Von Weltkrieg zu Weltkrieg:
Rückblick auf eine Ausnahmezeit

Am 18. September 1941 unternahm General de Gaulle, der Chef der France libre in London, in einer Rundfunkrede an die Franzosen einen Versuch, das aktuelle Kriegsgeschehen in einen großen historischen Zusammenhang einzuordnen. «Der Krieg gegen Deutschland hat 1914 begonnen», sagte er. «Der Vertrag von Versailles hat ihn in der Tat keineswegs beendet. Es hat lediglich einen Waffenstillstand gegeben, in dessen Verlauf der Feind seine Angriffskraft wiederherstellte. Seit dem März 1936 begann die deutsche Aggression aufs neue, zuerst mit der Rheinlandbesetzung, dann gegen Österreich und die Tschechoslowakei, gefolgt von der Vorbereitung der Feldzüge gegen Polen, Belgien und Frankreich, die ihrerseits nur Vorspiele waren zum Angriff auf Rußland und der jetzigen Konzentration der Kriegsanstrengungen auf die Angelsachsen. In Wirklichkeit befindet sich die Welt also im Dreißigjährigen Krieg, für oder gegen die Weltherrschaft des Deutschtums.» (En réalité, le monde fait la Guerre de trente ans, pour ou contre la domination universelle du germanisme.) Zweieinhalb Jahre später machte sich Churchill diese Geschichtsdeutung zu eigen. In einem Brief an Stalin schrieb der britische Premierminister am 27. Februar 1944, er betrachte «die deutsche Aggression als Ganzes und als einen dreißigjährigen Krieg von 1914 an».

Das Wort vom neuen Dreißigjährigen Krieg war ein Mittel der psychologischen Kriegführung, aber deswegen nicht ohne historische Substanz. 1914 trug Deutschland zwar nicht die Alleinschuld an der Auslösung des Ersten Weltkrieges, aber es war doch die Großmacht, die die größte Verantwortung für die Eskalation der Julikrise und damit für die Ausweitung des österreichisch-serbischen Konflikts in einen großen europäischen Krieg trug. Nach 1918 fand sich Deutschland mit seiner Niederlage nicht ab, und wenn sich das Land in einer Sache einig war, dann darin, daß der Vertrag von Versailles zutiefst ungerecht und revisionsbedürftig war. Hitler war von Anfang an zur kriegerischen Expansion entschlossen, wobei er freilich im Gegensatz zum landläufigen Revisionismus niemals daran dachte, sich mit den Grenzen der Vorkriegszeit zu begnügen. Es gab mithin eine Kontinuität, was die Infragestellung des Status quo durch Deutschland anging, und seit der Machtübertragung an Hitler bildete dieses Streben den eigentlichen Unruhefaktor der europäischen Politik. Im nachhinein lag es also nahe, in der Zwischenkriegszeit nur einen brüchigen Waffenstillstand zu sehen und der deutschen Politik seit 1918 eine Zielgerichtetheit zu bescheinigen, die den vom Deutschen Reich entfesselten Weltkrieg unvermeidbar machte.

Weitet man den Rückblick über Europa auf Asien aus, so gibt es ebenfalls Gründe, ein Fragezeichen hinter die Auffassung zu setzen, nach dem Ersten Weltkrieg habe erst einmal zwei Jahrzehnte Friede geherrscht. Japan, der spätere Achsenpartner des nationalsozialistischen Deutschland, hatte bereits 1931 mit der Errichtung des Protektorats Mandschukuo begonnen, seine Machtsphäre gewaltsam auszuweiten; im Juli 1937 hatte es mit dem «Zwischenfall» an der Marco-Polo-Brücke in Peking den japanisch-chinesischen Krieg eröffnet, der Ende 1941 zu einem Teil des Zweiten Weltkriegs wurde. Deutschlands anderer Achsenpartner, Italien, hatte 1935 mit dem Einfall in Äthiopien einen Krieg begonnen, der mehr war als ein herkömmlicher Kolonialkrieg, nämlich ein rassisch motivierter Vernichtungskrieg und insoweit ein Vorgriff auf das, was die Welt nach 1939 in sehr viel größerem Maßstab erst im östlichen Mittel- und dann in Osteuropa erleben sollte. Auch der Spanische Bürgerkrieg trug, seit die Achsenmächte Deutschland und Italien auf der einen, die Sowjetunion auf der anderen Seite sich aktiv daran beteiligten, Züge eines Vorspiels zum Zweiten Weltkrieg. Erstmals prallten hier «Faschismus» und «Bolschewismus» militärisch aufeinander: die ideologischen Antipoden, die nur für kurze Zeit, im Zeichen des Hitler-Stalin-Pakts, miteinander kooperierten und sich dann, seit dem deutschen Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941, auf Leben und Tod bekämpften.

Nach 1945 wurde das Wort vom zweiten Dreißigjährigen Krieg auch in der Geschichtswissenschaft aufgegriffen – am entschiedensten und eindringlichsten von dem amerikanischen Historiker Arno J. Mayer in einem 1988 erschienenen Buch über die «Endlösung der Judenfrage», in dem er den Zweiten Weltkrieg als deutschen «Kreuzzug» gegen den jüdischen Bolschewismus interpretierte. Zwischen den beiden dreißigjährigen Kriegen, dem von 1618 bis 1648 und dem von 1914 bis 1945, gab es nach Mayer mehrere bedeutsame Übereinstimmungen. «Im Hinblick auf das internationale System ging es in beiden Fällen um den Anspruch einer Großmacht auf kontinentale Hegemonie, ein(en) Anspruch, dem sich beide Male eine ideologisch inhomogene militärische Koalition entgegenstellte. Richelieu und Gustav Adolf bildeten als Schirmherren des Kräftegleichgewichts ein ebenso unwahrscheinliches Paar wie später Winston Churchill und Josef Stalin. Im 17. Jahrhundert lag Mitteleuropa im Auge des Wirbelsturms, im 20. Osteuropa. In beiden Fällen nahm das Blutvergießen enorme Ausmaße an und fanden mehr Zivilisten als Soldaten den Tod … 1648 hatte die Tatsache, daß den hegemonialen und zentralistischen Ambitionen der Habsburger ein Riegel vorgeschoben wurde, zum Fortbestand des deutschen ‹Flickenteppichs› aus mehr als zweihundert praktisch selbständigen Territorialstaaten geführt, deren Fürsten nach dem Grundsatz cuius regio, eius religio (wessen die Herrschaft, dessen der Glaube, H. A. W.) regierten. 1945 führte der gescheiterte Versuch eines verspätet vereinigten Deutschland, sich zum Herrn über ganz Europa aufzuschwingen, zu seiner Teilung in zwei Rumpfstaaten mit ihrer jeweils eignen unveräußerlichen politischen Religion.»

