Jahren des schwarzen Terrors, abgelöst.
Bei den Wahlen vom November 1919 hatten die Faschisten eine schwere Niederlage erlitten: Lediglich in Mailand gelang es ihnen, eine eigene Liste aufzustellen, auf die nur 4000 Stimmen entfielen. Im Frühjahr 1921 änderte sich die innenpolitische Lage dadurch, daß die Popolari auf Drängen des Vatikans Giolitti die parlamentarische Unterstützung entzogen: Grund war ein Gesetz vom September 1920, das, um das riesige Haushaltsdefizit zu verkleinern, fiskalisch bisher nicht erfaßten Kirchenbesitz, den Besitz der sogenannten «toten Hand», der Besteuerung unterwarf, wogegen die Kurie sich energisch verwahrte. Giolitti antwortete mit der Auflösung der Kammer und Neuwahlen im Mai 1921. Um eine sichere Mehrheit zu erlangen, ging der Ministerpräsident ein Wahlbündnis mit den Nationalisten und den Faschisten ein, die zusammen mit den Liberalen der Richtung Giolitti den «Nationalen Block» (Blocchi Nazionali) bildeten. Mussolinis Bewegung wurde durch das faktische Zusammengehen mit einem Teil der Liberalen politisch aufgewertet: Sie gewann, was sie zuvor nicht besessen hatte, den Anschein gesellschaftlicher Respektabilität.
Während des Wahlkampfes unterbanden die Faschisten durch massiven Terror in vielen Gegenden faktisch jede sozialistische oder kommunistische Wahlagitation. Der Wahltag selbst, der 15. Mai, wurde durch zahlreiche blutige Zwischenfälle überschattet, die von den Faschisten ausgelöst wurden und Dutzende von Menschenleben forderten. Das Wahlergebnis war für Giolitti eine herbe Enttäuschung: Sein «Nationaler Block» kam auf 120 von insgesamt 535 Sitzen, wovon 36 auf die Faschisten entfielen – für die letzteren ein spektakulärer Erfolg angesichts der Tatsache, daß sie zuvor in der Kammer überhaupt nicht vertreten gewesen waren. Zu den Gewinnern zählten auch die Popolari, die mit 108 Abgeordneten in das Parlament einzogen, und die bürgerlichen Radikalen, die auf 68 Abgeordnete kamen. Die Sozialisten mußten Verluste hinnehmen: Sie erlangten 123, die Kommunisten 15 Sitze.
An eine stabile Regierungskoalition war unter diesen Bedingungen nicht zu denken. Giolitti verfiel daher auf den naheliegenden Gedanken, notwendige Maßnahmen, obenan die Verminderung der immensen Zahl der Staatsbediensteten, mit Hilfe einer Notverordnung durchzusetzen, erhielt dafür aber keine parlamentarische Mehrheit, woraufhin er am 27. Juni 1921 zurücktrat. Seine Nachfolge trat der bisherige Kriegsminister Ivanoe Bonomi an, ein ehemaliger Sozialist, den seine Partei ausgeschlossen hatte, weil er 1911/12 den Krieg gegen Libyen unterstützt hatte. Um sich das Wohlwollen Mussolinis zu sichern, nahm der neue Regierungschef die Gewalttaten der Faschisten mit derselben Gleichgültigkeit hin wie zuvor schon Giolitti. Er befand sich damit in bester Gesellschaft: Die gleiche Haltung legten auch die an deren Minister, die Militärs und Präfekten an den Tag. Vielerorts arbeiteten Armeeoffiziere sogar mit den «squadre» zusammen, denen sie Waffen und Kraftfahrzeuge zur Verfügung stellten. Als Bonomi nach einem Börsenkrach im August 1921 das von der Kirche befehdete Steuergesetz suspendierte, konnte er sich der Unterstützung Mussolinis erfreuen, der bald darauf die völlige Aufhebung des Gesetzes bewirkte.
Mussolini stand an der Spitze der Faschisten, aber er war nicht ihr einziger Führer. Über großen Einfluß verfügten die Vertreter des (schon von Zeitgenossen etwas zu pauschal so genannten) «Agrarfaschismus» Nord- und Mittelitaliens wie die besonders radikalen regionalen Unterführer (ras) Roberto Farinacci in Cremona, ein ehemaliger Sozialist, der «linke» Republikaner Dino Grandi in Bologna und Italo Balbo in Ferrara. Diese und andere «ras» widerstrebten einer allzu straffen Parteiführung durch Mussolini, und sie rebellierten gegen ihn, als er auf Drängen Bonomis im August 1921 einen Befriedungspakt (patto di pazificazione) mit den Sozialisten schloß. Der Waffenstillstand blieb faktisch folgenlos, was auch daran lag, daß die Unterführer bei ihrem Widerstand gegen die Abmachung von Großagrariern und Unternehmern unterstützt wurden. Auf dem Kongreß der Faschisten in Rom im November 1921 sah sich Mussolini genötigt, dieses Kapitel zu beenden.
Der Kongreß wurde dennoch zu einem großen Erfolg für den «Duce»: Er setzte gegen vielerlei Widerstände die Umwandlung der faschistischen Bewegung in eine Partei, den Partito Nazionale Fascista, durch. Danach kam es zu einer förmlichen Explosion faschistischer Gewalt. Neben Einrichtungen der Linken wurden auch solche der Popolari und der Liberalen attackiert; sozialistische Abgeordnete wurden aus ihren Wahlkreisen «verbannt», ohne daß die Polizei den Verfolgten zur Hilfe kam. Im Frühjahr 1922 häuften sich die Besetzungen ganzer Städte durch die «squadre», wobei D’Annunzios Aktion in Fiume als Vorbild diente. Im April und Mai wurde etwa Ferrara zweimal von Squadristen eingenommen, die die Stadt zeitweilig völlig von Verbindungen zu ihrer Umwelt abschnitten. Die örtlichen Polizeikräfte erwiesen sich gegenüber der geballten Gewalt von Zehntausenden paramilitärisch gedrillter Schwarzhemden als machtlos.
Den Höhepunkt erreichte der faschistische Terror Ende Juli 1922, als Italo Balbo an der Spitze einer großen Zahl von Squadristen einen Kriegszug gegen das linke Ravenna unternahm und dabei die verdeckte Unterstützung staatlicher Stellen fand. Die proletarische Gegenwehr in Gestalt der neugeschaffenen «Alleanza del lavoro», an der sich außer Sozialisten und Kommunisten auch die Anarchisten beteiligten, vermochte, da ihr staatliche Hilfe versagt blieb, der rechten Gewalt keinen wirksamen Widerstand zu leisten. Sie wurde binnen kurzem von den Faschisten zerschlagen. Angaben der Linken, wonach in den zwei Jahren zwischen Oktober 1920 und Oktober 1922.300 Faschisten und 3000 Antifaschisten bei Unruhen, Straßenkämpfen und anderen Ausschreitungen ums Leben gekommen seien, mögen anfechtbar sein. Es war aber nicht zweifelhaft, daß die Squadristen ungleich systematischer Gewalt ausübten als die zur Abwehr solcher Überfälle geschaffenen «Arditi del popolo» auf der Linken.
Während weite Teile des Landes immer mehr in Chaos und Anarchie versanken, wechselten in Rom die Regierungen. Anfang 1922 beschlossen die Sozialisten, Bonomi zu Fall zu bringen. Da sie sich auf ihrem Parteitag im Oktober 1921 gegen jede «Kollaboration» mit bürgerlichen Parteien ausgesprochen hatten und keine Konstellation absehbar war, in der sie zu mehr politischem Einfluß gelangen konnten, war dieser Schritt ein gefährlicher Beitrag zur weiteren Destabilisierung Italiens. Dieselbe Wirkung zeitigte die Entscheidung des im Februar 1922 gewählten neuen Papstes Pius XI., den Popolari Don Sturzos die kirchliche Unterstützung zu entziehen. An die Stelle Bonomis trat am 25. Februar 1922 Luigi Facta, ein Freund Giolittis vom rechten Flügel der Demokratischen Partei, der sich zeitweilig auch auf die Faschisten stützen konnte, aber über keine parlamentarische Mehrheit verfügte.
Am 19. Juli 1922 stürzte die Regierung Facta, woraufhin König Viktor Emanuel III. die Parteiführer bis hin zu den Sozialisten zu Gesprächen einlud. Auf Beschluß der Mehrheit der sozialistischen Parlamentsfraktion sollte auch Filippo Turati eine solche Unterredung mit dem Monarchen führen, was eine Premiere bedeutete, da die Sozialisten den «Hofgang» bislang konsequent verweigert hatten. Der Parteivorstand der Sozialisten aber antwortete umgehend mit dem Parteiausschluß Turatis und seiner Gruppe. Daraufhin wandte sich Turati an den Parteitag der Sozialisten, der im Oktober 1922 in Rom zusammentrat. Dieser bestätigte mit knapper Mehrheit den Beschluß des Parteivorstands. Die ausgeschlossene Gruppe konstituierte sich daraufhin in einer neuen Partei, dem Partito Socialista dei Lavoratori Italiani, die von Turati, Emanuele Modigliani und Claudio Treves geführt wurde und den Abgeordneten Giacomo Matteotti zu ihrem Generalsekretär wählte. Es gab damit in Italien nunmehr drei sozialistische Parteien: die neue Gruppierung, die sich bald in Partito Socialista Unitario umbenannte, die alte, jetzt Partito Socialista Massimalista genannte Partei und den Partito Comunista Italiano.
Da die Sondierungsgespräche am Nein der Sozialisten gescheitert waren, ernannte der König am 1. August Facta erneut zum Ministerpräsidenten, der diesmal für seine Regierung sogar eine breite parlamentarische Mehrheit erhielt. Auf den gleichen Tag hatte die antifaschistische Alleanza del Lavoro die Arbeiter zum Generalstreik aufgerufen. Dieser brachte den Eisenbahnverkehr und fast das gesamte Wirtschaftsleben zum Erliegen. Mussolini konterte die Aktion im Parlament mit einem Ultimatum an die Regierung: Wenn diese den Ausstand nicht binnen 24 Stunden beende, würden die faschistischen Kampfverbände dies tun. Der Ankündigung folgte die Tat auf dem Fuß. Der «Avanti» wurde im Verlauf blutiger Straßenkämpfe in Mailand abermals in Brand gesteckt; die Squadristen stürmten vielerorts, unter anderem in Ancona, Livorno und Genua, die Gebäude der Sozialisten, besetzten die Eisenbahnen und trieben die Arbeiter, soweit sie nicht von sich aus die Arbeit wieder aufnahmen, mit brutaler Gewalt in die Fabriken zurück. Die sozialistische Arbeiterschaft hatte ihre bisher schwerste Niederlage erlitten, die Faschisten waren auf ihrem Weg an die Macht ein entscheidendes Stück vorangekommen.
Am 24. Oktober 1922 veranstalteten die Faschisten in Anwesenheit hoher Behördenvertreter eine Großdemonstration in Neapel. Drei Tage später, am Abend des 27. Oktober, erteilte Mussolini seinen paramilitärischen Kohorten den Befehl zum «Marsch auf Rom». Ministerpräsident Facta schlug dem König daraufhin die Verhängung des Ausnahmezustands vor; dieser stimmte zunächst zu, weigerte sich aber am nächsten Morgen, obwohl die Maßnahme bereits bekanntgegeben worden war, die Anordnung zu unterzeichnen. Damit lag das Gesetz des Handelns ganz in den Händen des «Duce». Hatte Mussolini bisher nur an eine Beteiligung der Faschisten an einer rechten Regierung unter Salandra gedacht, so forderte er jetzt das Amt des Ministerpräsidenten für sich selbst. Erst als der König sich diesem Verlangen in einem Telegramm gebeugt hatte, bestieg Mussolini den legendären Schlafwagen, der ihn in der Nacht vom 29. zum 30. Oktober nach Rom brachte. Dort bildete er eine Regierung, in der er selbst auch die Ämter des Außen- und des Innenministers, der ehemalige Generalstabschef Armando Diaz das Amt des Kriegsministers und der Philosoph Giovanni Gentile das des Unterrichtsministers übernahmen.
Der «Marsch auf Rom» war nicht mehr als eine wirksame Drohkulisse gewesen – und damit etwas ganz anderes als das antike Vorbild dieser Inszenierung, die Eroberung Roms mit Hilfe römischer Legionen durch den Konsul Lucius Cornelius Sulla im Jahr 88 vor Christus. Die Willfährigkeit des Monarchen ersparte den Faschisten die tatsächliche Konfrontation mit der Staatsmacht. Als Mussolini am Morgen des 30. Oktober 1922 in Rom eintraf, lagerten seine etwa 25.000, nur teilweise bewaffneten Squadristen noch etwa 40 Kilometer vor der Hauptstadt. Sie zu schlagen wäre für Militär und Polizei ein leichtes gewesen, wenn der Wille dazu bestanden hätte. Mit der Erlaubnis des Königs durften sie am 31. Oktober vor seinem Palast demonstrieren; eine aktive Rolle bei der Machtübertragung spielten sie nicht. Die eingeschüchterte Kammer sprach dem neuen Ministerpräsidenten mit 306 zu 116 Stimmen das Vertrauen aus. Unter den Ja-Stimmen waren auch die Giolittis, Bonomis, Orlandos, Salandras und des damals 41 Jahre alten Abgeordneten Alcide de Gasperi von den Popolari, des späteren langjährigen Ministerpräsidenten und Führers der Democrazia Cristiana nach dem Zweiten Weltkrieg.
Vieles hatten Mussolini und die Faschisten von Lenin und den Bolschewiki gelernt: Nicht auf den Rückhalt bei einer Mehrheit der Wähler kam es an, sondern nur auf den festen Willen, die Gegner in Angst und Schrecken zu versetzen und im entscheidenden Augenblick nach der Macht zu greifen. War dieser Wille vorhanden, dann konnte sich auch eine entschlossene Minderheit die politische Führung sichern. Die italienischen Faschisten hatten es viel leichter als die russischen Kommunisten, ans Ziel zu gelangen, weil sie, anders als diese, Verbündete im zivilen und militärischen Staatsapparat, finanzielle und politische Gönner bei den industriellen und agrarischen Eliten hatten und die bis dahin tonangebenden bürgerlichen Liberalen bis hin zu Intellektuellen vom Rang eines Benedetto Croce inzwischen davon überzeugt waren, daß eine Herrschaft der Faschisten ein bei weitem kleineres Übel war als die Fortdauer des Chaos der Nachkriegsjahre.
Der einzige ernstzunehmende Gegner, die sozialistische Arbeiterbewegung, hatte sich durch die von den Anhängern Lenins betriebene Spaltung und die Weigerung der nichtbolschewistischen Linken, mit gemäßigten bürgerlichen Kräften zu kooperieren, auf fatale Weise selbst geschwächt. Die verbreitete, von den Kommunisten geförderte Neigung vieler Arbeiter, in anarchistischer Manier, also ohne Rücksicht auf die Rechtsordnung, vollendete Tatsachen zu schaffen, lieferte den Faschisten den vollkommenen Vorwand, sich ihrerseits systematisch über das geltende Recht hinwegzusetzen.
Die Vertreter des Staates fanden sich mit der Eskalation der Gewalt erst von links, dann, sehr viel massiver, von rechts ab, als ob es sich um Ausbrüche von Naturgewalten handelte. Bereits im Januar 1921 beklagte der junge sozialistische Abgeordnete Matteotti in der Kammer die fortschreitende Preisgabe des staatlichen Gewaltmonopols: «Die Regierung und die örtlichen Behörden sehen ungerührt dem Umsturz von Recht und Ordnung zu. Es wird eine Privatjustiz praktiziert, die die öffentliche Justiz ersetzt … So sagen die Arbeiter, der demokratische Staat sei nur ein Scherz, er habe darauf verzichtet, das gleiche Recht für jedermann durchzusetzen.» Vier Jahre nach Kriegsende hatten die Faschisten erreicht, was sie wollten: Es war ihnen gelungen, einen großen Teil des bürgerlichen Italien glauben zu machen, daß nur sie in der Lage waren, den Zustand der Gesetzlosigkeit zu beenden, den sie selbst, die extreme Linke darin weit übertreffend, zielstrebig herbeigeführt hatten.
Die Legende vom «verstümmelten Sieg», die sie ebenso entschieden propagierten wie die bürgerlichen Nationalisten der Associazione Nazionalista Italiana, mit der sie sich im Februar 1923 vereinigten, war eine wichtige psychologische Grundlage ihres Erfolges, aber nicht die einzige. Der Faschismus hätte nach 1918 nicht zu der Bedeutung aufsteigen können, die er 1922 besaß, hätte es nicht auch andere ältere Vorbelastungen der italienischen Demokratie gegeben. Der immer noch nicht überwundene Analphabetismus großer Teile der Landbevölkerung im Süden gehörte dazu, ebenso das krasse materielle Gefälle zwischen dem entwickelten industriellen Norden und dem unterentwickelten agrarischen Mezzogiorno, die Jahrzehnte lang von vielen gläubigen Katholiken beherzigte Weisung der Kurie, sich nicht an Wahlen zu beteiligen, und die Weigerung eines Großteils der Sozialisten, sich den Regeln des parlamentarischen Systems entsprechend auf Kompromisse mit bürgerlichen Kräften einzulassen. Vertrauen in den demokratischen Staat konnte auf diese Weise nicht wachsen, und nichts nützte den Faschisten mehr als das weitgehende Fehlen dieser unabdingbaren Legitimitätsgrundlage jedes auf freien Wahlen beruhenden Systems.
Daß die Faschisten mit der Macht, die ihnen im Oktober 1922 kampflos zugefallen war, rücksichtslos umgehen würden, war eine der wenigen Gewißheiten jener Zeit. Mit der Errichtung einer Diktatur neuen Typs war zu rechnen, wenn man sich an das hielt, was Mussolini und seine Unterführer in den Jahren zuvor erklärt hatten. Offen war, wie viel Zeit die Faschisten benötigen würden, um ihren Anspruch auf die ganze Macht durchzusetzen. Und noch eine Frage drängte sich auf, die erst die Zukunft beantworten konnte: War das, was im Herbst 1922 in Italien geschah, ein rein nationales Phänomen oder möglicherweise mehr – ein Beispiel, das Schule machen konnte in Ländern, die in ähnlicher Weise von sozialen, politischen und weltanschaulichen Konflikten zerrissen wurden wie die Apenninenhalbinsel?
Ein klarsichtiger Zeitgenosse, der deutsche Publizist Harry Graf Kessler, ahnte schon damals, wie die Antwort auf diese Frage ausfallen würde. Am 29. Oktober 1922 schrieb er in sein Tagebuch: «Die Fascisten haben durch einen Staatsstreich die Gewalt an sich gerissen in Italien. Wenn sie sie behalten, so ist das ein geschichtliches Ereignis, das nicht bloß für Italien, sondern für ganz Europa unabsehbare Folgen haben kann. Der erste Zug im siegreichen Vormarsch der Gegenrevolution. Bisher haben die gegenrevolutionären Regierungen z.B. in Frankreich wenigstens noch so getan, als ob sie demokratisch und friedlich seien. Hier kommt ganz offen eine antidemokratische, imperialistische Regierungsform wieder zur Macht. In einem gewissen Sinn kann man Mussolinis Staatsstreich mit dem Lenins im Oktober 17 vergleichen, natürlich als Gegenbild. Vielleicht leitet er eine Periode neuer europäischer Wirren und Kriege ein.»[14]
Zerreißproben einer
Republik:
Deutschland 1919–1922
Deutschland hatte die revolutionären Kämpfe vom Frühjahr 1919 und die heftigen innenpolitischen Auseinandersetzungen um Annahme oder Ablehnung des Vertrags von Versailles bereits hinter sich, als das öffentliche Interesse sich im Sommer des ersten Nachkriegsjahres den Grundfragen der Verfassung zuzuwenden begann, an der die Nationalversammlung seit dem Februar arbeitete. Viele Entscheidungen waren bis zum Juni schon gefallen. Der Staat Preußen blieb erhalten, sollte aber sein tatsächliches Übergewicht nicht allzu stark zur Geltung bringen können: Obwohl er drei Fünftel der Bevölkerung des Deutschen Reichs umfaßte, durfte er im Reichsrat, dem föderativen Verfassungsorgan, nur zwei Fünftel der Sitze einnehmen. Diese entfielen zur einen Hälfte auf Regierungsvertreter, zur anderen auf Delegierte der Provinzialverwaltungen. Der Reichsrat hatte sehr viel weniger Mitwirkungsrechte im Bereich der Gesetzgebung als sein Vorläufer, der Bundesrat im Kaiserreich; es gab keine «Reservatrechte» der süddeutschen Staaten mehr wie zwischen 1871 und 1918. Im Endergebnis war das republikanisch verfaßte Reich unitarischer, als es die Föderalisten, und föderalistischer, als es die Unitarier gewünscht hatten.
Umstritten war lange Zeit die Gewichtsverteilung zwischen Parlament und Staatsoberhaupt. Die bürgerlichen Parteien strebten als Gegengewicht zum Reichstag einen stärkeren Reichspräsidenten an; die anfangs widerstrebenden Sozialdemokraten befreundeten sich mit diesem Gedanken erst nach den bürgerkriegsartigen Konflikten vom Frühjahr 1919. Sie stimmten der Direktwahl des Reichspräsidenten durch das Volk, der siebenjährigen Dauer seiner Amtszeit, der Möglichkeit der uneingeschränkten Wiederwahl und schließlich auch der endgültigen Fassung des Notverordnungsartikels 48 zu, wonach der Reichspräsident bei einer erheblichen Störung oder Gefährdung der öffentlichen Ordnung Maßnahmen erlassen konnte, denen der Reichstag nicht zustimmen mußte, die er aber außer Kraft setzen konnte. Der Reichspräsident konnte ein vom Reichstag beschlossenes Gesetz zum Gegenstand eines Volksentscheids machen. Ein Volksentscheid war auch anzuordnen, wenn ein Zehntel der Bevölkerung dies in einem Volksbegehren forderte. Das Prinzip der parlamentarischen und repräsentativen Demokratie wurde also nicht nur durch den Reichspräsidenten als Ersatzgesetzgeber, sondern auch durch die Möglichkeit der Volksgesetzgebung eingeschränkt.
Der Reichskanzler wurde nicht vom Reichstag gewählt, er bedurfte aber, wenn er vom Reichspräsidenten ernannt war, des Vertrauens des Reichstags und mußte zurücktreten, wenn der Reichstag ihm das Mißtrauen aussprach. Der Reichspräsident hatte damit einen großen Spielraum bei der Auswahl des Regierungschefs. Nimmt man hinzu, daß der Reichspräsident auch den Oberbefehl über die gesamte Wehrmacht hatte und über das Recht verfügte, den Reichstag aufzulösen, so wurde verständlich, warum schon Zeitgenossen von einem «Ersatzkaiser» oder «Kaiserersatz» sprachen. Der Reichstag konnte davon ausgehen, daß das Staatsoberhaupt in die Bresche springen würde, wenn sich die gerade regierenden Parteien nicht auf Kompromisse verständigen konnten oder wollten. Parlamentarischer Opportunismus und präsidialer «Bonapartismus» konnten infolgedessen leicht zu einem stillen Verfassungswandel führen: einer Machtverlagerung von der repräsentativen Volksvertretung hin zum plebiszitär legitimierten Staatsoberhaupt, ja zu einer kommissarischen Diktatur des Reichspräsidenten, die den Befürwortern dieser Konstruktion als Unterpfand von Stabilität im Krisenfall erschien.
