2.
Vom Waffenstillstand zur Weltwirtschaftskrise:
1918–1933
Die gebremste Revolution:
Deutschland auf dem Weg in die Weimarer Republik
Europa erlebte gegen Ende des Ersten Weltkrieges drei verschiedene Arten von Umbrüchen: erstens die nationalrevolutionäre Auflösung von Vielvölkerreichen, nämlich des russischen, des habsburgischen und des osmanischen, von denen nur eines, das russische, in radikal veränderter Form, als Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, wiedererstehen sollte; zweitens sozialrevolutionäre Umwälzungen, von denen nur eine, die der Bolschewiki, langfristigen Bestand hatte; drittens die revolutionäre Umgründung eines bestehenden Staates durch Übergang von der Monarchie zur Republik unter grundsätzlicher Beibehaltung der überkommenen Gesellschaftsordnung.
Die dritte Form von Umbruch erlebte in der Form des bloßen Staatsformwechsels nur Deutschland. Von Anfang an war klar, was die maßgebliche Kraft der Umwälzung, die Mehrheitssozialdemokratie, um jeden Preis vermeiden wollte: einen Bürgerkrieg, für den das bolschewistische Rußland ein abschreckendes Beispiel lieferte. Die Sozialdemokraten um Friedrich Ebert hörten, als sie sich an die Spitze der revolutionären Bewegung stellten, nicht auf, eine staatstragende Partei zu sein. Ihre Führer sprangen auf einen fahrenden Zug, dessen Lokomotive nicht besetzt war, und brachten ihn unter ihre Kontrolle. Hätte sich die Sozialdemokratie in diesem Augenblick anders verhalten, so würde sie ihren Zusammenhalt als Partei aufs Spiel gesetzt haben. Sie handelte aus Selbsterhaltungsinteresse und aus Verantwortungsbewußtsein gegenüber dem Ganzen.
Die Sozialdemokratie hatte die Revolution nicht entfesselt, aber ohne die Sozialdemokratie konnte es keine demokratische Revolution geben. Die Furcht vor Chaos und Bürgerkrieg war begründet und ebenso die Sorge, im Falle eines Bürgerkrieges würden die Alliierten intervenieren, Deutschland also zu einem Objekt der Sieger werden. Nur wenn die bei weitem größte deutsche Arbeiterpartei die Bewegung in geordnete Bahnen lenkte, konnte diese Gefahr gebannt werden. Es gelang den Führern der Sozialdemokratie, zu vermeiden, was sie fürchteten, aber sie erreichten nur wenig von dem, was sie erstrebten. Der Preis, den sie für die Ordnung zahlten, war hoch. Wenige Monate nach dem 9. November 1918 fiel es selbst großen Teilen der SPD schwer, sich in der Republik wiederzuerkennen, die aus dem Umsturz hervorgegangen war.
Eduard Bernstein, der «Vater des Revisionismus», der 1916 der USPD beigetreten, aber schon im Dezember 1918 in den Schoß der Mutterpartei zurückgekehrt war, hat 1921 in seinem Buch «Die deutsche Revolution, ihr Ursprung, Verlauf und Werk» mit als erster auf den Zusammenhang zwischen gesellschaftlicher Komplexität und Angst vor einer gewaltsamen Umwälzung der bestehenden Verhältnisse hingewiesen: Je vielseitiger und arbeitsteiliger eine Gesellschaft gegliedert sei, desto weniger vertrage sie eine radikale Umbildung. Ein weiterer Grund der politischen Mäßigung in den Wochen nach dem 9. November 1918 lag Bernstein zufolge in der fortgeschrittenen Teildemokratisierung Deutschlands: Das Deutsche Reich kannte zwar bis zum Oktober 1918 keine parlamentarisch verantwortliche Regierung, wohl aber seit einem halben Jahrhundert das allgemeine gleiche Reichstagswahlrecht für Männer.
1918 konnte es folglich nur um mehr Demokratie gehen: um die Ausweitung des demokratischen Wahlrechts auf die Frauen und auf die Einzelstaaten bis hinunter zur Kreis- und Gemeindeebene sowie um die volle Parlamentarisierung des Regierungssystems. Die Sozialdemokraten, die entschiedensten Vorkämpfer einer Demokratisierung im Kaiserreich, hätten ihre Glaubwürdigkeit verloren, wären sie 1918 von dieser Linie abgewichen und zur orthodox marxistischen Parole vom «Klassenkampf» zurückgekehrt. Aus ebendiesem Grund setzte die MSPD dem Ruf «Alle Macht den Räten», der auf die Diktatur einer Minderheit hinauslief, ein klares und festes Nein entgegen.
Die gemäßigten Unabhängigen Sozialdemokraten, unter ihnen die Volksbeauftragten Hugo Haase und Wilhelm Dittmann sowie der Theoretiker Rudolf Hilferding, waren keine Gegner der Konstituante. Sie wollten die Wahlen nur später abhalten als die Mehrheitssozialdemokraten und die so gewonnene Zeit nutzen, um der Demokratie ein festeres soziales und politisches Fundament zu geben. Wie Hilferding es am 18. November 1918 im Parteiorgan «Freiheit» ausdrückte: «Die Demokratie muß so verankert werden, daß eine Reaktion unmöglich wird, die Verwaltung darf nicht zum Tummelplatz konterrevolutionärer Bestrebungen dienen. Vor allem aber müssen wir beweisen, daß wir nicht nur Demokraten, sondern auch Sozialisten sind. Die Durchführung einer Reihe wichtiger Übergangsmaßnahmen ist ohne weiteres möglich; sie müssen vollzogen werden, damit auch hier Stellungen geschaffen werden, die jedem kapitalistischen Gegenangriff uneinnehmbar sind.»
Für eine Politik der vorsorglichen Festlegung der parlamentarischen Demokratie sprachen gute Gründe; eine Hinauszögerung des Wahltermins aber folgte daraus nicht mit Notwendigkeit. So sah es auch die große Mehrheit der Delegierten des Ersten Allgemeinen Kongresses der Arbeiter- und Soldatenräte Deutschlands, der vom 16. bis 21. Dezember 1918 in Berlin tagte. Von den 514 Abgesandten der örtlichen Räte neigten rund 300 der MSPD und etwa 100 der USPD zu; der Rest war linksliberal oder unabhängig. Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht hatten kein Mandat erhalten; ein Antrag, sie mit beratender Stimme teilnehmen zu lassen, wurde gleich zu Beginn der Tagung mit großer Mehrheit verworfen. In der maßgeblichen Frage fiel die Entscheidung am 19. Dezember. Mit 344 gegen 98 Stimmen sprachen sich die Delegierten gegen einen Antrag aus, die Verfassung der sozialistischen Republik auf das Rätesystem zu gründen. Mit etwa 400 zu 50 Stimmen wurde dagegen der Antrag angenommen, die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung am 19. Januar 1919 durchzuführen. Das war ein noch früherer Termin als der, auf den der Rat der Volksbeauftragten sich am 29. November verständigt hatte: der 16. Februar.
Bei zwei anderen Abstimmungen wurde deutlich, daß die Mehrheit des Kongresses links von der provisorischen Revolutionsregierung stand. Mit großer Mehrheit wurde der Rat der Volksbeauftragten aufgefordert, mit der Sozialisierung aller dafür reifen Industrien, vor allem des Bergbaus, zu beginnen. Einstimmig verabschiedeten die Delegierten die sogenannten «Hamburger Punkte», die die militärische Kommandogewalt zunächst dem Rat der Volksbeauftragten, dann dem noch zu wählenden Zentralrat der Arbeiter- und Soldatenräte übertrug. Außerdem sollten die Rangabzeichen abgeschafft und die Offiziere von den Mannschaften gewählt werden. Über die Aufrechterhaltung der Disziplin hatten die Soldatenräte zu wachen; an die Stelle des stehenden Heeres sollte eine Volkswehr treten.
Die Hamburger Punkte waren eine Reaktion auf Versäumnisse der Volksbeauftragten. Gewiß mußten sie im Interesse einer zügigen Demobilmachung mit der Obersten Heeresleitung zusammenarbeiten, aber es war keineswegs notwendig, die militärische Führung zu einem gleichberechtigten Partner der Revolutionsregierung zu machen. Hätten die Volksbeauftragten gemäßigte Reformforderungen der Soldatenräte angenommen, etwa die nach Schließung der Offizierskasinos oder dem Wegfall des Grußzwangs außer Dienst, wäre es zur Verabschiedung der teilweise utopischen Hamburger Punkte vermutlich gar nicht erst gekommen. Eine republikanische Volkswehr zu schaffen wäre gewiß sehr schwer gewesen, da es den meisten Arbeitern zutiefst widerstrebte, notfalls auch auf putschende Klassenbrüder zu schießen. Aber es gab seitens des Rates der Volksbeauftragten auch keine Ansätze zur Schaffung einer republikloyalen Truppe, auf die manche jüngeren Offiziere im Umkreis des neugegründeten Republikanischen Führerbundes drängten. Die vom Rat der Volksbeauftragten erlassenen Ausführungsbestimmungen zu den Hamburger Punkten vom 19. Januar 1919 trugen bereits die Handschrift der OHL, und im Gesetz über die Bildung einer vorläufigen Reichswehr, das die Nationalversammlung am 6. März 1919 verabschiedete, waren nicht einmal mehr Spuren des militärischen Beschlusses des Rätekongresses zu entdecken.
Was die Sozialisierung anging, wollten die Mehrheitssozialdemokraten in der schwierigen Übergangszeit zwischen Kriegs- und Friedenswirtschaft ungeachtet ihres grundsätzlichen Bekenntnisses zum Gemeineigentum an den Produktionsmitteln nichts überstürzen und die Entscheidung über die künftigen Eigentumsverhältnisse der Konstituante überlassen. Hemmend wirkte auch die Befürchtung, die Alliierten könnten verstaatlichte Betriebe als Pfänder für ihre Reparationsforderungen betrachten. Als Ausweg aus dem Dilemma bot sich die Einsetzung einer Sozialisierungskommission aus sachverständigen Mitgliedern beider sozialdemokratischer Parteien und bürgerlichen Experten an. Einen entsprechenden Beschluß faßte der Rat der Volksbeauftragten am 18. November 1918. Damit war das Problem zunächst einmal vertagt. Als die von Karl Kautsky geleitete Kommission Mitte Februar 1919 ihren Bericht vorlegte, in dem sie mehrheitlich eine Vergesellschaftung des Kohlenbergbaus als wirtschaftlich und politisch notwendig bezeichnete, war die Nationalversammlung bereits gewählt. In ihr gab es keine Mehrheit für eine Politik, wie die Kommission sie empfahl.
Noch vorsichtiger als die Führung der MSPD waren die Freien (das heißt sozialdemokratischen) Gewerkschaften. Am 15. November schlossen sie mit den Spitzen der Unternehmerschaft das «Stinnes-Legien-Abkommen», benannt nach den beiden Hauptakteuren, dem führenden Schwerindustriellen Hugo Stinnes und dem Vorsitzenden der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, Carl Legien, über die Schaffung der Zentralarbeitsgemeinschaft der industriellen und gewerblichen Arbeitgeber- und Arbeitnehmerverbände Deutschlands. Ihre wichtigsten Vereinbarungen betrafen die wechselseitige Anerkennung als Tarifpartner, die Einführung des Achtstundentags als Normalarbeitstag, der freilich nur dann dauerhaft Bestand haben sollte, wenn alle Kulturländer dem deutschen Beispiel folgten, sowie die Bildung von Arbeiterausschüssen in allen Betrieben mit mehr als 50 Beschäftigten. Die Zentralarbeitsgemeinschaft entsprang einem gemeinsamen Interesse von Gewerkschaften und Unternehmerschaft: Beide wollten die Wirtschaft nicht dem Diktat des Staates unterwerfen; beiden lag aber auch daran, einer «wilden» Sozialisierung von unten zuvorzukommen. Einer Änderung der Eigentumsverhältnisse, wie sie die Mehrheit der Delegierten des Rätekongresses erstrebte, war damit zunächst einmal ein Riegel vorgeschoben.
Ein letzter, folgenschwerer Konflikt, der auf dem Rätekongreß ausgefochten wurde, betraf die Verteilung der Zuständigkeiten zwischen dem Rat der Volksbeauftragten und dem künftigen Zentralrat. Die Mehrheitssozialdemokraten stellten den Antrag, dem Rat der Volks beauftragten die gesetzgebende und vollziehende Gewalt und dem Zentralrat die Aufgabe der parlamentarischen Überwachung zu übertragen. Hugo Haase war damit grundsätzlich einverstanden: Dem Zentralrat sollten alle Gesetze vorgelegt, die wichtigeren von ihm beraten werden. Die Delegierten der USPD aber wollten mehr: Der Zentralrat sollte das volle Recht haben, Gesetzen vor ihrer Verkündigung zuzustimmen oder sie abzulehnen. Die MSPD sah dadurch die Handlungsfähigkeit des Rates der Volksbeauftragten bedroht und antwortete mit einem Ultimatum: Sollte der Antrag der Unabhängigen angenommen werden, würden die mehrheitssozialdemokratischen Volksbeauftragten, Staatssekretäre und preußischen Minister zurücktreten. Nachdem der Kongreß dem Begriff «parlamentarische Überwachung» im Sinne Haases zugestimmt hatte, setzte der äußerste linke Flügel der USPD in der Fraktion den Boykott der Wahlen zum Zentralrat durch. In den 27 Mitglieder umfassenden Zentralrat der Deutschen Sozialistischen Republik wurden infolgedessen nur Mehrheitssozialdemokraten gewählt.
Die Volksbeauftragten der USPD hatten damit ihre Arbeitsgrundlage verloren. Zur formellen Aufkündigung der Koalition vom 10. November führten die «Berliner Weihnachtskämpfe», der dramatische Höhepunkt eines seit zwei Wochen schwelenden Konflikts um die Löhnung der «Volksmarinedivision», einer revolutionären Matrosentruppe, und des von ihr besetzten Stadtschlosses. Am 23. Dezember setzten die rebellierenden Matrosen die Regierung fest und «verhafteten» im Marstall Otto Wels, der das Amt des Berliner Stadtkommandanten innehatte. Die anschließenden blutigen Kämpfe um Schloß und Marstall endeten mit einer militärischen Niederlage der regulären Truppen und einer politischen Niederlage der Regierung. Die Volksbeauftragten der USPD beanstandeten zu Recht, daß ihre mehrheitssozialdemokratischen Kollegen dem von ihnen zu Hilfe gerufenen Kriegsminister eine Blankovollmacht gegeben (und damit das Leben von Wels aufs Spiel gesetzt) hatten. Als der Zentralrat am 28. Dezember das Verhalten Eberts und seiner Parteifreunde dennoch billigte, nahmen das Haase, Dittmann und Barth, die drei Vertreter der USPD, zum Anlaß, aus dem Rat der Volksbeauftragten auszuscheiden.
Zwei Tage später begann im preußischen Abgeordnetenhaus zu Berlin der Gründungsparteitag der Kommunistischen Partei Deutschlands. Die neue Partei bestand aus zwei Strömungen: der Spartakusgruppe, die bislang die extreme Linke der USPD gebildet hatte, und den Internationalen Kommunisten Deutschlands, hervorgegangen aus den Hamburger und Bremer Linksradikalen. Die Stimmung der Delegierten war äußerst radikal. Vergeblich versuchte Rosa Luxemburg, den Parteitag davon zu überzeugen, daß es sinnlos und gefährlich sei, einem Antrag zuzustimmen, der die KPD auf den Boykott der Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung festlegte. Mit 62 gegen 23 Stimmen nahmen die Delegierten den Antrag an. An der antiparlamentarischen Stoßrichtung des Beschlusses gab es nichts zu deuteln. Der marxistische Historiker Arthur Rosenberg, der nach sieben Jahren aktiver Mitgliedschaft in der KPD 1927 aus der Partei austrat, hat in seiner 1935 erschienenen «Geschichte der deutschen Republik» zu Recht bemerkt, die Resolution sei «indirekt ein Aufruf zu putschistischen Abenteuern» gewesen.