Beide dreißigjährigen Kriege waren, so Mayer, «Perioden einer generellen Krise des gesellschaftlichen und politischen Systems, die zugleich Ursache und Folge eines totalen und ungeheuerlichen Krieges war, der die traditionellen Fundamente Europas erschütterte. Der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam die zweifelhafte Ehre zu, die blutigste und zerstörerischste Jahrhunderthälfte in der überlieferten Geschichte gewesen zu sein, bis sie darin von der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts abgelöst wurde … Während die allgemeine Krise und der dreißigjährige Krieg des 17. Jahrhunderts die Endphase des ideologischen Ringens zwischen Katholizismus und Protestantismus markierten, bildeten die allgemeine Krise und der dreißigjährige Krieg des 20. Jahrhunderts den Höhepunkt des ideologischen Kampfes zwischen Faschismus und Bolschewismus … Im 17. Jahrhundert ordnete Europa seinen globalen Herrschaftsbereich neu und erweiterte ihn zugleich; im 20. Jahrhundert büßte es seine globale Vormachtstellung und seine Kolonialreiche ein.»

Der Vergleich zwischen den ersten Hälften des 17. und des 20. Jahrhunderts, die man beide Ausnahmezeiten nennen kann, ist erhellend. Wie der Dreißigjährige Krieg waren der Erste und der Zweite Weltkrieg nicht nur Konflikte zwischen Staaten; sie wurden auch auf der Ebene der weltanschaulichen Auseinandersetzung geführt und nahmen teilweise bürgerkriegsartige Formen an. Wie 1648 bedeutete 1945 eine tiefe Zäsur für das Staatensystem und die innere Ordnung der Staaten. Brachte der Dreißigjährige Krieg den Sieg des Grundsatzes «cuius regio, eius religio», so der Zweite Weltkrieg nach einer Formel des Staatsrechtlers Hans Peter Ipsen den Triumph der Formel «cuius occupatio, eius constitutio» (wer die Besatzungsmacht hat, bestimmt die Verfassung). Das «Westfälische System» beruhte auf der Maxime, daß alle Staaten selbst souverän über ihre innere Ordnung bestimmten, anderen Staaten also kein Interventionsrecht zustand. Das System von Jalta und Potsdam übertrug diese Devise auf die Einflußsphären der Großmächte: Was innerhalb der sich allmählich herausbildenden «Blöcke» geschah, rechtfertigte keine gewaltsame Einmischung der jeweils anderen Seite, und das auch dann nicht, wenn die Hegemonialmacht die Souveränität eines Staates in der eigenen Einflußzone mißachtete. Zu Konflikten zwischen den Führungsmächten konnte es kommen, wo sich die Einflußsphären, wie bei der Behandlung Deutschlands als wirtschaftliche Einheit, überschnitten oder, wie 1950 im Fall Korea, die formell vereinbarte Demarkationslinie von einer Seite ignoriert und überschritten wurde.

Neben den Parallelen gibt es jedoch auch fundamentale Unterschiede zwischen den Konstellationen des 17. und des 20. Jahrhunderts. Der Dreißigjährige Krieg erschien bereits den Zeitgenossen trotz klar voneinander zu trennender Phasen und wechselnder Koalitionen als ein Krieg. In der zwei Jahrzehnte währenden Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts hatten die allermeisten Europäer und die Nordamerikaner nicht das Empfinden, sich im Kriegszustand zu befinden. Der Friede, wie er aus den Pariser Vorortsverträgen hervorging, hätte vermutlich noch sehr viel länger Bestand gehabt, wenn die Weimarer Republik nicht in den Stürmen der Weltwirtschaftskrise untergegangen und vom «Führerstaat» Adolf Hitlers abgelöst worden wäre. Der Begriff des «zweiten Dreißigjährigen Krieges» suggeriert eine Zwangsläufigkeit der Entwicklung zwischen 1914 und 1945 und verwandelt die Friedensjahre im nachhinein in eine optische Täuschung – eine teleologische und deterministische Geschichtssicht, die keinen Raum mehr läßt für die Unterscheidung zwischen dem, was als Möglichkeit im Ausgang des Ersten Weltkrieges angelegt war, und dem, was unter dem Einfluß einer globalen ökonomischen Katastrophe politische Wirklichkeit wurde.[1]

Für den Ersten Weltkrieg, der für Franzosen und Briten immer noch der «Große Krieg» ist, gilt mehr als für viele andere Kriege, daß er im Sinne Heraklits «der Vater aller Dinge» war. «Der Große Krieg hat der Theorie der Gewalt zu einem überwältigenden Triumph verholfen», schrieb der Wirtschaftswissenschaftler Moritz Julius Bonn 1925 in seiner Schrift «Die Krisis der europäischen Demokratie». «Die Kriege der vergangenen Zeiten sind größtenteils von Berufssoldaten ausgefochten worden. Der Große Krieg war ein Krieg der Völker. Jeder einzelne fühlte seine Wirkung täglich am eigenen Leibe, auch wenn er nur im Hinterlande beruflich tätig war. In dieser Beziehung ähnelte der Weltkrieg weit mehr einem gut organisierten Bürgerkrieg, der seiner Natur nach alle Beziehungen der Gesellschaft, die er heimsucht, erschüttert … Der Krieg ist die Verneinung der Grundsätze, auf denen die moderne Zivilisation aufgebaut ist. Er verneint die Unverletzlichkeit des Privateigentums, er verleugnet die Heiligkeit des menschlichen Lebens; er zerreißt die Verträge … Der Geist der Gewalttätigkeit, der vier Jahre lang ununterbrochen getobt hat, kann sich nicht plötzlich in ein Gefühl der fügsamen Einordnung verwandeln, wenn der Befehl zur Demobilisierung erteilt worden ist.»