Leidenschaftlichen Streit gab es um die Reichsfarben: Die Rechte wollte es, unterstützt von der Mehrheit der Deutschen Demokratischen Partei und einer Minderheit der katholischen Zentrumspartei, bei Schwarz-Weiß-Rot, der Flagge des Bismarckreiches, belassen, die Sozialdemokraten und Teile der bürgerlichen Mitte hingegen zu den Farben der Revolution von 1848/49, Schwarz-Rot-Gold, zurückkehren. Am Ende stand ein konfliktträchtiger Kompromiß: Die Reichsfarben waren Schwarz-Rot-Gold; angeblich der besseren Sichtbarkeit zur See wegen wurde aber daneben eine besondere Handelsflagge eingeführt, die die Farben Schwarz-Weiß-Rot «mit einer Gösch in schwarz-rot-gold in der oberen inneren Ecke» zeigte. Nicht minder kontrovers war die Neuordnung des Schulwesens: Die Sozialdemokraten setzten als Regelschule die für alle gemeinsame «Simultanschule» durch; an ihre Stelle konnte aber auf Antrag der Erziehungsberechtigten eine konfessionelle oder bekenntnisfreie Schule treten.
Der Grundrechtsteil war eine aktualisierte und erweiterte Version der «Grundrechte des deutschen Volkes» in der Reichsverfassung von 1849. Mit verfassungsändernder Mehrheit konnte der Reichstag vom Wortlauf der Verfassung abweichen, ohne daß diese selbst geändert wurde. Änderungen der Verfassung setzte die Nationalversammlung kein anderes Hindernis entgegen als das der qualifizierten Mehrheit: Zwei Drittel der Abgeordneten mußten anwesend sein, zwei Drittel der Anwesenden zustimmen. Die Verfassung selbst trug also keinerlei Garantie gegen ihre Abschaffung in sich, sofern die notwendige Mehrheit zustande kam. Konstitutionelle Vorgaben, die dem Mehrheitswillen Schranken setzten, wären den Vätern und Müttern der Verfassung von 1919 geradezu als Rückfall in den Obrigkeitsstaat erschienen.
In der Schlußabstimmung sprach sich am 31. Juli 1919 eine breite Mehrheit für die neue Reichsverfassung aus: Von den 420 Mitgliedern nahmen 338 an der Abstimmung teil; 262 Abgeordnete stimmten mit Ja, 75 mit Nein; einer enthielt sich. Die Ja-Stimmen waren die der «Weimarer Parteien», der SPD, des Zentrums und der DDP, die Nein-Stimmen kamen von der USPD, den Deutschnationalen und der Deutschen Volkspartei. Am 11. August unterzeichnete Reichspräsident Friedrich Ebert, der vorläufig im Amt blieb, die Verfassung. Am 14. August trat sie durch Verkündung im Reichsgesetzblatt in Kraft. Eine Woche später, am 21. August 1919, nahmen Reichspräsident, Nationalversammlung und Kabinett Abschied von Weimar. Deutschland wurde fortan wieder von Berlin aus regiert.
Deutschland sei nun die «demokratischste Demokratie der Welt»; nirgends sei die Demokratie konsequenter durchgeführt als in dieser Verfassung: Als der sozialdemokratische Reichsinnenminister Eduard David am 31. Juli 1919 die Verabschiedung der Weimarer Reichsverfassung mit diesen Worten feierte, dachte er vor allem an das, was das republikanische Grundgesetz an Elementen direkter Demokratie enthielt. Von der Öffentlichkeit wurde die Verfassung mehr hingenommen als angenommen. Zu einem Symbol der Republik wurde sie erst im Gefolge von Haßkampagnen und Gewaltakten der extremen Rechten. Der Gewinn an politischer Freiheit, den die Weimarer Reichsverfassung den Deutschen brachte, war groß. Die Bewahrung der Freiheit in schwierigen Zeiten aber war durch die Verfassung nicht gesichert. Die «demokratischste Demokratie der Welt» war nicht nur durch die Kräfte bedroht, die sie ablehnten und bekämpften. Sie war vielmehr so verfaßt, daß sie sich selbst aufheben konnte.
Die Weimarer Verfassung war gerade sieben Monate alt, als Reichswehrminister Gustav Noske am 12. März 1920 dem Kabinett von Reichskanzler Gustav Bauer mitteilen mußte, daß es Bestrebungen zum Sturz der Regierung gebe. Als treibende Kräfte nannte Noske den ostpreußischen Generallandschaftsdirektor Wolfgang Kapp und Hauptmann Waldemar Pabst, den Hauptverantwortlichen der Morde an Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht im Januar 1919. Tatsächlich standen erhebliche Teile der Reichswehr hinter dem Vorhaben, das als «Kapp-Putsch» in die Geschichtsbücher einging. Seit der Vertrag von Versailles am 10. Januar 1920 in Kraft getreten war, steuerten führende Militärs mit dem Kommandierenden General des Reichswehrgruppenkommandos I in Berlin, dem Freiherrn von Lüttwitz, an der Spitze auf einen Konflikt mit der Regierung zu. Vielen Offizieren erschien die Vorstellung, das Reich könne der alliierten Forderung nachkommen, deutsche Kriegsverbrecher wenn schon nicht an die Sieger auszuliefern, so doch vor ein deutsches Gericht zu stellen, als unvereinbar mit ihrer Vorstellung von nationaler Ehre. Dazu kam die noch nicht abgeschlossene Reduzierung der Heeresstärke auf 100.000 Mann. Davon waren vor allem die Freikorps betroffen und unter ihnen besonders die «Baltikumer», die nach Kriegsende mit Billigung der Alliierten in Lettland und Estland gegen die Bolschewiki gekämpft hatten. Eines der Freikorps nannte Noske namentlich: die Marinebrigade Ehrhardt.
Politiker der äußersten Rechten, der Deutschnationalen, ostelbische Rittergutsbesitzer und monarchistische Beamte der altpreußischen Provinzen bildeten den zivilen Flügel der Verschwörung. Ihre Schaltstelle war die im Oktober 1919 unter dem Patronat Erich Ludendorffs gegründete Nationale Vereinigung in Berlin. Ihr Nahziel war die Errichtung eines autoritären, vorerst aber noch nicht monarchischen Regimes, das nach außen eine aktive Revisionspolitik treiben sollte.
Noskes Abwehrmaßnahmen erwiesen sich als unzulänglich. Am frühen Morgen des 13. März rückte die Marinebrigade Ehrhardt in Berlin ein; gegen 7 Uhr ergriff Kapp von der Reichskanzlei Besitz. Da die meisten Generäle, unter ihnen der Chef des Truppenamtes, Hans von Seeckt, militärische Gegenwehr für aussichtslos hielten, waren Reichspräsident Ebert, Reichskanzler Bauer und die meisten Minister kurz zuvor nach Dresden aufgebrochen, weil Noske den dortigen Kommandierenden General für loyal hielt. In der Reichshauptstadt erschien währenddessen ein Aufruf zum Generalstreik und zur Einigung des Proletariats, verfaßt vom sozialdemokratischen Pressechef der Reichsregierung und angeblich unterzeichnet von Ebert und den sozialdemokratischen Mitgliedern der Reichsregierung (die sich wenig später von dem Appell distanzierten).
Das Risiko des Generalstreiks lag darin, daß er schnell jeder Kontrolle entgleiten und in den offenen Bürgerkrieg umschlagen konnte: Daß Kommunisten und Syndikalisten sich damit begnügen würden, für die Wiedereinsetzung der Regierung Bauer zu kämpfen, war ausgeschlossen. Auf der anderen Seite gab es im Frühjahr 1920 gute Gründe, auf einen erfolgreichen Generalstreik zu setzen: In Deutschland herrschte zu dieser Zeit als Folge des inflationsbedingten Booms faktisch Vollbeschäftigung. Arbeiter, die in den Ausstand traten, mußten also nicht befürchten, daß Erwerbslose ihre Arbeitsplätze einnehmen würden. Ein Generalstreik gegen einen Militärputsch und für die verfassungsmäßige Staatsgewalt besaß eine unzweifelhafte demokratische Legitimation. Und es sprach viel dafür, daß es eines starken Signals seitens der Arbeiter und Angestellten bedurfte, um die Beamten zur geschlossenen Verweigerung gegenüber den illegalen Machthabern und diese selbst zur raschen Kapitulation zu bewegen.
Die Führung des Generalstreiks übernahmen die Freien Gewerkschaften, in denen Mehrheits- und Unabhängige Sozialdemokraten weiterhin zusammenwirkten. Die KPD schloß sich dem Streik erst an, nachdem ihre Mitglieder sich vielerorts, entgegen der ursprünglichen Weisung der Parteiführung, an den Aktionen gegen die Putschisten beteiligt hatten. Deren Rückhalt blieb im wesentlichen auf das konservative Ostelbien beschränkt. Da das Gros der Ministerialbeamten den Coup boykottierte, war der Zusammenbruch des Umsturzversuches schon am 14. März absehbar. Um so erstaunlicher war, daß Gustav Stresemann, der Vorsitzende der rechtsliberalen Deutschen Volkspartei, die Regierung Bauer für den Putsch verantwortlich machte und sich selbst als Vermittler zwischen den feindlichen Lagern anbot. Noch stärker mußte es die Republikaner irritieren, daß der in Berlin verbliebene Vizekanzler Schiffer von der DDP (die seit dem Oktober wieder an der Regierung beteiligt war) und mehrere preußische Minister, darunter auch Sozialdemokraten, dem «Reichskanzler» Kapp und dem «Oberbefehlshaber» Lüttwitz weit entgegenkamen und für den Fall ihres Rücktritts die Bildung einer großen Koalitionsregierung, baldige Reichstagswahlen und eine rasche Direktwahl des Reichspräsidenten versprachen.
Die Regierung Bauer, die inzwischen nach Stuttgart ausgewichen war, ließ sich auf Kompromisse mit den Aufständischen nicht ein und tat damit das beste, was sie tun konnte. Am 17. März traten zuerst Kapp, dann auch Lüttwitz unter dem Druck des Militärs zurück. Als die Marinebrigade Ehrhardt unter den Klängen des Deutschlandliedes und in ihrer üblichen Montur («Hakenkreuz am Stahlhelm, schwarz-weiß-rotes Band/die Brigade Ehrhardt werden wir genannt») aus dem Regierungsviertel abzog, richtete sie noch ein Blutbad unter protestierenden Zivilisten an: Zwölf Menschen wurden getötet und dreißig verletzt.
Das Ende des Putsches bedeutete noch nicht das Ende des Generalstreiks. Am 18. März beschlossen die Dachverbände der sozialdemokratisch orientierten Arbeiter-, Angestellten- und Beamtengewerkschaften, den Ausstand solange fortzusetzen, bis eine Reihe von Forderungen erfüllt waren: die Entlassung Noskes, der den antirepublikanischen Umtrieben in der Reichswehr tatenlos zugesehen hatte, die Auflösung und Entwaffnung unzulässiger militärischer Einheiten und ein republikanischer Umbau der Reichswehr. Außerdem verlangten die Freien Gewerkschaften die Bestrafung aller am Putsch beteiligten Personen, die Auflösung illoyaler Verbände der Sicherheitswehr, eine gründliche Demokratisierung der Verwaltung, die Sozialisierung des Bergbaus und der Energiegewinnung sowie die Entlassung preußischer Minister, die sich den Putschisten gegenüber zu nachgiebig verhalten hatten, darunter des sozialdemokratischen Innenministers Wolfgang Heine. Erst als sich am 20. März die Erfüllung der wichtigsten Forderungen abzeichnete (was beim Thema Sozialisierung die Wiedereinberufung der im November 1918 gebildeten Sozialisierungskommission bedeutete), erklärten die drei Dachverbände den Generalstreik für beendet. Die USPD tat denselben Schritt erst drei Tage später, nachdem der Reichskanzler Bauer noch einige weitere Zugeständnisse gemacht hatte.
Am 27. März 1920 war die Umbildung der Reichsregierung abgeschlossen. An die Stelle des farblosen Reichskanzlers Gustav Bauer trat der mehrerer Fremdsprachen kundige bisherige Außenminister Hermann Müller, neben Otto Wels einer der beiden Vorsitzenden der SPD. Neuer Reichswehrminister wurde der bisherige Wiederaufbauminister Otto Geßler, der auf dem rechten Flügel der DDP stand. An die Spitze der Heeresleitung trat jener General von Seeckt, der sich am 13. März strikt geweigert hatte, Reichswehr auf Reichswehr schießen zu lassen.
Viel weiter als im Reich gingen die Veränderungen, die der Kapp-Lüttwitz-Putsch in Preußen zur Folge hatte. Nachfolger des politisch konturlosen Ministerpräsidenten Paul Hirsch wurde ein anderer, sehr viel agilerer Sozialdemokrat: der bisherige Landwirtschaftsminister Otto Braun, ein gelernter Buchdrucker aus Königsberg. Zum neuen Innenminister ernannte Braun den sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten Carl Severing, einen gelernten Schlosser aus Westfalen, der sich als Reichs- und preußischer Kommissar im unruhigen Ruhrgebiet bewährt hatte. In seiner neuen Funktion sorgte Severing für ein großes Revirement unter Oberpräsidenten, Regierungspräsidenten, Landräten und Polizeipräsidenten. Beamte, die mit den Putschisten kollaboriert hatten, wurden durch Männer ersetzt, denen der neue Innenminister zutraute, daß sie die Republik entschlossen verteidigen würden. Damit begann ein neues Kapitel der preußischen Geschichte: Der ehemalige Hohenzollernstaat entwickelte sich binnen weniger Jahre zu einem Bollwerk der deutschen Republik.
Ganz anders verlief die Entwicklung in Bayern. Am 14. März 1920 erlebte München seine eigene Art von Staatsstreich: Der Kommandeur der Reichswehrgruppe IV, General Ritter von Möhl, der in enger Verbindung zu monarchistischen Politikern und zu den paramilitärischen Einwohnerwehren stand, forderte den sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Johannes Hoffmann ultimativ auf, er möge im Interesse von Ruhe und Ordnung ihm, Möhl, die vollziehende Gewalt übertragen. Gegen den Widerspruch Hoffmanns fügte sich das bayerische Kabinett, eine Minderheitsregierung aus Sozialdemokraten, Bayerischem Bauernbund und Parteilosen, diesem Ansinnen. Am 16. März wählte der Landtag den oberbayerischen Regierungspräsidenten Gustav von Kahr, einen überzeugten Anhänger des Hauses Wittelsbach, zum Ministerpräsidenten. Seiner Regierung gehörten Mitglieder der Bayerischen Volkspartei, der DDP und des Bayerischen Bauernbundes an. Die Sozialdemokraten gingen in die Opposition, aus der sie bis zum Untergang der Weimarer Republik nicht mehr herauskamen. Bayern wurde seit dem Frühjahr 1920 zur rechten «Ordnungszelle» und damit zum Gegenpol des sozialdemokratisch geführten republikanischen Preußen: Es bildete fortan eine Schutzburg aller Kräfte, die auch im Reich einen Rechtsruck herbeiführen und die parlamentarische Demokratie durch ein autoritäres Regime ersetzen wollten.
Mit den Regierungsumbildungen im Reich, in Preußen und Bayern war noch immer kein Schlußstrich unter den Kapp-Lüttwitz-Putsch gezogen. Das blutige Ende kam erst noch: die Niederschlagung des Ruhraufstands. Im rheinisch-westfälischen Industriegebiet hatte sich im Gefolge des schwarz-weiß-roten Staatsstreichs die Rote Ruhrarmee, der bewaffnete Arm einer weit über die Anhänger der KPD hinausreichenden proletarischen Massenbewegung, gebildet und in allen größeren Orten die Macht übernommen. Die Führer dieser Armee dachten nicht daran, diese Position nach Wiederherstellung der verfassungsmäßigen Ordnung in Berlin wieder zu räumen. Im «wilden Westen» des Bergbaureviers, wo Linkskommunisten und Syndikalisten das Sagen hatten, waren die örtlichen Vollzugsräte noch weit radikaler als in den östlichen und südlichen, von der Metallindustrie geprägten Teilen des Ruhrgebiets, wo die USPD den Ton angab.
Diesen Gegensatz nutzten die Reichs- und die preußische Regierung zu einer Teilung der Fronten. Severing handelte mit den moderateren Vollzugsräten das «Bielefelder Abkommen» vom 24. März aus, das aber nur diese, nicht die radikaleren Kräfte zufrieden stellte. In einigen westlichen Städten, namentlich in Duisburg, herrschten mittlerweile Anarchie und Chaos. Damit rückte eine militärische Lösung des Konflikts immer näher. Die Reichswehr setzte dabei auch Einheiten ein, die kurz zuvor noch die Putschisten unterstützt hatten. Die Gesamtzahl der Toten des Bürgerkriegs im Industrierevier ist nie genau ermittelt worden: Sie lag bei den Bergarbeitern weit über 1000; die Reichswehr zählte 208 Tote und 123 Vermißte, die Sicherheitspolizei 41 Tote.
Mit dem Ruhraufstand endeten die proletarischen Massenbewegungen in Deutschland, die mit den wilden Streiks von 1917 begonnen hatten. Vieles spricht dafür, in der Erhebung vom Frühjahr 1920 die dritte Phase der deutschen Revolution zu sehen, die im Mai 1919, nach der Niederwerfung der zweiten Münchner Räterepublik in eine Art latentes Stadium getreten war. Der Protest der radikalen Arbeiter richtete sich zum einen gegen das politische und gesellschaftliche System, das sie für den Krieg verantwortlich machten, und gegen jene, die nach 1918 dieses System wiederherstellen wollten. Zum anderen kämpften die Aufständischen gegen die überkommenen Arbeiterorganisationen, denen die radikale Linke vorwarf, sie seien inzwischen selbst ein Teil des kapitalistischen Systems geworden.
Der Wunsch nach einer radikalen Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse überlebte das Ende der Revolutionsperiode im Frühjahr 1920. Doch die Erfahrungen jener Zeit wirkten ernüchternd. Der Generalstreik war zwar insofern erfolgreich gewesen, als er das Putschistenregime binnen kurzem zu Fall brachte, er entwickelte aber auch eine Eigendynamik, der Gewerkschaften und Sozialdemokratie machtlos gegenüberstanden. Die radikale Linke verwandelte den politischen Streik gegen den Willen der Gemäßigten in einen bewaffneten Kampf, aus dem nicht die Arbeiterschaft, sondern das Militär als Sieger hervorging. Auf den Ruhraufstand folgten zwar noch mehrere kommunistische Putschversuche wie die von der Komintern initiierte, von der preußischen Polizei rasch niedergeworfene «Märzaktion» von 1921 in Mitteldeutschland, aber keine proletarische Massenerhebung mehr. Einen Generalstreik hat es in der Weimarer Republik nach 1920 nicht mehr gegeben.
Die Aufständischen an der Ruhr wurden sehr viel härter bestraft als die Teilnehmer des vorangegangenen Rechtsputsches, von denen sich die meisten, darunter Kapp und Lüttwitz, ins Ausland absetzen konnten. Dem steckbrieflich gesuchten Kapitänleutnant Ehrhardt gelang es, gedeckt von den Behörden der «Ordnungszelle» Bayern, von dort aus die nächste Etappe der Konterrevolution vorzubereiten. Von den Zusagen, die die Reichsregierung den Gewerkschaften gemacht hatten, wurden nur wenige eingelöst. Die Arbeit der neu eingesetzten Sozialisierungskommission blieb so folgenlos wie 1919. Unzuverlässige Polizeiformationen wurden nur dort aufgelöst, wo die Sozialdemokratie die nötigen Machtmittel besaßen. Die Reichswehr hielt sich zwar äußerlich politisch zurück, um nicht in den Verdacht zu geraten, sie unterstütze republikfeindliche Umtriebe. Gleichzeitig aber wurden Freikorpsoffiziere, die sich aktiv am Putsch beteiligt hatten, auf Grund einer Amnestie vom August 1920 in die endgültige Reichswehr und in die Reichsmarine übernommen. Eine entschieden antirepublikanische Gesinnung stand einer Karriere im «Staat im Staat», zu dem sich das Militär in der Ära Seeckt entwickelte, nicht im Weg.
Am 6. Juni 1920 fand die erste Reichstagswahl nach dem Krieg und der Revolution statt. Sie wurde zu einem Debakel für die republikanischen Kräfte. Die Parteien der Weimarer Koalition, die in der Nationalversammlung über eine Zweidrittelmehrheit verfügt hatten, verloren die Mehrheit der Stimmen und der Sitze. Die Mehrheitssozialdemokraten sanken von 37,9 auf 21,6 Prozent, während die Unabhängigen ihren Anteil von 7,6 auf 18,6 Prozent steigern konnten. Die KPD, die erstmals antrat, kam auf 1,7 Prozent. Die DDP fiel von 18,5 auf 8,4 Prozent, wohingegen die DVP von 4,4 auf 13,9 Prozent anwuchs. Auch die Deutschnationalen nahmen zu: von 10,3 auf 14,4 Prozent. Gering fielen die Verluste des Zentrums aus: Es sank von 15,1 Prozent im außerbayerischen Deutschland auf 13,6 Prozent.
Auf eine knappe Formel gebracht, machte die Wahl einen Rechtsruck im Bürgertum und einen Linksruck in der Arbeiterschaft sichtbar. Die Wählerinnen und Wähler belohnten die Kräfte, die die Gründungskompromisse der Republik nicht mitgetragen hatten und bestraften die Gemäßigten für das, was sie seit Anfang 1919 getan oder nicht getan hatten. Auf der Linken verübelte man den bisherigen Regierungen der Republik, daß die «Reaktion» wieder erstarkt war. Von rechts wurde den Weimarer Parteien alles angelastet, was angeblich die nationale Ehre verletzte und die Besitzinteressen beeinträchtigte. Versailles und eine vom inzwischen zurückgetretenen Reichsfinanzminister Matthias Erzberger durchgesetzte Steuerreform, die eine progressiv gestaffelte Reichseinkommensteuer und eine einmalige Vermögensabgabe, das Reichsnotopfer, brachte, der Kapp-Lüttwitz-Putsch und die anschließenden Kämpfe: Dies alles floß in die Wahlentscheidung mit ein, die unter dem Strich ein Mißtrauensvotum gegen Weimar bedeutete.