Ein Anlaß, der Neigung zum Umsturz Taten folgen zu lassen, war bald gefunden. Am 4. Januar 1919, drei Tage nach Abschluß des Gründungsparteitages der KPD, entließ der preußische Ministerpräsident Paul Hirsch, ein Mehrheitssozialdemokrat, den Berliner Polizeipräsidenten Emil Eichhorn, der zum linken Flügel der USPD gehörte. Während der Weihnachtskämpfe hatte Eichhorns Sicherheitswehr sich auf die Seite der meuternden Volksmarinedivision gestellt; die Entlassung des dafür Verantwortlichen war daher unumgänglich. Keine Regierung konnte die Polizei der Hauptstadt einem Mann überlassen, der auf den Sturz dieser Regierung hinarbeitete. Die radikale Linke sah das anders. Für sie war die Amtsenthebung Eichhorns eine gezielte Herausforderung. Noch am Abend des 4. Januar beschloß der Vorstand der Berliner USPD zusammen mit den Revolutionären Obleuten aus der Metallindustrie, am folgenden Tag eine Protestdemonstration gegen Eichhorns Entlassung durchzuführen. Den entsprechenden Aufruf unterzeichnete auch die Zentrale der KPD.
Die Teilnehmerzahl und der Kampfgeist der Demonstranten gingen weit über das hinaus, was die beteiligten Organisationen erwartet hatten. Doch bereits an diesem Tag, dem 5. Januar, gerieten die Ereignisse außer Kontrolle. Während im Polizeipräsidium die Berliner USPD, die KPD und die Revolutionären Obleute noch über das weitere Vorgehen berieten, besetzten bewaffnete Arbeiter die Druckereien des sozialdemokratischen «Vorwärts» und des linksliberalen «Berliner Tageblatts», die Verlagsgebäude von Mosse, Ullstein und Scherl, die Druckerei Büxenstein und das Wolffsche Telegraphenbüro. Unter dem Eindruck von Falschmeldungen, wonach alle Berliner Regimenter, ja sogar auswärtige Garnisonen wie Frankfurt an der Oder zum bewaffneten Kampf bereit seien, gab Karl Liebknecht die verhängnisvolle Parole «Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann» aus. Gegen einzelne Proteste beschloß die Mehrheit der Versammelten daraufhin, die Besetzung der Zeitungsbetriebe aufrechtzuerhalten, die Berliner Arbeiter zum Generalstreik aufzurufen und den Kampf gegen die Regierung bis zu deren Sturz aufzunehmen.
Die Berliner Januarerhebung, mit fragwürdigem Recht auch heute noch oft «Spartakusaufstand» genannt, war von Anfang an führerlos. Ziellos aber war sie nicht. Die Parole «Sturz der Regierung Ebert-Scheidemann» bedeutete nichts Geringeres als die Verhinderung der Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung und die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Was die russischen Bolschewiki im Januar 1918 durch die Sprengung der freigewählten Konstituante bewirkt hatten, wollten ihre deutschen Gefolgsleute und Sympathisanten erreichen, bevor es zur Wahl einer Konstituante kam. Der Rat der Volksbeauftragten war also gezwungen, die Kampfansage der radikalen Minderheit des Berliner Proletariats anzunehmen und dem Aufstand gegen die Demokratie entgegenzutreten.
Die Durchführung dieser Aufgabe fiel Gustav Noske zu, der erst am 29. Dezember, einen Tag nach dem Ausscheiden der Unabhängigen, in den Rat der Volksbeauftragten eingetreten war. Der gelernte Holzarbeiter und spätere Marinereferent der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion konnte sich bei der Abwehr des Putsches zunächst nur auf einige Berliner Ersatzbataillone, Teile der Republikanischen Soldatenwehr und der Charlottenburger Sicherheitswehr sowie den eben erst gebildeten Helferdienst der Sozialdemokratischen Partei stützen. Dazu kamen rechtsstehende Freikorps, die sich auf Grund des Regierungsaufrufs «Freiwillige vor!» vom 7. Januar bildeten, sowie, vom 8. Januar ab, Freiwilligentruppen der Obersten Heeresleitung.
Zunächst war es noch ungewiß, ob es zum bewaffneten Kampf kommen würde. Am 6. Januar nahm die Regierung auf Drängen des Vorstands der USPD Verhandlungen mit den Aufständischen auf. Die MSPD verlangte die sofortige Räumung der besetzten Zeitungsgebäude, während Karl Kautsky für den gemäßigten Teil der Unabhängigen einen Kompromißvorschlag unterbreitete: Die Verhandlungen sollten dann als gescheitert betrachtet werden, wenn sie nicht zur vollen Wiederherstellung der Pressefreiheit führten. Es ist nicht sehr wahrscheinlich, daß die Besetzer diese Brücke betreten hätten; ihre Gegenforderung, die Wiedereinsetzung Eichhorns, war unerfüllbar. Aber der Versuch wurde gar nicht erst gemacht, da sich die MSPD und am 7. Januar auch der Zentralrat dagegen aussprachen. Die Würfel für eine gewaltsame Lösung des Konflikts waren damit gefallen.
Am Ausgang konnte es, wie die Dinge lagen, keinen Zweifel geben. Am 11. Januar gaben die Besetzer des «Vorwärts» auf; am gleichen Tag nahmen Regierungstruppen auch die anderen besetzten Pressehäuser ein. Ebenfalls am 11. Januar begannen die auf Anweisung Noskes von der OHL aufgestellten und von General Lüttwitz befehligten Freikorps gegen Berlin aufzumarschieren. Einen zwingenden militärischen Grund für den Einzug dieser Verbände gab es nicht, da der Aufstand zu diesem Zeitpunkt im wesentlichen bereits niedergeschlagen war. Aber Noske und die OHL wollten ein Exempel statuieren, um künftigen Umsturzversuchen vorzubeugen. Unter den ersten Opfern der Freikorps waren Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, die beiden prominentesten Mitglieder der Zentrale der KPD. Sie wurden am 15. Januar von Freikorpsoffizieren ermordet.
Der Berliner Januaraufstand war der Putschversuch einer radikalen Minderheit. Wäre er nicht niedergeworfen worden, hätte sich der Bürgerkrieg über ganz Deutschland ausgebreitet und eine Intervention der Alliierten ausgelöst. Für die Gewaltexzesse der Gegengewalt aber, die die Spaltung zwischen den gemäßigten und den radikalen Kräften in der deutschen Arbeiterbewegung zum Abgrund machte, gab es keine Rechtfertigung. Mehr als unumgänglich hatten sich die regierenden Mehrheitssozialdemokraten auf Freikorps gestützt, von denen die meisten nicht weniger zum Bürgerkrieg bereit waren als die Kommunisten. Den jungen Offizieren und Studenten, die in diesen Verbänden den Ton angaben, ging es nicht um die Rettung der Republik. Was sie antrieb, war Haß auf alles, was «links» stand. Den Krieg, den sie zuvor gegen äußere Feinde geführt hatten, im Innern fort zusetzen war aus ihrer Sicht nur folgerichtig. Schließlich war es die äußerste Linke, der sie die Hauptschuld an der deutschen Niederlage gaben.
Die Niederschlagung des Januaraufstands machte den Weg frei für die Wahlen zur Verfassunggebenden Nationalversammlung. Außer den beiden sozialdemokratischen Parteien traten mehrere bürgerliche Parteien an. Die katholische Deutsche Zentrumspartei durfte hoffen, aus der Empörung Nutzen zu ziehen, die der preußische Kultusminister Adolph Hoffmann, ein Politiker der USPD, mit seiner radikal antikirchlichen Schulpolitik hervorgerufen hatte; die bisherige bayerische Zentrumspartei beteiligte sich als Bayerische Volkspartei (BVP) an der Wahl. Das Erbe der linksliberalen Fortschrittlichen Volkspartei trat die Deutsche Demokratische Partei (DDP), das der weiter rechts stehenden Nationalliberalen Partei die Deutsche Volkspartei (DVP) unter ihrem Vorsitzenden Gustav Stresemann an, der im Krieg umfassende deutsche Annexionen gefordert hatte. Aus den beiden konservativen Parteien des Kaiserreichs, den Deutschkonservativen und den Freikonservativen, sowie den Antisemitenparteien entstand die Deutschnationale Volkspartei (DNVP), die sich entschiedener als die DVP zur Wiederherstellung der Monarchie bekannte. Unter den jüngeren Konservativen, zumal denen aus dem preußischen Adel, gab es freilich auch viele, die dem letzten Träger der Hohenzollernkrone verübelten, daß er für sein Kaiser- und Königtum nicht gekämpft, sondern sich am 10. November 1918 ins Exil nach Holland begeben hatte.
An den Wahlen vom 19. Januar 1919, bei denen erstmals auch alle Frauen, die mindestens 25 Jahre alt waren, zu den Urnen gehen durften, beteiligten sich 83 Prozent der Wahlberechtigten (1912 waren es 84,9 Prozent gewesen). Von der Einführung des Verhältniswahlrechts profitierte vor allem die MSPD. Mit 37,9 Prozent erreichte sie 3,1 Prozentpunkte mehr als die ungeteilte Sozialdemokratie sieben Jahre zuvor. Die USPD kam auf 7,6 Prozent. Von den bürgerlichen Parteien war die DDP mit 18,5 Prozent am erfolgreichsten; das waren 6,2 Prozentpunkte mehr, als die FVP 1912 erhalten hatte. Die beiden katholischen Parteien, Zentrum und BVP, erreichten zusammen 19,7 Prozent (auf das ungeteilte Zentrum waren 1912 16,4 Prozent entfallen). Die noch kaum organisierte DVP mußte sich mit 4,4 Prozent begnügen (gegenüber 13,6 Prozent für die Nationalliberalen bei der vorangegangenen Wahl). Auch die DNVP schnitt mit 10,3 Prozent schlechter ab als die konservativen und antisemitischen Parteien, die 1912 auf 15,1 Prozent gelangt waren. Der Rückhalt der monarchistischen Kräfte war also eher schwach: eine Folge auch des persönlichen Ansehensverlustes, den Wilhelm II. schon vor 1914, aber erst recht in den Kriegsjahren erlitten hatte. Die Nutznießer des Frauenstimmrechts waren die DDP und die besonders kirchenfreundlichen Parteien, die sich bislang den Forderungen der Suffragetten hartnäckig widersetzt hatten: bei den Protestantinnen, vor allem Ostelbiens, die Deutschnationalen, bei den Katholikinnen Zentrum und BVP.
Die Entscheidungen über die Grundlegung der deutschen Republik fielen zwischen Februar und August 1919 in Weimar. Der thüringische «Musentempel» schien sicherer als das von Unruhen erschütterte Berlin; Weimar, der Inbegriff der deutschen Klassik, als Tagungsort der Nationalversammlung, würde, so hofften die maßgebenden Akteure, auch im Ausland auf ein positives Echo stoßen. Am 6. Februar 1919 trug Friedrich Ebert als bisheriger Vorsitzender des Rates der Volksbeauftragten vor der Nationalversammlung einen Rechenschaftsbericht vor, in dem er von seinen Kollegen und sich selbst sagte, sie seien «im eigentlichen Wortsinne die Konkursverwalter des alten Regimes» gewesen. Das war so ehrlich wie zutreffend. Hätten sich die regierenden Sozialdemokraten als Gründerväter einer Demokratie gefühlt, hätten sie wohl weniger bewahrt und mehr verändert. Ihr Handlungsspielraum war begrenzt, aber nicht so eng, wie sie meinten. Sie hätten dem Militär und dem hohen Beamtentum gegenüber mit mehr Selbstbewußtsein auftreten und im öffentlichen Dienst dafür sorgen können, daß offenkundige Gegner des neuen Staates nicht in Schlüsselpositionen verblieben, wie das vor allem in den altpreußischen Gebieten bis hinunter zur Ebene der Landräte durchgängig geschah.
Daß Preußen als Staat erhalten bleiben würde, war im November noch keineswegs sicher gewesen. Es gab ein starkes Streben nach Loslösung vom ehemaligen Hohenzollernstaat (und teilweise auch vom Reich) im katholischen Rheinland; der neue Staatssekretär des Reichsamts des Innern, der linksliberale Berliner Staatsrechtler Hugo Preuß, dem der Rat der Volksbeauftragten die Ausarbeitung einer neuen Reichsverfassung übertragen hatte, wollte, um ein «Übergewicht eines Staates und einen neuen Dualismus» zwischen Preußen und dem Reich zu verhindern, Preußen in mehrere kleinere Staaten auflösen. Unter den schärfsten Widersachern dieses Vorschlags waren die regierenden preußischen Sozialdemokraten mit dem Ministerpräsidenten Paul Hirsch an der Spitze. Ihre Argumente waren durchschlagend: Nur ein einheitliches Preußen könne eine Klammer zwischen Ost und West bilden, den von Frankreich geförderten Sezessionsbestrebungen im Rheinland und dem polnischen Druck auf Ostpreußen wirksam entgegentreten, also die Einheit des Reiches bewahren und darüber hinaus die weitere Politisierung des konfessionellen Gegensatzes zwischen Protestanten und Katholiken verhindern. Die «Propreußen» setzten sich durch – zur Genugtuung nicht nur der preußischen Sozialdemokraten, sondern auch ihrer schärfsten Gegner, der preußischen Konservativen und ihrer verläßlichsten Stütze, der Rittergutsbesitzer.
Eine Aufteilung des ländlichen Großgrundbesitzes zugunsten von landarmen Bauern und Landarbeitern hatte nach dem November 1918 nicht ernsthaft zur Debatte gestanden, weil die Revolutionsregierungen im Reich und in Preußen die Lebensmittelversorgung nicht gefährden wollten, die angesichts der andauernden alliierten Blockade Deutschlands ohnehin höchst prekär war. Den ostelbischen Gutsherren gestatteten die Volksbeauftragten sogar, die Bildung gemeinsamer Räte von Großgrundbesitzern, Mittel- und Kleinbauern, was einer pauschalen Garantie der ländlichen Eigentumsverhältnisse gleichkam. Auch andere alte Eliten zogen Nutzen aus der politischen Zurückhaltung der neuen Regierung: Justiz, Universitäten und Gymnasien blieben von der Revolution nahezu unberührt. Daß es dort zahlreiche Gegner der Republik gab, wußte man auch schon 1918. Eine großangelegte politische «Säuberung» aber hätte das gesamte Bürgertum gegen den neuen Staat aufgebracht, was die Sozialdemokraten nicht wollen konnten.
Die Eliten des Kaiserreichs hatten folglich die Möglichkeit, von den gesellschaftlichen Grundlagen ihrer Macht mehr in die neue Zeit hinüberzuretten, als der Republik gut tat. Den Bürgerkrieg zu vermeiden war für Ebert und seine politischen Freunde zu einem kategorischen Imperativ geworden. Das war ebenso verantwortungsbewußt wie die aus dieser Einsicht abgeleitete Bereitschaft, mit gemäßigten bürgerlichen Kräften zusammenzuarbeiten. Anders war der Aufbau einer deutschen Demokratie in der Tat nicht zu bewerkstelligen. Daß dies eine vom obrigkeitsstaatlichen Erbe geprägte und damit vorbelastete Demokratie sein würde, haben gemäßigte Unabhängige Sozialdemokraten wie Haase und Hilferding sehr viel klarer gesehen als die mehrheitssozialdemokratischen Praktiker Ebert und Scheidemann.
Am 10. Februar verabschiedete die Nationalversammlung das von Hugo Preuß ausgearbeitete Gesetz über die vorläufige Reichsgewalt, also die provisorische Verfassung. Tags darauf wählten die Abgeordneten Friedrich Ebert zum vorläufigen Reichspräsidenten. Dieser beauftragte am 11. Februar Philipp Scheidemann mit der Regierungsbildung. Am 13. Februar konnte das Kabinett des sozialdemokratischen Reichsministerpräsidenten, bestehend aus Ministern der SPD, des Zentrums und der DDP sowie dem parteilosen Außenminister Ulrich Graf von Brockdorff-Rantzau, seine Arbeit aufnehmen.