Paramilitärische Gewalt wurde nach 1918 zu einem Merkmal der inneren Politik vieler Staaten, zumal der besiegten. Den Umschlag des Krieges in den Bürgerkrieg erlebte als erstes Land Rußland. Schon im November 1914 hatte Lenin die Parole ausgegeben, die «Umwandlung des gegenwärtigen imperialistischen Krieges in den Bürgerkrieg» sei die «einzig richtige proletarische Losung». Seine Theorie in Praxis umzusetzen hatte Lenin nach der Oktoberrevolution von 1917 Gelegenheit, wobei er hoffte, daß das russische Beispiel zur Initialzündung für die Revolution in ganz Europa werden würde.

Tatsächlich konnte sich die kommunistische Revolution nur in Rußland durchsetzen, als Drohung aber war sie dank der Kommunistischen Internationale und ihrer Mitgliedsparteien bald überall in Europa präsent. Die Bürgerkriege der unmittelbaren Nachkriegszeit blieben regional begrenzt und wuchsen nicht zu dem von den Bolschewiki erwarteten einen großen Bürgerkrieg zusammen. Die Angst vor dem Bürgerkrieg und der roten Revolution aber erfaßte ganz Europa, und nirgendwo war sie so stark und so weit verbreitet wie in dem Land, ohne dessen aktive Hilfe Lenin und die Bolschewiki gar nicht an die Macht gelangt wären: in Deutschland. Der tiefere Grund dieses Sachverhalts war ein nationales Trauma: die Erfahrung des Zusammenbruchs aller gewohnten Ordnung, von Chaos, blinder Gewalt und dem Wüten von fremder Soldateska im Dreißigjährigen Krieg. Er war das negative Schlüsselereignis der älteren deutschen Geschichte, die deutsche Urkatastrophe.

Wie das bolschewistische Rußland war auch sein stärkster Gegenspieler, die Vereinigten Staaten von Amerika, 1917 erstmals ein Akteur der europäischen Politik geworden. Präsident Wilson, der den entscheidenden Anteil am Kriegseintritt der USA hatte, gab mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker eine Parole aus, die eine größere Kraft entfalten sollte als Lenins Aufruf zur Weltrevolution. Die ostmittel- und südosteuropäischen Nachfolgestaaten des russischen und des habsburgischen Vielvölkerreiches wurden zu Nutznießern zweier urwestlicher Prinzipien, der Volkssouveränität und der demokratischen Mehrheitsentscheidung, die unlösbar mit der Amerikanischen Revolution von 1776 und der Französischen Revolution von 1789 verknüpft waren.

Die Anwendung dieser Grundsätze auf gemischt nationale Gebiete führte freilich von Anfang an zu Konflikten mit anderen westlichen Traditionen, nämlich der Achtung der Menschen- und Bürgerrechte aller Staatsbürger und damit der Toleranz gegenüber Minderheiten. Die neuen Staaten fühlten sich als Nationalstaaten, im strikten Sinne aber war es keiner von ihnen; Jugoslawien, die Tschechoslowakei und Polen waren ausgesprochene Nationalitätenstaaten. Die vom Völkerbund erzwungenen Minderheitsschutzverträge wirkten in den wenigsten Fällen befriedend; von Finnland und Estland abgesehen konnte man in keinem der neuen Staaten von einem alles in allem gedeihlichen Verhältnis zwischen der Titularnation und den ethnischen Minderheiten sprechen.

Die Nationalitätenprobleme erschwerten die Bildung stabiler politischer Mehrheiten und trugen auf diese Weise mit dazu bei, daß die westliche Demokratie in den meisten der jungen Staaten keine festen Wurzeln schlug. Andere typische Hypotheken der Demokratie waren die Landarmut der Bauern, der verbreitete Analphabetismus, das Mißtrauen des Klerus, des Militärs und der privilegierten Schichten, obenan der Großgrundbesitzer, gegenüber dem parlamentarischen System und der radikale Protest von Bauern, «Kleinbürgern» und Arbeitern gegen die bestehenden Verhältnisse. Die Regierenden antworteten auf die inneren Krisenerscheinungen meist mit einem forcierten Nationalismus, häufig auch Antisemitismus, und dem Rückgriff auf repressive Herrschaftsmittel. Im Endeffekt triumphierte die «self-determination» der jeweils führenden Nation über das demokratische «self-government» der Staatsbürger: eine Entwicklung, die Wilsons faktische Gleichsetzung beider Prinzipien ad absurdum führte.

Der erste neue Staat, der sich in ein autoritäres System verwandelte, war 1919/20 Ungarn: eine Verlierernation, die ihren früheren, durch den Vertrag von Trianon eingebüßten Gebieten nachtrauerte, und zudem das einzige Land Mitteleuropas, das 1919 eine kommunistische Revolution erlebt hatte. Ein Jahrzehnt nach dem Ende des Ersten Weltkrieges gab es unter den neuen Staaten nur noch wenige, die man als Demokratien bezeichnen konnte. Mitte der dreißiger Jahre wurden alle bis auf zwei mehr oder minder autoritär regiert. Die Ausnahmen waren die Tschechoslowakei, das bürgerlichste und am stärksten industrialisierte und säkularisierte Land unter den Nachfolgestaaten der Vielvölkerreiche, und Finnland, das sich den skandinavischen Demokratien zurechnete und von ihrer politischen Kultur stark beeinflußt war. Eine Zwischenstellung nahm Finnlands südlicher Nachbar Estland mit seiner «gelenkten Demokratie» ein.