Eine neue, regierungsfähige Mehrheit aber war nicht in Sicht. Politisch nicht vorstellbar waren einstweilen ein «Bürgerblock» unter Einschluß der Deutschnationalen und eine Große Koalition, die von der MSPD bis zur DVP reichte. So blieben nur zwei Formen von Minderheitsregierung übrig: entweder eine Weimarer Koalition, die von der DVP oder der USPD toleriert wurde, oder ein von den Sozialdemokraten parlamentarisch gestütztes bürgerliches Minderheitskabinett. Die SPD zog die zweite Möglichkeit vor, weil sie bessere Aussichten zu bieten schien, sozialdemokratisches Profil zu zeigen. Am 25. Juni ernannte Reichspräsident Ebert den badischen Zentrumspolitiker Konstantin Fehrenbach, den bisherigen Präsidenten der Nationalversammlung, zum Reichskanzler. Er bildete ein Kabinett, dem Mitglieder des Zentrums, der DDP und der DVP sowie zwei parteilose Minister angehörten. Erstmals seit dem Oktober 1918 gab es in Deutschland wieder eine Regierung ohne Sozialdemokraten. Gegen die SPD aber konnte das Reich nicht regiert werden. Das wußten die Sozialdemokraten, und darauf verließ sich das bürgerliche Minderheitskabinett.
Nur ein knappes Jahr lang konnte sich die Regierung Fehrenbach an der Macht behaupten. Im Frühjahr 1921 spitzten sich zwei Krisen zu, von denen uns die erste, der Konflikt um die Zukunft Oberschlesiens, bereits im Zusammenhang mit der Entwicklung Polens nach 1918 beschäftigt hat. Die zweite Krise betraf die Reparationen. Sie belasteten den Reichshaushalt in einer Höhe, die eine «normale» Aufbringung, in Gestalt von Steuern, undenkbar machte, trieben also die Inflation weiter voran. Der Friedensvertrag hatte die Höhe der Reparationen nicht festgelegt, und das hatte fatale Folgen: Die anhaltende Ungewißheit über den Umfang der Reparationsverpflichtungen nahm potentiellen privaten Kreditgebern die Möglichkeit, die Kreditwürdigkeit des Empfängerlandes realistisch einzuschätzen. Deutschland konnte infolgedessen keine langfristigen Auslandsanleihen mehr aufnehmen.
Am 5. Mai 1921 überreichte der britische Premierminister Lloyd George namens der Alliierten dem deutschen Botschafter in London ein Ultimatum, das zeitlich gestaffelte Reparationszahlungen in einer Gesamthöhe von 132 Milliarden Goldmark Gegenwartswert, also ohne die künftig anfallenden Zinsen, zuzüglich 6 Milliarden für das 1914 von Deutschland überfallene Belgien, vorsah. 1 Milliarde Goldmark war innerhalb von 25 Tagen, also bis zum 30. Mai, zu zahlen. Weiter forderten die Alliierten die Zahlung der noch ausstehenden 12 Milliarden von insgesamt 20 Milliarden Goldmark, die nach dem Vertrag von Versailles am 1. Mai 1921 fällig gewesen waren, die Entwaffnung entsprechend den bisherigen Noten der Alliierten und die Aburteilung der deutschen Kriegsverbrecher. Für den Fall der Nichterfüllung drohten die Verbündeten, am 12. Mai mit der Besetzung des gesamten Ruhrgebietes zu beginnen. (Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort waren schon am 8. März 1921 als Strafe dafür, daß Deutschland sich dem vorangegangenen Ultimatum nicht gefügt hatte, besetzt worden.)
Einen Tag vor der Überreichung des Londoner Ultimatums hatte die Regierung Fehrenbach ihren Rücktritt erklärt, da es ihr nicht gelungen war, die Vereinigten Staaten (die erst einige Monate später, am 25. August 1921, einen separaten Friedensvertrag mit dem Deutschen Reich abschlossen) zu einer Vermittlungsaktion in der Reparationsfrage zu bewegen. Die Reparationskrise fiel also mit einer Regierungskrise zusammen, und beide konnten nur gemeinsam gelöst werden. DNVP, DVP und KPD verlangten die Ablehnung des Ultimatums; SPD, Zentrum und USPD sprachen sich wegen der drohenden Sanktionen für die Annahme aus; die DDP war in sich gespalten.
Hätten sich die Befürworter der harten Linie durchgesetzt, wäre der wirtschaftliche Zusammenbruch Deutschlands die Folge gewesen. Das wußten auch die Rechtsparteien, aber wie bei der Abstimmung über den Vertrag von Versailles im Juni 1919 konnten sie davon ausgehen, daß es auch ohne sie eine Mehrheit für das kleinere Übel geben würde. Sie hatten richtig kalkuliert: SPD, Zentrum und DDP übernahmen die Verantwortung für die Annahme des Ultimatums und bildeten zusammen eine Regierung, das erste Minderheitskabinett der Weimarer Koalition. An seine Spitze trat am 10. Mai der badische Zentrumspolitiker Joseph Wirth. Der ehemalige Gymnasiallehrer für Mathematik hatte im März 1920 die Nachfolge Erzbergers als Finanzminister angetreten. Er war ein glänzender Redner und ein glühender Nationalist, gleichzeitig aber ein leidenschaftlicher Republikaner und, soweit es um die innere Politik ging, innerhalb des Zentrums ein «Linker». Mit der Ernennung Wirths begann, was als «Erfüllungspolitik» in die Geschichte der Weimarer Republik einging.
«Erfüllungspolitik» bedeutete, die Reparationspolitik dadurch ad absurdum zu führen, daß Deutschland sein Äußerstes tat, um die ihm auferlegten Pflichten zu erfüllen. Die Reparationen überforderten die wirtschaftliche Leistungskraft des Reiches, und daher waren katastrophale Folgen vorhersehbar. Gerade diese sollten aber die Siegermächte überzeugen, daß eine Revision des Londoner Zahlungsplans unumgänglich war. Nicht nur Wirth folgte dieser Logik, auch die Mehrheit der Abgeordneten tat es. Am 10. Mai 1921 nahm der Reichstag mit 220 gegen 172 Stimmen das Londoner Ultimatum an. MSPD, USPD und Zentrum stimmten geschlossen dafür, außerdem eine starke Minderheit der DDP und kleine Minderheiten von DVP und BVP. Die Regierung Wirth hatte ihre erste Kraftprobe bestanden.
Von den im engeren Sinn politischen Forderungen des Londoner Ultimatums wurde eine, die nach der Aburteilung von Kriegsverbrechern, praktisch nicht erfüllt. Zwischen Mai und Juli 1921 fanden zwar neun Verfahren gegen zwölf Angeklagte vor dem Reichsgericht in Leipzig statt. Aber nur in der Hälfte der Fälle kam es zu Verurteilungen. Das größte Aufsehen erregte das Urteil gegen zwei Oberleutnants zur See, die an der Versenkung von Rettungsbooten eines zuvor torpedierten Dampfers teilgenommen hatten. Beide wurden zu vier Jahren Gefängnis verurteilt, was bei der Reichsmarine leidenschaftliche Empörung hervorrief. Im Januar 1922 endete die Strafhaft abrupt: Angehörige der rechtsradikalen, von Kapitänleutnant Ehrhardt geführten «Organisation Consul» befreiten die beiden Offiziere aus ihren Gefängnissen. Die Alliierten legten gegen die geringe Zahl von Verurteilungen und die milden Strafen Protest ein, doch es blieb bei den papiernen Einsprüchen. Die deutschen Kriegsverbrechen blieben, abgesehen von den sechs Verurteilungen des Jahres 1921, ungesühnt.
Die alliierte Forderung nach Entwaffnung wurde im Frühsommer 1921 erfüllt – formell jedenfalls. Sie betraf vor allem die bayerischen Einwohnerwehren, deren Auflösung die Münchner Regierung schon im Vorjahr hartnäckig verweigert hatte. Anfang Juni 1921 mußte Ministerpräsident von Kahr unter massivem alliiertem Druck schließlich doch die Entwaffnung anordnen. Drei Wochen später, am 24. Juni, erklärte die Reichsregierung die bayerischen Einwohnerwehren, die ostpreußischen Orts- und Grenzwehren und die von dem bayerischen Forstrat Georg Escherich geführte paramilitärische «Organisation Escherich», kurz «Orgesch» genannt, im ganzen Reich für aufgelöst.
Paramilitärischer Politik war damit aber noch längst nicht der Boden entzogen. Die «Ordnungszelle» Bayern blieb das Eldorado zahlreicher «Vaterländischer Verbände», die die Einwohnerwehren an Radikalität weit übertrafen. Das staatliche Gewaltmonopol wurde im Deutschland der Weimarer Republik zwar längst nicht so weitgehend außer Kraft gesetzt wie im Italien der Jahre 1918 bis 1922. Aber paramilitärische Verbände und Parteiarmeen hatten nach dem Abschluß der offiziellen «Entwaffnung» ihre große Zeit erst noch vor sich. Die erzwungene Entmilitarisierung des Reiches wurde bis zu einem gewissen Grad durch die Paramilitarisierung der deutschen Gesellschaft überkompensiert. Eine kriegsverherrlichende Literatur tat das ihre, um den Geist am Leben zu erhalten, der sich den Körper bauen sollte: ein militärisch starkes, zur Revanche für 1918 fähiges Deutschland.
Der harte Kern des Londoner Ultimatums ließ sich nicht aufweichen: Im Jahre 1921 mußte Deutschland 3,3 Milliarden Goldmark an Reparationen zahlen, davon 1 Milliarde bereits am 30. Mai. Von dieser ersten Rate konnte das Reich lediglich 150 Millionen in bar aufbringen. Den Rest finanzierte es über Schatzwechsel mit dreimonatiger Laufzeit, die nur mit größten Schwierigkeiten zum Fälligkeitstermin eingelöst werden konnten. Die inflationstreibende Wirkung dieser Operation lag offen zutage und gab dem sozialdemokratischen Reichswirtschaftsminister Robert Schmidt am 19. Mai 1921 Anlaß zu der Forderung, die deutsche Finanzpolitik auf eine neue Grundlage zu stellen: die Enteignung von 20 Prozent des Kapitalvermögens von Landwirtschaft, Industrie, Handel, Banken und Hausbesitz.
Mit seiner Forderung nach einer «Erfassung» der Sachwerte kündigte Schmidt den stillschweigenden «Inflationskonsens» auf, der die deutsche Wirtschafts-, Finanz- und Sozialpolitik seit 1919 geprägt hatte. Hohe Löhne waren ein Mittel gewesen, mit dem Regierungen und Arbeitgeber der sozialen Radikalisierung entgegenzuwirken versuchten. Die Sozialdemokraten und die Gewerkschaften hatten diese Linie mitgetragen, im Frühjahr 1921 aber begannen sie zu begreifen, daß die Geldentwertung die gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse fortschreitend zugunsten der Sachwertbesitzer, also zu Lasten der Arbeitnehmer verschob. Zum anderen erkannten sie, daß eine Sanierung der Finanzen ohne massiven Eingriff in die Vermögenssubstanz unmöglich war. Gegen diese Einsicht wehrten sich die Unternehmer und die bürgerlichen Parteien, darunter auch die Koalitionspartner der SPD. Walther Rathenau, der der DDP angehörende Wiederaufbauminister und ehemalige Präsident des Aufsichtsrats der Allgemeinen Elektricitäts-Gesellschaft, war der erste, der Schmidt scharf widersprach. Ihm schloß sich kurz darauf auch Reichskanzler Joseph Wirth an, der in Personalunion auch das Reichsfinanzministerium leitete. Der Vorstoß des sozialdemokratischen Wirtschaftsministers war damit gescheitert.
Aus der Sicht der politischen Rechten war die «Erfüllungspolitik» schon deshalb verdammenswert, weil «Marxisten», nämlich MSPD und USPD, dem Londoner Ultimatum zur Annahme verholfen hatten. Durch ihre Zusammenarbeit mit der gemäßigten Linken geriet aber auch die politische Mitte ins Schußfeld der Rechten. Heftigen verbalen Attacken folgten bald auch mörderische Taten. Am 9. Juni 1921 wurde der Fraktionsvorsitzende der USPD im bayerischen Landtag, Karl Gareis, in München von einem Unbekannten erschossen. Am 26. August brachten zwei Mitglieder der «Organisation Consul» und des Münchner «Germanenordens» den ehemaligen Reichsfinanzminister und Unterzeichner des Waffenstillstands vom 11. November 1918, Matthias Erzberger, bei Griesbach im nördlichen Schwarzwald durch Pistolenschüsse um. Die Täter entkamen über München nach Ungarn. Den Auftraggeber des Attentats, den Führer des «Germanenordens», Kapitänleutnant Manfred Killinger, sprach das Schwurgericht Offenburg im Juni 1922 von der Anklage der Beihilfe zum Mord frei.
Von großen Teilen der nationalistischen Presse wurde der Mord an Erzberger nachdrücklich verteidigt; die deutschnationale «Kreuz-Zeitung» verglich die Täter mit Brutus, Wilhelm Tell und Charlotte Corday, die 1793 den Jakobiner Marat umgebracht hatte. Die politische Linke beantwortete die Gewaltverherrlichung von rechts mit großen Demonstrationen, an denen sich auch die KPD beteiligte. Die Reichsregierung beschloß am 29. August unter Vorsitz von Reichspräsident Ebert eine Notverordnung nach Artikel 48 der Reichsverfassung, die dem Reichsminister des Innern die Befugnis gab, republikfeindliche Druckschriften, Versammlungen und Vereinigungen zu verbieten.
Das daraufhin ergangene Verbot mehrerer rechtsradikaler Zeitungen, darunter des «Völkischen Beobachters», des Organs der 1919 in München gegründeten Nationalsozialistischen Deutschen Arbeiterpartei, löste einen schweren Konflikt mit Bayern aus: Die Staatsregierung weigerte sich, die Verordnung durchzuführen. Eine zweite Notverordnung vom 28. September war das Ergebnis von Verhandlungen mit der bayerischen Regierung, an deren Spitze eine Woche zuvor der eher gemäßigte Graf Lerchenfeld, ein Politiker der BVP, getreten war. Die neue Verordnung schützte nicht mehr nur «Vertreter der republikanisch-demokratischen Staatsform», sondern alle «Personen des öffentlichen Lebens»; die Zuständigkeit für die Durchführung von Verboten und Beschlagnahmen zum Schutz der Republik ging auf die Landesbehörden über. Im Gegenzug verpflichtete sich der Freistaat, den seit November 1919 bestehenden Landesausnahmezustand bis spätestens zum 6. Oktober 1921 aufzuheben.
Ende Oktober geriet das Kabinett Wirth in eine durchaus vermeidbare, schwere Krise. Anlaß war die Entscheidung des Obersten Rates der Alliierten zur Teilung Oberschlesiens. Um vor aller Welt gegen die Mißachtung des Selbstbestimmungsrechts der Deutschen zu protestieren, drängten die DDP und, weniger entschieden, das Zentrum auf den sofortigen Rücktritt der Reichsregierung. Die SPD hielt diesen Schritt für ebenso riskant wie nutzlos, konnte sich aber damit nicht durchsetzen. Am 22. Oktober teilte Wirth dem Reichspräsidenten die Demission seines Kabinetts mit.
Es folgten Verhandlungen über eine Große Koalition – eine Krisenlösung, mit der sich nun auch die Sozialdemokraten einverstanden erklärten. Die DVP hingegen war dazu nicht bereit und nannte als Grund ihren Zweifel, ob die SPD wirklich den Willen habe, sich in eine «nationale Einheitsfront» in der Oberschlesienfrage einzureihen. Als daraufhin auch die DDP beschloß, sich nicht an der neuen Regierung zu beteiligen, verblieb als letzte Option nur eine Weimarer Rumpfkoalition aus SPD und Zentrum. Die DDP akzeptierte, daß ihr Parteimitglied Otto Geßler als «Fachminister» weiterhin für die Reichswehr zuständig blieb, und ließ ihr Vorgehen damit im nachhinein als Farce erscheinen. Wirth übernahm am 26. Oktober 1921 erneut die Kanzlerschaft. Am 31. Januar 1922 übertrug er das zeitweilig von ihm selbst geleitete Auswärtige Amt dem früheren Wiederaufbauminister Walther Rathenau. Damit war die DDP nach dreimonatiger Unterbrechung auch formell wieder Regierungspartei.
Zu dem Zeitpunkt, als Rathenau sein neues Amt antrat, lag Deutschland bereits seit zwei Wochen die Einladung des Obersten Rates der Alliierten zu der schon erwähnten internationalen Konferenz in Genua vor, auf der erstmals nach dem Krieg Sieger und Besiegte, unter den letzteren Deutschland und Sowjetrußland, Probleme des wirtschaftlichen Wiederaufbaus erörtern sollten. Eine vorherige Abstimmung zwischen Berlin und Moskau, den beiden «have nots» der Weltpolitik, lag nahe. Zwar gab es seit dem 5. November 1918, als die Regierung des Prinzen Max von Baden aus Protest gegen russische Geldzahlungen an deutsche Revolutionäre die diplomatischen Beziehungen mit Sowjetrußland abgebrochen hatte, keine diplomatischen Vertretungen beider Staaten im jeweils anderen Land, aber seit dem Mai 1921 immerhin Handelsvertretungen. Diese waren kurz nach dem mitteldeutschen Aufstand, der Märzaktion, errichtet worden – ein Zeichen, daß aus sowjetischer Sicht ein Umsturzversuch der Komintern eines, die amtliche Politik Moskaus etwas anderes war: Während die «Internationalisten» die Weltrevolution vorbereiteten, bemühten sich die «Realpolitiker», die Position ihres Landes im Zusammenspiel mit kapitalistischen Staaten, obenan Deutschland, zu festigen.
Im besonderen Maß galt das für den militärischen Bereich. Im September 1921 begann eine streng geheime, zunehmend systematische Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, ausgerichtet am russischen Interesse, von der überlegenen deutschen Technik zu profitieren, und am deutschen Interesse, mit russischer Hilfe die Fesseln des Vertrags von Versailles, namentlich auf den Feldern Luftwaffe und Giftgasproduktion, abzustreifen. Dazu kam der gemeinsame Gegensatz zu Polen. Ebensowenig wie Rußland fand sich Deutschland mit seinen Gebietsverlusten an den neuen polnischen Staat ab. Der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, hatte bereits Anfang Februar 1920, am Vorabend des polnisch-russischen Krieges, die Auffassung vertreten, nur bei «festem Anschluß an Groß-Rußland» habe Deutschland Aussichten, die an Polen verlorenen Gebiete und seine «Weltmachtstellung» wiederzugewinnen. Reichskanzler Wirth, als Finanzminister ein aktiver Förderer der geheimen Zusammenarbeit zwischen Reichswehr und Roter Armee, teilte Seeckts Ansicht. Mehrfach forderte er 1922, daß Polen zertrümmert und Deutschland und Rußland wieder Nachbarn werden müßten.
Der eigentliche Architekt der deutschen Rußlandpolitik war der Leiter der Ostabteilung des Auswärtigen Amtes, Ago von Maltzan, ein durch und durch wilhelminisch geprägter Diplomat. Anfang 1922 handelte er mit Karl Radek, dem Deutschlandexperten der sowjetischen Führung, die Grundzüge eines Abkommens aus, das dem russischen Wunsch nach enger wirtschaftlicher Zusammenarbeit mit Deutschland Rechnung trug, und zwar ohne die Aufsicht eines internationalen Syndikats, wie es die Alliierten für den Wiederaufbau Rußlands vorgeschlagen hatten. Rathenau folgte dieser Linie zunächst nicht. Im Gegensatz zu Wirth, Seeckt und Maltzan war er, ebenso wie Reichspräsident Ebert und die Sozialdemokraten, ausgesprochen «west orientiert». Er wollte deutsch-russische Alleingänge vermeiden und trat deshalb für ein internationales Wirtschaftskonsortium ein. Die deutsch-russischen Verhandlungen gerieten infolgedessen ins Stocken. Sie wurden erst wieder aufgenommen, als die russische Delegation unter Außenminister Tschitscherin Anfang April auf dem Weg nach Genua in Berlin Station machte. Zum Abschluß eines Abkommens kam es bei dieser Gelegenheit noch nicht, aber doch zu einer Annäherung in so vielen Einzelpunkten, daß die Unterzeichnung eines Vertrags in naher Zukunft möglich erschien.
In Genua verlief dann alles anders, als von Ebert und Rathenau gewünscht. Zwar stimmten die alliierten Experten der deutschen These zu, daß die Reparationen zum Währungsverfall in Deutschland beigetragen hatten und keinesfalls die Leistungskraft des Reiches übersteigen durften. Aber gleichzeitig lief ein beunruhigendes Gerücht um: Bei den Separatverhandlungen zwischen den Alliierten und den Russen zeichne sich eine Verständigung auf deutsche Kosten ab. Unter dem Eindruck solcher (wie sich bald zeigen sollte, unzutreffender) Meldungen gab Rathenau schließlich dem Drängen Maltzans nach und beauftragte diesen, die unterbrochenen Gespräche mit den Russen wiederaufzunehmen.
Die Entscheidung fiel in der Nacht vom 15. zum 16. April 1922 auf der legendären «Pyjama-Party» in Rathenaus Hotelzimmer. Der Außenminister ließ sich vom Delegationsleiter, Reichskanzler Wirth, und Maltzan dazu überreden, entgegen der ausdrücklichen Weisung des Reichspräsidenten und ohne vorherige Information des britischen Premierministers Lloyd George am folgenden Tag ein Abkommen mit den Russen zu schließen – einen legendenumwobenen, nach dem Unterzeichnungsort, dem oberitalienischen Seebad Rapallo, benannten Vertrag, durch den Deutschland und Sowjetrußland wechselseitig auf etwaige kriegsbedingte Entschädigungsansprüche verzichteten, ihre diplomatischen Beziehungen wiederaufnahmen und sich auf die Meistbegünstigungsklausel festlegten: Handelspolitische Vorteile, die sie künftig anderen Staaten gewährten, kamen damit automatisch auch dem Vertragspartner zugute.
In Berlin fand der Vertragsabschluß ein gemischtes, aber überwiegend positives Echo. Zwar war der Reichspräsident nachhaltig darüber verstimmt, daß Kanzler und Außenminister sich über seine Weisungen hinweggesetzt hatten, doch nach außen stärkte er der Reichsregierung den Rücken. Der Reichstag billigte am 4. Juli in dritter Lesung den Vertrag gegen wenige Stimmen aus den Reihen der DNVP. Einer der Warner war der Reichstagsabgeordnete Rudolf Breitscheid von der Rest-USPD, der das Abkommen Ende April 1922 eine schwere Schädigung der deutschen Interessen nannte und dieses Verdikt damit begründete, daß der Vertrag die sich anbahnende wirtschaftliche Verständigung mit dem Westen störe.