Die größte innenpolitische Herausforderung der Regierung war die Streikbewegung, die Deutschland in den ersten Monaten des Jahres 1919 erschütterte. Sie begann Ende Dezember 1918 im Ruhrgebiet und griff im Februar 1919 auf Mitteldeutschland über. Ihr Ziel war die Sozialisierung des Bergbaus, wobei die Vorstellungen von der Art der Vergesellschaftung weit auseinandergingen. Die mitteldeutschen Streiks endeten am 8. März, nachdem die Regierung Scheidemann die gesetzliche Einführung von Betriebsräten und die «Sozialisierung» der Kohle- und Kalisyndikate versprochen hatte. Im Ruhrgebiet weitete sich der Streik zum Generalstreik aus, auf den die Regierung mit der Entsendung von Truppen reagierte. Die heftigsten Kämpfe fanden Anfang März in Berlin statt. Der neue Reichswehrminister Gustav Noske erließ am 9. März einen durch kein Gesetz gedeckten Schießbefehl, wonach jede Person, die mit der Waffe in der Hand gegen Regierungstruppen kämpfend angetroffen wurde, sofort zu erschießen war. Rund 1000 Menschen kamen bei den Berliner Märzkämpfen ums Leben.
Die großen Streiks vom Frühjahr 1919 bildeten einen Teil der zweiten Phase der deutschen Revolution. In dieser Phase, die Anfang Mai zu Ende ging, versuchte der radikale Teil des Proletariats die gesellschaftlichen Veränderungen zu erzwingen, die die erste Phase nicht gebracht hatte. Die Ergebnisse blieben weit hinter den Erwartungen der äußersten Linken zurück. Die «Sozialisierung», wie sie in mehreren Gesetzen vom März und April 1919 Gestalt annahm, änderte nichts an den Eigentumsverhältnissen im Kohlen- und Kalibergbau. Die wichtigste Errungenschaft, die in den Frühjahrskämpfen von 1919 ihren Ursprung hatte, und zugleich das einzige bleibende Ergebnis der deutschen Rätebewegung von 1918/19 war das heiß umstrittene, von der Rechten wie von der äußersten Linken heftig bekämpfte Betriebsrätegesetz vom Februar 1920. Es führte für Betriebe mit mindestens 20 Beschäftigten Betriebsräte ein, die bei der Einstellung und Entlassung von Arbeitskräften mitentscheiden durften und gegenüber dem Arbeitgeber einen weitreichenden Anspruch auf Information über Betriebsvorgänge besaßen. Das Gesetz wurde zur Magna Charta der innerbetrieblichen Mitbestimmung und trug erheblich dazu bei, daß Deutschland zu einem Pionierland der Wirtschaftsdemokratie wurde.
Zur zweiten Phase der deutschen Revolution gehörten auch die beiden Münchner Räterepubliken. Die Vorgeschichte der ersten begann am 21. Februar 1919 mit der Ermordung des bayerischen Ministerpräsidenten Kurt Eisner: Er wurde auf dem Weg zum Landtag, wo er angesichts der verheerenden Niederlage der von ihm geführten USPD bei den Landtagswahlen vom 12. Januar seinen Rücktritt als Regierungschef erklären wollte, von dem Jurastudenten und beurlaubten Leutnant Anton Graf von Arco-Valley erschossen. Die Folge war eine politische Radikalisierung, die auch Teile der MSPD erfaßte. Am 3. April sprachen sich die Augsburger Räte, angeregt durch die Proklamation der ungarischen Räterepublik unter dem Kommunisten Béla Kun, für eine Räterepublik Bayern aus. In der Nacht vom 6. zum 7. April schloß sich der nach Eisners Ermordung gebildete, von dem linken Sozialdemokraten Ernst Niekisch geführte Zentralrat der bayerischen Republik dieser Forderung an. Die Regierung des Mehrheitssozialdemokraten Johannes Hoffmann, des Nachfolgers von Eisner, wurde für abgesetzt erklärt.
Die erste Münchner Räterepublik, in der Schwabinger Literaten den Ton angaben, schaffte es binnen weniger Tage, sich zum Gegenstand allgemeinen Gespötts zu machen. Der Abbruch der «diplomatischen Beziehungen» mit dem Reich, eine Botschaft an Lenin, in der diesem die Einigung des oberbayerischen Proletariats mitgeteilt wurde, und die Ankündigung von «Freigeld» zur Überwindung des Kapitalismus waren einige der spektakulärsten Aktionen des von den Kommunisten als «Scheinräterepublik» bezeichneten kurzlebigen Regimes. Als die nach Bamberg ausgewichene Regierung Hoffmann am Palmsonntag, den 13. April, die Republikanische Soldatenwehr gegen die Putschisten einsetzte, griffen die Kommunisten an der Seite der vom Zentralrat der bayerischen Republik gebildeten «Roten Armee» in die Kämpfe ein und brachten der Soldatenwehr eine empfindliche Niederlage bei. Noch am Abend des 13. April trat, ohne Anweisung der Berliner Zentrale, Eugen Leviné, der aus Rußland stammende Führer der bayerischen KPD, an die Spitze der nunmehr zweiten Münchner Räterepublik.
Der Versuch, ein überwiegend agrarisches, katholisches und konservatives Land wie Bayern der Diktatur einer kleinen revolutionären Clique zu unterwerfen, war von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Dem roten Terror der Kommunisten folgte in der ersten Maiwoche der weiße Terror, ausgeübt von württembergischen Freikorps, die auf Noskes Weisung der legalen bayerischen Regierung zu Hilfe kamen. Als die zweite Räterepublik am 3. Mai endgültig niedergeworfen war, zählte man 606 Tote, die in den Kampfhandlungen umgekommen waren, unter ihnen 38 Angehörige der Regierungstruppen und 335 Zivilisten. Leviné wurde wegen Hochverrats angeklagt, zum Tode verurteilt und am 5. Juni 1919 hingerichtet.
Daß Kurt Eisner ein preußischer Jude, Eugen Leviné und sein Parteifreund Max Levien Ostjuden waren, daß zahlreiche intellektuelle Führer der ersten und zweiten Räterepublik, unter ihnen die Schriftsteller Ernst Toller, Erich Mühsam und der von Freikorpssoldaten ermordete Gustav Landauer, jüdischen Familien entstammten, gab weit über München und Bayern hinaus dem ohnehin starken Antisemitismus mächtigen Auftrieb. Dem begabtesten und bedenkenlosesten der antijüdischen Agitatoren, Adolf Hitler, der seine politische Laufbahn im Sommer 1919 als Vertrauensmann des bayerischen Reichskommandos begann, kamen die Verhältnisse im nachrevolutionären, durch die Erfahrung der Räterepubliken traumatisierten München außerordentlich entgegen: Nirgendwo sonst hätte er für seine Parolen einen derart günstigen Resonanzboden gefunden wie hier.
Der verarmte Beamtensohn aus dem österreichischen Braunau am Inn, ein Mann ohne Realschulabschluß und Berufsausbildung, ein Postkartenmaler und Gelegenheitsarbeiter, war im Mai 1913, damals 24 Jahre alt, um dem Militärdienst in der Doppelmonarchie zu entgehen, von Wien nach München übergesiedelt, hatte sich im August 1914 als Freiwilliger beim bayerischen Heer gemeldet und es als Meldegänger an der Westfront bis zum Gefreiten und Träger des Eisernen Kreuzes gebracht. Als Hitler sich im September 1919 einer rechtsradikalen Gruppierung, der Deutschen Arbeiterpartei, anschloß (die er wenig später, im Februar 1920, in die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei umwandelte), lag sein antisemitisches Weltbild bereits fest: «Alles, was Menschen zu Höherem streben läßt, sei es Religion, Sozialismus, Demokratie, es ist ihm (dem Juden, H. A. W.) alles nur Mittel zum Zweck, Geld- und Herrschgier zu befriedigen. Sein Wirken wird in seinen Folgen zur Rassentuberkulose der Völker, und daraus ergibt sich folgendes: Der Antisemitismus aus rein gefühlsmäßigen Gründen wird seinen letzten Ausdruck finden in der Form von Progromen (sic!). Der Antisemitismus der Vernunft jedoch muß führen zur planmäßigen gesetzlichen Bekämpfung und Beseitigung der Vorrechte der Juden, die er zum Unterschied der anderen zwischen uns lebenden Fremden besitzt (Fremdengesetzgebung). Sein letztes Ziel aber muß unverrückbar die Entfernung der Juden überhaupt sein. Zu beidem ist nur fähig eine Regierung nationaler Kraft und niemals eine Regierung nationaler Ohnmacht.»
In die Zeit zwischen den Berliner Märzkämpfen und der Proklamation der ersten Münchner Räterepublik fiel eine Sitzung des Kabinetts Scheidemann, in der es unter anderem um die Frage ging, wie Deutschland sich bei den bevorstehenden Friedensverhandlungen zur Kriegsschuldfrage äußern sollte. Mit der Edition der einschlägigen deutschen Akten hatte der Rat der Volksbeauftragten noch im November den Unabhängigen Sozialdemokraten Karl Kautsky, damals Beigeordneter im Auswärtigen Amt, und den Mehrheitssozialdemokraten Max Quarck, zu dieser Zeit Beigeordneter im Reichsamt des Innern, beauftragt. Ende März stand Kautskys Arbeit kurz vor dem Abschluß. Reichspräsident Ebert, der an der Kabinettssitzung teilnahm, empfahl, die «Sünden der alten Regierung aufs schärfste (zu) verurteilen» und die Stellung der neuen Regierung in einer Denkschrift dazulegen. Die meisten Minister stimmten Ebert zu, Reichsfinanzminister Eugen Schiffer von der DDP, der bis 1918 zu den Nationalliberalen gehört hatte, warnte aber dringend vor einem Schuldbekenntnis, das dem deutschen Volk die letzte Selbstachtung nehmen und die Gegner triumphieren lassen würde. Reichsministerpräsident Scheidemann hielt es nicht für notwendig, sich an der Kontroverse zu beteiligen.
Als sich das Kabinett am 18. April 1919 erneut mit der Kriegsschuldfrage befaßte, lag Kautskys Aktenedition vor. Die Dokumente ließen keinen Zweifel daran, daß die Reichsleitung in der Julikrise von 1914 Österreich-Ungarn in den Krieg mit Serbien gedrängt und damit die Hauptverantwortung für die Auslösung des Weltkrieges auf sich geladen hatte. Für eine Veröffentlichung der Aktensammlung sprach sich der sozialdemokratische Reichsminister ohne Geschäftsbereich Eduard David aus, dagegen Reichsjustizminister Johannes Bell vom Zentrum. Scheidemann verzichtete abermals darauf, in die Debatte einzugreifen. Am Ende empfahl er, gegen den Widerspruch Davids, von einer Publikation vorläufig abzusehen.
Eine Veröffentlichung wäre der von Ebert geforderte moralische Bruch mit dem alten Regime gewesen. Was ein derart mutiger Akt politisch bewirkt haben würde, darüber kann nur spekuliert werden. Auf das Eingeständnis einer wesentlichen deutschen Mitschuld, ja Hauptschuld am Krieg hätte die nationalistische Rechte mit einem Aufschrei der Empörung reagiert, die Behauptung, daß die Entente Deutschland den Krieg aufgezwungen habe, wäre ihr aber erschwert worden. Bei den Siegermächten hätte eine offene deutsche Selbstkritik vermutlich die verständigungsbereiten Kräfte auf der Linken gestärkt, die Regierungsvertreter, die in Paris über den Friedensvertrag berieten, aber wohl kaum beeindruckt.
Der moralische Bruch mit dem Kaiserreich unterblieb auch deshalb, weil die meisten Sozialdemokraten Verratsvorwürfe und eine kritische Debatte über die Burgfriedenspolitik fürchteten. Das Schweigen hatte schwerwiegende Folgen. Von der Regierung Scheidemann über die deutsche Politik im Juli 1914 im Unklaren gelassen, war die deutsche Öffentlichkeit nicht im mindesten auf das vorbereitet, was sie erwartete, als die Pariser Beratungen über die Friedensbedingungen der Alliierten Anfang Mai 1919 zu Ende gingen.[1]
Vorbelastete Neuanfänge:
Österreich und Ungarn 1918/19
Bewegt verliefen die ersten Monate der unmittelbaren Nachkriegszeit auch in Österreich. An der Spitze einer Regierung aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und großdeutschen Deutschnationalen stand seit dem 30. Oktober 1918 als Staatskanzler der Sozialdemokrat Karl Renner. Eine der ersten Amtshandlungen seiner Regierung war die Einholung von Beitrittserklärungen zur Republik Deutschösterreich durch die Landtage der Länder. Die Nachfolge des am 11. November verstorbenen Außenministers (oder, wie es zunächst offiziell hieß, Staatssekretärs) Victor Adler, des Gründers und langjährigen Parteivorsitzenden der Sozialdemokraten, übernahm am 21. November der «linke» Otto Bauer, der maßgebende Theoretiker des Austromarxismus, Verteidiger des Selbstbestimmungsrechtes der slawischen Völker und entschiedene Befürworter eines Anschlusses von Deutschösterreich an Deutschland, wie ihn die Provisorische Nationalversammlung schon am 12. November einstimmig beschlossen hatte.
Anders als in Deutschland wurde in Österreich in der revolutionären Übergangsphase zwischen dem Sturz der Monarchie und der Wahl der Konstituierenden Nationalversammlung das Militärwesen gründlich reformiert. Bereits am 8. November hatte der im Kriegsministerium tätige Sozialdemokrat und ehemalige Artillerieoffizier Julius Deutsch die einschlägigen Richtlinien vorgelegt, die er nach dem 15. November als Heeresminister in die Tat umsetzte. Ein Wehrgesetz der Provisorischen Regierung vom 18. November sah die allgemeine Wehrpflicht für Männer vom 18. bis zum 41. Lebensjahr vor. In die neue Volkswehr traten auch mit den Sozialdemokraten sympathisierende Offiziere des habsburgischen Heeres ein. Sie nahmen 1918/19 einen aktiven, ja wohl entscheidenden Anteil an den Kämpfen in den überwiegend deutsch besiedelten Gebieten Südkärntens, in die südslawische Verbände eingedrungen waren, und an der Niederwerfung mehrerer kommunistischer Umsturzversuche.
Die Kommunistische Partei Deutschösterreichs war mit tatkräftiger politischer und finanzieller Unterstützung der Bolschewiki am 3. November 1918 von linksradikalen Intellektuellen und aus Rußland heimgekehrten Soldaten gegründet worden. Eine proletarische Massenbasis zu gewinnen gelang ihr aber weder damals noch später. Die Sozialdemokratie blieb die österreichische Arbeiterpartei. Das war vor allem eine Folge der dreijährigen Zwangsvertagung des Reichsrats von 1914 bis 1917: Im Unterschied zur SPD hatte die SPÖ keine Möglichkeit gehabt, sich über der Bewilligung von Kriegskrediten zu zerstreiten. Anders als in Deutschland überlebte in Österreich auch ein Organ der Rätebewegung die Wahl der Konstituante im Februar 1919: Der zentrale Arbeiterrat wurde zu einer Gesamtvertretung der österreichischen Arbeiterschaft. An seiner Spitze stand Victor Adlers Sohn Friedrich Adler, wie schon erwähnt, der im Oktober 1916 aus Protest gegen den Krieg den Ministerpräsidenten Graf Stürgkh erschossen hatte und erst am 1. November 1918 aus der Haft entlassen worden war. Zusammen mit Otto Bauer brachte er die österreichischen Sozialdemokraten auf einen entschiedenen Linkskurs und damit in einen Gegensatz sowohl zum «sozialpatriotischen» Karl Renner als auch zu den deutschen Sozialdemokraten.