Neben den meisten neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas wurden in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre auch viele der älteren europäischen Staaten diktatorisch regiert. Auf der Balkan- und der Pyrenäenhalbinsel gab es 1938 keine Demokratie mehr. Die Rückzugsgebiete der westlichen Demokratie waren Skandinavien, Großbritannien, Irland, die Niederlande, Belgien, Luxemburg, Frankreich und die Schweiz. Die Tschechoslowakei gehörte nur noch bis zu ihrer Zerschlagung durch das nationalsozialistische Deutschland im März 1939 zu dieser Staatengruppe.

Versucht man, die tieferen Ursachen der Entdemokratisierung in der Zwischenkriegszeit auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen, so lautet er in fast allen Fällen: gesellschaftliche und mentale Rückständigkeit. Die autoritären Rechtsdiktaturen hatten sich in überwiegend agrarisch geprägten Ländern durchgesetzt, in denen, vom Baltikum und Österreich abgesehen, große Teile der Bevölkerung des Lesens und Schreibens unkundig waren und die katholische oder die orthodoxe Kirche ein Machtkartell mit der traditionellen Oberschicht bildete.

In zwei Fällen greift die Formel «Rückständigkeit» aber zu kurz: in Italien und mehr noch in Deutschland. Beide Länder hatten vieles miteinander gemeinsam. Sie hatten ihre nationale Einheit erst spät, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, erreicht und waren noch später zu Kolonialmächten geworden. Sie kannten ein krasses regionales Entwicklungsgefälle – in Italien zwischen Nord und Süd, in Deutschland zwischen West und Ost. Sie hatten vor 1914 lediglich eine Teildemokratisierung erlebt. Italien war zwar eine parlamentarische Monarchie, aber erst 1912 zum annähernd allgemeinen gleichen Wahlrecht übergegangen, und noch immer wirkte der Wahlboykott nach, mit dem der Vatikan auf die Aufhebung des Kirchenstaates im Jahr 1870 geantwortet hatte. In Deutschland galt zwar seit der Reichsgründung von 1871 das allgemeine gleiche Reichstagswahlrecht für Männer, eine parlamentarische Monarchie aber wurde das Kaiserreich erst im Oktober 1918, als sich die Einsicht in die Unabwendbarkeit der militärischen Niederlage durchsetzte.

Die ungleichzeitige Demokratisierung Deutschlands – frühe Demokratisierung des Wahlrechts, späte Parlamentarisierung des Regierungssystems – wirkte sich nach dem Ersten Weltkrieg darin aus, daß es in der Revolution von 1918/19 nur um mehr Demokratie gehen konnte: um die Einführung des Frauenwahlrechts, die Demokratisierung des Wahlrechts in den Einzelstaaten und die volle Durchsetzung der parlamentarischen Regierungsweise. Versuche der äußersten Linken, eine «Diktatur des Proletariats» nach sowjetischem Vorbild zu errichten, wurden nur von einer Minderheit des Proletariats unterstützt und 1919/20 blutig niedergeworfen. Italien erlebte nach 1918 keine Revolution, wohl aber in Gestalt des «biennio rosso» 1919/20 revolutionäre Unruhen, die das parlamentarische Regierungssystem in eine schwere Krise stürzten. Im Deutschland der Weimarer Republik erschien die westliche Demokratie breiten bürgerlichen Schichten zunehmend als Staatsform der Sieger und damit als «undeutsches» Produkt der Niederlage. In Italien geriet der Westen in Mißkredit, weil ihn die Rechte für einen angeblich «verstümmelten Sieg» (vittoria mutilata) verantwortlich machte, in dem das Land um die Früchte seines heroischen Kampfes gebracht worden sei. Ein antiwestliches Ressentiment stand mithin in beiden Ländern am Beginn der Auflehnung gegen die Demokratie.

Der Faschismus, der in Italien im Oktober 1922 mit tatkräftiger Hilfe der monarchischen Staatsspitze und bereitwilliger Duldung der bisher tonangebenden Liberalen an die Macht kam, etablierte ein System, wie es bis dahin in Europa unbekannt war. Es stützte sich auf paramilitärische Kräfte, die zuvor mit äußerster Gewaltsamkeit gegen die gespaltene Linke vorgegangen und dabei von den Großgrundbesitzern finanziell unterstützt worden waren. Die Machtübernahme Mussolinis bedeutete nicht etwa das Ende des Terrors, sondern seine staatliche Sanktionierung.

Der italienische Faschismus war die bislang radikalste Antwort auf den Bolschewismus und zugleich in mancher Hinsicht dessen Nachahmung. Was Unduldsamkeit gegenüber politischen und weltanschaulichen Gegnern anging, standen sich Faschisten und Kommunisten in nichts nach. Beide Regime beanspruchten den ganzen Menschen und versprachen für die Zukunft einen nach ihren Vorstellungen geformten «neuen» Menschen. Dieser totale Anspruch unterschied die neuen Diktaturen in Italien und der ebenfalls 1922 entstandenen Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken von herkömmlichen autoritären Regimen, etwa Militärdiktaturen. Italien war das erste Land, in dem der neue Regimetyp von liberalen und sozialistischen Kritikern als «totalitär» bezeichnet wurde – ein Begriff, den Mussolini übernahm und der später von Wissenschaftlern angewandt wurde, um damit zu kennzeichnen, was Faschismus, Nationalsozialismus und Bolschewismus gemeinsam war: das Macht- und Propagandamonopol einer Partei, die konsequente Ausschaltung jeder Art von Gewaltenteilung, die Unterdrückung aller Formen von Opposition, die Allgegenwart der Geheimpolizei und des Terrors, die Entrechtung des Einzelnen, die Mobilisierung der Massen und der Kult um den Mann an der Spitze.