Die Westmächte und vor allem Frankreich waren angesichts der Art und Weise, wie die deutsch-russische Vereinbarung zustande gekommen war, aufs höchste alarmiert. Zwar enthielt der Vertrag nicht, wie vielfach gemutmaßt wurde, geheime Zusatzklauseln, etwa über militärische Dinge. Aber der fast schon konspirative Charakter der Unterzeichnung war geeignet, Mißtrauen hervorzurufen, und dieses wäre noch viel größer gewesen, hätten die Alliierten Kenntnis von der geheimen Kooperation zwischen Reichswehr und Roter Armee gehabt. Ob ohne den Vertrag in Genua substantielle Fortschritte in der Reparationsfrage erzielt worden wären, ist schon wegen der Nichtteilnahme der USA fraglich. Nach dem Paukenschlag von Rapallo war ein alliiertes Entgegenkommen jedenfalls erst einmal in noch weitere Ferne gerückt als zuvor. Am 19. Mai 1922 wurde die Konferenz von Genua ergebnislos abgebrochen, da Sowjetrußland sich beharrlich weigerte, die russischen Vorkriegsschulden anzuerkennen.
Bereits am 24. April, eine Woche nach der Unterzeichnung des Vertrags von Rapallo, deutete der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré in einer Rede in Bar-le-Duc die Möglichkeit einer militärischen Intervention Frankreichs an. Am 2. Mai mahnte General Degoutte, der Oberkommandierende der alliierten Truppen im Rheinland, in einem Brief an Kriegsminister Maginot, angesichts der in Rapallo vollzogenen deutsch-sowjetischen Annäherung dürfe Frankreich, wenn es das Ruhrbecken okkupieren wolle, keine Zeit mehr verlieren. Der Vertrag von Rapallo war ein Rückfall in wilhelminische Risikopolitik, vorangetrieben von Kräften, die dem wilhelminischen Denken verhaftet blieben. Als Wirth sich gegenüber Tschitscherin in Genua für die «Wiederherstellung der Grenzen von 1914» aussprach, wußte er sich in dieser Forderung mit großen Teilen der deutschen Führungsschicht einig.
Der Mann, der als Partner Tschitscherins auf deutscher Seite den Vertrag von Rapallo widerstrebend unterzeichnet hatte, erlebte dessen Ratifizierung nicht mehr. Am späten Vormittag des 24. Juni 1922 wurde Reichsaußenminister Walther Rathenau auf der Fahrt von seiner Villa im Grunewald ins Auswärtige Amt von zwei Männern, die sein Auto überholten, durch Pistolenschüsse getötet. Die rasch ermittelten Täter, der Oberleutnant zur See a. D. Erwin Kern und der Leutnant der Reserve Hermann Fischer, wurden am 17. Juli auf der Burg Saaleck bei Kösen von der Polizei gestellt; Kern starb durch Kugeln seiner Verfolger, Fischer nahm sich daraufhin selbst das Leben. Beide waren Mitglieder des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes, einer damals etwa 170.000 Mitglieder zählenden, militant antisemitischen Vereinigung, und der «Organisation Consul», die auch den Mord an Erzberger vorbereitet hatte. Aus derselben geheimen Gruppe kamen auch einige der Hintermänner des Anschlags, deren die Polizei bald habhaft werden konnte.
Für die Urheber des Mordes verkörperte Rathenau die Erfüllungspolitik und die Weimarer Republik insgesamt; er war der Repräsentant alles dessen, was sie haßten. Er war ein Kritiker des alten Deutschland, der, weil er Jude war, ohne die Revolution nicht hätte Außenminister werden können. Die Erfüllungspolitik gegenüber dem Westen vertrat er ohne die nach Osten gerichteten Hintergedanken Joseph Wirths. Zugleich aber war Rathenau ein Produkt der wilhelminischen Ära und ein deutscher Patriot, der noch im Oktober 1918 die Deutschen zu einer «levée en masse» aufgerufen hatte und seit dem Sommer 1919 auf die Überwindung der Ordnung von Versailles hinarbeitete. Es waren nicht zuletzt die Widersprüche Rathenaus, die ihn zu einer Zielscheibe des Hasses für alle machten, die Weimar durch eine Revolution von rechts zu Fall bringen wollten.
Wie kein zweites Ereignis nach dem Kapp-Lüttwitz-Putsch erschütterte der Mord an Rathenau die Republik in ihren Grundfesten. Die Gewalteskalation von links aber, auf die die extreme Rechte gehofft hatte, fand nicht statt. An den großen Demonstrationen, zu denen der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund aufrief, nahmen neben Mehrheits- und Unabhängigen Sozialdemokraten auch die Kommunisten teil. Reichskanzler Wirth schleuderte am 25. Juni nach einer Würdigung des toten Ministers der Rechten unter stürmischem Beifall der Mehrheit des Reichstags und aller Tribünengäste Worte entgegen, die sich den Zeitgenossen einprägten: «Da steht (nach rechts) der Feind, der sein Gift in die Wunde eines Volkes träufelt. Da steht der Feind – und darüber ist kein Zweifel: Dieser Feind steht rechts.»
Der Mord an Rathenau veranlaßte die Reichsregierung zu administrativen und gesetzgeberischen Gegenmaßnahmen, zuerst in Form von zwei Notverordnungen, dann in Gestalt des Gesetzes zum Schutz der Republik, das am 18. Juli 1922 im Reichstag in dritter Lesung die notwendige verfassungsändernde Zweidrittelmehrheit erhielt, weil auch die DVP Gustav Stresemanns ihm zustimmte. Das Gesetz bedrohte republikfeindliche Bestrebungen von der Beschimpfung der Reichsfarben bis zur Ermordung von amtlichen Repräsentanten der Republik, mit schweren Strafen und schuf einen für solche Delikte zuständigen Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik beim Reichsgericht in Leipzig.
Die Sanktionen des Reichs lösten, ähnlich wie im Jahr zuvor nach der Ermordung Erzbergers, einen schweren Konflikt mit Bayern aus. Dieses hob das Gesetz einen Tag später auf und ersetzte es durch eine Verordnung, die zwar die materiellen Bestimmungen des Gesetzes übernahm, die Zuständigkeiten des Staatsgerichtshofes aber auf bayerische Gerichte übertrug. Die Reichsregierung reagierte weich, aber letztlich erfolgreich: Sie bot Bayern Verhandlungen an, die am 11. August, dem dritten Jahrestag der Weimarer Reichsverfassung, zu einem Kompromiß führten: Beim Staatsgerichtshof wurde ein zweiter Senat gebildet, der für die in Süddeutschland begangenen Delikte zuständig und mit süddeutschen Richtern zu besetzen war. Am 25. August 1922 hob die bayerische Regierung im Gegenzug die Verordnung vom 24. Juli auf. Ministerpräsident Graf Lerchenfeld aber wurde für dieses Zurückweichen von der rechten Mehrheit des Landtags bestraft. Am 2. November mußte er zurücktreten. Sein Nachfolger wurde eine Woche später Eugen Ritter von Knilling, der den «Vaterländischen Verbänden» und den Nationalsozialisten unter Führung Adolf Hitlers mit sehr vielmehr Verständnis gegenüberstand als sein Vorgänger.
Die Wirkungen des Republikschutzgesetzes blieben weit hinter den Erfahrungen seiner Befürworter zurück. Die obrigkeitsstaatlich geprägte Justiz zeigte kein Interesse, sich konsequent der Mittel zu bedienen, die das Gesetz bot, und wenn sie es tat, dann eher gegen politische Straftäter von links als solche von rechts. So erhielt etwa ein Kommunist, der von «Räuberrepublik» gesprochen hatte, eine Gefängnisstrafe von vier Wochen, während ein Angeklagter aus völkischen Kreisen, der das Schimpfwort «Judenrepublik» benutzt hatte, nur mit einer Geldstrafe von 70 Mark bedacht wurde.
Versuche, dem fanatischen Antisemitismus entgegenzuwirken, wie er sich erst in einer beispiellosen Hetzkampagne gegen Rathenau, dann in seiner Ermordung entladen hatte, waren vergeblich. Die Juden galten der extremen Rechten als Urheber der Niederlage Deutschlands im Weltkrieg, weil sie angeblich die deutschen Arbeiter systematisch mit pazifistischen, marxistischen oder bolschewistischen Ideen zersetzt oder sich auf Kosten des deutschen Volkes bereichert hatten. Sie wurden als Betreiber und Nutznießer von Revolution, Inflation und Erfüllungspolitik dargestellt. Sie dienten mithin als Sündenböcke für alles, worunter Deutschland seit dem November 1918 zu leiden hatte oder zu leiden glaubte.
Bei Studenten und Akademikern war der Antisemitismus besonders stark, weil viele von ihnen die Juden vor allem als Konkurrenten im Kampf um gehobene gesellschaftliche Positionen wahrnahmen. Daß die «marxistische» Arbeiterbewegung 1918 zur Regierungsmacht aufgestiegen war, empfanden werdende und fertige Akademiker vielfach als persönliche Kränkung. Ihr Anspruch auf die Führung Deutschlands wurde durch Kräfte in Frage gestellt, denen sie die dafür erforderliche geistige und moralische Eignung absprachen. Die Rolle von Juden in der politischen Linken reichte aus, um dem Gefühl des Statusverlustes und der Prestigeminderung eine antisemitische Wendung zu geben. Sich selbst sahen die völkischen Studenten und Jungakademiker in der Tradition der Befreiungskriege und vor allem Johann Gottlieb Fichtes, Ernst Moritz Arndts und des Turnvaters Jahn, bei denen sie fanden, was sie suchten: eine Auffassung vom ewig fortdauernden deutschen Volk, die sie umstandslos gegen die Juden als Träger eines «fremden Volkstums» und den angeblich von ihnen geprägten Staat von Weimar wendeten.
Rabiate Judenfeinde gab es nicht nur in antisemitischen Verbänden, sondern auch bei den monarchistischen Deutschnationalen, namentlich auf deren völkischem Flügel. In der «Konservativen Monatsschrift», dem Organ dieser Richtung, hatte der Reichstagsabgeordnete Wilhelm Henning im Juni 1922 einen Artikel veröffentlicht, in dem es unter anderem hieß, die «deutsche Ehre» sei «keine Schacherware für internationale Judenhände», und Rathenau und seine Hinterleute würden vom deutschen Volk zur Rechenschaft gezogen werden. Nach der Ermordung Rathenaus schien es der Parteiführung unter dem früheren preußischen Finanzminister Oskar Hergt angezeigt, einen Trennungsstrich zu den extremen völkischen Kräften zu ziehen: Der Parteiausschluß Hennings sollte den anderen bürgerlichen Parteien die Regierungsfähigkeit der DNVP beweisen. Die deutschnationale Reichstagsfraktion, der die endgültige Entscheidung überlassen wurde, begnügte sich mit dem Ausschluß Hennings aus den eigenen Reihen, hielt aber einen Parteiausschluß nicht für erforderlich. Diesen Schritt vollzogen Henning und zwei seiner Gesinnungsfreunde wenig später selbst. Im September 1922 gründeten sie die Deutschvölkische Arbeitsgemeinschaft, aus der im Dezember die Deutschvölkische Freiheitspartei entstand.
Zu einer Hochburg der neuen Partei wurde München, wo sich ihr der Kreisverein der Deutschnationalen anschloß. In der bayerischen Landeshauptstadt fanden die Deutschvölkischen ein besonders günstiges politisches Klima, freilich auch eine Konkurrenz vor, die sie an Haß auf Juden und «Marxisten» schlechterdings nicht übertreffen konnten: die von Adolf Hitler geführte Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei – diejenige Partei, die in ihrem Auftreten und ihren Kampfmethoden vielen zeitgenössischen Beobachtern als deutsche Kopie der italienischen Faschisten erschien. Die NSDAP kommentierte die Ermordung des Reichsaußenministers während einer Gedenkkundgebung der Münchner Sozialdemokraten in Flugblättern mit den Worten: «Der Rathenau ist leider tot. Es leben noch Ebert und Scheidemann.» Für die nach wie vor antisemitische DNVP hatte die Abspaltung ihres radikal völkischen Flügels mehr Vor- als Nachteile. Seit dem Herbst 1922 waren die Deutschnationalen ihrem wichtigsten Ziel ein Stück nähergekommen: der Einbeziehung in einen Bürgerblock, der eine Politik ohne und gegen die Sozialdemokraten gewährleisten sollte.
Eine Umgruppierung der politischen Kräfte im Gefolge des Mordes an Rathenau gab es auch auf der Linken: Mehrheits- und Unabhängige Sozialdemokraten bildeten im Juli 1922 eine Arbeitsgemeinschaft ihrer Reichstagsfraktionen; im September schlossen sie sich wieder zu einer Partei zusammen. Die USPD von 1922 war freilich nicht mehr die von 1917. Der linke Flügel der Unabhängigen hatte sich im Oktober 1920 auf dem Parteitag in Halle für den Anschluß an die Kommunistische Internationale und damit für die Vereinigung mit der KPD ausgesprochen. Der Teil der USPD, der sich zwei Jahre später mit den Mehrheitssozialdemokraten wiedervereinigte, bestand aus der gemäßigten Minderheit, zu der die Parteiführer Wilhelm Dittmann und Artur Crispien sowie die Parteiintellektuellen Rudolf Hilferding und Rudolf Breitscheid gehörten, außerdem ehemalige kommunistische «Rechtsabweichler» um den früheren Parteivorsitzenden Paul Levi, die 1921 aus der KPD ausgeschlossen worden waren. Es bedurfte der Erfahrung des erstarkenden Rechtsradikalismus und schließlich des Mordes vom 24. Juni 1922, um MSPD und USPD davon zu überzeugen, daß sie sich die Fortdauer ihrer Spaltung nicht mehr leisten konnten.
Der Zusammenschluß vom September 1922 stärkte das politische und vor allem das parlamentarische Gewicht der Sozialdemokratie beträchtlich. Doch es gab eine Kehrseite der Fusion: Ein Jahr zuvor, im September 1921, hatte sich die Mehrheitspartei auf ihrem Parteitag in Görlitz ein betont reformistisches, maßgeblich von Eduard Bernstein mitverfaßtes Programm gegeben, in dem sie sich als «Partei des arbeitenden Volkes in Stadt und Land» und «Kampfgemeinschaft für Demokratie und Sozialismus» präsentierte, der sich alle Gleichgesinnten, unabhängig von ihrer Klassenzugehörigkeit, anschließen konnten. Aus der Sicht der Rest-USPD war eine solche Abschwächung des Klassenkampfgedankens unvereinbar mit der weiterhin hochgehaltenen marxistischen Parteitradition. Das auf dem Vereinigungsparteitag in Nürnberg beschlossene Aktionsprogramm erinnerte in seiner Diktion sehr viel mehr an das alte Erfurter Programm von 1891 als an das Görlitzer Programm; das von Rudolf Hilferding entworfene Heidelberger Programm von 1925 las sich ebenfalls sehr viel «marxistischer» als sein Vorläufer von 1921.
Zur Reideologisierung kam die Verhärtung des Parteistandpunkts in Sachen Regierungsbeteiligung. Die Bildung einer Arbeitsgemeinschaft der beiden sozialdemokratischen Reichstagsfraktionen hatte zur Folge, daß die Bemühungen «rechter» Sozialdemokraten um eine Große Koalition erst einmal vertagt werden mußten: Die meisten Abgeordneten der USPD und der linke Flügel der MSPD hätten ein Regierungsbündnis mit der unternehmerfreundlichen DVP nicht mitgetragen. Gleichwohl war die Partei Gustav Stresemanns mittlerweile ein stiller Teilhaber der Regierung Wirth. Am 19. Juli 1922, fünf Tage nach Bildung der Arbeitsgemeinschaft der Fraktionen von MSPD und USPD, bildeten DVP, DDP und Zentrum eine Arbeitsgemeinschaft der verfassungstreuen Mitte, die das neue Übergewicht der Sozialdemokraten ausgleichen sollte. Durch ihre Zustimmung zum Republikschutzgesetz war die Deutsche Volkspartei tags zuvor demonstrativ in die politische Mitte gerückt. Am 24. Oktober sorgte die DVP dafür, daß der Reichstag mit der erforderlichen verfassungsändernden Zweidrittelmehrheit die Amtszeit des (immer noch vorläufigen) Reichspräsidenten Ebert bis zum 30. Juni 1925 verlängerte. Damit wurde die für Anfang Dezember 1922 vorgesehene Direktwahl durch das Volk überflüssig – eine Wahl, die gemäßigte bürgerliche Parteien aus Sorge um den inneren Frieden lieber vermeiden wollten. (Im Falle der DVP kam das Motiv hinzu, einem direkten Votum für oder gegen Ebert tunlichst auszuweichen.)
Im Herbst 1922 hätte es sehr gute Gründe für die Bildung einer Großen Koalition gegeben. Der Mord an Rathenau hatte schlagartig zerstört, was an Vertrauen in die Mark noch vorhanden war: In- und Ausländer stießen ihre Markguthaben panikartig ab; die Kapitalflucht nahm gigantische Ausmaße an. Um dieselbe Zeit endete die inflationsbedingte deutsche «Sonderkonjunktur», die das Reich vor der Weltwirtschaftskrise der frühen zwanziger Jahre abgeschirmt hatte: Das Interesse an billigen Einfuhren aus Deutschland sank in dem Maß, wie die einheimische Industrie ihre Leistungskraft zurückgewann. Der deutsche Export verlor nun die «Prämie», die der Niedergang der Produktion in der übrigen Welt seit 1920 für ihn bedeutet hatte. Die Inflation, die im Herbst 1922 in die Hyperinflation umschlug, war damit ihres wirtschaftlichen «Reizes» endgültig beraubt, was die Chancen einer Sanierung der Währungsverhältnisse objektiv erhöhte. Politisch aber war eine Sanierung nur vorstellbar bei einem engen Zusammenwirken von Unternehmerschaft und Gewerkschaften, von gemäßigten bürgerlichen Parteien und Sozialdemokratie.
Große Teile der deutschen Unternehmerschaft verweigerten sich im Herbst 1922 noch dieser Erkenntnis, darunter auch Hugo Stinnes, der die Inflation für den Ausbau eines riesigen Industrieimperiums genutzt hatte und seit 1920 auch ein Reichstagsmandat der DVP innehatte. Seine Vorstellungen von Sanierung trug er ausgerechnet am 9. November 1922, dem vierten Jahrestag der Revolution, im Vorläufigen Reichswirtschaftsrat, einem in der Reichsverfassung verankerten berufsständischen Quasiparlament ohne Entscheidungsbefugnis, vor und löste damit auf der Linken einen Sturm der Entrüstung aus: Die deutschen Arbeiter sollten für die Dauer von 10 bis 15 Jahren ohne Lohnzuschlag täglich zwei Stunden länger arbeiten. So wie Stinnes dachte der schwerindustrielle Flügel der DVP, nicht aber die Partei insgesamt und ihr Vorsitzender Gustav Stresemann. Dieser war mittlerweile von der unabdingbaren Notwendigkeit einer Zusammenarbeit zwischen den gemäßigten Kräften im Bürgertum und in der Arbeiterschaft überzeugt und stimmte darum am 26. Oktober dem Vorschlag von Reichskanzler Wirth zu, eine Kommission aus Regierungsparteien und Deutscher Volkspartei zu bilden und in deren Rahmen eine gemeinsame Plattform für die anstehenden wirtschaftspolitischen Entscheidungen, namentlich in der Reparationsfrage, zu erarbeiten.
Die DVP entsandte den Elektroindustriellen Hans von Raumer, einen Architekten der «Zentralarbeitsgemeinschaft» vom November 1918, in die Kommission, die SPD ihren theoretischen Kopf Rudolf Hilferding, den Autor des «Finanzkapital» von 1910. Beide wirkten entscheidend an der Verständigung auf einen Maßnahmenkatalog mit, der der Regierung als Material für ihre reparationspolitische Note vom 13. November 1922 diente. Die eigentliche Sensation der Kommissionsvorschläge war ein Kompromiß in der umstrittenen Arbeitszeitfrage: Der Achtstundentag sollte der «Normalarbeitstag» bleiben, «gesetzlich begrenzte Ausnahmen auf tariflichem oder behördlichem Wege» aber waren zugelassen. Die Kommission stellte damit die wichtigste soziale Errungenschaft des November 1918 zwar nicht grundsätzlich zur Disposition, empfahl aber doch, zumindest für Teilbereiche der Wirtschaft, eine zeitweilige Mehrarbeit, um auf diese Weise eine Sanierung der Finanzen, den wirtschaftlichen Wiederaufbau Deutschlands und einen friedlichen Ausgleich mit seinen Nachbarn zu ermöglichen.
Ganz in diesem Sinn war die reparationspolitische Note der Regierung Wirth vom 13. November 1922 gehalten. Sie stellte, wie von den Alliierten gefordert, großangelegte Stützungsmaßnahmen der Reichsbank zugunsten der Mark in Aussicht: Falls eine internationale Anleihe 500 Millionen Goldmark erbringe, werde die Reichsbank sich mit einem gleich hohen Betrag an der Aktion beteiligen. Dieser Note stimmten nicht nur die Vorsitzenden der Koalitionsfraktionen SPD, Zentrum und DDP, sondern auch die Vertreter der DVP zu.
Das Fundament einer Großen Koalition schien damit gelegt. Aber nur einen Tag später erwies sich dieser Eindruck als Trugbild. Am 14. November 1922 entschied sich die Fraktion der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands mit überwältigender Mehrheit gegen eine Große Koalition. Für ein solches Bündnis hatte sich vor allem der preußische Ministerpräsident Otto Braun eingesetzt, aber er stand auf verlorenem Posten. Die Parteiführung wollte es so kurz nach der Wiedervereinigung der beiden sozialdemokratischen Parteien nicht auf eine Zerreißprobe mit den ehemaligen Unabhängigen ankommen lassen, von denen die meisten, anders als Hilferding, ein Zusammengehen mit der DVP, der «Unternehmerpartei» schlechthin, nach wie vor strikt ablehnten.
Einer Vereinbarung der Mittelparteien gemäß trat Joseph Wirth noch am gleichen Tag als Reichskanzler zurück. Zu seinem Nachfolger ernannte der Reichspräsident am 22. November den parteilosen Generaldirektor der Hamburg-Amerika-Linie, Wilhelm Cuno, einen 1876 im thüringischen Suhl geborenen Katholiken, der politisch deutlich rechts von der Mitte stand. Ebert mochte hoffen, daß ein erfahrener Wirtschaftsfachmann an der Spitze des Kabinetts das deutsche Unternehmertum stärker an die Republik heranführen und auch im Ausland einen guten Eindruck machen würde. Neben Cuno waren noch vier weitere Kabinettsmitglieder parteilos, unter ihnen der bisherige Essener Oberbürgermeister Hans Luther als Ernährungsminister und der frühere Generalquartiermeister Wilhelm Groener, der, wie schon unter Fehrenbach und Wirth, das Verkehrsministerium übernahm. Die übrigen Minister waren Mitglieder von Zentrum, BVP, DDP und DVP. Von einer parlamentarischen Mehrheit war das bürgerliche Minderheitskabinett Cuno weit entfernt. Es hatte nur dann eine Überlebenschance, wenn es von der SPD toleriert wurde.