Die Frage, welche Gebiete künftig zu Deutschösterreich gehören würden, war bei der Proklamation der Republik noch keineswegs geklärt. Anfang November versuchten die Deutschen in Böhmen und Mähren auf unterschiedliche Weise, ihre Vereinigung mit Deutschösterreich durchzusetzen. Die unmittelbar an Österreich grenzenden Gebiete wollten sich als Böhmerwaldgau und Deutschsüdmähren anschließen; in Reichenberg und Troppau bildeten sich Landesregierungen für Deutsch-Böhmen und Sudetenland. Ein österreichisches Gesetz vom 22. November 1918 bestätigte den Anspruch auf das gesamte geschlossene Siedlungsgebiet der Deutschen innerhalb der bisher im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder. Rund eine Woche zuvor, am 14. November, war in Prag Tomáš Masaryk in Abwesenheit von der Provisorischen Nationalversammlung zum Staatspräsidenten der Tschechoslowakischen Republik gewählt worden (Masaryk kehrte erst am 21. Dezember aus dem Exil in seine Heimat zurück); das Amt des Ministerpräsidenten hatte der Führer der «Jungtschechen», Karel Kramár, übernommen. Im Dezember ließ seine Regierung die sudetendeutschen Gebiete durch Truppen besetzen. Wie der Wiener Anspruch auf den Anschluß der deutschsprachigen Landesteile Böhmens und Mährens gegen die neue Prager Führung und die Alliierten durchgesetzt werden sollte, war völlig offen.
Dasselbe galt für die Forderung nach der Vereinigung Deutschösterreichs mit dem Deutschen Reich. In Deutschland fand der Ruf nach der Verwirklichung der großdeutschen Idee viel Zustimmung, besonders bei den Sozialdemokraten, die sich als die wahren Erben und Testamentsvollstrecker der Revolution von 1848/49 fühlten. Als der österreichische Gesandte in Berlin, Ludo Hartmann, auf der Reichskonferenz der deutschen Länder am 25. November, gestützt auf den einstimmigen Beschluß der Nationalversammlung, den Wiener Anschlußwunsch vortrug, erhob der im Amt verbliebene Staatssekretär des Auswärtigen Amtes, Wilhelm Solf, unter Hinweis auf die bevorstehenden Friedensverhandlungen jedoch entschiedenen Einspruch. Dem fügten sich auch die anwesenden Volksbeauftragten mit Ebert an der Spitze. In seiner Ansprache an die deutsche Nationalversammlung begrüßte Ebert am 6. Februar 1919 zwar unter lebhaftem Beifall den Willen Deutschösterreichs zur Vereinigung mit Deutschland und sprach die Erwartung aus, daß die Nationalversammlung die künftige Regierung baldigst zu Verhandlungen mit Deutschösterreich über den endgültigen Zusammenschluß ermächtigen werde. Doch obwohl Solf im Dezember 1918 zurückgetreten war, galt sein Vorbehalt weiter: Das großdeutsche Projekt durfte die Friedensverhandlungen mit den Siegermächten nicht gefährden.
Am 16. Februar fanden die Wahlen zur Konstituierenden Nationalversammlung statt. Die Sozialdemokraten erhielten 77, die Christlichsozialen 61 und die Deutschnationalen 26 Sitze. Die Sudetendeutschen, die an der Wahl nicht hatten teilnehmen können, veranstalteten am 4. März, dem Tag des Zusammentretens der Konstituante, Demonstrationen in allen Städten. Hiergegen schritt die tschechoslowakische Polizei auf Weisung der Regierung Kramár mit großer Härte ein. In mehreren Orten machte sie von der Schußwaffe Gebrauch, namentlich in Kaaden, wo der Einsatz 52 Menschenleben forderte.
Am 14. März beschloß die Konstituierende Nationalversammlung zwei Gesetze über die Volksvertretung und die Staatsregierung, die als provisorische Verfassung dienten, und erklärte Deutschösterreich erneut zum Bestandteil des Deutschen Reiches. Tags darauf konnte Staatskanzler Renner sein neues Kabinett aus Sozialdemokraten, Christlichsozialen und Parteilosen vorstellen; unter den letzteren war der angesehene Wirtschaftswissenschaftler Joseph Schumpeter als Chef des Finanzressorts. Zu den vordringlichsten Aufgaben der neuen Regierung gehörte die Entradikalisierung der fortbestehenden Arbeiterräte, in denen es starke Sympathien für die Räterepubliken gab, die Béla Kun am 21. März in Budapest und der Zentralrat der bayerischen Republik am 6./7. April in München ausgerufen hatten. Ein von Agenten Kuns ausgelöster Umsturzversuch am 17. April wurde von der Volkswehr niedergeworfen. Den größten Anteil an der politischen Beruhigung der Arbeiterschaft hatten zwei sozialdemokratische Politiker: der Vorsitzende des zentralen Arbeiterrats, Friedrich Adler, und der für soziale Verwaltung zuständige Minister («Staatssekretär») Ferdinand Hanusch, der eine Reihe wichtiger sozialpolitischer Gesetze wie das über den Achtstundentag, das Urlaubsrecht der Arbeiter, das Tarifvertragsrecht, die Beschränkung der Frauen-, Kinder- und Nachtarbeit, die Krankenversicherung, die Invalidenfürsorge und die Einrichtung von Arbeitskammern auf den Weg zur parlamentarischen Verabschiedung brachte.
Ähnlich wie in Österreich war auch in Ungarn die Gründung der Kommunistischen Partei am 24. November zum größten Teil das Werk von aus Rußland heimgekehrten Kriegsgefangenen. Unter diesen war auch der aus einer jüdischen Familie stammende, früher in der Gewerkschaftsbewegung aktive Journalist Béla Kun. Die Sozialdemokratie war seit Ende Oktober an der Koalitionsregierung des Grafen Mihály Károlyi beteiligt, der am 11. Januar 1919 das Amt des provisorischen Präsidenten übernahm. Um diese Zeit hatte Ungarn infolge der Loslösung großer, überwiegend von Südslawen, Slowaken und Rumänen bewohnter Gebiete und ihrer Besetzung durch Truppen der Nachbarstaaten bereits über die Hälfte seines Territoriums und seiner Bevölkerung verloren. Aus Verbitterung über die Entente, die diese Entwicklung aktiv förderte, verfiel Károlyi auf den Gedanken, daß Ungarn sich außenpolitisch an Sowjetrußland anlehnen müsse, weshalb auch innenpolitisch ein dramatischer Kurswechsel notwendig sei: die Machtübertragung an die Arbeiterschaft. Den Ausschlag gab zuletzt eine Note der Verbündeten, die Károlyi am 19. März ausgehändigt wurde. Darin verfügten die Siegermächte eine neue Demarkationslinie in Transsylvanien und die Schaffung einer neutralen Zone in diesem Gebiet.
Béla Kun hatte in der Zwischenzeit mit beträchtlichem Erfolg Anhänger unter den unorganisierten Arbeitern geworben und sie, ebenso wie die Soldaten, zum bewaffneten Kampf gegen die Regierung und ihre Hauptstütze, die Sozialdemokraten, aufgerufen. Nach blutigen Zusammenstößen wurden er und andere kommunistische Führer am 21. Februar 1919 verhaftet, was ihn aber nicht daran hinderte, mit Duldung der Regierung im Gefängnis ein Parteisekretariat zu errichten. Von Károlyi und den bürgerlichen Parteien zur Zusammenarbeit mit den Kommunisten förmlich gedrängt, entschlossen sich die Sozialdemokraten am 21. März, um den Bürgerkrieg und die drohende Alleinherrschaft der Kommunisten zu vermeiden, auf Kuns Forderungen nach einem Zusammenschluß der beiden Parteien zur Ungarländischen Sozialistischen Partei, der Errichtung der Rätediktatur und der Bildung einer paritätischen Regierung einzugehen. An ihre Spitze trat noch am selben Abend nominell der Sozialdemokrat Alexander Garbai. Die faktische Führung und das Amt des Volkskommissars für auswärtige Angelegenheiten übernahm Béla Kun, der unmittelbar zuvor aus dem Gefängnis entlassen worden war. Volkskommissar für das Unterrichtswesen wurde der junge marxistische Philosoph Georg Lukács.
Die Bolschewiki, die in jenen Tagen in Moskau ihren 8. Parteitag abhielten, reagierten enthusiastisch: Béla Kun war ihr Vertrauensmann und Ungarn das erste mitteleuropäische Land, in dem das russische Beispiel Schule zu machen schien. Am 27. März 1919, als das ungarische Räteregime bereits über zwei Monate an der Macht war, beglückwünschte Lenin die ungarischen Arbeiter zu ihrem großen Erfolg: «Ihr habt der Welt ein noch besseres Vorbild gegeben als Sowjetrußland, da ihr verstanden habt, mit einem Schlage alle Sozialisten auf der Basis des Programms einer wahrhaft proletarischen Diktatur zu vereinigen.» Tatsächlich hatte die ungarische Räteregierung inzwischen eine große Zahl von industriellen Unternehmungen sozialisiert und den Großgrundbesitz enteignet, das Land allerdings nicht an die Bauern verteilt, sondern im Staatsauftrag durch die bisherigen Eigentümer verwalten lassen, was zu großer Unzufriedenheit der Bauern führte.
Populär war hingegen die ausgeprägt «nationalbolschewistische» Politik der Räteregierung: Sie betrieb die Wiederherstellung Groß-Ungarns unter dem Banner des Kampfes gegen die westlichen Imperialisten und die von ihnen unterstützten Nachbarstaaten Ungarns. Vorschläge für einen friedlichen Ausgleich der Grenzkonflikte, die der britische General (und spätere südafrikanische Premierminister) Jan Christiaan Smuts Anfang April namens der in Paris tagenden Siegermächte unterbreitete, wies Kun zurück. Am 20. April beschloß der Zentrale Soldaten-, Arbeiter- und Bauernrat den Verteidigungskrieg zum Schutz der Errungenschaften der proletarischen Diktatur und ordnete an, daß die Hälfte der Belegschaften aller Betriebe für den Kampf gegen die tschechischen, rumänischen und südslawischen Truppen zu den Waffen greifen sollten. Im Mai gelang es der von dem sozialdemokratischen Volksbeauftragten Wilhelm Böhm befehligten Roten Armee, tschechische Einheiten, die von französischen Offizieren geführt wurden, zu schlagen und vorübergehend große Teile der Slowakei zu erobern.
Damit waren die militärischen Kräfte des Revolutionsheeres aber auch erschöpft. Anfang Juni bildete sich im südungarischen Szeged, das unter französischer Militärverwaltung stand, eine «weiße» Gegenregierung unter Graf Gyula Károlyi, einem nahen Verwandten des früheren Präsidenten, mit Graf Teleki als Außenminister und dem ehemaligen Oberbefehlshaber der österreichisch-ungarischen Kriegsmarine, Admiral Miklós Horthy, als Kriegsminister. Rumänische Truppen, die bereits im April mit der Invasion Südungarns begonnen hatten, drangen im Sommer 1919 immer weiter in Richtung Budapest vor. Vergeblich bat Kun Lenin um eine Entlastungsoffensive gegen Rumänien. Ende Juli löste sich die Rote Armee, von den Rumänen in die Flucht gejagt, auf. Am 1. August liquidierte Kun das Rätesystem. Er veranlaßte den Arbeiterrat, die Regierungsgewalt an ein Kabinett aus gemäßigten Gewerkschaftsführern zu übertragen. Die Schuld am Scheitern der Diktatur des Proletariats gab er den Arbeitern, die nicht revolutionär genug gewesen seien und jetzt durch eine grausame Diktatur der Bourgeoisie lernen müßten, revolutionär zu werden. Unmittelbar nach seinem Rücktritt begab sich Kun zusammen mit einigen seiner Gefolgsleute nach Österreich, wo er dank sozialdemokratischer Vermittlung Asyl erhielt.
Am 3. August wurde Budapest von rumänischen Truppen besetzt. Tags darauf wurde die Gewerkschaftsregierung von einer rechtsstehenden Gruppierung gestürzt, woraufhin die Regierung in Szeged zugunsten des neuen bürgerlichen Kabinetts zurücktrat. Am 5. August nahm eine Mission der Entente ihre Arbeit in Budapest auf; sie erkannte die neue Regierung nicht an, ließ sich aber auf Verhandlungen mit Admiral Horthy, dem Oberbefehlshaber der von Szeged aus aufgestellten Nationalarmee, ein.
Mitte November 1919 mußten die rumänischen Truppen auf Weisung der Verbündeten aus Budapest abziehen; kurz darauf durften Horthys Verbände in der Hauptstadt einmarschieren. Zusammen mit Freikorpsoffizieren entfalteten sie in den folgenden Monaten ihren «weißen Terror» gegen wirkliche und vermeintliche Anhänger des Räteregimes und vor allem gegen Juden, wobei ihnen nicht wichtig war, wo diese politisch standen. Mehr als die Hälfte der Volkskommissare waren Juden gewesen; das gab dem ohnehin starken Antisemitismus in Ungarn gewaltigen Auftrieb. Der «rote Terror» der Revolutionstribunale hatte etwa 120 Tote gefordert; dem Terror der von Horthy befehligten Verbände fielen ungefähr 2000 Menschen zum Opfer. Etwa 70.000 Personen wurden ins Gefängnis geschickt oder interniert. Ungarn war nicht nur das einzige Land Mitteleuropas, das 1919 eine kommunistische Machtübernahme erlebte. Es war auch das erste Land, das nach dem Ersten Weltkrieg den Weg in ein rechtsautoritäres Regime einschlug.[2]
Erkämpfte Selbständigkeit:
Estland, Lettland, Litauen und Finnland
Der Untergang der ungarischen Räterepublik war nicht der einzige außenpolitische Rückschlag, den die Bolschewiki 1919 hinnehmen mußten. Nach der Niederlage der Mittelmächte hatte der Rat der Volkskommissare in Moskau bereits am 13. November 1918 erklärt, daß er sich an das Diktat von Brest-Litowsk nicht mehr gebunden fühle. Die ersten, die das zu spüren bekamen, waren die baltischen Völker. In Estland, das außer dem historischen Estland auch das nördliche Livland umfaßte, hatte der nach der russischen Februarrevolution gebildete Landschaftsrat, der Maapäev, schon am 24. Februar 1918 die Unabhängigkeit des Landes erklärt; kurz darauf war Estland jedoch von deutschen Truppen besetzt worden. Nach dem Sturz der Monarchie erkannte Deutschland, noch im November 1918, die Unabhängigkeit Estlands an; im März 1919 folgte die faktische Anerkennung durch Großbritannien und Frankreich.
Doch kaum waren die deutschen Truppen abgezogen, marschierte die Rote Armee in Estland ein; einige wenige «rote» estnische Einheiten schlossen sich ihr an. Dank der Waffen, die sie von Finnland und der Entente erhielt, konnte die Provisorische Regierung von Ministerpräsident Konstantin Päts eine schlagkräftige nationale Armee aufbauen. Die Unterstützung der Bauern gewann die Regierung mit dem Versprechen, die Rittergüter der deutsch-baltischen Oberschicht zu ihren Gunsten aufzuteilen. Bis zum Februar 1919 war ganz Estland von den Invasoren aus Sowjetrußland wieder befreit.