Italien war 1922 ein erst teilweise industrialisiertes, immer noch stark von der Landwirtschaft geprägtes Land. In manchen Teilen des Mezzogiorno, so in Kalabrien, bestand die Bevölkerung zu Beginn der zwanziger Jahre nach wie vor mehrheitlich aus Analphabeten (im nationalen Durchschnitt waren es 1921 27 Prozent). Wenn also Rückständigkeit auch in Italien zum Hintergrund für das Scheitern der Demokratie und die Entstehung einer rechtsgerichteten Diktatur gehörte, dann war ebendies ein Grund, eine ähnliche Entwicklung in Deutschland für eher unwahrscheinlich zu halten. Deutschland war ein hochentwickeltes Industrieland, in dem seit langem die allgemeine Schulpflicht galt. Als «rückständig» wurde hier vor allem das vom Großgrundbesitz geprägte platte Land Ostelbiens und namentlich das vom übrigen Deutschland abgetrennte Ostpreußen betrachtet, das nur dank großzügiger Finanzhilfen aus Preußen und dem Reich wirtschaftlich überleben konnte. Ein krasses regionales Bildungsgefälle wie in Italien aber gab es in Deutschland nicht.

Daß in Deutschland eine Bewegung, die sich am Vorbild der italienischen Faschisten orientierte, nach 1930 zur stärksten Partei aufstieg, hatte viel mit der Ungleichzeitigkeit des deutschen Demokratisierungsprozesses zu tun. Nachdem das parlamentarische System an der fehlenden Kompromißbereitschaft der gemäßigten Parteien gescheitert war, wuchs Hitlers Nationalsozialisten eine einzigartige Chance zu: Sie konnten fortan einerseits an das verbreitete Ressentiment gegenüber der westlichen Demokratie und andererseits an den seit Bismarcks Zeiten verbrieften Teilhabeanspruch des Volkes in Gestalt des allgemeinen gleichen Wahlrechts appellieren – ein Recht, das von den seit 1930 regierenden halbautoritären Präsidialkabinetten weithin um seine politische Wirkung gebracht wurde.

Es war der pseudodemokratische «appel au peuple», der Hitlers radikales Nein zu Weimar von dem der traditionellen Rechten unterschied. Diese Rechte hatte bisher überwiegend eine autoritäre Krisenlösung angestrebt – ein Vorhaben, das das Land in einen blutigen Bürgerkrieg zu stürzen drohte. Um die Jahreswende 1932/33 setzte sich bei einem Teil der Konservativen die Auffassung durch, daß in einem Land mit langer demokratischer Wahlrechtstradition wie Deutschland der geplante Regimewechsel eines breiten Massenrückhalts bedurfte. Weil Hitler als Führer der stärksten «nationalen» Partei geeignet erschien, diesen Rückhalt zu gewährleisten, und sich zudem bereit erklärte, die Macht mit den Konservativen zu teilen, verhalf ihm die etablierte Rechte mit dem Reichspräsidenten von Hindenburg an der Spitze am 30. Januar 1933 zur Kanzlerschaft.

Mit dem italienischen Faschismus verband den deutschen Nationalsozialismus vieles: Beide Bewegungen huldigten einem extremen Nationalismus. Beide waren radikal antimarxistisch und antiliberal. Sie gingen mit einer bisher ungekannten Brutalität gegen politische Gegner vor, betrieben einen Heroenkult um ihren Führer, verherrlichten Jugend, Männlichkeit und soldatische Tugenden. Sie schalteten, nachdem sie an die Macht gelangt waren, alle Kräfte und Institutionen aus, die sich ihnen in den Weg stellten, und erzeugten durch eine Mischung aus Propaganda und Terror eine akklamierende Pseudoöffentlichkeit, die keinen Widerspruch duldete und dem Regime den Schein einer plebiszitären Legitimation verschaffte.

Was die fortschreitende Verdrängung der traditionellen Eliten anging, war der Nationalsozialismus sehr viel konsequenter und erfolgreicher als der italienische Faschismus, der bis zuletzt gezwungen war, sich mit der Monarchie und dem Militär zu arrangieren. Der Nationalsozialismus war, ungeachtet ständiger interner Machtkämpfe im Umfeld des «Führers», sehr viel totalitärer und einem absoluten Machtmonopol näher als der italienische Faschismus. Von diesem unterschied den Nationalsozialismus auch der fanatische Antisemitismus, der zum innersten Wesenskern der Bewegung Adolf Hitlers gehörte. Erst Ende 1938 ging das Regime Mussolinis zu einer antijüdischen Politik über, die sich am Vorbild der Nürnberger Gesetze von 1935 orientierte, aber nicht mit derselben bürokratischen Systematik exekutiert wurde wie diese. Rassistisch war freilich auch der italienische Faschismus, wie sich in seinen Kolonialkriegen erst in Libyen und später in Äthiopien zeigte. In Afrika bewies der «Duce», zu welcher nach außen gerichteten Aggressivität sein Regime fähig war. Auf einen Krieg gegen die Sowjetunion aber hat er, seinem immer wieder bekundeten Antibolschewismus zum Trotz, schon aus Einsicht in die begrenzten materiellen Ressourcen Italiens zu keiner Zeit hingearbeitet. Wenn er 1941 an dem vom nationalsozialistischen Deutschland eröffneten Feldzug im Osten, einem spätkolonialen Lebensraum- und zugleich ideologischen Vernichtungskrieg, teilnahm, so nur deswegen, weil das faschistische Italien bei der erwarteten Neuordnung der Welt nicht leer ausgehen sollte.