Wie keine andere der bisherigen Weimarer Regierungen ähnelte die Ministermannschaft Cunos einem kaiserlichen Beamtenkabinett, und noch nie hatte der Reichspräsident so viel Einfluß auf die Auswahl des Reichskanzlers genommen wie im November 1922. Mit einer leichten Übertreibung könnte man die Regierung Cuno sogar ein verdecktes Präsidialkabinett nennen. Es war aber nicht nur ein Fehlgriff Eberts, daß es zu einem solchen Rückfall in den Obrigkeitsstaat kam. Die Hauptverantwortung für diese Entwicklung lag bei der Staatsgründungspartei der Weimarer Republik, der Sozialdemokratie. Aus Sorge um ihren Zusammenhalt als Partei hatte sie sich einer parlamentarischen Krisenlösung verweigert und damit die präsidiale Lösung erst möglich gemacht.[15]
Entscheidungsjahr 1923:
Von der Ruhrbesetzung zum Dawes-Plan
Die Regierung Cuno war noch keine zwei Monate im Amt, als am 11. Januar 1923 französische und belgische Truppen das Ruhrgebiet besetzten und damit die schärfste internationale Konfrontation seit dem polnisch-russischen Krieg von 1920, wenn nicht seit dem Ende des Ersten Weltkrieges herbeiführten. Die Begründung war ein Vorwand: Deutschland wurde, entsprechend den Feststellungen der alliierten Reparationskommission, eine schuldhafte Verletzung seiner Pflichten zur Lieferung von Schnittholz, Telegrafenstangen und Kohle vorgeworfen.
Das Versäumnis ging auf das Konto des vorangegangenen Kabinetts Wirth, das sich seit August 1922 bewußt an die populäre Devise «Erst Brot, dann Reparationen» gehalten hatte. Die Verzögerung war fahrlässig, da Frankreich seit dem Vertrag von Rapallo nur auf einen Anlaß wartete, um das Ruhrgebiet zu besetzen. Die Okkupation sollte Frankreich zu jener Sicherheit gegenüber dem Nachbarn im Osten verhelfen, die es wegen des Widerstands der beiden angelsächsischen Mächte in Versailles nicht hatte durchsetzen können. Hinter dem Sicherheitsinteresse aber stand mehr: die Untermauerung des französischen Anspruchs auf die Vormachtstellung in Kontinentaleuropa. Frankreichs Vorgehen war eine Politik hart am Rande des Krieges. Von den Alliierten erhielt Paris keinerlei Unterstützung; Großbritannien protestierte gegen die Ruhrbesetzung; der Vatikan verurteilte sie.
Die deutsche Antwort auf den aggressiven, auch von Großbritannien verurteilten, Akt war die Politik des «passiven Widerstandes»: der Nichtbefolgung der Anweisungen der Besatzer. Für diese Linie fand die Regierung Cuno eine große Mehrheit im Reichstag und die aktive Unterstützung der Gewerkschaften. Nur die äußerste Linke und die äußerste Rechte fügten sich nicht in die nationale Einheitsfront ein. Die Kommunisten gaben am 22. Januar die Parole aus «Schlagt Poincaré und Cuno an der Ruhr und an der Spree!», betonten in den folgenden Wochen aber doch, schon aus Rücksicht auf die «antiimperialistische», gegen Frankreich gerichtete Politik der Sowjetunion, den Gegensatz zum äußeren Gegner stärker als den zum inneren. Extremer war die Haltung der Nationalsozialisten. Am 11. Januar 1923 verkündete Hitler vor seinen Anhängern im Zirkus Krone in München, nicht «Nieder mit Frankreich!», sondern «Nieder mit den Novemberverbrechern!» müsse es heißen.
Infolge des deutschen Boykotts konnten Franzosen und Belgier bis März 1923 keine Reparationen erzwingen: Insofern erreichte die Politik des passiven Widerstands zunächst einmal ihr Hauptziel. Dann aber gingen die Besatzer dazu über, Zechen und Kokereien zu beschlagnahmen und das Eisenbahnwesen in eigene Regie zu übernehmen. Das Reich mußte nicht nur die Gehälter für die Bediensteten der Reichsbahn weiterzahlen, die aus dem besetzten Gebiet ausgewiesen wurden. Es vergab auch Kredite in Millionenhöhe an den Kohlenbergbau und die Eisen- und Stahlindustrie, um den stillgelegten Betrieben die Lohnfortzahlung zu ermöglichen. Das Ruhrgebiet wurde durch den passiven Widerstand folglich, finanziell gesehen, zu einem Faß ohne Boden. Die Hyperinflation überschlug sich förmlich. Der Außenwert der deutschen Währung, den die Reichsbank durch den Verkauf von Goldreserven und Devisen von Februar bis April 1923 bei etwa 21.000 Mark für einen Dollar vorübergehend stabilisiert hatte, fiel im Mai auf knapp 48.000 und im Juni auf 110.000 Mark.
Je deutlicher das Scheitern des passiven Widerstands sich abzeichnete, desto stärker wuchs auf der radikalen Rechten die Neigung, vom passiven zum aktiven Widerstand in Form von Sabotageakten überzugehen. Im März und April 1923 wurden mehrere Sprengstoffanschläge auf Eisenbahnanlagen im besetzten Gebiet verübt. Einen der Beteiligten, den Nationalsozialisten Albert Leo Schlageter, verhaftete die französische Kriminalpolizei im April in Essen. Am 9. Mai wurde er durch ein französisches Kriegsgericht in Düsseldorf wegen Spionage und Sabotage zum Tode verurteilt. Am 26. Mai erfolgte die Vollstreckung des Urteils durch Erschießen.
Die Hinrichtung Schlageters löste in Deutschland einen Proteststurm aus, der auch im fernen Moskau sein Echo fand. Am 20. Juni 1923 würdigte Karl Radek, der Deutschlandexperte der Kommunistischen Internationale, in einer Rede vor dem Erweiterten Exekutivkomitee den «Faschisten» Schlageter als einen «Märtyrer des deutschen Nationalismus» und mutigen Soldaten der Konterrevolution, der es verdiene, «von uns, Soldaten der Revolution, männlich ehrlich gewürdigt zu werden». Männer wie Schlageter würden jedoch, wie Radek unter Anspielung auf den Titel eines Freikorpsromans formulierte, zu «Wanderern ins Nichts», wenn sie nicht lernten, fortan für die Sache des großen arbeitenden deutschen Volkes zu kämpfen, das ein Glied sei in der Familie der um ihre Befreiung kämpfenden Völker.
Radeks «Schlageter-Rede» war ein Versuch, die nationalistischen Massen von ihren Führern zu trennen und die nationalrevolutionäre in eine sozialrevolutionäre Bewegung zu verwandeln. Aus der Sicht der Sowjetunion und der Komintern bot die deutsch-französische Konfrontation von 1923 die ungewöhnliche Chance, die gesamte Nachkriegsordnung von 1919 zu Fall zu bringen. Ein nationaler Befreiungskrieg, den Deutschland gegen Frankreich führte, konnte durch russische Unterstützung rasch die Durchbruchschlacht der Weltrevolution werden – vorausgesetzt, die von den «Faschisten» verführten nationalen Massen fanden sich zur Aktionseinheit mit den Kommunisten und unter ihrer Führung bereit. Diese Strategie in die Tat umzusetzen war das Ziel jener «nationalbolschewistischen» Agitation unter den Anhängern der nationalistischen Rechten, der sich die KPD im Sommer 1923 widmete – mit bemerkenswerten rhetorischen Zugeständnissen an den Antisemitismus, aber, aufs ganze gesehen, ohne politischen Erfolg.
Bei den Arbeitern fanden die Parolen der KPD sehr viel mehr Widerhall. Die Kommunisten waren nicht die Urheber, wohl aber die Nutznießer der «wilden Streiks», die Mitte Mai im Ruhrgebiet stattfanden. Bei Betriebsrats-, Gewerkschafts-, Kommunal- und Landtagswahlen im Sommer 1923 verzeichnete die KPD durchweg starke Gewinne; ihre Mitgliederzahl stieg von September 1922 bis September 1923 von knapp 225.000 auf 295.000. Im August 1923 schien eine politische Explosion unmittelbar bevorzustehen. Das fortschreitende soziale Elend hatte eine Verzweiflungsstimmung erzeugt, die sich in den sogenannten «Cuno-Streiks» entlud. Die Freien Gewerkschaften bemühten sich, die Betriebe der Reichsdruckerei, die auch Papiergeld druckten, vor dem Ausstand zu bewahren, hatten damit aber keinen Erfolg. Einen Tag lang, am 10. August 1923, war die Notenpresse stillgelegt, und sofort trat ein fühlbarer Mangel an Papiergeld ein.
Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die Sozialdemokraten die Regierung Cuno toleriert. Der Widerstand des linken Parteiflügels gegen eine Zusammenarbeit mit der DVP war so stark, daß die Parteiführung keine Alternative zur weiteren Hinnahme des am weitesten rechts stehenden aller bisherigen Nachkriegskabinette sah. Dazu kam die Furcht, die SPD würde, wenn sie auf dem Höhepunkt der Krise Regierungsverantwortung übernahm und die Katastrophenpolitik des passiven Widerstands abbrach, vom «nationalen» Deutschland abermals eines «Dolchstoßes» bezichtigt werden. Erst die «Cuno-Streiks» überzeugten die Parteiführung der Sozialdemokraten, daß die weitere Tolerierung der Regierung Cuno nicht das kleinere, sondern, verglichen mit einer Großen Koalition, das größere Übel war.
Da die Unzufriedenheit mit der amtierenden Regierung auch bei den bürgerlichen Parteien und den Unternehmern inzwischen kritische Ausmaße erreicht hatte, kam die überfällige Krisenlösung binnen weniger Tage zustande. Die SPD setzte in den Verhandlungen mit den bisherigen Regierungsparteien eine Reihe von Forderungen durch, darunter die schleunige Eindämmung der Inflation, die Vorbereitung einer Goldwährung, die Loslösung der Reichswehr von illegalen Organisationen sowie außenpolitische Aktivitäten zur Lösung der Reparationsfrage. Mit der in der Öffentlichkeit seit langem diskutierten Kanzlerschaft des Vorsitzenden der DVP, Gustav Stresemann, waren die Sozialdemokraten schon deswegen einverstanden, weil ihnen aus innerparteilichen Gründen daran lag, nicht selbst die Spitzenposition zu besetzen. Die stärkste Partei begnügte sich damit, die Minister für Finanzen, Wirtschaft, Inneres und Justiz zu stellen. Am 13. August 1923, einen Tag, nachdem Cuno seinen Rücktritt erklärt hatte, wurde Stresemann von Reichspräsident Ebert zum Reichskanzler ernannt. Tags darauf gewann der neue Regierungschef, der zugleich das Amt des Außenministers übernahm, die Vertrauensabstimmung im Reichstag. Rund ein Drittel der Abgeordneten von SPD und DVP blieb der Abstimmung fern – ein deutliches Zeichen, daß die Große Koalition in den beiden Flügelparteien weiterhin heftig umstritten war.
Auf der politischen Rechten, in Bayern nicht anders als im besetzten Gebiet, wurde die Rückkehr der Sozialdemokraten an die Regierung mit Empörung aufgenommen, wobei zwei Kabinettsmitglieder besonders feindselige Reaktionen hervorriefen: Finanzminister Rudolf Hilferding, weil er Jude war, und Justizminister Gustav Radbruch, weil er als Inhaber desselben Ressorts unter Wirth das verhaßte Republikschutzgesetz verkörperte. Auf die Arbeiterschaft aber wirkte die Bildung der Großen Koalition beruhigend. Die «Cuno-Streiks» verebbten. Von einer revolutionären Situation in Deutschland konnte nicht mehr die Rede sein.
Die Komintern in Moskau sah das anders. Unter dem Eindruck der «Cuno-Streiks» forderte der Generalsekretär der Dritten Internationale, Grigori Sinowjew, die KPD Mitte August auf, sich auf die herannahende revolutionäre Krise einzustellen. Am 23. August trat das Politbüro der Kommunistischen Partei Rußlands zu einer Geheimsitzung zusammen. Sinowjew, Radek und der Volkskommissar für Verteidigung, Leo Trotzki, setzten gegen den widerstrebenden Parteisekretär Stalin den Beschluß durch, einen Ausschuß zu bilden, dessen Aufgabe darin bestand, die kommunistische Revolution in Deutschland systematisch vorzubereiten.
Die endgültige Entscheidung für den «deutschen Oktober», der nach Trotzkis Auffassung am fünften Jahrestag der deutschen Revolution, am 9. November 1923, stattfinden sollte. Am 1. Oktober wies Sinowjew die Zentrale der KPD an, die Partei sollte möglichst umgehend in die sächsische Minderheitsregierung unter dem linken Sozialdemokraten Erich Zeigner eintreten, die seit März von den Kommunisten toleriert wurde. Der nächste Schritt sollte die Bewaffnung des sächsischen Proletariats sein. Sachsen war also die Rolle des Vororts der deutschen Revolution zugedacht: Es sollte zum Ausgangspunkt eines Bürgerkrieges werden, an dessen Ende der Sieg der Kommunisten über die Faschisten und die bürgerliche Republik stand.
Während die Kommunisten die Revolution vorbereiteten, spitzte sich die politische Krise in Deutschland weiter zu. Am 26. September verkündeten Reichspräsident und Reichsregierung nach langem Zögern das Ende des passiven Widerstands. Die bayerische Staatsregierung reagierte noch am selben Tag mit der Verhängung des Ausnahmezustands und der Übertragung der vollziehenden Gewalt an den Regierungspräsidenten von Oberbayern, Gustav Ritter von Kahr. Die Antwort des Reiches hierauf war eine Notverordnung vom Abend des 26. September, die den Ausnahmezustand über das ganze Reich verhängte und die vollziehende Gewalt dem Reichswehrminister übertrug, der sie seinerseits an die regionalen Militärbefehlshaber delegieren konnte. Bayern hätte, rein rechtlich gesehen, wenn Reichspräsident oder Reichstag dies verlangten, seine Maßnahmen außer Kraft setzen müssen. Aber Stresemann und die bürgerlichen Minister gingen davon aus, daß sich Kahr einem solchen Ersuchen nicht fügen würde, und hielten es darum für besser, gar nicht erst in diesem Sinn in München vorstellig zu werden.
Die Schwäche des Reichs sollte in den folgenden Tagen noch deutlicher hervortreten. Als der «Völkische Beobachter», das Organ der Nationalsozialisten, am 27. September heftige antisemitische Attacken auf die «Diktatoren Stresemann – Seeckt» richtete (auf den ersteren, weil er mit einer «Jüdin», auf den letzteren, weil er mit einer «Halbjüdin» verheiratet war), wies Reichsminister Geßler Kahr an, das Blatt zu verbieten. Kahr lehnte das ab, und General von Lossow, der Kommandeur der in Bayern stehenden Reichswehrtruppen, schloß sich dieser Haltung an. Das war ein klarer Fall von Befehlsverweigerung. Doch der Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, dachte sowenig wie beim Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 daran, Reichswehr auf Reichswehr schießen zu lassen. Er hielt sich vielmehr für eine ähnliche Rolle im Reich bereit, wie Kahr sie in Bayern übernommen hatte, und es gab viele, die ihn darin bestärkten: Eine «nationale Diktatur» unter einem von Seeckt geführten «Direktorium» war die Forderung prominenter Schwerindustrieller wie Hugo Stinnes und aller Kräfte, die ihre politische Heimat bei den Deutschnationalen sahen.
Eine andere Art von «Diktatur» schlugen in der Kabinettssitzung vom 30. September Arbeitsminister Brauns, ein Zentrumspolitiker, und Finanzminister Hilferding vor: Sie forderten ein Ermächtigungsgesetz, das es der Regierung gestatten sollte, in finanzieller und politischer Hinsicht das Notwendige zu tun. Für notwendig hielten beide eine Verlängerung der Arbeitszeit – was sie in Übereinstimmung mit den Unternehmern und in einen Gegensatz mit den Gewerkschaften brachte. Aber auch die SPD, Hilferdings Partei, war nicht bereit, den geforderten Vollmachten in der Arbeitszeitfrage zuzustimmen. Auf dem rechten Flügel der Großen Koalition nahm der Widerspruch gegen die Politik des Kabinetts Stresemann sehr viel schroffere Züge an: Der Fraktionsvorsitzende der DVP, Ernst Scholz, forderte im Einverständnis mit dem rechten Parteiflügel und namentlich mit Hugo Stinnes am 2. Oktober die umfassende Abkehr vom Achtstundentag, den «Bruch mit Frankreich» und die Einbeziehung der Deutschnationalen in die Große Koalition. Nach Lage der Dinge war das nichts anderes als eine Kampfansage an den Reichskanzler und ein verdecktes Bekenntnis zur «nationalen Diktatur». Stresemann zog noch am selben Tag die Konsequenz und reichte seinen Rücktritt ein.
Vier Tage später, am 6. Oktober, hieß der Kanzler dann doch wieder Gustav Stresemann, und abermals stand er einem Kabinett der Großen Koalition vor. Im Sinne einer Erneuerung dieses Bündnisses hatte Reichspräsident Ebert gewirkt, und er hatte damit Erfolg, weil die gemäßigten Kräfte der DVP nicht bereit waren, sich dem Druck von Stinnes zu beugen und Stresemann fallen zu lassen. In der Nacht vom 5. zum 6. Oktober gelang den Parteiführern der entscheidende Durchbruch in der Sache: Sie verständigten sich in der Arbeitszeitfrage auf eine Formel, auf die sich ihre Experten schon am 13. November 1922, am Vorabend des Auseinanderbrechens des Kabinetts Wirth, geeinigt hatten: Der Achtstundentag sollte grundsätzlich beibehalten, aber auf tariflichem oder gesetzlichem Weg überschritten werden können.
Mit einem Ermächtigungsgesetz, das die Arbeitszeitfrage aussparte und nur für die Dauer der Regierungszeit der gegenwärtigen Koalition gelten sollte, war nun auch die SPD einverstanden. Am 13. Oktober nahm der Reichstag dieses Gesetz mit der notwendigen verfassungsändernden Mehrheit an. Auf seiner Grundlage ergingen Verordnungen zur Erwerbslosenfürsorge, zum Personalabbau im öffentlichen Dienst und eine Verordnung, die die staatliche Zwangsschlichtung von Tarifkonflikten einführte und damit den Staat zum Oberschiedsrichter in Arbeitskämpfen machte. Die Parallelen zu den außerordentlichen Vollmachten des Artikels 48 lagen auf der Hand.
Zur gleichen Zeit, in der in Berlin um das Schicksal der Großen Koalition gerungen wurde, arbeiteten rechtsautoritäre Kräfte und Kommunisten auf einen Regimewechsel hin. In Bayern ließ sich Hitler am 25. September zum Führer des «Deutschen Kampfbundes», einer neuen Dachorganisation der «Vaterländischen Verbände», wählen. Vier Tage später setzte Kahr den Vollzug des Republikschutzgesetzes außer Kraft. Um die Nationalsozialisten an sich zu binden, ließ Kahr seit Mitte Oktober Ostjuden in großer Zahl aus Bayern ausweisen. Als Reichswehrminister Geßler am 20. Oktober die überzählige Amtsenthebung des Münchner Wehrkreisbefehlshabers von Lossow anordnete, holte Kahr zu seinem bisher massivsten Schlag gegen das Reich aus: Er ernannte Lossow zum bayerischen Landeskommandanten und nahm die in Bayern stationierte 7. Reichswehrdivision in die Pflicht des Freistaates.
Eine Trennung Bayerns vom Reich wollten weder Kahr noch Lossow noch ihr Verbündeter, der Landeskommandant der bayerischen Polizei, Oberst von Seißer. Das Münchner Triumvirat erstrebte vielmehr eine Umgestaltung des Reiches nach dem Vorbild der «Ordnungszelle» Bayern. Ein «Marsch auf Berlin», nach dem Muster von Mussolinis «Marsch auf Rom», sollte den Abschluß der Errichtung einer «nationalen Diktatur» bilden. Die Nationalsozialisten durften daran mitwirken, die Rolle des «Duce» aber war nicht Hitler, sondern Kahr und später, auf Reichsebene, einem Mann vergleichbarer Gesinnung vorbehalten – etwa dem General von Seeckt, von dem aber niemand wußte, ob er, der als Legalist galt, im Ernstfall gegen den erklärten Willen des Reichspräsidenten losschlagen würde.
Die Kommunisten konzentrierten ihre Aktivitäten auf Mitteldeutschland. Am 10. Oktober traten drei Kommunisten, unter ihnen der Parteivorsitzende Heinrich Brandler als Chef der Staatskanzlei, den Weisungen entsprechend, in die von dem linken Sozialdemokraten Erich Zeigner geführte sächsische Regierung ein. Am 16. Oktober wurde auch in Thüringen unter dem Sozialdemokraten August Frölich eine Koalitionsregierung aus SPD und KPD gebildet. Die Bildung der linken «Einheitsfrontregierungen» in Dresden und Weimar war verfassungskonform, und beide stützten sich auf parlamentarische Mehrheiten. Die Kabinette Zeigner und Frölich unternahmen auch keine Schritte, die man reichsfeindlich hätte nennen können. Dennoch gab es in Berlin, und zwar auch bei den regierenden Sozialdemokraten, keinen Zweifel an der Absicht der Kommunisten, von Sachsen und Thüringen aus den Kampf um die Macht in Deutschland aufzunehmen. Am 13. Oktober verbot infolgedessen der sächsische Wehrkreisbefehlshaber und Inhaber der vollziehenden Gewalt, General Alfred Müller, die paramilitärischen Proletarischen Hundertschaften der KPD. Drei Tage später unterstellte er, in Absprache mit Reichswehrminister Geßler, die sächsische Polizei der Befehlsgewalt der Reichswehr. Die Dresdener Regierung war damit ihres einzigen Machtinstruments beraubt.
Am 21. Oktober scheiterte der Versuch einer kommunistischen Revolution, bevor er ernsthaft begonnen hatte. Auf einer von der KPD einberufenen Arbeiterkonferenz in Chemnitz verweigerten sich die Sozialdemokraten dem von den Kommunisten propagierten Generalstreik, der das Signal für den proletarischen Aufstand geben sollte. Damit war der Zeitplan für den «deutschen Oktober» durchkreuzt: Der Versuch, in Deutschland zu wiederholen, was die Bolschewiki im November 1918 vorgemacht hatten, konnte nicht stattfinden. Nur in Hamburg kam es zu einer putschartigen Erhebung der Kommunisten. Nach dreitägigen blutigen Kämpfen war die Polizei am 25. Oktober auch in der Hansestadt wieder Herr der Lage.
Zur gleichen Zeit unterwarf die Reichswehr ganz Sachsen ihrer Kontrolle, wobei es in mehreren Städten zu blutigen Zusammenstößen kam. Ein Ultimatum von Reichskanzler Stresemann vom 27. Oktober, eine Regierung ohne Kommunisten zu bilden, wies Ministerpräsident Zeigner tags darauf zurück, woraufhin Stresemann, ohne vorher nochmals das Kabinett einzuberufen, eine formelle Reichsexekution und die Ernennung eines zivilen Reichskommissars, des Reichstagsabgeordneten Karl Rudolf Heinze von der DVP, für Sachsen verfügte. Am 30. Oktober erzwang Heinze den Rücktritt Zeigners. Auf Drängen des sozialdemokratischen Parteivorstands bildete ein gemäßigter Politiker, der frühere Wirtschaftsminister Alfred Fellisch, eine sozialdemokratische Minderheitsregierung, die von der DDP toleriert wurde. Am 31. Oktober, unmittelbar nach der Bestätigung des Kabinetts durch den Landtag, beendete der Reichspräsident auf Ersuchen des Reichskanzlers Heinzes Mandat als Reichskommissar.