In der bäuerlichen Bevölkerung Lettlands, das aus dem Südteil Livlands, aus Kurland und Lettgallen, dem Gebiet um Dünaburg (Daugavpils), bestand, fanden die Bolschewiki mehr Unterstützung als in Estland. Am 18. Januar 1918 proklamierte der in der Zeit der Besetzung durch deutsche Truppen gebildete Lettische Nationalrat die unabhängige Republik Lettland und beauftragte den Vorsitzenden des Bauernbundes, Karlis Ulmanis, mit der Regierungsbildung. Sie wurde Ende November 1918 vom Rat der Volksbeauftragten in Berlin de facto anerkannt, stand jedoch von Anfang an unter dem massiven Druck der einheimischen probolschewistischen Rätebewegung und der Roten Armee, die im Januar 1919 in Lettland eindrang und die Hauptstadt Riga eroberte. Obwohl Ulmanis ein ententefreundlicher Politiker war, sah er sich genötigt, die Hilfe der Baltischen Landeswehr, einer militärischen Selbsthilfeorganisation der Deutschbalten, und deutscher Freikorps in Anspruch zu nehmen. Die letzteren operierten mit stillschweigender Zustimmung der Siegermächte im Baltikum und erhielten von der Regierung Ulmanis die vertragliche Zusage, daß ihre Angehörigen später auf Antrag lettische Staatsbürger werden (und sich damit in Lettland dauerhaft niederlassen) könnten.
Die Forderung der Baltendeutschen nach einem maßgeblichen Anteil an der Staatsführung aber lehnte Ulmanis ab, was am 18. April zum sogenannten «Libauer Putsch» des «Stoßtrupps» der Baltischen Landeswehr führte: Die Regierung Ulmanis wurde abgesetzt und durch eine den Deutschbalten ergebene Regierung unter nomineller Leitung des lettischen Pastors Andrievs Niedra ersetzt. Im Mai eroberte die Baltische Landeswehr mit Unterstützung lettischer und reichsdeutscher Verbände Riga zurück. Ulmanis aber, der sich unter britischen Schutz gestellt hatte, trat nicht von der politischen Bühne ab. Durch den Gewaltakt von Libau gewann er vielmehr erst jene nationale Solidarität der Letten, die er vorher vermißt hatte. Mit massiver Hilfe der Esten konnten ihm und seiner Regierung gegenüber loyale lettische Truppen Ende Juni die vereinigten Kräfte der deutschen Freikorps und der Baltischen Landeswehr schlagen. Der Versuch des kommandierenden deutschen Generals Graf Rüdiger von der Goltz, mit Hilfe einer gegenrevolutionären deutsch-russischen Freiwilligenarmee das Blatt doch noch zu wenden und vom Baltikum aus die «Weißen» im russischen Bürgerkrieg zu unterstützen, scheiterte im Oktober 1919 am gemeinsamen Vorgehen von lettischen, litauischen und estnischen Truppen, die ihrerseits von einem alliierten Geschwader unterstützt wurden.
Lettlands südlicher Nachbar Litauen hatte seine Unabhängigkeit mit Zustimmung der deutschen Besatzungsmacht im Februar 1918 erklärt. (Die Wahl des katholischen Herzogs Wilhelm von Urach zum litauischen König Mindaugas II. im Juni fand allerdings nicht die Billigung der Reichsleitung und des Militärkommandos Oberost und wurde im Zeichen der deutschen Niederlage vom litauischen Landesrat, der Taryba, rückgängig gemacht.) Am 28. Oktober 1918 verabschiedete die Taryba eine provisorische Verfassung; am 5. November bildete der Philologe und Historiker Augustinas Voldemaras die erste litauische Regierung.
Die litauischen Anhänger der Bolschewiki antworteten am 8. Dezember mit der Einsetzung einer Revolutionären Arbeiter- und Bauernregierung im lettischen Dünaburg, die zwei Wochen später von Sowjetrußland anerkannt wurde, aber erst nach dem Abzug der deutschen Truppen am 1. Januar 1919 in den Besitz realer Macht kam. Die inzwischen umgebildete offizielle Regierung unter dem «Volkssozialisten» Mykolas Slezevicius wich nach Kaunas (Kowno) aus. Am 5. Januar besetzte die Rote Armee Vilnius (Wilna) und Umgebung und begann von dort aus mit dem Aufbau der Sozialistischen Republik Litauens und Weißrußlands, kurz «Litbel» genannt, die am 27. Februar 1919 proklamiert wurde.
Doch die kommunistische Herrschaft über einen Teil Litauens war nur von kurzer Dauer. Ende April nahmen polnische Verbände ohne größere Kampfhandlungen die litauische Hauptstadt ein, in der mehr Polen als Litauer lebten. Ein Angebot des polnischen Staatschefs Marschall Piłsudski, Wilna an Litauen abzutreten, wenn dieses bereit war, eine Föderation mit Polen einzugehen, lehnte die Regierung in Kaunas ab. Mit deutscher Unterstützung wurde die Rote Armee bis August 1919 aus den von ihr besetzten Gebieten im Nordosten des Landes vertrieben. Im November 1919 besiegte die inzwischen kampffähige litauische Armee antibolschewistische russische Truppen unter Befehl des «weißen» Generals Fürst Pawel Bermondt-Awalow, die im Oktober von Lettland aus in Litauen eingedrungen waren. Danach begann für den jungen Staat, auch wenn er weiterhin nicht von Wilna, sondern von der provisorischen Hauptstadt Kaunas aus regiert wurde, eine Zeit allmählicher Stabilisierung.
In Finnland, das wie Estland, Lettland und Litauen bis 1917 zum Zarenreich gehört hatte, waren die einheimischen «Roten» und ihre russischen Unterstützer schon im Bürgerkrieg vom Frühjahr 1918 mit deutscher Hilfe geschlagen worden. An der Spitze des neuen unabhängigen Finnland stand seit Mai 1918 als «Reichsverweser» der Monarchist Pehr Evind Svinhufvud, an der Spitze der konservativen Regierung Juho Kusti Paasikivi. Svinhufvud sollte nur der Platzhalter für einen aus Deutschland stammenden König sein. Als solcher wurde Prinz Friedrich Karl von Hessen ausersehen, der seine Zusage jedoch unter dem Eindruck der deutschen Niederlage wieder zurückzog. Nach dem Abzug der deutschen Truppen übernahm am 12. Dezember 1918 General Mannerheim, der Sieger über die «Roten», das Reichsverweseramt. Am 17. Juni 1919 unterzeichnete er die Verfassung («Regierungsform»), die Finnland zur Republik mit einem starken, vom Volk gewählten Präsidenten und einer parlamentarisch verantwortlichen Regierung machte. Im Monat darauf wurde der eigentliche «Vater» der Verfassung, Kaarlo Juho Ståhlberg, zum ersten Präsidenten Finnlands gewählt. Im Oktober 1920 schloß Sowjetrußland Frieden mit Finnland. Vorausgegangen waren die Friedensschlüsse mit Estland im Februar, mit Litauen im Juli und mit Lettland im August 1920.[3]
Der Osten bleibt rot:
Der russische Bürgerkrieg und die Gründung der Dritten
Internationale
Hätten die Bolschewiki sich im Baltikum durchgesetzt, wäre der «Revolutionsexport» nach Mitteleuropa und vor allem nach Deutschland erheblich erleichtert worden. Die Niederlagen in Estland, Lettland und Litauen brachten die Sowjetregierung hingegen in ernste Bedrängnis, zumal dies nicht der einzige schwere Rückschlag war, den die Bolschewiki auf dem Gebiet des einstigen Zarenreiches im Frühjahr und Sommer 1919 hinnehmen mußten. Nach der Aufkündigung des Vertrages von Brest-Litowsk war die Rote Armee im Dezember 1918 in die östliche Ukraine eingedrungen; im Februar 1919 marschierte sie in Kiew ein. Die Regierung des ukrainischen «Direktoriums» unter Volodymyr Vynnychenko, die im Dezember 1918 die Macht ergriffen hatte, floh nach Podolien und organisierte von dort aus unter Führung von Symon Petliura den Widerstand gegen die Bolschewiki. Im Sommer 1919 wurde die Rote Armee von Verbänden des «weißen» Generals Denikin aus der Ukraine vertrieben. Vom Baltikum aus drangen «weiße» Verbände unter General Judenitsch im Oktober bis vor die Tore von Petrograd vor. Die ehemalige Hauptstadt konnte nur dank der eisernen Energie Trotzkis und des von ihm organisierten Widerstandswillens der Bevölkerung gehalten werden. Im Süden stießen von den Generälen Denikin und Krasnow befehligte «weiße» Truppen bis nach Kursk und von dort bis nach Orel vor, so daß der Weg nach Tula und Moskau frei schien. Im Osten gelang den Gegnern der Bolschewiki unter Admiral Koltschak, seit Juni Oberbefehlshaber aller «weißen» Truppen, der Vormarsch fast bis zur Wolga.
Dazu kam die Intervention der westlichen Verbündeten. Die Niederlage der Mittelmächte veranlaßte die Westmächte, ihre auf russischem Territorium operierenden Truppen zu verstärken. Im November und Dezember 1918 wurden neue Verbände nach Murmansk und Wladiwostok gebracht. Einen antibolschewistischen «Kreuzzugsplan» von Marschall Foch lehnte der Oberste Rat der Verbündeten in Paris am 27. März 1919 zwar ab, die «Weißen» aber wurden weiterhin, vor allem finanziell und technisch, unterstützt. Im Mai 1919 erkannten die Westmächte die Regierung von Admiral Koltschak an, der sich schon am 18. November 1918 zum «Reichsverweser» erklärt hatte. Am 10. Oktober 1919 verhängten die Verbündeten eine Wirtschaftsblockade über Sowjetrußland. Dennoch wendete sich kurz darauf das Blatt zugunsten der Bolschewiki. Da die britische Flotte im Finnischen Meerbusen nicht eingriff, brach die Offensive von Judenitsch im Nordwesten zusammen. Seinem Rückzug folgte der von Koltschak, der unter dem Druck von Roter Armee und bolschewistischen Partisanen sogar bis Irkutsk zurückweichen mußte. Im Süden wurde Denikin zurückgedrängt, im Westen die Ukraine erneut besetzt. Am 4. Januar 1920 trat Koltschak als «Reichsverweser» zurück; am 16. Januar hob der Oberste Alliierte Rat die Wirtschaftsblockade auf. Der russische Bürgerkrieg war damit noch nicht zu Ende, aber im wesentlichen entschieden – zugunsten der «Roten».
Der russische Bürgerkrieg wurde von beiden Seiten nicht nur mit äußerster militärischer Härte, sondern auch mit den Mitteln des politischen Terrors geführt, wobei der «rote Terror» systematischer angelegt war als der «weiße». Die «Prawda», die Parteizeitung der Bolschewiki, verkündete am 31. August 1918, einen Tag, nach dem Lenin durch ein Attentat der Sozialrevolutionärin Fanny Kaplan schwer verletzt worden war, die «Zeit für die Vernichtung der Bourgeoisie» sei gekommen. Am 5. September erging das «Dekret über den roten Terror», das es für absolut lebensnotwendig erklärte, die Tscheka, die Geheimpolizei, zu stärken, die Klassenfeinde der sowjetischen Republik in Konzentrationslagern zu isolieren und jeden, der in weißgardistische Organisationen, Verschwörungen oder Aufstände verwickelt war, «auf der Stelle zu erschießen». Grigori Sinowjew, ein prominentes Mitglied der Parteiführung, präzisierte ein paar Tage später: «Um uns von unseren Feinden zu befreien, brauchen wir unseren eigenen sozialistischen Terror. Etwa 90 der 100 Millionen Einwohner des sowjetischen Rußland müssen wir auf unsere Seite bringen. Den anderen haben wir nichts zu sagen. Sie müssen vernichtet werden.» Den Soldaten der Roten Armee rief Sinowjew zu: «Die Bourgeoisie tötet einzelne Individuen, wir aber bringen ganze Klassen um.» Martyn Latsis, einer der Chefs der Tscheka, bestätigte Anfang Oktober 1918: «Wir sind dabei, die Bourgeoisie als Klasse auszurotten.»
Die Praxis blieb nicht hinter der Theorie zurück. Geiselnahmen und Geiselerschießungen waren an der Tagesordnung. In Nischni-Nowgorod wurden am 31. August 1918 141 Geiseln hingerichtet und innerhalb von drei Tagen 700 weitere in Gewahrsam genommen. Die revolutionären Matrosen in Kronstadt brachten etwa 500 von ihnen festgehaltene Menschen um. Die Petrograder Tscheka erschoß im September 1918 binnen weniger Tage 512 Geiseln. Der Tscheka-Verband des Uralgebiets meldete im Frühherbst 1918 innerhalb einer Woche die Hinrichtung von 23 ehemaligen Gendarmen, 154 «Konterrevolutionären», 8 Monarchisten, 28 «Kadetten», 186 Offizieren, 10 Menschewiki und rechten Sozialrevolutionären, die Tscheka von Twer 39 und die von Perm 50 Hinrichtungen. Insgesamt sollen im Herbst 1918 10.000 bis 15.000 Menschen dem «roten» Terror zum Opfer gefallen sein. Die Zahl der «Klassenfeinde», die in Konzentrationslagern gefangen gehalten wurden, stieg bis zum Mai 1919 auf 16.000 und bis zum September 1921 auf 70.000 Personen.
Am 24. Januar 1919 faßte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei Rußlands den Beschluß, in dem «der gnadenlose Kampf, der massive Terror gegen die reichen Kosaken, die bis auf den letzten Mann auszurotten und physisch zu vernichten sind, die einzig politisch korrekte Maßnahme» genannt wurde. Zwischen Mitte Februar und Mitte März 1919 wurden daraufhin über 8000 Kosaken hingerichtet. Insgesamt belief sich die Zahl der 1919/29 hingerichteten und deportierten Kosaken nach glaubwürdigen Schätzungen auf 300.000 bis 500.000 – bei einer Gesamtbevölkerung von nicht über 3 Millionen Kosaken. Daß die meisten der liquidierten Kosaken keineswegs «reich» waren, scherte ihre Verfolger nicht im mindesten.
Der «weiße» Terror richtete sich vor allem gegen die Juden, die von den Kosaken und vielen «Weißen» pauschal mit den Bolschewiki gleichgesetzt wurden. Auf das Konto von Abteilungen der «Weißen Armee» Denikins und ukrainischer Verbände unter dem Oberbefehl Petliuras gingen Pogrome, denen etwa 150.000 Menschen zum Opfer fielen. Allein in der Ukraine wurden in den Bürgerkriegsjahren 1919 und 1920 mindestens 30.000 Juden umgebracht. Sehr viel größer waren die Zahlen derer, die schwer verletzt und ihres Besitzes beraubt wurden.
Antibolschewismus und Antisemitismus waren vor allem bei den wohlhabenden Bauern, den Kulaken, populär, von denen es besonders viele in der Ukraine gab. Ihre Proteste richteten sich gegen die Einziehung zur Roten Armee und die Zwangsabgabe beziehungsweise Beschlagnahme von Getreide, Kartoffeln, Fleisch, Milch und Eiern, alles Maßnahmen des «Kriegs-Kommunismus». Im August 1918 rief Lenin zum «Bürgerkrieg in den Dörfern» und zum «schonungslosen Krieg gegen die Kulaken» auf, die er als «wütende Feinde der Sowjetmacht» bezeichnete. Er drohte ihnen nicht nur die Geiselnahme und den Tod an, sondern machte in einem Telegramm vom 11. August an den Sowjet von Pensa klar, wie er sich diesen Tod vorstellte: «Hängt (hängt sie unbedingt, so daß die Leute sie sehen) mindestens hundert bekannte Kulaken, Reiche und Blutsauger auf … Sofortige Durchführung nach Erhalt des Telegramms.» Im September 1919 wurden von den kommunistischen Gebietsverwaltungen in zehn Provinzen, für die zusammenfassende Daten vorliegen, fast 49.000 Fahnenflüchtige, meist Bauern, über 700 verhaftete «Banditen», 1826 Todesopfer und 2230 Erschießungen gezählt. Auf Seiten der Partei- und Staatsfunktionäre und des Militärs gab es 430 Tote.