Die Gemeinsamkeiten zwischen dem italienischen Faschismus und dem deutschen Nationalsozialismus waren so offenkundig, daß schon Zeitgenossen beide unter dem typisierenden Oberbegriff «Faschismus» zusammenfaßten. Der Nationalsozialismus war einerseits die deutsche Erscheinungsform des Faschismus, wich aber andererseits in zentralen Punkten vom italienischen Vorbild so stark ab, daß es sich verbietet, in ihm nur den «deutschen Faschismus» zu sehen. Faschistische Bewegungen gab es im Europa der Zwischenkriegszeit viele, darunter die spanische Falange, die kroatische Ustascha, die rumänische Eiserne Garde und die ungarischen Pfeilkreuzler. Aber nur in Italien und Deutschland gelangten faschistische Parteien ohne Einwirkung von außen an die Macht, und nur in diesen beiden Ländern entstanden autonome faschistische Regime.

Versuche, die europäischen Faschismen übernational zu organisieren, waren zum Scheitern verurteilt. Ihr exklusiver Nationalismus machte es den faschistischen Regimen unmöglich, jenseits ihrer Staatsgrenzen ein der Kommunistischen Internationale vergleichbares Maß an internationaler Solidarisierung zu erzeugen. Im Zeichen von Antisemitismus und Antibolschewismus konnte das «Dritte Reich» im Zweiten Weltkrieg in den besetzten Ländern zwar einzelne Intellektuelle, Politiker, Parteien und Gruppierungen zur Kollaboration bewegen, aber keine Massen mobilisieren. Ein faschistischer oder nationalsozialistischer Internationalismus war ein Widerspruch in sich.

Die extremsten Widersacher der äußersten Rechten, die russischen Bolschewiki, hatten sich seit jeher als Vorkämpfer einer neuen, klassenlosen Gesellschaft verstanden und dementsprechend nach ihrer Machtergreifung sogleich damit begonnen, die bisher herrschenden Klassen auszuschalten und zu großen Teilen auszurotten. Die italienischen Faschisten und die deutschen Nationalsozialisten wollten die ökonomischen, militärischen, bürokratischen und intellektuellen Eliten nicht vernichten, sondern sich dienstbar machen, was ihnen in unterschiedlichem Maß auch gelang. Für Stalin war es ein zentrales Herrschaftsmotiv, die Rückständigkeit Rußlands ein für allemal zu beseitigen, und er kam diesem Ziel mit brutalen Mitteln näher als irgendein Politiker vor ihm. Von einer Modernisierung der italienischen Gesellschaft durch den Faschismus kann man hingegen nur mit erheblichen Vorbehalten sprechen – mit dem größten Recht wohl im Hinblick auf den Kampf gegen den Analphabetismus, aber auch hier setzte das Italien Mussolinis letztlich nur die in der Ära Giolitti eingeschlagene Politik fort. Im nationalsozialistischen Deutschland schritt die Industrialisierung, aller agrarromantischen Parteiideologie zum Trotz, voran – aber nicht, weil Hitler Deutschland modernisieren wollte, sondern weil er ohne forcierten Ausbau der rüstungswichtigen Industrie keinen Krieg führen konnte. Das nationalsozialistische Deutschland und das faschistische Italien waren keine Modernisierungsdiktaturen, wohl aber beide, wie Wolfgang Schieder feststellt, Ausdruck von Modernisierungskrisen – der Krisen zweier erst spät zu staatlicher Einheit gelangten Nationen, die ihre gesellschaftlichen Probleme nicht mit demokratischen Mitteln zu bewältigen vermochten und zutiefst unzufrieden waren mit dem Platz, der ihnen in der Nachkriegsordnung zugewiesen worden war.

Die Krise der europäischen Demokratie in der Zwischenkriegszeit beschränkte sich nicht auf die Länder, die zu autoritären oder faschistischen Diktaturen übergingen. Sie erfaßte auch die meisten Länder, die auf ältere demokratische Traditionen zurückblicken konnten. Der Erste Weltkrieg hatte dem Glauben an die Vernunft einen schweren Schlag versetzt und nationalistische Leidenschaften erzeugt, die fortwirkten, als die Waffen endlich schwiegen. Der Krieg hatte aber auch Haß hervorgerufen auf die, die man für das Massensterben verantwortlich machte, die es rechtfertigten oder an ihm verdienten. Eine Rückkehr zur Normalität war nach 1918 auch dort schwer, wo man seit langem gewöhnt war, politische Konflikte auf der parlamentarischen Bühne im friedlichen Austausch der Argumente auszutragen. Die Besitzenden fürchteten sich überall vor der erstarkten Arbeiterbewegung, ihren Gewerkschaften und Parteien; eine Majorisierung des Bürgertums durch die Linke erschien nach 1918 sehr viel wahrscheinlicher als vor 1914.

Gleichwohl scheiterte die parlamentarische Demokratie nur dort, wo sie erst 1918/19 eingeführt worden war oder über kein breites Fundament in der Gesellschaft verfügte. In älteren Demokratien konnten faschistische Bewegungen keine Massenbasis wie in Deutschland oder Italien hinter sich bringen. Wo es den Kommunisten, wie in Frankreich, gelang, einen erheblichen Teil der Arbeiterklasse hinter sich zu vereinigen, waren sie doch nicht in der Lage, die Sozialisten auf den zweiten Platz zu verweisen. Kritik von rechts an Parlamentarismus und Demokratie gab es auch in Frankreich und in Großbritannien, und sie fand ihr Publikum. Aber anders als die «Konservative Revolution» in Deutschland konnte die intellektuelle junge Rechte weder diesseits noch jenseits des Ärmelkanals die Meinungsführerschaft erringen. Sie vertrat eine Denkrichtung unter anderen.