Stresemanns Ultimatum vom 27. Oktober hatte die SPD grundsätzlich zugestimmt, im nachhinein aber erhob sie, unter Hinweis darauf, daß das Kabinett keine Gelegenheit gehabt habe, über Zeigners ablehnende Antwort zu beraten, schwere Bedenken. Unter dem massiven Druck ihres linken Flügels und gegen eindringliche Warnungen des preußischen Innenministers Severing beschloß die sozialdemokratische Reichstagsfraktion am 31. Oktober ein Ultimatum, in dem die Regierung Stresemann aufgefordert wurde, den militärischen Ausnahmezustand aufzuheben, das Verhalten der bayerischen Machthaber für verfassungswidrig zu erklären und sofort die notwendigen Schritte gegen den Freistaat einzuleiten. Die bürgerlichen Mitglieder des Kabinetts Stresemann, von der politischen und militärischen Unmöglichkeit eines Bürgerkriegs um Bayern überzeugt, lehnten die Forderungen der SPD erwartungsgemäß ab, was die sozialdemokratischen Minister am 2. November mit dem Austritt aus der Reichsregierung beantworteten. Vier Tage nach dem Ende der Großen Koalition rückte die Reichswehr mit Einwilligung Eberts in Thüringen ein und erzwang dort die Auflösung der Proletarischen Hundertschaften. Am 12. November zog die KPD, von der SPD gedrängt, ihre Minister aus der Weimarer Koalitionsregierung zurück. Bis zu vorgezogenen Neuwahlen im Februar 1924 blieb Frölich noch als Chef eines sozialdemokratischen Minderheitskabinetts im Amt.
Am Abend des 8. November eskalierte die bayerische Krise. Adolf Hitler nutzte eine Versammlung von Anhängern Kahrs im Bürgerbräukeller, um die «Nationale Revolution» auszurufen. Mit vorgehaltener Pistole preßte der Führer der Nationalsozialisten Kahr, Lossow und Seißer das Versprechen ab, sich an der Aktion zu beteiligen. Hitlers Mitverschwörer, Erich Ludendorff, der ehemalige «starke Mann» des deutschen Militärs im Ersten Weltkrieg und von Hitler soeben zum Oberbefehlshaber der «Nationalarmee» ernannt, gab jedoch wenig später dem Triumvirat die Handlungsfreiheit zurück, so daß die bayerischen Machthaber zum Gegenschlag ausholen konnten. Am Mittag des 9. November 1923 endete Hitlers Putsch unter den Kugeln der bayerischen Landespolizei an der Münchner Feldherrnhalle. Hitler selbst konnte fliehen, wurde aber zwei Tage später festgenommen. Sechzehn seiner Gefolgsleute bezahlten die «Nationale Revolution» mit ihrem Leben.
In Berlin führten die Münchner Ereignisse zu einer dramatischen Wendung. Noch in der Nacht zum 9. November übertrug Reichspräsident Ebert dem Chef der Heeresleitung, General von Seeckt, den Oberbefehl über die Wehrmacht des Reiches und, in Abänderung der Verordnung vom 26. September 1923, die Ausübung der vollziehenden Gewalt. Offenbar gingen Ebert und Stresemann davon aus, daß die Machtübertragung an Seeckt der einzige Weg war, die bayerische Reichswehr in eine Frontstellung gegen die Putschisten zu bringen. Eine Garantie, daß der General nicht selbst putschen würde, gab es freilich nicht. Ebert nahm aber wohl an, daß Seeckt, wenn er ihm, dem Staatsoberhaupt, direkt unterstellt war, der Republik nicht so gefährlich sein würde wie in seiner bisherigen, kaum zu kontrollierenden Position.
Der Hitler-Putsch bedeutete eine Zäsur nicht nur für Bayern, sondern für das Reich insgesamt. Die «seriösen» Diktaturpläne Kahrs und seiner Verbündeten waren durch das Geschehen vom 8. November nachhaltig diskreditiert, die Autorität des Generalstaatskommissars Kahr war schwer erschüttert. Ohne festen Rückhalt beim bayerischen Triumvirat aber war eine «nationale Diktatur» in Deutschland kaum vorstellbar. Mit seinem Putsch bewirkte Hitler also das Gegenteil dessen, was er bezweckt hatte: Der Führer der Nationalsozialisten trug wesentlich dazu bei, die aufs höchste gefährdete Republik zu festigen.
Eine Woche nach dem Münchner Putsch, am 15. November, gelang dem bürgerlichen Rumpfkabinett Stresemann das «Wunder der Rentenmark». Die neue Währung, die an diesem Tag eingeführt wurde, war als Provisorium gedacht. Bis zur Einführung der endgültigen, durch Gold gedeckten Währung sollten nach dem Vorschlag von Finanzminister Hans Luther, der am 6. Oktober die Nachfolge Rudolf Hilferdings angetreten hatte, Grundschulden und Schuldverschreibungen zu Lasten von Industrie und Landwirtschaft den Kaufwert der «Rentenmark» garantieren. Am 20. November konnte der Kurs der Mark, der am 14. November bei 1,26 Billionen für einen Dollar gelegen hatte, bei 4,2 Billionen stabilisiert werden. Die Reichsbank setzte daraufhin ein analoges Umtauschverhältnis von 1 Billion Papiermark gleich 1 Rentenmark fest, womit der Vorkriegsstand des Wechselkurses von Mark und Dollar wieder erreicht war.
Das Opfer der Rentenmark war das Rheinland. Das besetzte Gebiet mußte bis zur Einführung der goldgedeckten Reichsmark am 30. August 1924 mit kommunalem Notgeld als Zahlungsmittel zurechtkommen, wurde also vom Reich weitgehend sich selbst überlassen. Vergeblich hatte der Kölner Oberbürgermeister Konrad Adenauer, ein Politiker des Zentrums, am 13. November protestiert, «das Rheinland müsse mehr wert sein als ein oder zwei oder selbst drei neue Währungen». Der Reichsregierung erschien die Gefahr, daß das Rheinland sich vorübergehend, in welcher Form auch immer, institutionell verselbständigen könne, als das kleinere Übel, verglichen mit dem wirtschaftlichen Zusammenbruch, der ganz Deutschland drohte, wenn die neue Währung durch die fortdauernde Totalsubventionierung des okkupierten Territoriums ruiniert wurde.
Seit dem 25. Oktober 1923 zeichnete sich noch ein anderes «Wunder» ab. An jenem Tag ließ der französische Ministerpräsident Raymond Poincaré dem britischen Premierminister Andrew Bonar Law mitteilen, daß er unter bestimmten Bedingungen bereit sei, einer Überprüfung der Reparationsfrage zuzustimmen. Damit griff der Pariser Regierungschef einen von London übernommenen Vorschlag auf, den der amerikanische Außenminister Charles Hughes Ende Dezember 1922 vor der American Historical Association in New Haven gemacht hatte: die Erörterung der Reparationsfrage auf einer internationalen Expertenkonferenz unter Berücksichtigung der wirtschaftlichen Leistungskraft Deutschlands. Poincarés Bedingungen waren folgende: Ein Expertengremium war durch die Alliierte Reparationskommission zu berufen; die Höhe der deutschen Reparationsschuld, wie sie das Londoner Ultimatum vom Mai 1921 dem Reich auferlegt hatte, sollte vom Ergebnis der Untersuchung unabhängig sein; ein zweites Expertengremium hatte Höhe und Verbleib der deutschen Auslandsdevisen festzustellen. Nachdem auch die USA diesem Vorschlag zugestimmt hatten, brachte Paris am 13. November in der Reparationskommission offiziell den Antrag ein, die beiden Kommissionen einzusetzen. Damit waren die Weichen für den (nach dem Vorsitzenden der Reparationskommission, dem amerikanischen Bankier Charles G. Dawes, benannten) Dawes-Plan gestellt – dem Reparationsabkommen von 1924, das untrennbar mit dem wirtschaftlichen Aufschwung Deutschlands in den mittleren zwanziger Jahren verknüpft ist.
Die Kehrtwendung Poincarés hatte viele Ursachen: Die Ruhrbesetzung war für Frankreich zu einer großen, die Währung gefährdenden Belastung geworden; der innenpolitische Widerstand von links, vor allem von seiten der Sozialisten und Kommunisten, war immer massiver geworden; außenpolitisch hatte sich Frankreich zunehmend isoliert, wobei besonders die Verschlechterung des Verhältnisses zu Großbritannien ins Gewicht fiel. Noch wichtiger aber war ein anderer Grund: Am 23. Oktober hatte der amerikanische Außenminister Hughes Poincaré zu erkennen gegeben, daß die USA eine französische Beteiligung an der internationalen Expertenkommission honorieren und die Diskussion der Reparationsfrage mit dem Problem der interalliierten Schulden verbinden werde. Frankreich durfte also erwarten, daß es durch ein gewisses Entgegenkommen gegenüber seinem Schuldner Deutschland seine eigene Position als Schuldner der Vereinigten Staaten verbessern würde.
Sein Ziel, das Rheinland vom Reich abzutrennen, gab Poincaré mit der Kurskorrektur in der Reparationsfrage noch nicht auf. Am gleichen Tag, an dem er die britische Regierung über die neue politische Linie Frankreichs informierte, entschied er sich für die aktive und offizielle Förderung der Autonomiebestrebungen im besetzten Gebiet. Tatsächlich gab es seit dem 21. Oktober in einer Reihe von Orten, darunter Aachen, Trier, Koblenz, Bonn und Wiesbaden, Versuche, eine «Rheinische Republik» auszurufen. Von der französischen und belgischen Besatzungsmacht wurden die separatistischen Umtriebe unterstützt, nicht jedoch von breiten Kreisen der Bevölkerung. Im preußischen Rheinland wie in der zu Bayern gehörenden Pfalz war schon im November 1923 abzusehen, daß es zu einer freiwilligen Loslösung vom Reich nicht kommen würde. Im Dezember wies Poincaré den Vorsitzenden der Hohen Alliierten Kommission für die Rheinlandgebiete, Paul Tirard, an, die Unterstützung der Separatisten einzustellen.
Die Zeichen für eine allmähliche innere und äußere Entspannung standen also günstig, als in Berlin eine neue Regierungskrise ausbrach. Am 22. November brachte die SPD, allen Warnungen von Reichspräsident Ebert zum Trotz, einen Mißtrauensantrag gegen das bürgerliche Minderheitskabinett Stresemann ein, den sie damit begründete, daß die Reichsregierung gegen Sachsen und Thüringen in schärfster Form vorgegangen sei, gegen die verfassungswidrigen Zustände in Bayern aber nichts Entscheidendes getan habe. Der Antrag war so formuliert, daß die Deutschnationalen, von deren Haltung alles abhing, ihm nicht zustimmen konnten. Den Sozialdemokraten ging es also gar nicht um den Sturz Stresemanns, sondern um eine politische Demonstration, die den linken Parteiflügel besänftigen sollte. Der Kanzler aber war nicht bereit, eine weitere Schwächung seiner Position hinzunehmen, und beantwortete den Vorstoß der SPD mit der Vertrauensfrage. Mit 231 gegen 156 Stimmen bei 7 Enthaltungen lehnte der Reichstag am 23. November den entsprechenden Antrag der Regierungsparteien ab. Erstmals in der Geschichte der deutschen Republik war damit, wie Stresemann anschließend vor ausländischen Pressekorrespondenten erklärte, eine Regierung «in offener Feldschlacht» gefallen.
Die Bildung einer Nachfolgeregierung erwies sich als überaus schwierig: Sie nahm eine volle Woche in Anspruch. Am 30. November 1923 trat schließlich der Partei- und Fraktionsvorsitzende des Zentrums, der aus Köln stammende Jurist Wilhelm Marx, die Nachfolge Stresemanns an. Der letztere übernahm in der neuen Regierung wieder das Amt des Außenministers, das er schon seit August 1923 innehatte und bis zu seinem Tode am 3. Oktober 1929 behalten sollte. Das bürgerliche Minderheitskabinett Marx war auf die Tolerierung durch die Partei angewiesen, die die Vorgängerregierung gestürzt hatte: die Sozialdemokraten. Diese verhalfen unter massivem Druck des Reichspräsidenten, der hinter den Kulissen mit der Anwendung des Artikels 48 drohte, dem Kabinett Marx am 8. Dezember sogar zu einem Ermächtigungsgesetz. Es war bis zum 14. Februar 1924 befristet und gab der Regierung die Möglichkeit, dringende Maßnahmen auf dem Verordnungsweg zu ergreifen. Davon betroffen war auch die Arbeitszeit, die unbedingt einer Neuregelung bedurfte, da die bisherigen Regelungen, die mehrfach verlängerten Demobilmachungsverordnungen der Revolutionszeit, am 17. November ausgelaufen waren und seitdem von Rechts wegen überall dort, wo die Arbeitszeit nicht tariflich vereinbart worden war, wieder die Arbeitszeit der Vorkriegsjahre galt.
In dem Vierteljahr, in dem das Ermächtigungsgesetz in Kraft war, vollzogen sich in Deutschland einschneidende Veränderungen. In großen Bereichen der Wirtschaft war nunmehr, obwohl der Achtstundentag als Normalarbeitstag grundsätzlich fortbestand, der Zehnstundentag gesetzlich erlaubt. Die Freien Gewerkschaften beantworteten diese Niederlage im Januar 1924 mit der Aufkündigung der Zentralarbeitsgemeinschaft vom November 1918, was aber kaum mehr als ein symbolischer Protest war. Die Beamtengehälter wurden im Dezember 1923 auf einem Niveau festgesetzt, das weit unter dem Vorkriegsstand lag. Am 14. Februar 1924, dem Tag, an dem das Ermächtigungsgesetz auslief, wurde durch eine Steuernotverordnung der Abbau der Zwangswirtschaft auf dem Wohnungsmarkt eingeleitet: ein wichtiger Schritt zur Überwindung des «Kriegssozialismus», der den Krieg um mehr als fünf Jahre überdauert hatte.
Dieselbe Verordnung regelte auch die heiß umstrittene Aufwertung von Geldforderungen aus bestimmten, durch die Inflation vernichteten Vermögensanlagen, darunter Sparkassenguthaben, Hypotheken, Pfandbriefe und Lebensversicherungen. Der einheitliche Aufwertungssatz von 15 Prozent des Goldmarkbetrages enthielt das Eingeständnis, daß der von Finanzminister Luther bislang verfochtene Grundsatz «Mark gleich Mark» dem Gerechtigkeitsempfinden eklatant zuwiderlief. Die Tilgung der Aufwertungsschulden wurde allerdings bis 1932, der Kriegsanleihen sogar bis zur endgültigen Regelung der Reparationslasten, also auf unbestimmte Zeit, vertagt. Der erbitterte Protest von Millionen Betroffener vermochte am Inhalt der Verordnung nichts mehr zu ändern. Um die neue Währung nicht aufs Spiel zu setzen, konnte die Regierung Marx nicht anders handeln. Die Sparer und Zeichner von Kriegsanleihen waren damit die eigentlichen Opfer der Inflation.
Es waren nicht die Mittelschichten insgesamt, die durch die Geldentwertung ruiniert oder doch nachhaltig geschwächt wurden, wohl aber erhebliche Teile derselben, nämlich jene, die ihren Lebensunterhalt aus Ersparnissen oder der Tilgung und Verzinsung von Wertpapieren zu bestreiten gewohnt waren. Nutznießer waren hingegen die Haus- und Grundbesitzer, die nun schuldenfrei waren und von der allgemeinen Privilegierung von Sachvermögen profitierten. Die eigentlichen Inflationsgewinner waren die meist hochverschuldeten Großgrundbesitzer, die durch die Geldentwertung ihrer meist hohen Schulden ledig wurden, und die Besitzer großer industrieller Ver mögen. Der Staat war materiell ein Gewinner und immateriell ein Verlierer der Inflation: Die Geldentwertung half ihm, weil sie als Schuldenbefreiung wirkte, und sie schadete ihm, weil sie das Vertrauen in ihn nachhaltig erschütterte. Es war die Republik, gegen die sich das Ressentiment der Enttäuschten richtete, und nicht die Monarchie, obwohl sie den Prozeß der Geldentwertung ausgelöst hatte: Fünf Jahre nach Kriegsende begann das Kaiserreich bereits wieder, vielen Deutschen in verklärtem Licht zu erscheinen.
Die Inflation hatte nivellierende Wirkungen: Die Einkommensabstände sowohl zwischen hohen und niederen Beamten wie zwischen der Gesamtheit der Beamten und der Arbeiterschaft waren zusammengeschrumpft. Gewinner der Inflation aber waren die Arbeiter nicht: Die Realwochenlöhne lagen im Dezember 1923 bei gerade einmal 70 Prozent der Vorkriegszeit. Dazu kam eine hohe Arbeitslosigkeit. Die Gewerkschaften mußten für ihre staatstragende Rolle während des Ruhrkampfes einen hohen Preis bezahlen: Die Mitgliederzahlen des Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbundes sanken von 7,7 Millionen im September 1923 auf 4,8 Millionen im März 1924. Alles deutete darauf hin, daß das proletarische Protestpotenzial zu Beginn des Jahres 1924 um vieles größer war als ein Jahr zuvor.
Zur gleichen Zeit gab es aber auch Zeichen einer allmählichen politischen Beruhigung. Seit Ende November 1923 wurde im Ruhrgebiet wieder normal gearbeitet. Die Stabilisierung der wirtschaftlichen Verhältnisse an Rhein und Ruhr entzog dem Projekt eines mit dem übrigen Reich locker verbundenen rheinischen Bundesstaates, wie es Adenauer, in Abstimmung mit Stinnes, im Spätjahr 1923 betrieben hatte, fortschreitend den Boden. Im Januar 1924 erteilte Außenminister Stresemann dem Vorhaben des Kölner Oberbürgermeisters eine scharfe Absage. Daraufhin legte Adenauer den Plan ad acta.
Am 29. Februar 1924 wurde der militärische Ausnahmezustand auf Drängen Seeckts aufgehoben. Der Chef der Heeresleitung wollte damit verhindern, daß sich die Autorität der Reichswehr im Kleinkrieg mit Zivilbehörden, vor allem in Sachsen und Thüringen, aber auch in Preußen, abnutzte. Seeckt fürchtete überdies eine Unterwanderung durch rechtsradikale Wehrverbände. Die innere Konsolidierung der Reichswehr hatte für ihn Vorrang vor einer Machtausübung, die sich politisch nicht auszahlte.
Strittig war zunächst gewesen, ob die Verbote von KPD, NSDAP und Deutschvölkischer Freiheitspartei, die Seeckt als Inhaber der vollziehenden Gewalt am 23. November 1923 verhängt hatte, bestehen bleiben sollten oder nicht. Seeckt war für die Aufrechterhaltung, Severing für ihre Aufhebung. Der preußische Innenminister konnte sich im wesentlichen durchsetzen. Mit dem militärischen Ausnahmezustand wurden auch die Parteiverbote aufgehoben. Öffentliche Versammlungen unter freiem Himmel blieben aber vorerst im Regelfall verboten; der zivile Ausnahmezustand wurde erst am 25. Oktober 1924 aufgehoben.
Im Februar 1924 gelang auch die offizielle Beilegung des Konflikts zwischen dem Reich und Bayern. Künftig sollte, entsprechend einer Verordnung vom 14. Februar, der Reichswehrkommandant im Freistaat nur im Benehmen mit der Landesregierung abgerufen werden können. Die Eidesformel von Reichswehr und Reichsmarine wurde durch eine Verpflichtung auf die Verfassung des jeweiligen Heimatstaates ergänzt. Damit war die Inpflichtnahme der bayerischen Reichswehrtruppen durch die Regierung in München erledigt. Vier Tage später traten Kahr als Generalstaatskommissar und Lossow als bayerischer Landeskommandant zurück. Irgendwelche strafrechtlichen Folgen hatte ihr reichs- und verfassungsfeindliches Verhalten im Herbst 1923 nicht.
Die Urteile gegen die Putschisten vom 8. und 9. November 1923 ergingen am 1. April 1924. Das Volksgericht München sprach General Ludendorff von der Anklage des Hochverrats frei. Fünf andere Beteiligte, darunter Ernst Röhm, der Organisator der nationalsozialistischen «Sturmabteilungen», der SA, wurden zu drei Monaten Festungshaft und 100 Mark Geldstrafe mit Bewährung, Hitler selbst wurde zusammen mit drei Mitverschwörern zu fünf Jahren Festung und 200 Mark Geldstrafe verurteilt. Nach Verbüßung von sechs Monaten stand auch den zuletzt Genannten eine Bewährungsfrist in Aussicht. (Tatsächlich wurde Hitler bereits zu Weihnachten 1924 aus der Festungshaft in Landsberg, die er zur Abfassung seines Bekenntnisbuches «Mein Kampf» nutzte, entlassen.) Allen Angeklagten hielt das Gericht zugute, sie hätten sich bei «ihrem Tun von rein vaterländischem Geiste und dem edelsten, selbstlosen Willen» leiten lassen und nach bestem Wissen und Gewissen geglaubt, «daß sie zur Rettung des Vaterlandes handeln mußten, und daß sie dasselbe taten, was kurz zuvor die Absicht der leitenden bayerischen Männer war». Moralisch kamen das Urteil und seine Begründung einem Freispruch gleich, und so wurden sie auch in Bayern und Deutschland verstanden.
Die Erregung über das Urteil im Hitler-Prozeß hatte sich noch nicht gelegt, als am 9. April 1924 ein Ereignis für Schlagzeilen sorgte, das die weitere Entwicklung der Weimarer Republik nachhaltig prägen sollte: die Veröffentlichung des Gutachtens der im Januar eingesetzten, von dem amerikanischen Bankier Charles Dawes geleiteten Expertenkommission zur Reparationsfrage. Eine Gesamthöhe der von Deutschland zu erbringenden Leistungen nannte der Bericht nicht, seine Verfasser gingen aber offensichtlich davon aus, daß die im Londoner Ultimatum vom Mai 1921 aufgestellte Forderung von 132 Milliarden Goldmark die deutsche Leistungskraft überstieg. Um die Währung nicht zu gefährden, sollte ein von den Gläubigerstaaten berufener Reparationsagent für den «Transferschutz», einen den Außenwert der Mark berücksichtigenden Zahlungsmodus, sorgen. Die Jahresraten, die Annuitäten, begannen mit einer Milliarde Goldmark, um dann innerhalb von fünf Jahren auf 2,5 Milliarden anzusteigen. Die Reichsbahn wurde, um dem französischen Verlangen nach Garantien zu genügen, in eine Gesellschaft verwandelt, die mit bestimmten Obligationen belastet wurde. Ihrem Aufsichtsrat gehörten (wie auch dem Generalrat der Reichsbank) Vertreter der Gläubigerstaaten an. Als weitere Sicherungen sah die Kommission die Verpfändung einiger Reichseinnahmen und eine verzinsliche Hypothek der deutschen Industrie in Höhe von 5 Milliarden Mark vor.