Im Frühjahr 1919 kam es vielerorts auch zu Streikaktionen von Arbeitern, beginnend mit denen in den Petrograder Putilow-Werken, 1917 noch eine Hochburg der Bolschewiki, in den Tagen nach dem 10. März 1919. Die Ausstände waren in erster Linie ein verzweifelter Protest gegen die grassierende Hungernot, die niedrigen Löhne und das von der Regierung verhängte Streikverbot. Lenin und Sinowjew wurden, als sie am 12. und 13. März in den Putilow-Werken erschienen, ausgebuht und mit Rufen wie «Nieder mit den Juden und Kommissaren!» bedacht. (Tatsächlich waren einige der bekanntesten Führer der Bolschewiki wie Trotzki, Sinowjew, Kamenew, Rykow und Karl Radek Juden.) Der Streik in den Putilow-Werken wurde von tschekistischen Einheiten niedergeworfen, 900 Arbeiter wurden verhaftet, etwa 200 ohne Gerichtsverfahren hingerichtet. In Orel, Briansk, Gomel und Astrachan schlossen sich den Streikenden meuternde Soldaten an. Auch hier wurden antisemitische Parolen laut. Überall antwortete die Tscheka mit Waffengewalt und der Einziehung von Lebensmittelkarten. In Tula, wo der Chef der Tscheka, Feliks Dzierzynski, persönlich eingriff, wurden Anfang April 1919 26 angebliche «Rädelsführer» der Streiks hingerichtet. Arbeiter, die wieder eingestellt werden wollten, mußten Verträge unterschreiben, in denen sie zustimmend zur Kenntnis nahmen, daß Arbeitsniederlegungen mit Fahnenflucht gleichzusetzen und darum mit dem Tode zu bestrafen seien. An einem Ort ging die Tscheka im folgenden Jahr dazu über, Häftlinge nach dem Vorbild der jakobinischen «noyades» von 1793 in einem Fluß zu ertränken: im Lager Cholmogory an der Düna.
Daß am Ende die «Roten» über die «Weißen» obsiegten, lag nicht nur an der Wirksamkeit des kommunistischen Terrors und an der alles in allem nur halbherzigen Unterstützung der Gegenrevolution durch die Westmächte. Den Ausschlag gab die Haltung der landarmen Bauern. Für sie waren die gegenrevolutionären Kräfte die Sachwalter des adligen Großgrundbesitzes, die die Rückkehr zu den früheren Besitzverhältnissen anstrebten. Den Bolschewiki hielten diese Bauern, die die große Mehrheit der Bauernschaft und der russischen Bevölkerung stellten, die Umverteilung des Bodens zugute. Die «Roten» waren also, verglichen mit den «Weißen», das kleinere Übel. Diese Einschätzung überwog die Verbitterung über die Requisitionen von Getreide und anderen landwirtschaftlichen Erzeugnissen und über den Zwangsdienst in der Roten Armee, in der sie, die Kleinbauern, die weitaus größte Gruppe stellten.
Wenige Tage vor dem Beginn des Streiks in den Putilow-Werken, vom 2. bis 6. März 1919, tagte im Moskauer Kreml der Gründungskongreß einer neuen, der Dritten oder Kommunistischen Internationale. Da die alte, die Zweite Internationale nach Lenins Meinung die Sache des Marxismus und damit der Arbeiterklasse verraten hatte, war es für ihn ausgemacht, daß es eine völlig neue, wahrhaft revolutionäre Internationale zu schaffen galt. Den letzten Anstoß gab die Einberufung der ersten Nachkriegskonferenz der Zweiten Internationale auf den 27. Januar 1919 nach Bern. Angesichts der Bedrohung durch konterrevolutionäre Kräfte und die militärische Intervention der Alliierten mußten die Bolschewiki unter allen Umständen verhindern, daß sich das europäische Proletariat von rechten «Sozialchauvinisten» oder «Zentristen» wie Kautsky auf eine antibolschewistische Linie festlegen ließ.
Am ersten Kongreß der Kommunistischen Internationale nahmen 54 Delegierte teil. Fünf waren aus dem Ausland nach Moskau gelangt, und zwar aus Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Schweden und Norwegen. Einige andere Länder waren durch ehemalige Kriegsgefangene oder durch Revolutionäre vertreten, die sich ohnehin in Rußland aufhielten. Die Hochstimmung der Teilnehmer stand in auffälligem Gegensatz zur gefährdeten Lage des Sowjetstaates. Lenin und die führenden Bolschewiki glaubten an unmittelbar bevorstehende Revolutionen in Europa und damit an den baldigen Sieg der Weltrevolution. Eine Schlüsselrolle würde dabei Deutschland spielen: Sobald dort die Räterepublik gesiegt hatte, sollte die Dritte Internationale nach einem Beschluß des Kongresses den Sitz ihrer Exekutive und ihres Büros von Moskau nach Berlin verlegen. Die deutschen Kommunisten, die im März 1919 durch Hugo Eberlein in Moskau vertreten waren, widersetzten sich zunächst der Gründung der neuen Internationale. Das entsprach der Linie der ermordeten Rosa Luxemburg: Sie hatte befürchtet, daß eine Internationale, in der nur die russischen Bolschewiki einen Machtfaktor bildeten, bald in volle Abhängigkeit von Moskau geraten würde. Am Ende enthielt sich Eberlein der Stimme. Nachdem die «Komintern», so das spätere Kürzel, gegründet war, schloß sich ihr auf Drängen Eberleins die KPD als erste Partei an.
In den Entschließungen des Gründungskongresses wurden die «Sozialpatrioten» oder «Sozialchauvinisten» vom rechten Flügel der sozialistischen Bewegung und das «Zentrum» um die Independent Labour Party, die neue Mehrheit der SFIO um Jean Longuet und den gemäßigten Flügel der USPD um Haase, Hilferding und Kautsky schärfer angegriffen als Kapitalisten und Imperialisten. Die wesentliche Bedingung des Sieges der Arbeiterklasse, so hieß es in den von Bucharin verfaßten «Richtlinien», sei die Trennung nicht nur von den rechten Sozialdemokraten, «von den direkten Lakaien des Kapitals und den Henkern der kommunistischen Revolution», sondern auch vom «Zentrum» der «Kautskyaner», das in kritischen Momenten das Proletariat verlasse. Sinowjew, der in Moskau zum Präsidenten der Kommunistischen Internationale gewählt wurde, nannte in einer von ihm vorgelegten Entschließung die Zentristen sogar gefährlicher als die «Sozialchauvinisten», die zu Mördern von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg geworden seien, weil die ersteren in Wahrheit die Einheit mit den Sozialchauvinisten erstrebten und die revolutionären Elemente zu täuschen versuchten. «Der organisatorische Bruch mit dem Zentrum ist eine absolute historische Notwendigkeit.»
Auf der Berner Konferenz sozialistischer Parteien, die vom 27. Januar bis 9. Februar stattfand und den Bolschewiki den äußeren Anlaß zur Gründung der Kommunistischen Internationale gab, hatten die aus der Sicht Lenins und Sinowjews gefährlichsten aller «Sozialchauvinisten», die deutschen Mehrheitssozialdemokraten, zunächst einen schweren Stand gehabt. Die Arbeiterparteien der Siegermächte und der meisten neutralen Länder warfen ihnen Verrat an der Sache des internationalen Proletariats vor, während die USPD als Hüterin der sozialistischen Tradition galt. Der französische Sozialist Albert Thomas fand zwar keinen Anklang, als er den Ausschluß der MSPD verlangte, aber Kurt Eisner erhielt viel Zustimmung, als er die Mehrheitssozialdemokraten aufforderte, ihre Irrtümer einzugestehen. Dem kamen die Vertreter der MSPD allenfalls halbherzig nach. Sie forderten die Veröffentlichung der einschlägigen Dokumente zum Kriegsausbruch in allen beteiligten Ländern und räumten lediglich ein, daß der deutsche Einmarsch in Belgien ein Völkerrechtsbruch gewesen sei.
Am Ende siegte aber der Wille zur Versöhnung. Den deutschen Sozialdemokraten wurde die Revolution zugute gehalten, ein Urteil der Internationale über die «weltgeschichtliche Frage der Verantwortlichkeit» für den Weltkrieg einem späteren Kongreß vorbehalten. Die gemeinsame Gegnerschaft zum Kommunismus erleichterte die Verständigung. Die Linkssozialisten konnten zwar die Abstimmung über eine Resolution verhindern, die sich für die Demokratie und damit gegen die bolschewistische Diktatur aussprach. Aber an der Ablehnung des russischen Weges zum Sozialismus ließ die Mehrheit keinen Zweifel; die Wahl des schwedischen Parteivorsitzenden Hjalmar Branting, eines erklärten Reformisten, zum Präsidenten der Zweiten Internationale unterstrich diese Haltung. Nicht umstritten war der Kernpunkt des neuen Programms: das Bekenntnis zu einem Völkerbund, der nicht ein Diskussionsklub von Regierungsvertretern, sondern ein Weltparlament mit einer Weltregierung sein sollte, ausgestattet mit der Macht, alle Konflikte zwischen den Staaten friedlich zu schlichten.
Die Bolschewiki sahen in der wiedererstandenen Zweiten Internationale zu Recht ein Hindernis für ihre weltrevolutionären Bestrebungen. Die «Prawda» ließ am 6. Februar 1919 ihren Zorn auf die Teilnehmer der Berliner Konferenz, die sie als «Lakaien» und «Sozialobskurantisten» bezeichnete, freien Lauf: «Ein Gefühl vereint sie: ein wütender Haß auf die Bolschewiki. Ein Schlagwort vereint sie: das Schlagwort vom Krieg gegen die Bolschewiki. Die ersten Worte der Gelben Internationale waren ‹Kampf den Bolschewiki!›»[4]
Die Sieger
rücken nach rechts:
Die Westmächte am Vorabend der Pariser
Friedensverhandlungen
Während in den besiegten Ländern Deutschland, Österreich und Ungarn die linke Mitte an die Regierung gelangte, rückten drei der vier wichtigsten Siegermächte, nämlich die Vereinigten Staaten, Großbritannien und Italien, um dieselbe Zeit nach rechts; in Frankreich war die Wendung nach rechts schon ein Jahr zuvor, im November 1917, durch die Wahl des «jakobinischen» Nationalisten Georges Clemenceau zum Ministerpräsidenten erfolgt. In den USA errangen bei den «off-year elections» vom November 1918, bei denen das Repräsentantenhaus und ein Drittel der Senatoren gewählt wurden, die oppositionellen Republikaner einen überragenden Sieg: Im Senat, wo die Demokraten bisher 6 Sitze mehr als die Republikaner gehabt hatten, verfügten die letzteren nun über eine Mehrheit von zwei Sitzen; im Repräsentantenhaus verwandelten sie eine Minderheit von fünf in eine Mehrheit von 45 Sitzen. Was sich für die «Grand Old Party» besonders auszahlte, waren ihre massiven Angriffe auf den «weichen» Internationalismus des demokratischen Präsidenten Woodrow Wilson und seine angeblich allzu große Nachsicht gegenüber den Deutschen.
Großbritannien erlebte im Dezember 1918 eine Neuauflage der «Khakiwahlen» von 1900, die ganz im Zeichen des Burenkrieges gestanden hatten. So «jingoistisch» wie damals agitierten nicht nur die nationalistischen Massenblätter wie die «Daily Mail» und die «Morning Post» und die Konservativen. Die demagogischste Parole gab Ende November ein dem äußersten rechten Flügel der Labour Party angehörendes Mitglied des Kriegskabinetts von David Lloyd George, der Minister ohne Geschäftsbereich George N. Barnes, aus: «Hang the Kaiser!» Der Erste Lord der Admiralität, Sir Eric Geddes, empfahl am 9. Dezember in einer Rede in Cambridge, Deutschland alles Gold und Silber und sämtliche Juwelen sowie seine Gemälde und Bibliotheken wegzunehmen und den alliierten und neutralen Mächten zu übereignen. Bei anderer Gelegenheit bekannte sich derselbe Minister zu der Devise, «die deutsche Zitrone auszuquetschen, bis die Kerne quietschen» (to squeeze the German lemon until the pips squeak). Premierminister Lloyd George gab sich überparteilich und begnügte sich mit der Forderung nach der Erstattung der gesamten Kriegskosten durch Deutschland.
Die Unterhauswahlen, die ersten seit dem Dezember 1910, waren seit drei Jahren überfällig. Erstmals wurde nach dem neuen demokratischen, im Februar 1916 beschlossenen Wahlrecht gewählt, nach dem alle Männer über 21 Jahren und alle Frauen vom vollendeten 30. Lebensjahr ab ihre Stimme abgeben durften. Die Konservativen, die sich seit ihrer Vereinigung mit den Liberal Unionists, der Partei des 1914 verstorbenen Joseph Chamberlain, im Mai 1912 offiziell Conservative and Unionist Party nannten, schlossen sich mit der Mehrheit der regierungstreuen Liberalen zu einem nationalen Wahlbündnis zusammen, was nur möglich war, weil Lloyd George sich bereit erklärte, die liberale Forderung nach Home Rule für Irland deutlich abzuschwächen. Die Minderheit der Liberalen Partei unter dem früheren Premierminister Asquith hatte am 9. Mai 1918 bei der Abstimmung über die von Lloyd George gestellte Vertrauensfrage gegen die Regierung gestimmt, um so gegen die als allzu «rechts» empfundene Politik des Premiers zu protestieren. Bei den Wahlen trat der britische Liberalismus infolgedessen gespalten, also geschwächt an.
Innerlich gespalten war auch die Labour Party. Die Independent Labour Party, ein wichtiger Teil der Gesamtpartei, unter Ramsay MacDonald hatte sich von Anfang an gegen den Krieg gestellt; die Gesamtpartei war im letzten Kriegsjahr stark nach links gerückt. Eine Parteikonferenz nahm im Februar 1918 ein neues Parteistatut an, in dem sich die Labour Party erstmals offiziell als sozialistische Partei bekannte und eine Neuordnung der Gesellschaft auf der Grundlage des Gemeineigentums forderte. In einem auf derselben Konferenz beschlossenen Programm sprach sich die Arbeiterpartei für die Vergesellschaftung von Grund und Boden, der Eisenbahnen, der Bergwerke, der Elektrizitätswerke, der Rüstungsindustrie sowie der Kanäle, Häfen und Schiffahrtsgesellschaften aus. Der Einfluß der russischen Oktoberrevolution war unverkennbar und das Echo von rechts entsprechend feindselig: Die Labour Party wurde bolschewistischer Neigungen bezichtigt. Tatsächlich blieb sie trotz ihres Kurswechsels eine entschieden reformistische Partei.
Die Wahlen vom 14. Dezember 1918 erbrachten einen klaren Sieg der Rechten. Die konservativen Unionisten allein erzielten 382 Sitze, drei Fünftel aller Mandate. Dazu kamen 136 «Koalitionsliberale» um den bisherigen und künftigen Premierminister Lloyd George und einige Nationalisten. Asquith’ Liberale gewannen lediglich 33, die Labour Party bei einem Stimmenanteil von 20,8 Prozent 59 Sitze. Fast alle bekannten Labourführer schieden aus dem Unterhaus aus; an ihre Stelle traten bislang wenig bekannte, parlamentarisch unerfahrene Gewerkschaftsfunktionäre. Im neuen Kabinett Lloyd George war Labour nicht mehr vertreten.
Von den in Irland gewählten 105 Abgeordneten gehörten 73 der 1905 gegründeten republikanischen Sinn Féin («Wir selbst»), 6 der Irischen Nationalpartei und 26 aus dem überwiegend protestantischen Ulster den Unionisten an. Die außerhalb von Ulster gewählten Abgeordneten traten ihre Mandate im britischen Unterhaus nicht an und setzten damit die Boykottpolitik fort, die sie im April 1918 aus Protest gegen die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht auch in Irland begonnen hatten. Am 21. Januar 1919 zogen die gewählten irischen Nationalisten in ein eigenes revolutionäres Parlament, das «Dáil Eireann», in Dublin ein, das sogleich eine Unabhängige Irische Republik proklamierte und am 1. April 1919 den kurz zuvor aus dem Gefängnis geflüchteten Führer von Sinn Féin, Eamon de Valera, den 1882 in New York geborenen Sohn eines spanischen Vaters und einer irischen Mutter, an die Spitze der illegalen Regierung berief. Kurz darauf nahm die Irish Republican Army (IRA), die Nachfolgerin der in den 1850er Jahren von den nationalistischen Feniern gegründeten Irish Republican Brotherhood, den bewaffneten Kampf gegen die britischen Streit- und Ordnungskräfte auf. Damit begann jener seit langem befürchtete oder erhoffte Krieg um die Unabhängigkeit Irlands, der in den Jahren zuvor zweimal nur mit knapper Not hatte verhindert werden können: im Sommer 1914 durch den Ausbruch des Ersten Weltkriegs und 1916 beim Dubliner Osteraufstand durch den massiven Einsatz des britischen Militärs.