Von der Weltwirtschaftskrise, in deren Verlauf Deutschland sein parlamentarisches System preisgab und sich einer totalitären Diktatur von rechts zuwandte, waren Großbritannien und die USA kaum weniger betroffen als das Deutsche Reich. In den beiden angelsächsischen Ländern blieb die Demokratie erhalten; sie erneuerte und festigte sich durch wirtschaftliche und soziale Reformen. In der Depressionszeit erwiesen alte freiheitliche Prägungen ihre Beharrungskraft. Wo das normative Projekt des Westens tiefe Wurzeln geschlagen hatte und das politische Denken der Regierenden wie der Regierten bestimmte, bewährte es sich auch in der bislang ernstesten Herausforderung des Westens: der Großen Krise seit 1929.[2]

Wenn irgend etwas dem «Dritten Reich» Adolf Hitlers nach 1933 Sympathien in konservativen Kreisen des Westens einbrachte, dann war es sein militanter Antibolschewismus. Die britische Appeasement-Politik in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre beruhte zu guten Teilen auf der Annahme, daß diese Gegnerschaft unverrückbar war und darum als Grundlage einer begrenzten Zusammenarbeit zwischen London und Berlin dienen konnte. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 entlarvte diese Einschätzung als Ausdruck von Wunschdenken. Daß dem machtpolitischen Arrangement zwischen Hitler und Stalin keine Dauer beschieden sein würde, war unschwer vorherzusagen. Der deutsche Überfall auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 eröffnete Großbritannien die Chance, den Kampf gegen das nationalsozialistische Deutschland mit einem starken Verbündeten weiterzuführen. Daß der konservative Churchill ein geschworener Gegner des revolutionären Bolschewismus war, fiel dabei nicht ins Gewicht. Solange es um das Sein oder Nichtsein Großbritanniens und seines Empire ging, mußte das ideologisch Trennende hinter dem gemeinsamen Interesse, der raschen und vollständigen Niederwerfung des deutschen Aggressors, zurücktreten.

Franklin Delano Roosevelt schien der Gedanke, mit Stalin gegen Hitler zusammenzugehen, keinerlei ideologische Skrupel zu bereiten. Der amerikanische Präsident sah in der Sowjetunion mittlerweile eine kalkulierbare Größe; der Antikolonialismus der Sowjetkommunisten war ihm durchaus sympathisch, ja ein willkommenes Gegengewicht zu Churchills Imperialismus. Hitler war der Feind schlechthin: Nichts an ihm, seinem Regime und seiner Weltanschauung bot Anknüpfungspunkte für die amerikanische Politik. Mit Stalin hingegen konnte man handelseinig werden, und das möglichst über die Zeit der Waffenbrüderschaft hinaus. Die USA und die Sowjetunion würden aus dem Zweiten Weltkrieg als die beiden Weltmächte der Nachkriegszeit hervorgehen: Von ihrem Willen zur Verständigung und zur Zusammenarbeit hing aus Roosevelts Sicht künftig die Aufrechterhaltung des Weltfriedens in erster Linie ab.

Der Soziologe M. Rainer Lepsius hat Kommunismus und Faschismus die «beiden großen Bewegungen des 20. Jahrhunderts gegen die parlamentarische Demokratie, gegen das Projekt der Zivilgesellschaft» genannt. In der Tat bildeten nicht nur der italienische Faschismus und der deutsche Nationalsozialismus, sondern auch der russische Bolschewismus radikale Negationen des normativen Projekts des Westens, wie es aus den atlantischen Revolutionen des späten 18. Jahrhunderts hervorgegangen war. Die beiden ideologischen Antipoden standen diesem Projekt jedoch in einer asymmetrischen Distanz gegenüber. Die Faschismen verwarfen das Erbe von 1789 total und standen insofern in einer Traditionslinie, die sie mit der katholischen und der romantischen Gegenrevolution des frühen 19. Jahrhunderts verband. Die Bolschewisten hingegen sahen sich als die Erben des äußersten linken Flügels der Französischen Revolution, der «Verschwörung der Gleichen» um François Noël («Gracchus») Babeuf, der als erster die vollständige Abschaffung des Privateigentums an den Produktionsmitteln und die Errichtung einer kommunistischen Gesellschaft gefordert hatte. Für individuelle Freiheit war in dieser revolutionären Denktradition kein Platz.

Vier Jahre lang, von 1941 bis 1945, gelang es, den ideologischen Gegensatz zwischen den westlichen Demokratien und dem totalitären Sowjetsystem im Zeichen des gemeinsamen Gegensatzes zum anderen totalitären Regime, dem des Nationalsozialismus, notdürftig zu neutralisieren. In dieser Zeit sahen sich die angelsächsischen Mächte genötigt, Positionen preiszugeben, zu denen sie sich in der Atlantik-Charta vom 14. August 1941 feierlich bekannt hatten: Sie opferten, ohne daß sie sich dessen damals schon bewußt gewesen wären, das Selbstbestimmungsrecht der Völker Ostmittel- und Südosteuropas auf dem Altar einer Zusammenarbeit, in die sie von Hitler hineingezwungen worden waren. Als ihm die fatalen Folgen dieser Politik in den letzten Kriegswochen klar wurden, erhob Churchill Protest, konnte damit aber keine Korrektur mehr bewirken. Die Bruchlinien der Nachkriegszeit waren im Frühjahr 1945 deutlich zu erkennen: Europa war gespalten in einen Teil, in dem sich die Versprechungen der Atlantik-Charta erfüllen konnten, und einen anderen Teil, dem diese Chance verwehrt war.

Mit dem gemeinsamen Sieg über das nationalsozialistische Deutschland entfiel die «realpolitische» Klammer, die die westlichen Demokratien und die Sowjetunion vorübergehend zusammengehalten hatte. Es war nur eine Frage der Zeit, wann der ideologische Konflikt zwischen den beiden «Welten» voll entbrennen würde. Der Historiker Dan Diner sieht im Gegensatz von «Freiheit» und «Gleichheit» die «zentrale Deutungsachse» für das Verständnis des 20. Jahrhunderts, wobei «Gleichheit» im sowjetischen Verständnis nicht die liberale Gleichheit vor dem Gesetz und auch nicht die «sozialdemokratische» Chancengleichheit, sondern die absolute Gleichheit im Sinn der radikalen Abschaffung von klassenbedingter Ungleichheit bedeutet.