Die Beschränkungen der deutschen Souveränität, wie sie das Dawes-Gutachten vorsah, waren einschneidend und doch sehr viel leichter zu ertragen als die territorialen Garantien, die Frankreich und Belgien sich im Januar 1923 durch die Ruhrbesetzung genommen hatten. Der Dawes-Plan enthielt überdies eine für die deutsche Wirtschaft höchst erfreuliche Perspektive: eine Auslandsanleihe von 800 Millionen Mark, die den Grundstock der neu zu schaffenden Notenbank bilden sollte. Aus dem Erlös waren zunächst ausschließlich inländische Zahlungen an die Alliierten wie Sachlieferungen und Besatzungskosten zu finanzieren. Dahinter stand jedoch die Aussicht auf künftige amerikanische Kredite und Investitionen – eine Aussicht, die stimulierend wirkte. Deutschland, schon vor 1914 eines der wichtigsten Abnehmerländer amerikanischer Exporte, durfte darauf setzen, daß die Vereinigten Staaten die Chancen erkannt hatten, die mit einem wirtschaftlichen Engagement in dem kapitalbedürftigen, aber leistungsfähigen Land verbunden waren.
Der Dawes-Plan war Amerikas Beitrag zur Festigung der deutschen Verhältnisse: ein Akt, mit dem die stärkste Wirtschaftsmacht der Welt endlich jener weltpolitischen Verantwortung gerecht zu werden versuchte, die die «Isolationisten» 1919 mit dem Nein des Senats zum Völkerbund so erfolgreich geleugnet hatten. Einen anderen Beitrag der Stabilisierung Deutschlands leistete zur gleichen Zeit auf ihre Weise die andere «Flügelmacht», die Sowjetunion. Am 21. Januar 1924 war der seit langem schwer kranke Staatsgründer, Wladimir Iljitsch Lenin, gestorben. (An den Entscheidungsprozessen, die zum «deutschen Oktober» führten, hatte er schon keinen Anteil mehr gehabt.) Zum neuen «starken Mann» wurde jener Funktionär, dem Lenin wegen seiner Grobheit und Launenhaftigkeit tief mißtraute und dessen Ablösung als Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion er in einem Nachtrag zu seinem Testament vom 4. Januar 1923 den Genossen nachdrücklich empfohlen hatte: Josef Wissarionowitsch Stalin. In dem Maß, wie Stalins Position sich festigte, ließ der Drang zur Weltrevolution in Moskau nach. In den Vordergrund rückte nunmehr das, was Stalin den «Aufbau des Sozialismus in einem Lande», nämlich der Sowjetunion, nannte. Improvisierte Umsturzversuche, wie sie die Komintern zuletzt im Herbst 1923 in Deutschland unternommen hatte, vertrugen sich nicht mit dieser von Stalin 1925 verkündeten, aber schon vorher befolgten Devise.
Zum weltpolitischen Szenenwechsel von 1923/24 gehörten auch die politischen Veränderungen in London und Paris. In Großbritannien hatten bei den Unterhauswahlen vom 6. Dezember 1923 die Labour Party und die Liberalen über die Konservativen gesiegt. Im Januar 1924 erhielt das Land in Ramsay MacDonald seinen ersten Labour-Regierungschef, der an der Spitze eines von den Liberalen tolerierten Kabinetts stand. In die kurze, nur neuneinhalb Monate währende Amtszeit dieser Regierung fiel die Londoner Konferenz vom Juli und August 1924, auf der die Alliierten den Dawes-Plan annahmen und zu der anschließend auch Deutschland eingeladen wurde. Der ausgleichende Einfluß MacDonalds, der in Personalunion auch Außenminister war, trug wesentlich zum erfolgreichen Verlauf der Verhandlungen und ihrem vertraglichen Niederschlag, dem Londoner Abkommen, bei.
In Frankreich verlor am 11. Mai 1924 der von Poincaré geführte «Bloc national» die Mehrheit an das «Cartel des gauches», das Wahlbündnis der Sozialisten und der bürgerlichen Radikalsozialisten. Ministerpräsident und Außenminister wurde der von den Sozialisten tolerierte Radikalsozialist Édouard Herriot, ein Freund der deutschen idealistischen Philosophie. Von der neuen Regierung durfte Deutschland mehr Entgegenkommen erwarten als von den vorangegangenen rechten Kabinetten.
Frankreichs Versuch, die Nachkriegsordnung gewaltsam zu seinen Gunsten zu revidieren, war, soviel ließ sich schon im Frühjahr 1924 erkennen, gescheitert. Deutschland ging aus dem Ruhrkampf wirtschaftlich geschwächt, aber dank des amerikanischen Eingreifens politisch gestärkt hervor. Die Nachkriegszeit war in den Monaten zwischen November 1923 und April 1924 zu Ende gegangen. Eine relative Stabilisierung in Deutschland und in den Beziehungen zwischen den wichtigsten Staaten Europas war unverkennbar.[16]
Rechts
versus links:
Kultur und Gesellschaft in der Weimarer Republik
Eine gewisse Stabilisierung der wirtschaftlichen und politischen Verhältnisse war notwendig, damit sich das entfalten konnte, was man später, im verklärenden Rückblick der dreißiger Jahre, die «Golden Twenties» genannt hat. In den USA begannen sie mit der Rückkehr zur Prosperität seit 1922 früher als in Europa und namentlich in Deutschland, das erst seit der Jahreswende 1923/24 wieder so etwas wie festen Boden unter den Füßen spürte. Mit den «goldenen zwanziger Jahren» assoziieren wir bis heute den weltweiten Siegeszug des amerikanischen Jazz, des Charleston und des Shimmy, den Tänzen von Josephine Baker und den Filmen von Charlie Chaplin; wir denken an die Bildmontagen der Dadaisten und die Kunst des «art déco», an die gezielten Tabuverletzungen gesellschaftskritischer Maler wie George Grosz und der Schriftsteller der «révolution surréaliste» wie André Breton und Louis Aragon, an Massenkonsum, offensive Werbung und funktionales Bauen, an die Glanzzeit der Arbeiterbewegungskultur und den Durchbruch zu einer neuen, freieren Sexualmoral.
Die deutsche Ausformung des Geistes der zwanziger Jahre fassen Historiker seit langem im Begriff «Weimar culture» zusammen. Doch die unaufhörliche Infragestellung des Hergebrachten, die von rechts als Werk der Zersetzung wahrgenommen wurde, hatte lange vor 1918 begonnen: Der «Weimarer Stil» war, wie Peter Gay bemerkt hat, vor Weimar entstanden. Das gilt von der Revolution des Expressionismus in Malerei, Literatur und Theater, die im ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts stattgefunden hat, und von dem nicht minder revolutionären Durchbruch zur Atonalität in der Musik. Es gilt in gleicher Weise von den großen Revolutionen in der Wissenschaft, der Psychoanalyse Sigmund Freuds, der Relativitätstheorie Albert Einsteins und der Soziologie Max Webers: Die jeweiligen Pionierstudien stammen aus der Zeit vor 1914. Selbst die «neue Sachlichkeit», die nach 1923 den Expressionismus aus allen Zweigen der Kunst verdrängte, ließ sich bis in die Vorkriegszeit zurückverfolgen. Walter Gropius, der 1926 mit dem Gebäude des Bauhauses in Dessau ein ebenso bewundertes wie befehdetes Modell der neuen funktionalen Ästhetik schuf, hatte seinen Stil schon vor dem Ersten Weltkrieg entwickelt. Was die Kultur von Weimar ausmachte, war also weitgehend bereits da, als die Republik entstand. Aber der politische Regimewechsel wirkte befreiend: den Neuerern standen Möglichkeiten offen, die sie unter dem alten System nicht gehabt hatten, und sie erzielten eine Breitenwirkung, die «Weimar» rückblickend als Großexperiment der klassischen Moderne erscheinen läßt.
Die europäische Metropole der zwanziger Jahre war, was die Kultur im weitesten Sinn betraf, Berlin. Hier schien die Moderne nach 1918 förmlich zu explodieren; hierhin zog es immer wieder die künstlerische Avantgarde Europas und Amerikas, sofern sie nicht, wie vor 1914, Paris bevorzugte; hier artikulierte sich zuerst, was dann als Trend galt. Juden spielten im Kulturbetrieb der deutschen Hauptstadt, in der Presse, in Film, Theater und Kabarett, eine führende Rolle, und das machte das neue Berlin zum Inbegriff dessen, was das konservative Deutschland am Staat von Weimar haßte. Intellektuelle Juden waren meist liberal oder standen links und nicht selten links außen; rechts konnten sie schon deswegen nicht sein, weil die Rechte antisemitisch war. Antisemitismus ging fast immer auch einher mit Antimodernismus, Antiurbanismus und Antiintellektualismus. Das machte «Weimar culture» zu einem von Anfang an gefährdeten Elitenprojekt, zu einer Kultur auf Abruf.
Am Schicksal des Bauhauses, dieser Hochburg moderner Architektur, ließ sich das Fortschreiten der kulturpolitischen Reaktion in Deutschland ablesen. Seinen ursprünglichen Sitz in Weimar hatte das Bauhaus 1925 verlassen müssen, nachdem der thüringische Landtag im Herbst 1924 die Mittel für die Einrichtung um die Hälfte gekürzt und damit die Weiterarbeit faktisch unmöglich gemacht hatte. (In Thüringen regierte seit dem Frühjahr 1924 ein bürgerliches Beamtenkabinett mit Duldung der äußersten Rechten in Gestalt des «Völkisch-Sozialen Blocks».) Aber auch an der neuen Wirkungsstätte, in der Hauptstadt von Anhalt, Dessau, wo die Sozialdemokraten von 1918 bis zum Mai 1932 fast ununterbrochen den Ministerpräsidenten stellten, war das Bauhaus den Kräften der Rechten ein Dorn im Auge. Als 1929 eine von Walter Gropius entworfene Siedlung für die Arbeiter und Angestellten der Junkers-Werke in Dessau-Törten eingeweiht wurde, protestierten Nationalsozialisten und Deutschnationale gegen die «Marokkohütten» der «Negersiedlung». Anlaß zu diesen Attacken war die Tatsache, daß die Häuser keine «deutschen» Spitzdächer hatten, sondern, wie für die Architektur der «neuen Sachlichkeit» typisch, Flachbauten waren.
Es gab anspruchsvollere Formen des Kampfes gegen den Geist der neuen Zeit. Die intellektuelle Rechte sah sich, in Deutschland nicht anders als überall in Europa, von einem nivellierenden Kollektivismus bedroht, der die Masse über die Persönlichkeit triumphieren ließ. 1927, drei Jahre bevor der spanische Philosoph José Ortega y Gasset in seinem «Aufstand der Massen» die Bedrohung der Kultur durch den «Massenmenschen», die «geistige Plebs», ein neues Barbarentum, beschrieb, veröffentlichte Martin Heidegger sein philosophisches Hauptwerk «Sein und Zeit». Darin sprach er von einer «Diktatur des Man». «Das Man ist überall dabei, doch so, daß es sich auch schon immer davon geschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt. Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. Das Man kann es sich gleichsam leisten, daß ‹man› sich ständig auf es beruft. Es kann am leichtesten alles verantworten, weil keiner es ist, der für etwas einzustehen braucht. Das Man ‹war› es immer, und doch kann gesagt werden, ‹keiner› ist es gewesen. In der Alltäglichkeit des Daseins wird das meiste durch das, von dem wir sagen müssen, keiner war es.»
Ebenso gängig wie das Klischee vom erdrückenden Kollektivismus war die These vom zersetzenden Pluralismus, der das parlamentarische System deformiere und den Staat auflöse. So behauptete der Staatsrechtler Carl Schmitt 1926 im Vorwort zur zweiten Auflage seiner 1923 erschienenen Schrift «Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus», das Parlament sei heute nicht mehr die Stätte des öffentlichen und freien Austausches von Argumenten, sondern nur noch der Ort, wo organisierte Interessen aufeinanderstößen. An die Stelle des rationalen Arguments sei die ideologische Polarisierung getreten, und infolgedessen gehe dem heutigen parlamentarischen System die Fähigkeit ab, politische Einheit hervorzubringen. «In manchen Staaten hat es der Parlamentarismus schon dahin gebracht, daß sich alle öffentliche Angelegenheiten in Beute- und Kompromißobjekte von Parteien und Gefolgschaften verwandeln und die Politik, weit davon entfernt, die Angelegenheit einer Elite zu sein, zu dem ziemlich verachteten Geschäft einer ziemlich verachteten Klasse von Menschen geworden ist.»
In Deutschland wurde die Kritik an der parlamentarischen Demokratie, der «Herrschaft der Minderwertigen», als die sie der jungkonservative Publizist Edgar Jung im Titel eines vielgelesenen Buches aus dem Jahr 1927 denunzierte, begünstigt durch die häufigen Regierungskrisen und Regierungswechsel, in denen das Erbe des monarchischen Konstitutionalismus nachwirkte: Die Parteien sahen, auch wenn sie selber gerade Minister stellten, in der Regierung ein fremdes Gegenüber, wie es die Reichsleitung der Kaiserzeit gewesen war, und nicht, wie es der Logik einer parlamentarischen Demokratie entsprochen hätte, den Exekutivausschuß der parlamentarischen Mehrheit, den es gegenüber der Opposition zu stützen und zu verteidigen galt. Aber Zweifel an der Funktionstüchtigkeit und Zeitgemäßheit des parlamentarischen Systems beschränkten sich nicht auf Deutschland und andere junge, meist erst nach 1918 entstandene Demokratien. Es gab diese Zweifel auch in alten Demokratien wie Frankreich und England, wo sie sich, wie wir noch sehen werden, etwas später als in Mitteleuropa, unter dem Eindruck der Weltwirtschaftskrise nach 1929, ausbreiteten und radikalisierten. Und hier wie dort stellten die Kritiker der angeblichen Entartung des parlamentarischen Systems ein Idealbild gegenüber, dem die Wirklichkeit nie entsprochen hatte: Wenn je ein Regime die Kennzeichnung als «government by corruption» verdient hat, war es der frühe britische Parlamentarismus der Ära Walpole in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts.
Spezifisch deutsch war hingegen eine andere Form der ideologischen Bewältigung von Niederlage und Nachkriegskrise: die Renaissance des Reichsmythos. Den Auftakt bildete ein 1923 veröffentlichtes Buch von Arthur Moeller van den Bruck mit dem programmatischen Titel «Das dritte Reich», mit dem auch die politische Karriere dieses, auf einen italienischen Theologen des 12. Jahrhunderts, Joachim von Fiore, zurückgehenden Begriffs begann. Nach dem ersten, dem Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und dem zweiten, von Bismarck geschaffenen kleindeutschen Reich, das der Verfasser als unvollkommenes «Zwischenreich» einstufte, sollte das «Dritte Reich» der Deutschen wieder großdeutsch sein, also Österreich mit einschließen. Moeller bezeichnete den deutschen Nationalismus als «Streiter für das Endreich»: «Es ist immer verheißen. Und es wird niemals erfüllt. Es ist das Vollkommene, das nur im Unvollkommenen erreicht wird … Es gibt nur Ein Reich, wie es nur Eine Kirche gibt. Was sonst diesen Namen beansprucht, das ist Staat, oder das ist Gemeinde oder Sekte. Es gibt nur Das Reich.»
Das Reich der Deutschen, die Schutzmacht der lateinischen Christenheit, war von alters her mit Heilserwartungen verknüpft. Dem Reichsmythos zufolge war das Heilige Römische Reich identisch mit dem christlich gewordenen Imperium Romanum und damit der «Katechon» – jene Kraft, die dem pseudo-paulinischen zweiten Brief an die Thessalonicher zufolge die Herrschaft des Antichrist aufhielt. An der Verbreitung des Reichsgedankens beteiligten sich nach 1918 Wissenschaftler und Schriftsteller aus dem Kreis um den Dichter Stefan George, obenan George selbst, katholische Geschichtsdenker, die Autoren der «Konservativen Revolution», die um 1930 maßgebenden Einfluß auf die öffentliche Meinung erlangten, und nicht zuletzt die Nationalsozialisten. Aus dem Reichsmythos ergab sich eine historische Sendung der Deutschen: der Auftrag, eine führende Rolle im europäischen Abwehrkampf gegen den östlichen Bolschewismus und die westliche Demokratie zu übernehmen.
Wie schon manche Wortführer der «Ideen von 1914», so versuchten auch die Autoren der «Konservativen Revolution» den Begriff «Sozialismus» in einem ebenso antimarxistischen wie antiwestlichen Sinn umzudeuten. 1919 legte Oswald Spengler, der Autor des zweibändigen, 1918 und 1922 erschienenen, bald in viele Sprachen übersetzten «Untergang des Abendlandes», sein Buch «Preußentum und Sozialismus» vor. Darin schrieb er, die große Weltfrage sei die Wahl zwischen preußischer oder englischer Idee, Sozialismus oder Kapitalismus, Staat oder Parlament. «Preußentum und Sozialismus stehen gemeinsam gegen das innere England, gegen die Weltanschauung, welche unser ganzes Leben als Volk durchdringt, lähmt und entseelt … Die Arbeiterschaft muß sich von den Illusionen des Marxismus befreien. Marx ist tot. Der Sozialismus als Daseinsform steht an seinem Anfang, der Sozialismus des deutschen Proletariats aber ist zu Ende. Es gibt für den Arbeiter nur den preußischen Sozialismus oder nichts … Es gibt für den Konservativen nur bewußten Sozialismus oder Vernichtung. Aber wir brauchen die Befreiung von den Formen der englisch-französischen Demokratie. Wir haben eine eigene.»
Der Sozialismus, wie ihn Spengler und andere «konservative Revolutionäre» vertraten, hatte mit einer Veränderung der Eigentumsverhältnisse nichts zu tun. Er war eher eine Frage der Wirtschaftsgesinnung als der Wirtschaftsordnung. In dieser Hinsicht gab es zwischen den Jungkonservativen und den Nationalsozialisten keine fundamentalen Unterschiede. Doch diese wollten wirklich eine Revolution, während jene nur mit dem Begriff spielten. Die jungkonservativen Intellektuellen sympathisierten vor 1933 mehr mit den italienischen Faschisten als mit den deutschen Nationalsozialisten, die ihnen zu vulgär waren.
Aber auch als «Faschisten» kann man die «konservativen Revolutionäre» nicht ohne weiteres bezeichnen. Faschisten und Nationalsozialisten mobilisierten Massen und organisierten Gewalt; die Autoren der «Revolution von rechts», von der der Soziologe Hans Freyer 1931 in einem Buch unter eben diesem Titel sprach, blieben bei allem, was sie dachten und schrieben, im Bannkreis des gebildeten Publikums, dem sie entstammten und an das sich ihre Schriften richteten. Von den Konservativen im herkömmlichen Sinn, die in der Deutschnationalen Volkspartei ihre Heimat sahen, unterschieden sich die meisten Jungkonservativen vor allem dadurch, daß sie nicht die Restauration der Monarchie erstrebten, die sich in ihren Augen spätestens durch die Flucht des letzten Kaisers nach Holland diskreditiert hatte, sondern einen berufsständisch gegliederten, plebiszitär legitimierten Führerstaat, der aber auch nach ihrer Meinung ein Rechtsstaat sein sollte.
Die Jungkonservativen waren in der Regel Antisemiten, aber sie maßen der «Judenfrage» eine geringere Bedeutung bei als die Nationalsozialisten. Sie waren radikale Nationalisten, aber sie waren in ihrem Nationalismus nicht so konsequent wie die Nationalsozialisten. Deren integraler Nationalismus fand seinen klassischen Ausdruck in einem Aufsatz, den Hitler Anfang 1924 der Verteidigung seines gescheiterten Putsches vom 8. und 9. November 1923 widmete. Darin verkündete der Führer der Nationalsozialisten: «Der marxistische Internationalismus wird nur gebrochen werden durch einen fanatisch extremen Nationalsozialismus von höchster sozialer Ethik und Moral. Man kann den falschen Götzen des Marxismus nicht vom Volke nehmen, ohne ihm einen besseren Gott zu geben … Dieses am klarsten erkannt und am folgerichtigsten durchgeführt zu haben, ist das weltbedeutende Verdienst Benito Mussolinis, der an Stelle des auszurottenden internationalen Marxismus den national fanatischen Faszismus setzte, mit dem Erfolg einer fast vollständigen Auflösung der gesamten marxistischen Organisationen Italiens.»
Um dieselbe Zeit, in der Hitler seine programmatischen Zeilen zu Papier brachte, tagte in Moskau eine vom Präsidium des Exekutivkomitees der Kommunistischen Internationale, des EKKI, einberufene Konferenz, bei der es wesentlich um die Lehren aus dem gescheiterten «deutschen Oktober» ging. Karl Radeks These vom «Sieg des Faschismus über die Novemberrevolution» wurde von Sinowjew, dem Generalsekretär der Kommunistischen Internationale, scharf zurückgewiesen: In Deutschland herrsche seit 1918 ein «Block», in dem die Sozialdemokratie die Rolle des Mitherrschers übernommen habe. Sie sei ein «faschistischer Flügel», eine «faschistische Sozialdemokratie», geworden. Einige Monate später, im September 1924, bezeichnete Stalin die Sozialdemokratie als den «gemäßigten Flügel des Faschismus»; Sozialdemokratie und Faschismus seien «keine Antipoden, sondern Zwillingsbrüder». Damit war die Lehre vom «Sozialfaschismus» geboren, die in der Endphase der Weimarer Republik die Agitation von Komintern und KPD bestimmen sollte.
Den deutschen Kommunisten gelang es, anders als den Sozialdemokraten, sich einen festen Anhang unter Künstlern und Intellektuellen zu verschaffen. Der Maler George Grosz und der Meister der photographischen Montage, John Heartfield (eigentlich Helmuth Herzfeld) waren angeblich seit der Parteigründung am 31. Dezember 1918 Mitglieder der KPD. Die kommunistischen Maler und Bildhauer wurden 1928 in der Assoziation revolutionärer bildender Künstler, kurz «Asso» genannt, die kommunistischen Autoren im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller organisiert. Sein Aktionsprogramm definierte die «proletarisch-revolutionäre Literatur» als eine solche, «die Herz und Hirn der Arbeiterklasse und der breiten werktätigen Massen für die Vorbereitung der proletarischen Revolution gewinnt, entwickelt und organisiert». Außerdem habe sie die werktätigen Mittelschichten und Kopfarbeiter «für die proletarische Revolution zu gewinnen oder zum mindesten zu neutralisieren».