Am Vorabend der britischen Unterhauswahlen, dem 13. Dezember 1918, war Woodrow Wilson in der französischen Hafenstadt Brest in der Bretagne eingetroffen. Frankreich war die erste Station der ersten Europareise eines amerikanischen Präsidenten überhaupt. Sie hatte nur einen Zweck: Es galt, den Einfluß der USA bei der Gestaltung der internationalen Nachkriegsordnung so stark wie möglich zur Geltung zu bringen. Von keinem politischen Milieu wurde der Präsident so freundlich, ja enthusiastisch begrüßt wie von der sozialistischen Arbeiterschaft und ihren Führern: Sie sahen in Wilson einen Verbündeten im Streben nach einem Verständigungsfrieden, nach mehr Demokratie und mehr sozialer Gerechtigkeit.
Die französischen Sozialisten taten alles, um die Regierung Clemenceau auf Wilsons Vierzehn Punkte als Grundlage eines dauerhaften Friedens festzulegen – vergeblich. Die Regierung wollte den Friedensverhandlungen nicht vorgreifen und konzentrierte sich darauf, die Unterstützung Amerikas für das Projekt eines «Cordon sanitaire», eines Sicherheitsgürtels unabhängiger ostmittel- und südosteuropäischer Staaten zur Abwehr des Bolschewismus, zu gewinnen. In einer Rede vor der Deputiertenkammer weigerte sich Clemenceau am 29. Dezember standhaft, irgendwelche konkreten Friedensziele zu nennen. Einer breiten parlamentarischen Rückendeckung konnte sich der Ministerpräsident dabei sicher sein. Bereits Ende Oktober hatten sich die meisten bürgerlichen Parteien rechts und links der Mitte zum Block der Entente Républicaine Démocratique zusammengeschlossen. Mit ihrer Hilfe gewann Clemenceau am 29. Dezember die entscheidende Abstimmung über den Staatshaushalt: Er wurde mit 414 zu 6 Stimmen angenommen. Die uneinigen Sozialisten hatten sich auf Stimmenthaltung verständigt.
Wilson war mittlerweile nach England weitergereist, wo ihm die Arbeiterschaft anläßlich einer Rede in Manchester am 30. Dezember, vier Tage nach seiner Ankunft in London, einen überwältigenden Empfang bereitete. Mit Lloyd George gelangte der Präsident zu sehr viel mehr Übereinstimmung als mit Clemenceau, aber über die Auswirkungen der Unterhauswahl gab er sich keinen Illusionen hin: Die Befürworter einer harten Linie gegenüber Deutschland, allen voran die Konservativen, waren gestärkt, die britischen «Wilsonians», die Anhänger eines Verständigungsfriedens, geschwächt worden.
Einem Zwischenaufenthalt in Paris, bei dem Wilson seine Enttäuschung über die Kammerrede Clemenceaus nicht verbarg, folgte sein Besuch in dem Land, in dem, als es 1915 in den Krieg eintrat, von einer massenhaften «Kriegsbegeisterung» weniger als irgendwo sonst die Rede sein konnte und das jetzt am Rande des wirtschaftlichen und finanziellen Bankrotts stand: Italien. Wilsons wichtigster Gesprächspartner in Rom war der seit Oktober 1917 amtierende rechtsliberale Ministerpräsident Vittorio Emanuele Orlando. Er stand einer Regierung vor, in der Außenminister Sidney Sonnino, auch er ein Rechtsliberaler, weitgehende Annexionsforderungen, vor allem im Hinblick auf Dalmatien, vertrat und dafür den Beifall der nationalistischen Rechten fand, der aber auch Anwälte eines friedlichen Ausgleichs mit den Südslawen wie der stellvertretende Ministerpräsident Leonida Bissolati, ein Reformsozialist, und der linksbürgerliche Finanzminister Francesco Nitti angehörten.
Die Rechte, am lautstärksten Mussolinis «Popolo d’Italia», verlangte die Angliederung eines großen Teiles der dalmatinischen Küste und Südtirols bis zum Brenner. Ein gemäßigter Linker wie Bissolati wollte die Grenze zu Österreich knapp nördlich von Bozen ziehen und strebte an der Ostseite der Adria den Besitz von Görz (Gorizia) und Istrien sowie einen Grenzverlauf gegenüber dem südslawischen Staat nahe Triest an; Fiume sollte den Status einer freien Stadt unter italienischem Schutz erhalten, auf Dalmatien aber ansonsten weitgehend verzichtet werden. Da er sich mit diesem vergleichsweise maßvollen Programm gegenüber Sonnino nicht durchsetzen konnte, trat Bissolati von seinem Amt als stellvertretender Ministerpräsident zurück. Kurz darauf, am 4. Januar 1919, bat auch Nitti um seine Entlassung. Aus Rücksicht auf Wilsons Staatsbesuch, der einen Tag zuvor begonnen hatte, blieb er dann auf Bitten Orlandos noch bis zum 15. Januar im Amt. Dem Kabinett gehörten zwar auch danach noch gemäßigte linke Minister, darunter der Reformsozialist Ivanoe Bonomi, an. Aber die Rechte ging aus der Regierungskrise um die Jahreswende 1918/19 stärker hervor, als sie zuvor gewesen war.
Wilson wurde während seines Italienbesuches, wo immer er sich auf Straßen und Plätzen zeigte, in Rom nicht anders als in Mailand, von der Menge bejubelt. Er sprach nicht nur mit Orlando und Sonnino, die ihm beide borniert erschienen, sondern auch mit Bissolati und Luigi Albertini, dem liberalen Herausgeber des Mailänder «Corriere della Sera». Die entschiedensten «Wilsonianer» waren auch in Italien Politiker der Linken, darunter die parlamentarischen Führer der Sozialisten, an ihrer Spitze Filippo Turati und Claudio Treves, die trotz ihres Neins zum Kriegseintritt Italiens die Kriegsanstrengungen des Königreichs, wenn auch ohne alle Begeisterung, mitgetragen hatten. Die Sozialistische Partei als Organisation und ihre Funktionäre aber waren seit 1917 unter dem Eindruck der russischen Oktoberrevolution nach links gerückt. Seit dem Parteikongreß in Rom vom September 1918 beherrschten die linken «Maximalisten» unter Giacinto Serrati die Parteiführung. Sie propagierten als Ziele die Errichtung der sozialistischen Republik und die Diktatur des Proletariats, verweigerten folgerichtig auch die Teilnahme an der Berner Konferenz der Zweiten Internationale. Wilson war für sie ein bürgerlicher Politiker, dem das Proletariat mit der gebotenen Zurückhaltung und Vorsicht zu begegnen hatte.
Unter den bürgerlichen «Wilsonianern» war der markanteste der katholische Priester Don Luigi Sturzo, ein Sizilianer, der im Januar 1919 mit Zustimmung des Vatikans den Partito Popolare Italiano, eine christlich-demokratische Partei, gründete. Sie unterstützte in ihrem Programm Wilsons Idee eines Völkerbundes und forderte einschneidende soziale Reformen, eine Verbesserung der Lebensbedingungen des Mezzogiorno und das Frauenstimmrecht. Sie bezog damit Positionen, die denen Bissolatis nahe kamen. Dieser wurde im Januar 1919 immer mehr zur Zielscheibe heftiger Angriffe Benito Mussolinis und seines «Popolo d’Italia». Aus Sicht der nationalistischen Rechten war Bissolati der gefährlichste unter den «Verzichtspolitikern», den «rinunciatori». Eine Veranstaltung des Reformsozialisten in der Mailänder Skala wurde von Mussolini und seinen Anhängern, darunter der Futurist Filippo Tommaso Marinetti, durch Zwischenrufe und Sprechchöre so massiv gestört, daß Bissolati kaum zu Wort kam.
Kurz darauf, am 15. Januar 1919, veröffentlichte der Dichter Gabriele D’Annunzio im «Popolo d’Italia» einen «Offenen Brief an die Dalmatiner»: ein Manifest des Irredentismus, das, weil es mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker nicht zu vereinbaren war, in eine Kampfansage an die «Wilsonianer» aller Länder, besonders die des eigenen, mündete. D’Annunzio nannte Italien die siegreichste aller Nationen, weil es siegreich über sich selbst und die Feinde sei. Italien dürfe sich keinen gallischen, keinen britischen und keinen amerikanischen Frieden aufnötigen lassen. Es werde vielmehr über die Alpen und die See eine «Pax Romana» errichten. «Wenn nötig, werden wir dem neuen Ränkespiel nach Art der Arditi entgegentreten, eine Granate in jeder Hand und ein Messer zwischen den Zähnen.» Die «Arditi» waren ein freikorpsartiger Verband ehemaliger Elitesoldaten. Am 16. April 1919, dem Tag eines von den sozialistischen Gewerkschaften ausgerufenen Generalstreiks, stürmten sie das Gebäude der sozialistischen Zeitung «Avanti» in Mailand, steckten es in Brand, provozierten dabei Zusammenstöße, bei denen es fünf Tote und zahlreiche Verletzte gab, und brachten anschließend vor dem Redaktionssitz des «Popolo d’Italia» Mussolini eine öffentliche Huldigung dar. Eine neue Zeit warf in Italien ihre Schatten voraus.[5]
Der fragile Frieden:
Von Versailles zum Völkerbund
Am 18. Januar 1919, dem 48. Jahrestag der Proklamation König Wilhelms I. von Preußen zum Deutschen Kaiser, begann in Paris die Friedenskonferenz. Auf ihr waren 32 Staaten, die «Alliierten und Assoziierten Mächte», mit vollen Rechten vertreten. («Alliierte» waren die Mächte der Entente cordiale, Großbritannien und Frankreich, «assoziierte» Mächte unter anderen die Vereinigten Staaten, Japan, Belgien und Italien.) Zu den vollberechtigten Teilnehmern kamen die «additional members of the British Empire», nämlich die Dominions Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika sowie Indien, neue Staaten wie Polen und die Tschechoslowakei, ferner Staaten, die lediglich die diplomatischen Beziehungen mit den Mittelmächten abgebrochen hatten, und Rumänien, das im November 1918, ein halbes Jahr nach dem Frieden von Bukarest, erneut auf der Seite der Verbündeten in den Krieg eingetreten war. Nicht vertreten waren die besiegten Länder, aber auch nicht Rußland, das im Frühjahr 1918 auf Grund der Revolution der Bolschewiki aus dem Kreis der kriegführenden Mächte ausgeschieden war.
Nur selten, insgesamt achtmal, traten alle Teilnehmerstaaten zu Plenarsitzungen zusammen. Das tatsächliche Entscheidungsgremium war bis zum 24. März 1919 der Oberste Rat der Verbündeten oder der «Rat der Zehn», in dem die Großmächte USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan, jeweils vertreten durch ihre Staats- beziehungsweise Regierungschefs und die Außenminister, unter sich waren. In der Zeit danach hatte ein noch kleineres Gremium, der Rat der Vier, bestehend aus den USA und den drei europäischen Großmächten, das Sagen. Eine der vier Mächte, Italien, nahm zwischen dem 23. April und dem 6. Mai 1919 nicht an den Beratungen teil, weil es über der Zukunft von Fiume zum offenen Streit zwischen den Siegermächten gekommen war und Ministerpräsident Orlando und Außenminister Sonnino sich unter dem Druck der nationalistischen Rechten entschieden hatten, ihrer Forderung nach der Angliederung dieser adriatischen Hafenstadt an Italien demonstrativen Ausdruck zu verleihen. Einer der wichtigsten Teilnehmer der Konferenz, Präsident Wilson, konnte vom 14. Februar bis zum 14. März 1919 nicht in Paris sein, weil er in Washington um seinen Rückhalt im Kongreß kämpfen mußte; er ließ sich von Außenminister Lansing vertreten. Den Staats- und Regierungschefs und ihren Außenministern arbeiteten rund 60 Kommissionen zu, von denen nur eine, die über den Völkerbund, die League of Nations oder Société des Nations, unmittelbar dem Plenum der Teilnehmerstaaten berichten durfte.
Der Völkerbund sollte dem Frieden und der Sicherheit der Welt den notwendigen organisatorischen Rahmen geben. Darum machte er es den Mitgliedern zur Pflicht, sich gegenseitig zu helfen und im Falle von Streitigkeiten zwischen ihnen den Schiedsspruch des Ständigen Internationalen Gerichtshofes in Den Haag beziehungsweise eines besonderen, von den streitenden Parteien eingesetzten Schiedsgerichts anrufen. Die Bundesversammlung, der alle Mitgliedstaaten mit je einer Stimme und bis zu drei Delegierten angehörten, konnte mit Zweidrittelmehrheit Sanktionen verhängen. Dasselbe konnte, ebenfalls mit Zweidrittelmehrheit, der Völkerbundsrat tun. Dieser bestand aus ständigen und nichtständigen Mitgliedern. Die ständigen waren die Großmächte, wenn sie denn alle dem Völkerbund beitraten, die USA, Großbritannien, Frankreich, Italien und Japan; die nichtständigen Mitglieder (deren Zahl nicht ein für alle Mal feststand) wurden für die Dauer von drei Jahren gewählt. Mit Zweidrittelmehrheit konnte die Bundesversammlung Mitglieder ausschließen und neue aufnehmen.
Die Bundesversammlung verfügte über ein Ständiges Generalsekretariat unter einem Generalsekretär mit Sitz in Genf. Sie setzte die Kommission für die Mandatsgebiete, das heißt die ehemaligen deutschen Kolonien und die arabischen Teile des untergegangenen Osmanischen Reiches, darunter Palästina, ein, ebenso das Hochkommissariat für Flüchtlingshilfe und Sonderorganisationen wie die für das Gesundheitswesen. Sie führte die Aufsicht über das Internationale Arbeitsamt, das Institut für geistige Zusammenarbeit in Paris und weitere internationale Einrichtungen. Außerdem erteilte die Bundesversammlung der Regierungskommission für das Saargebiet und dem Hohen Kommissar für die neu geschaffene Freie Stadt Danzig ein direktes Mandat.
Ob der Völkerbund wirklich die friedensstiftende und ausgleichende Rolle würde wahrnehmen können, die Wilson ihm zugedacht hatte, war von Anfang an fraglich. Die Mitgliedstaaten dieses Systems der kollektiven Sicherheit blieben uneingeschränkt souverän. Einen Konsens über Sanktionen herzustellen war angesichts der auseinanderstrebenden Interessen der Mitgliedstaaten, vor allem der größeren unter ihnen, erkennbar schwierig. Unter den privilegierten ständigen Mitgliedern des Völkerbundrates hatten die größeren europäischen Kolonialmächte das Übergewicht. (Daß die Vereinigten Staaten dem Völkerbund nicht beitreten würden, ahnte im Frühjahr 1919 noch niemand.)
Am ehesten waren dem Völkerbund bedeutende Leistungen auf humanitärem Gebiet zuzutrauen. Eine repräsentative «Weltregierung» aber oder eine «Föderation freier Staaten», wie Kant sie 1795 in seiner Schrift «Zum ewigen Frieden» zur Grundlage eines neuen Völkerrechts hatte machen wollen, konnte aus diesem Völkerbund, in dem die Kolonialvölker per definitionem nicht vertreten waren, nicht hervorgehen. Er war zunächst nur eine Versammlung der Sieger des Ersten Weltkrieges und der neutral gebliebenen Staaten. Die besiegten Staaten waren fürs erste ausgeschlossen. Sie konnten allenfalls hoffen, daß sich daran bald etwas ändern würde. Das galt nicht nur für Deutschland, Österreich, Ungarn, Bulgarien und die Türkei, sondern auch für Sowjetrußland.