Für diesen Gegensatz scheint Diner die «Metapher vom Weltbürgerkrieg» angemessen. «Die Welt war politisch von einem geschichtsphilosophisch aufgeladenen Antagonismus der Werte durchwirkt. Er durchschnitt die ihm vorausgehenden staatlichen wie nationalen Loyalitäten vertikal und entsprach somit der aus dem 19. Jahrhundert herüberragenden Entgegensetzung von Freiheit und Gleichheit, von Bourgeoisie und Proletariat, von Revolution und Konterrevolution. Auch die Dekolonisation machte sich die politische Sprache des vergangenen Saeculums zu eigen, griff auf die Nomenklatur von 1789 zurück, als in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ganze Kontinente zum revolutionären Subjekt erhoben wurden und in geschichtsphilosophischer Anlehnung an den Dritten Stand von einer Dritten Welt die Rede war – von tiers état zu tiers monde

Als dramatisierende Metapher steht der Begriff «Weltbürgerkrieg» für den ideologischen Grundkonflikt, der das 20. Jahrhundert bis zum Ende der kommunistischen Regime in Europa zwischen 1989 und 1991 prägen sollte. Begonnen hatte dieser Konflikt mit der russischen Oktoberrevolution von 1917. Wenn er in der Zwischenkriegszeit noch nicht voll durchbrach, dann aus drei Gründen. Erstens sah sich die Sowjetunion infolge vieler Rückschläge beim Versuch des Revolutionsexports gezwungen, die «Weltrevolution» zu vertagen und sich entsprechend Stalins Devise auf den «Aufbau des Sozialismus in einem Lande» zu konzentrieren. Zweitens wurde der demokratische Messianismus der USA durch den amerikanischen Isolationismus durchkreuzt, der ein anhaltendes transatlantisches oder gar globales Engagement der potentiellen westlichen Führungsmacht verhinderte. Drittens trat mit den Faschismen und namentlich mit dem deutschen Nationalsozialismus nach dessen «Machtergreifung» eine «dritte Kraft» auf, die eine ideologische West-Ost-Konfrontation im Zeichen von «Freiheit» versus «Gleichheit» oder «Demokratie» versus «Diktatur» unmöglich machte.

Der Sieg der Anti-Hitler-Koalition vereinfachte die Weltsituation radikal. Es gab nur noch zwei Weltmächte, die USA und die Sowjetunion, wobei die Vereinigten Staaten schon auf Grund ihres überlegenen technologischen «Know how» und ihres Atomwaffenmonopols die mit Abstand stärkere war. Von den anderen Großmächten (sofern dieser Status durch einen ständigen Sitz im Sicherheitsrat der Vereinten Nationen definiert war) wurde China durch den inneren Machtkampf zwischen der Kuomintang und den Kommunisten gelähmt; Großbritannien und Frankreich, die beiden größten europäischen Kolonialmächte, waren durch den Krieg so geschwächt, daß fraglich war, ob sie sich davon noch einmal erholen würden.

Das Vereinigte Königreich war inzwischen materiell so stark von den USA, seiner einstigen Kolonie, abhängig, daß man mit Diner von der Übertragung des «imperialen Staffelstabes» von Großbritannien auf die Vereinigten Staaten, von einer «translatio imperii der neuesten Zeit» sprechen kann. Was künftig aus den ehemaligen Großmächten Deutschland und Japan werden würde, war einstweilen offen. Das Zeitalter der klassischen, souveränen Nationalstaaten neigte sich, zumindest in Europa, dem Ende zu: eine Einsicht, die freilich noch Zeit benötigte, um sich durchzusetzen. Das Schicksal des alten Kontinents lag nicht mehr in seinen eigenen Händen, sondern in denen der beiden Weltmächte, die den Zweiten Weltkrieg für sich entschieden hatten.

1945 markierte das Ende eines Typs von totalitärer Diktatur, des faschistischen, aber noch nicht das Ende totalitärer Herrschaft schlechthin. Die deutsche Kapitulation zog einen Schlußstrich nicht nur unter die zwölfjährige Geschichte des «Dritten Reiches», sondern auch unter das knappe Dreivierteljahrhundert, in dem es ein Deutsches Reich gegeben hatte. 1945 endete die deutsche Auflehnung gegen das normative Projekt des Westens, die lange vor 1933 begonnen hatte. Mit dem von ihm entfesselten Zweiten Weltkrieg zerstörte Deutschland die Grundlagen dessen, was der Erste Weltkrieg von der europäischen Weltgeltung noch übrig gelassen hatte. Der Holocaust führte der ganzen Welt vor Augen, was ideologische Verblendung im Bunde mit moderner Technik vermochte, wenn ein Staat sich erst einmal, so wie Deutschland im Jahr 1933, von der Herrschaft des Rechts verabschiedet hatte. Wenn die Ermordung der europäischen Juden im kollektiven Gedächtnis des Westens stärker nachwirkt als die millionenfachen Massenmorde des Stalinismus, dann nicht nur, weil die Shoah in ihrer kalten Systematik einzigartig war, sondern auch aus einem anderen Grund: Dieses Menschheitsverbrechen wurde von einer Nation begangen, die kulturell zum Westen gehörte und darum an westlichen Maßstäben gemessen wurde – und gemessen wird. Ebendies war der Kern der «deutschen Katastrophe», von der der Historiker Friedrich Meinecke 1946 im Titel eines damals vielgelesenen Buches sprach.

In Europa überlebten die westlichen Werte den Zweiten Weltkrieg nur, weil der neue Westen in Gestalt Amerikas und der britischen Dominions den freiheitlichen Kräften des alten Kontinents zu Hilfe gekommen war. Die Sache der Freiheit aber war nach wie vor bedroht. Vom Zusammenhalt des Okzidents beiderseits des Nordatlantiks hing es fortan ab, ob die Ideen von 1776 und 1789 in der Nachkriegswelt ihre Leuchtkraft würden bewahren können.[3]