Einige der meistgelesenen zeitgenössischen Autoren bekundeten durch ihren Beitritt zum Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller, daß sie dieser Zielsetzung zustimmten. Bertolt Brecht, Anna Seghers, Arnold Zweig und Ludwig Renn wurden Mitglieder, ebenso Erich Weinert, Hans Marchwitza, Willi Bredel, Johannes R. Becher und Friedrich Wolf. Die Zeitschrift des Bundes die «Linkskurve» versuchte einerseits, ein intellektuelles Publikum zu erreichen, indem sie theoretische Beiträge des Philosophen Georg Lukács zur Kritik des literarischen «Proletkults», und des Sinologen Karl August Wittfogel zur marxistischen Ästhetik veröffentlichte; andererseits bemühte sie sich, durch Preisausschreiben Romane und Schauspiele zu fördern, die sich an die arbeitenden Massen wandten.
Massenwirksamkeit war in der Tat ein auszeichnendes Merkmal vieler Schriftsteller und Künstler, die sich in der KPD und für sie engagierten: Brecht schrieb mit am Drehbuch des ersten deutschen proletarischen Spielfilms «Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?» von 1931/32, Hanns Eisler komponierte die Musik dazu, Ernst Busch sang ihre gemeinsamen Moritaten. Ihre «Agit prop» richtete sich keineswegs nur gegen die «Bourgeoisie» und die «Reaktion», sondern immer auch gegen die Sozialdemokratie – die Kraft, die nach der Sprachregelung der Komintern vom März 1931 die «soziale Hauptstütze der Bourgeoisie» war.
Unabhängige linke Intellektuelle wie Kurt Tucholsky behandelten die Staatsgründungspartei nicht mit demselben Haß, wie die Kommunisten es taten, aber doch voller Verachtung. Als die SPD sich 1921 in Görlitz ein reformistisches Programm gab, nannte sie der bekannteste Autor der linken «Weltbühne» «Skatbrüder, die den Marx gelesen». Fünf Jahre später porträtierte er sie als «bescheidene Radieschen, außen rot und innen weiß». Den Zwang zu Kompromissen, dem sich die Sozialdemokraten nicht entziehen konnten, wenn sie an der Regierung beteiligt waren, bezeichnete Tucholsky als «Parlamentsroutinendreh».
Die Intellektuellen, die sich zu Weimar bekannten, waren sich der Labilität der inneren Verhältnisse meist wohl bewußt. Thomas Mann, noch bei Kriegsende ein Verteidiger des deutschen Obrigkeitsstaates, legte im Oktober 1922, anläßlich des 60. Geburtstages von Gerhart Hauptmann, vor einem teilweise widerstrebenden studentischen Publikum in Berlin ein viel beachtetes Bekenntnis zur deutschen Republik ab. Ende November 1926 sprach er, der Wahlmünchner, auf einer von der DDP einberufenen Veranstaltung mit Zorn und Trauer davon, wie sehr sich das Verhältnis zwischen der bayerischen und der Reichshauptstadt seit der Vorkriegszeit gewandelt habe. Damals sei man in München demokratisch und in Berlin militaristisch gewesen, doch mittlerweile habe es eine Umkehrung gegeben. «Wir haben uns des renitenten Pessimismus geschämt, der von München aus der politischen Einsicht Berlins, der politischen Sehnsucht einer ganzen Welt entgegengesetzt wurde; wir haben mit Kummer sein gesundes und heiteres Blut vergiftet gesehen durch antisemitischen Nationalismus und Gott weiß welch finstere Torheiten. Wir mußten es erleben, daß München in Deutschland und darüber hinaus als Hort der Reaktion, als Sitz aller Verstocktheit und Widerspenstigkeit gegen den Willen der Zeit verschrien war, mußten hören, daß man es eine dumme, die eigentlich dumme Stadt nannte.»
Thomas Mann hoffte, Besserung dadurch zu bewirken, daß er die Dinge beim Namen nannte. Ähnlich dachten die akademischen Verteidiger der Republik, die freilich nur eine Minderheit der deutschen Professorenschaft bildeten. Innerhalb dieser Minderheit überwogen die «Vernunftrepublikaner», die sich erst nach reiflicher Überlegung von der Monarchie abgewandt und auf den Boden der neuen staatlichen Verhältnisse gestellt hatten – Gelehrte wie der evangelische Theologe Adolf von Harnack, der Staatsrechtler Gerhard Anschütz oder der Historiker Friedrich Meinecke. Der zuletzt Genannte erinnerte Anfang 1925 auf einer Veranstaltung des Demokratischen Studentenbundes in Berlin an das Gesetz, nach dem Weimar angetreten war. «Die Republik ist das große Ventil für den Klassenkampf zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum, es ist die Staatsform des sozialen Friedens zwischen ihnen … Der soziale Unfrieden besteht nicht mehr zwischen Arbeiterschaft und Bürgertum überhaupt, sondern der Riß hat sich nach rechts verschoben und geht mitten durch das Bürgertum selbst hindurch.»
Meinecke hätte auch sagen können, der Riß habe sich nach rechts und nach links verschoben und gehe durch Bürgertum und Arbeiterschaft mitten hindurch. Denn weniger als je zuvor stimmten die politischen Trennlinien mit den gesellschaftlichen überein. Zwischen den bürgerlichen «Vernunftrepublikanern» und der extremen Rechten klaffte ein Abgrund, aber dasselbe galt für das Verhältnis zwischen Sozialdemokraten und Kommunisten. Beide Arbeiterparteien benutzten teilweise noch dieselben Begriffe, verstanden aber darunter höchst Unterschiedliches. Klassenkampf etwa hieß für die Kommunisten Zuspitzung der sozialen Konflikte mit dem Endziel der proletarischen Revolution, für Sozialdemokraten und Freie Gewerkschaften dagegen pluralistische Interessenpolitik im Sinne der Arbeitnehmer.
In der deutschen Gesellschaft der Weimarer Republik gaben wie in anderen europäischen Nachkriegsgesellschaften Bürgertum und Adel sehr viel weniger den Ton an als vor 1914. Die Nachkriegsgesellschaften waren «proletarischer» als die Vorkriegsgesellschaften. In Deutschland aber war der materielle Niedergang breiter bürgerlicher Schichten infolge der Inflation besonders augenfällig. Die Verschlechterung der wirtschaftlichen Lage ging einher mit einer tiefen Erschütterung des Lebensgefühls, dem fast alles abhanden gekommen war, was früher Sicherheit verbürgt hatte: ein bescheidenes Vermögen, die Berechenbarkeit der eigenen Zukunftsaussichten und jener der nächsten Generation, das Vertrauen in die überkommenen Ordnungen und ganz besonders in den Staat. Aus dem Gefühl der Bedrohung von «unten» erwuchs eine Abwehrmentalität, die den Klassencharakter der Gesellschaft noch verstärkte. Gymnasien und Universitäten blieben Klasseneinrichtungen, in die kaum eindringen konnte, wer aus der Arbeiterschaft kam. «Klassenjustiz» war nicht nur ein polemisches Schlagwort von links, sondern eine gesellschaftliche und politische Realität. Ein gegen die Sozialdemokratie gerichteter «Bürgerblock» war ein Ziel, für das sich in allen bürgerlichen Parteien, mit der bedingten Ausnahme der DDP, starke Kräfte einsetzten.
Doch nach dem Ende des turbulenten Nachkriegsjahrfünfts beherrschten diese Kräfte das Feld noch keineswegs vollständig. Es gab nach wie vor auch jene, die eine Verständigung zwischen Bürgertum und Arbeiterschaft erstrebten. Wäre es anders gewesen, hätten sich im größten deutschen Staat, in Preußen, nicht Regierungen einer Großen oder, seit April 1925, einer Weimarer Koalition an der Macht behaupten können. Mitte der zwanziger Jahre gab es Anzeichen, die auf eine Erneuerung des «Klassenkompromisses» von 1918/19 hindeuteten, und Entwicklungen, die eher für politische Polarisierung sprachen. Sicher war nur soviel: Die Stabilisierung Weimars nach 1923 war eine relative, gemessen an der Instabilität der vorangegangenen Jahre. Die innere Bedrohung der Demokratie hatte nicht aufgehört, sondern nur nachgelassen.[17]
Autoritäre Transformation (I):
Die neuen Staaten «Zwischeneuropas»
Deutschland war nicht die einzige «junge» Demokratie Europas. Von den westlich von Rußland und östlich von Deutschland gelegenen Staaten «Zwischeneuropas» (den Begriff führte der jungkonservative deutsche Publizist Giselher Wirsing 1932 in die Debatte ein), die erst im Gefolge des Ersten Weltkrieges entstanden oder durch ihn ihre volle Unabhängigkeit erlangten, beziehungsweise, im Fall Polens, wiederherstellen konnten, waren zunächst alle, zumindest auf dem Papier, demokratisch verfaßt. Aber nur zwei, die Tschechoslowakei und Finnland, konnten ihr demokratisches System über die Krisen des ersten Nachkriegsjahrzehnts hinweg bewahren. Alle anderen gingen früher oder später zu mehr oder minder autoritären Regierungsformen über. Die Ursachen des Systemwechsels waren vielfältig: Die meisten neuen Staaten waren Agrarländer mit wenigen industriellen Zentren und ohne starkes städtisches Bürgertum; den wenigsten gelang eine Bodenreform, die die Not der Kleinbauern spürbar linderte; fast nirgendwo kam es zu einem befriedigenden Ausgleich nationaler Gegensätze; überall war die autoritäre Wende eine Reaktion auf die Doppelerfahrung von ökonomischer Krise und politischer Instabilität.
Unter den neuen Staaten war einer, der gar keiner sein wollte: die Republik Österreich. In dem Wunsch, sich mit dem Deutschen Reich zu vereinigen, stimmten die drei größten Parteien, die Sozialdemokraten, die Christlichsozialen und die Großdeutschen, überein. Ansonsten gab es zwischen den Partnern der im März 1919 gebildeten Regierungskoalition, den Sozialdemokraten und Christlichsozialen, tiefe Gegensätze: Jene waren Zentralisten, sie strebten eine neue, auf Gemeineigentum beruhende Gesellschaft an und wollten den 1918/19 entstandenen Arbeiterräten eine maßgebliche Rolle bei der Kontrolle der Volkswehr sichern; diese waren Föderalisten, sie wollten die übernommene Gesellschaftsordnung erhalten und den sozialistischen Einfluß auf das Heerwesen zurückdrängen. Am Streit um die Zukunft der Soldatenräte zerbrach denn auch am 10. Juni 1920 die von dem Sozialdemokraten Karl Renner geführte Regierung der Großen Koalition. Die Nachfolge trat eine «Proporzregierung» unter dem christlich-sozialen Historiker Michael Mayr, dem bisherigen Minister für Verfassungs- und Verwaltungsreform, an, der Mitglieder beider Parteien sowie von ihnen im Konsens berufene parteilose Minister angehörten.
Die wichtigste Aufgabe des neuen Kabinetts war die Verabschiedung der endgültigen Bundesverfassung, deren Entwurf von dem Wiener Staatsrechtler Hans Kelsen stammte. Sie schuf einen Bundesstaat mit einem Zweikammersystem, bestehend aus dem Nationalrat, der aus Wahlen nach dem allgemeinen gleichen Wahlrecht für Männer und Frauen hervorging, und dem Bundesrat, in dem die Länder – Burgenland, Kärnten, Niederösterreich, Oberösterreich, Salzburg, Steiermark, Tirol und Vorarlberg – vertreten waren. Die Bundeshauptstadt Wien genoß, obwohl sie einen Teil des Landes Niederösterreich bildete, einen Sonderstatus: Im Bundesrat galt sie als eigenständiges Land. (Ein gleichberechtigtes Land wurde Wien dann durch eine Verfassungsänderung vom 30. Juli 1925.) Beide Kammern wählten zusammen als Bundesversammlung in gemeinsamer Sitzung das Staatsoberhaupt, den Bundespräsidenten. (Die Volkswahl des Bundespräsidenten nach deutschem Vorbild wurde erst neun Jahre später durch eine Verfassungsänderung vom 7. Dezember 1929 eingeführt.) Am 1. Oktober 1920 nahm die Konstituierende Nationalversammlung das Gesetz über die Bundesverfassung an, am 10. November trat es in Kraft.
Am 17. Oktober 1920 fanden Wahlen zum Nationalrat statt. Aus ihnen gingen die Christlichsozialen mit 79 Mandaten als Sieger hervor. Auf die Sozialdemokraten entfielen 62, auf die Großdeutschen 18 Sitze. Dazu kamen noch 6 Abgeordnete der Deutschen Bauernpartei und der als «bürgerlicher Demokrat» gewählte frühere Außenminister Graf Czernin. An die Spitze eines Kabinetts aus Christlichsozialen und Parteilosen trat erneut Michael Mayr. Er mußte am 1. Juni 1921 zurücktreten, weil die Großdeutschen ihm ihre Unterstützung entzogen. Der Grund für den Kurswechsel der drittgrößten Partei war eine höchst unpopuläre Entscheidung der Regierung: Sie hatte unter ultimativem Druck der Alliierten eine inoffizielle Volksabstimmung über den Anschluß an das Deutsche Reich in der Steiermark verboten, bei der eine ähnlich hohe Mehrheit der Ja-Stimmen erwartet wurde wie kurz zuvor in Tirol und Salzburg (dort hatten sich jeweils rund 99 Prozent für die Vereinigung mit Deutschland ausgesprochen). Neuer Regierungschef wurde als Chef eines bürgerlichen Beamtenkabinetts der parteilose Wiener Polizeipräsident Johann Schober.
Doch auch diesem Bundeskanzler war nur eine kurze Amtsdauer beschieden. Im Frühjahr 1922 setzte sich angesichts der immer rascheren Geldentwertung bei Christlichsozialen und Großdeutschen die Einsicht durch, daß die Bildung einer stabilen, von einer festen parlamentarischen Mehrheit getragenen Regierung nicht länger hinausgeschoben werden konnte. Am 31. Mai 1922 wurde der Vorsitzende der Christlichsozialen, Prälat Ignaz Seipel, zum Bundeskanzler gewählt; seinem Kabinett gehörten Minister beider Parteien an. Seipel erhielt im Oktober 1922 von Großbritannien, Frankreich, Italien und der Tschechoslowakei in den «Genfer Protokollen» eine Garantie für eine österreichische Anleihe von 650 Millionen Goldkronen, deren Verwendung ein vom Völkerbund ernannter Generalkommissar zu kontrollieren hatte. Dafür verpflichtete sich die Alpenrepublik, zwanzig Jahre lang ihre Unabhängigkeit nicht aufzugeben und mit Hilfe außerordentlicher, vom Parlament zu bewilligender Vollmachten die öffentliche Sicherheit und Ordnung zu bewahren. Die sozialdemokratische Opposition protestierte mit äußerster Schärfe gegen die Preisgabe des großdeutschen Gedankens und die nun einsetzende rigorose Sparpolitik, das «Sanierungswerk» der Regierung Seipel, richtete damit aber nichts aus: Die Christsozialen waren die Sieger der Nationalratswahlen vom Oktober 1923; sie erhielten 82, die Sozialdemokratische Partei Deutschösterreichs nur 68 Mandate.
Einen gewissen Ausgleich für die Machtlosigkeit auf Bundesebene bot den Sozialdemokraten die Position, die sie mittlerweile in der Hauptstadt errungen hatte. Unter ihrer Ägide entstand in den zwanziger Jahren das «rote Wien»: ein Zentrum der europäischen Arbeiterbewegungskultur mit mustergültigen sozialen Einrichtungen und Wohnanlagen wie dem festungsartig angelegten Karl-Marx-Hof im Bezirk Döbling, dem längsten zusammenhängenden Wohnbau der Welt. In Wien spitzte sich der Klassenkonflikt zwischen dem proletarischen und dem bürgerlichen Österreich in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahre dramatisch zu. Eine wichtige Station im Prozeß der politischen Radikalisierung bildete der Linzer Parteitag der SPÖ vom November 1926. Die Sozialdemokraten gaben sich dort ein Programm, das rabiater klang, als es gemeint war: Um den Forderungen des linken Flügels entgegenzukommen, bekundete die Partei für den Fall, daß die Bourgeoisie sich nach einem Wahlsieg der Arbeiterklasse der gesellschaftlichen Umwälzung widersetzen sollte, ihre Entschlossenheit, diesen Widerstand mit den Mitteln der Diktatur zu brechen.
Den bürgerlichen Parteien kam der Verbalradikalismus der Sozialdemokratie gerade recht, um als antimarxistischer «Bürgerblock» mit einer Einheitsliste in den Wahlkampf vom Frühjahr 1927 zu ziehen. Das Wahlergebnis vom 24. April fiel dann freilich für die Christlichsozialen enttäuschend aus: Gegenüber 1923 verloren sie 9 Sitze, während die Sozialdemokraten 3 hinzugewannen. Mit ihren nunmehr 71 Abgeordneten waren sie nur noch wenig schwächer als die Christlichsozialen, die auf 73 Parlamentarier kamen. Mit Hilfe von Großdeutschen und Landbund gelang es Seipel dennoch, die gewünschte «Bürgerblockregierung» zustande zu bringen.
Beide Lager verfügten zu dieser Zeit längst über einen bewaffneten Arm: die Sozialdemokratie in Gestalt des 1923 gegründeten Republikanischen Schutzbundes, die Bürgerlichen in Form von Wehrverbänden, die sich mit Waffen aus der Kaiserzeit ausgerüstet hatten. Ende Januar 1927 kam es in Schattendorf im Burgenland zu einem folgenreichen blutigen Zwischenfall: Angehörige der rechten Frontkämpfervereinigung schossen auf Arbeiter des Republikanischen Schutzbundes und töteten dabei einen Kriegsinvaliden und ein Kind. Am 14. Juli 1927 sprach ein Wiener Geschworenengericht die drei Männer, die wegen dieser Tat angeklagt worden waren, frei und löste damit tags darauf spontane Massendemonstrationen sozialistischer Arbeiter in Wien aus, die ihrer Empörung über diesen offenkundigen Fall von «Klassenjustiz» Ausdruck verleihen wollten. Nach ersten blutigen Zusammenstößen mit der Polizei setzten einige der Protestierenden den Justizpalast an der Ringstraße in Brand, woraufhin die Regierung Seipel die Wiener Polizei mit Armeekarabinern ausrüsten ließ, um den Platz vor dem Gerichtsgebäude zu räumen. Steinwürfe der Arbeiter wurden mit Gewehrschüssen beantwortet. Am Ende der Kämpfe waren 89 Menschen, darunter vier Polizisten, tot. Die Zahl der Verletzten ging in die Hunderte.
Für die Sozialdemokraten bedeutete der Ausbruch anarchistischer Gewalt im Sommer 1927 eine schwere Niederlage. Ein landesweiter eintägiger Generalstreik und ein nach drei Tagen abgebrochener Verkehrsstreik waren die symbolischen Aktionen, mit denen Partei und Gewerkschaften zu beweisen versuchten, daß die Führung der Arbeitermassen noch immer bei ihnen lag. Aber die Chancen, in Österreich wieder einen Anteil an der Regierungsmacht zu erlangen, hatten sich nach den Ereignissen vom 15. Juli 1927 nachhaltig verschlechtert. In gewisser Weise zahlte die Sozialdemokratie damals den Preis für jenen spezifisch «austromarxistischen» Linkskurs, mit dem es ihr gelungen war, den Aufstieg einer kommunistischen Konkurrenzpartei zu verhindern. Denn es lag auf der Hand, daß die Offenheit nach links, der die Partei auch mit den revolutionär anmutenden Aussagen des Linzer Programms Tribut gezollt hatte, eine der tieferen Ursachen des Wiener Debakels war. Zu den Folgen des 15. Juli gehörte auch der Auftrieb, den die Konfrontation den rechtsstehenden paramilitärischen Heimwehren gab: Sie erfreuten sich seit dem Sommer 1927 eines starken Zulaufs an Mitgliedern und steigender finanzieller Zuwendungen aus der Unternehmerschaft wie auch aus Italien und Ungarn.
Drei Jahre später, am 9. November 1930, fanden Wahlen zum Nationalrat statt, von denen damals noch niemand wissen konnte, daß es die letzten der Ersten Republik sein würden. Das bürgerliche Lager zog zersplittert in den Wahlkampf: Um den parteilosen früheren Bundeskanzler Johann Schober, der von September 1929 bis zum September 1930 erneut Regierungschef gewesen war, hatte sich der «Schober-Block» unter Einschluß der Großdeutschen gebildet, auf den 9 Mandate entfielen. Die Christlichsozialen sanken von 73 auf 66 Sitze; der «Heimatblock» mit dem Heimwehrführer Rüdiger (Fürst von) Starhemberg an der Spitze entsandte 8 Abgeordnete ins Parlament. Stärkste Partei wurde mit 72 statt bisher 71 Sitzen die SPÖ, die damit auch, in der Person von Karl Renner, den Ersten Präsidenten des Nationalrats stellen konnte.
Von der Regierungsmacht aber war die Sozialdemokratie nach wie vor weit entfernt. Mit der Bildung des Kabinetts beauftragte Bundespräsident Miklas den Landeshauptmann von Vorarlberg, Otto Ender, einen Politiker der Christlichsozialen. Schober wurde Vizekanzler und Außenminister. Er behielt diese Ämter im Juni 1931 auch unter Enders christlich-sozialem Nachfolger, dem bisherigen Landeshauptmann von Niederösterreich, Karl Buresch. Als Außenminister trug Schober auch die Hauptverantwortung für den Fehlschlag eines Projekts, das er nach längerer Vorbereitung im März 1931 zusammen mit seinem deutschen Kollegen Julius Curtius, dem Außenminister des ersten Kabinetts Brüning, auf den Weg gebracht hatte: dem Plan einer deutsch-österreichischen Zollunion.
Das Vorhaben scheiterte, kaum überraschend, am hartnäckigen Widerstand der Westmächte, vor allem Frankreichs. Auf Antrag Großbritanniens überwies der Völkerbundsrat das Vorhaben mit der Bitte um Prüfung am 18. Mai 1931 an den Internationalen Gerichtshof in Den Haag. Dieser entschied am 5. September 1931 mit 8 gegen 7 Stimmen, daß die Zollunion dem Genfer Protokoll von 1922 über den wirtschaftlichen und finanziellen Wiederaufbau Österreichs widerspreche, also vertragswidrig sei. Zwei Tage zuvor schon hatten Curtius und Schober erklärt, daß sie den Plan nicht weiter verfolgen würden. Der Verzicht war der Preis, den Wien für die Sanierung Österreichs mit Hilfe internationaler Kredite entrichten mußte. Wäre diese Hilfe ausgeblieben, hätte der Zusammenbruch der Österreichischen Creditanstalt am 11. Mai 1931, eine Folge des Rückzugs kurzfristiger französischer Kredite, eine wirtschaftliche Katastrophe ausgelöst und direkt in den Staatsbankrott geführt. Auch nach der ausländischen Kredithilfe mußte Österreich schwer unter der Depression leiden. Bis 1938 lag die Arbeitslosenrate stets über 20 Prozent der abhängig beschäftigten Bevölkerung.