Was Rußland betraf, so drängte Wilson in Paris auf eine Eindämmung der Revolution durch eine Kombination von Lebensmittellieferungen und die Beendigung des Bürgerkrieges durch Verhandlungen, an denen außer den Verbündeten die kommunistische Regierung in Moskau und die von den «Weißen» eingesetzten gegenrevolutionären Regierungen teilnehmen sollten. Der Versuch scheiterte zunächst, im Februar 1919, an der Weigerung der «Weißen», sich mit den «Roten» an einen Tisch zu setzen, und dann, Mitte April, nachdem durch separate Geheimkontakte der Amerikaner mit den Bolschewiki Lebensmittellieferungen scheinbar in greifbare Nähe gerückt waren, an westlichen Bedingungen, die die Bolschewiki nicht erfüllen konnten – unter anderem forderten die Verbündeten, daß das russische Transportwesen der Kontrolle der Moskauer Regierung entzogen wurde. Deutschland hingegen kam, nachdem die Franzosen ihren Widerstand gegen entsprechende angelsächsische Vorschläge aufgegeben hatten, seit Ende März in den Genuß umfangreicher Lieferungen von Getreide und Fetten. Die alliierte Blockade war damit beendet – eine Folge nicht so sehr humanitärer Erwägungen als der Furcht, die hungernden Deutschen könnten sich andernfalls Rußland und dem Bolschewismus zuwenden.
Deutschland war das Hauptthema der Pariser Friedenskonferenz. Sehr bald wurde deutlich, daß die französischen und die angelsächsischen Vorstellungen weit auseinandergingen, wobei es freilich auch zwischen Washington und London hin und wieder Meinungsverschiedenheiten gab. Clemenceau drängte, wenn auch nicht so massiv wie Marschall Foch, auf die Abtrennung des Saarlands und des übrigen linksrheinischen Deutschland (das ein autonomer, von Frankreich abhängiger Staat werden sollte) vom Reich. Lloyd George wollte im Interesse der «balance of power» Frankreich nicht übermäßig stark werden lassen und setzte darum französischen (im Osten auch polnischen) Expansionsbestrebungen hartnäckigen Widerstand entgegen. Wilson war durchaus für eine angemessene Bestrafung Deutschlands (wobei er zwischen dem untergegangenen Kaiserreich und der neuen Regierung keinen großen Unterschied machte). Er wollte aber nicht mehr als unvermeidbar mit dem von ihm verkündeten Grundsatz des Selbstbestimmungsrechts der Völker in Konflikt geraten und konnte sich schon deswegen nicht dem französischen Druck beugen.
Das Ergebnis des zähen Ringens war ein Kompromiß, der dem französischen Sicherheitsbedürfnis und den Grundsätzen der Angelsachsen Rechnung trug. Zur Befriedigung des französischen Sicherheitsbedürfnisses sagten die USA und Großbritannien Frankreich einen Garantievertrag gegen einen unprovozierten deutschen Angriff zu. Elsaß-Lothringen wurde, was vorher zwischen den Siegern keineswegs unumstritten gewesen war, ohne vorherige Volksabstimmung an Frankreich zurückgegeben. Das Saargebiet wurde nicht an Frankreich abgetreten, sondern für die Dauer von 15 Jahren einem Völkerbundsregime unterstellt; danach sollte die Bevölkerung ihr Selbstbestimmungsrecht ausüben können. Auch im Hinblick auf das Rheinland mußte Frankreich zurückstecken. Das linksrheinische Gebiet wurde nicht von Deutschland abgetrennt. Vielmehr sahen die Friedensbedingungen eine in Zonen gestaffelte, auf 5, 10 und 15 Jahre befristete alliierte Besetzung nebst einigen rechtsrheinischen Brückenköpfen und eine dauerhafte «Entmilitarisierung» des linksrheinischen Deutschland vor. Belgien erhielt als Teilentschädigung des ihm von Deutschland angetanen politischen und materiellen Unrechts den Kreis Eupen-Malmedy mit seiner überwiegend deutschsprachigen Bevölkerung. Die hierzu veranstaltete «Abstimmung» mit öffentlich ausliegenden Listen, in die sich eintragen konnte, wer sich für den Verbleib bei Deutschland aussprechen wollte, war kein geeignetes Mittel, den Willen der Bevölkerung festzustellen, und erbrachte das gewünschte Ergebnis.
Für die Deutschen ungleich schmerzhafter waren die Gebietsverluste im Osten. Daß das Gebiet des ehemaligen Großherzogtums Posen an Polen fallen würde, war allgemein erwartet worden. Aber darüber hinaus sollte Polen ganz Oberschlesien und, wegen des von Wilson in den Vierzehn Punkten versprochenen sicheren und freien Zugangs zur Ostsee, den Hauptteil Westpreußens mit einem westlich von Danzig gelegenen Hafen erhalten, wodurch Ostpreußen vom übrigen Reich abgeschnitten wurde. Danzig wurde zur Freien Stadt unter einem Kommissar des Völkerbundes erklärt; das an Litauen grenzende Memelgebiet fiel unter die Verwaltung der Entente.
In zwei Gebieten, im ostpreußischen Masuren und im östlich der Weichsel gelegenen Teil von Westpreußen um Marienburg und Marienwerder, sollte die Bevölkerung entscheiden, ob sie bei Deutschland bleiben oder sich Polen anschließen wollte. Eine Abstimmung war auch für das überwiegend dänischsprachige Nordschleswig vorgesehen. Sie fand im Februar und März 1920 statt und führte zu einer Teilung Nordschleswigs zwischen Dänemark und Deutschland entsprechend den sprachlichen Mehrheitsverhältnissen; in Masuren und im Gebiet um Marienburg und Marienwerder entschied sich die Bevölkerung im Juli 1920 nahezu einhellig für Deutschland.
Einer Kompensation der Gebietsverluste in Gestalt des Zusammenschlusses von Deutschland und Österreich schob der Friedensvertrag auf Verlangen Frankreichs einen Riegel vor: Deutschland mußte in Artikel 80 des Vertrags von Versailles die Unabhängigkeit Österreichs anerkennen; eine Änderung war nur mit Zustimmung des Völkerbundsrates möglich. Durch den Friedensvertrag büßte Deutschland ein Siebtel seines Gebietes und ein Zehntel seiner Bevölkerung ein; es verlor zudem seine Kolonien. Wirtschaftlich bedeutete die Verkleinerung des deutschen Territoriums, wenn man die Teilung Oberschlesiens im Jahr 1921 mitberücksichtigt, eine Minderung der Kohlevorkommen um ein Drittel und der Erzvorkommen um drei Viertel. Über eine abschließende Reparationssumme hatten sich die Siegermächte nicht verständigen können. Fürs erste mußte Deutschland seine Fernkabel und neun Zehntel seines Rinderbestandes ausliefern sowie zehn Jahre lang jährlich rund 40 Millionen Tonnen Kohle an Frankreich, Belgien, Luxemburg und Italien liefern.
Einschneidend waren die militärischen Bedingungen, die die Alliierten Deutschland auferlegten. Die Wehrpflicht wurde abgeschafft, das Heer auf 100.000 Mann und die Marine auf 15.000 längerdienende Berufssoldaten beschränkt. Eine Luftwaffe und Unterseeboote durfte Deutschland künftig ebensowenig unterhalten wie Panzer und Gaswaffen. Der Generalstab wurde aufgelöst. Die Hochseeflotte war bis auf geringe Reste auszuliefern – eine Bestimmung, der die Marine durch die Selbstversenkung der Flotte bei Scapa Flow am 21. Juni zuvorkam.
Kein Artikel des Friedensvertrages stieß auf so leidenschaftliche Abwehr wie der von einem juristischen Berater der amerikanischen Delegation, John Foster Dulles, dem Außenminister der Jahre 1953 bis 1959, entworfene Artikel 231. In diesem Artikel mußte Deutschland anerkennen, daß es zusammen mit seinen Verbündeten als «Urheber» des Krieges für alle Verluste und Schäden verantwortlich war, welche die alliierten und assoziierten Mächte und ihre Angehörigen «infolge des ihnen durch den Angriff Deutschlands und seiner Verbündeten aufgezwungenen Krieges erlitten haben». Dulles und den Amerikanern ging es dabei nicht um eine moralische Verurteilung Deutschlands, sondern um einen verbindlichen Rechtstitel für den Anspruch der Verbündeten auf Reparationen. Die Begriffe «Kriegsschuld» oder «Alleinschuld» tauchten in dem Artikel nicht auf. Aber genau so wurde er in Deutschland interpretiert. Diese Deutung lag um so näher, als die These von dem von Deutschland und seinen Verbündeten geführten Angriffskrieg auch der Forderung zugrunde lag, Deutschland müsse seine Kriegsverbrecher und die für den Kriegsausbruch verantwortlichen Staatsmänner an die Verbündeten ausliefern.
Die «Friedensbedingungen der alliierten und assoziierten Regierungen» wurden der deutschen Friedensdelegation am 7. Mai 1919 in Versailles überreicht. Der parteilose Außenminister Graf Brockdorff-Rantzau hielt es für angebracht, auf eine kurze von Clemenceau als Präsident der Friedenskonferenz stehend gehaltene Eröffnungsrede mit einer bewußt arroganten Erwiderung zu antworten, die er, demonstrativ sitzen bleibend, vortrug. Er wies darin vor allem die Behauptung von der deutschen Alleinschuld am Krieg zurück und klagte seinerseits die Sieger an, Hunderttausende von Nichtkämpfern noch nach dem Waffenstillstand vom 11. November durch die Blockade kaltblütig ermordet zu haben. Die Wirkung war verheerend: Wilson empfand den Auftritt auch als persönlichen Affront und sah sich in seiner negativen Einschätzung der preußischen Junker voll bestätigt.
Die Deutschen, die immer noch auf einen «Wilson-Frieden», einen Frieden auf der Grundlage des Selbstbestimmungsrechts der Völker, gehofft hatten, reagierten auf die Bekanntgabe der Friedensbedingungen mit einem Aufschrei der nationalen Empörung. Im Lager der regierenden Parteien der «Weimarer Koalition» aus Mehrheitssozialdemokraten, Zentrum und Deutscher Demokratischer Partei überwog zunächst die Neigung, die Friedensbedingungen für unannehmbar zu erklären. In einer Kundgebung, die die Nationalversammlung am 12. Mai in der Aula der Berliner Universität abhielt, stellte Reichsministerpräsident Philipp Scheidemann die rhetorische Frage: «Welche Hand müßte nicht verdorren, die sich und uns in diese Fesseln legt?» Der preußische Ministerpräsident Paul Hirsch, wie Scheidemann ein Mehrheitssozialdemokrat, gab die Parole aus: «Lieber tot als Sklav’!» Der Präsident der Nationalversammlung, der Zentrumsabgeordnete Konstantin Fehrenbach, nannte den Friedensvertrag die «Verewigung des Krieges» und drohte den Siegern unüberhörbar mit einem zweiten Weltkrieg: «Auch in Zukunft werden deutsche Frauen Kinder gebären und diese Kinder werden die Sklavenketten zerbrechen und die Schmach abwaschen, die unserem deutschen Antlitz zugefügt werden soll.»
Doch nur eine der drei Regierungsparteien war mehr oder minder geschlossen für eine Ablehnung des Friedensvertrages: die DDP. SPD und Zentrum waren in sich gespalten. Die «Realpolitiker», unter ihnen die Reichsminister Matthias Erzberger vom Zentrum und Gustav Noske und Eduard David von der SPD, waren sich bewußt, daß die Alliierten im Fall eines deutschen Nein Deutschland besetzen würden, ohne daß das besiegte Land sie mit seinen schwachen militärischen Kräften daran hindern konnte – eine Einschätzung, die der noch immer amtierende Erste Generalquartiermeister Wilhelm Groener teilte. Gewisse Zugeständnisse aber konnten die deutschen Unterhändler, nachdem sie am 29. Mai in Versailles ihre «Bemerkungen» zum Friedensvertrag vorgelegt hatten, doch noch erreichen: Am 16. Juni erklärten sich die Siegermächte auf Betreiben von Lloyd George mit einer Volksabstimmung in Oberschlesien einverstanden, die über die Zugehörigkeit zu Deutschland oder Polen entscheiden sollte. Für das Rheinland sahen die Verbündeten bei deutschem Wohlverhalten ein vorzeitiges Ende der Besetzung vor. Die deutsche Darstellung zur Kriegsschuldfrage aber wiesen die Siegermächte ebenso scharf wie ausführlich zurück.
Unter dem Eindruck dieser Konzessionen und entsprechender Argumente Erzbergers bildete sich in den Tagen darauf in der Nationalversammlung eine Mehrheit heraus, die bereit war, der Unterzeichnung des Vertrags von Versailles unter dem doppelten Vorbehalt zuzustimmen, daß der Kriegsschuldartikel und die Verpflichtung zur Auslieferung von Kriegsverbrechern nicht bindend sein dürften. Scheidemann hatte sich jedoch bereits, ebenso wie Brockdorff-Rantzau, derart entschieden auf ein Nein festgelegt, daß er nur noch die Möglichkeit des Rücktritts sah. Am 26. Juni vollzog er diesen Schritt. Seine Nachfolge trat ein politisch farbloser Mehrheitssozialdemokrat an: der bisherige Arbeitsminister und vormalige zweite Vorsitzende der Generalkommission der Freien Gewerkschaften, Gustav Bauer. Neuer Außenminister wurde der sprachkundige Hermann Müller, der kurz zuvor zum Vorsitzenden der SPD gewählt worden war. Die DDP gehörte, anders als das Zentrum, der Regierung Bauer nicht mehr an.
Am 22. Juni stimmte die Nationalversammlung mit der Mehrheit von 237 zu 138 Stimmen bei sechs Stimmenthaltungen einer Unterzeichnung des Friedensvertrages unter den beiden Vorbehalten in der Kriegsschuld- und in der Kriegsverbrecherfrage zu. Die Antwort der Verbündeten kam prompt – in Form eines Ultimatums, den Vertrag innerhalb von 24 Stunden vorbehaltlos zu unterzeichnen. Die Nationalversammlung mußte also am 23. Juni erneut und diesmal endgültig entscheiden.
Alles hing nun vom Zentrum ab. Ein Ja zur vorbehaltlosen Annahme wurde den Parlamentariern der katholischen Fraktion dadurch erleichtert, daß Groener in einem Telegramm die Aussichtslosigkeit militärischer Kampfmaßnahmen betonte und die rechten Oppositionsparteien, die Deutschnationalen und die Deutsche Volkspartei, in einer Erklärung ausdrücklich die «vaterländischen Gründe» derjenigen Abgeordneten anerkannten, die für die Annahme stimmten. Für ein Ja sprachen sich in namentlicher Abstimmung schließlich die beiden sozialdemokratischen Parteien, die Mehrheit des Zentrums und eine Minderheit der DDP aus, für ein Nein die DNVP, die DVP, eine Mehrheit der DDP und eine Minderheit des Zentrums. Am 28. Juni setzten Außenminister Hermann Müller von der SPD und Verkehrsminister Johannes Bell vom Zentrum im Spiegelsaal des Schlosses von Versailles, dem Ort der Kaiserproklamation von 1871, ihre Unterschriften unter den Friedensvertrag.
Die tiefe und langanhaltende Entrüstung über das «Diktat von Versailles» hatte viel damit zu tun, daß sich die Regierung Scheidemann, entgegen dem Drängen von Reichspräsident Ebert, geweigert hatte, die von Karl Kautsky gesammelten deutschen Dokumente zum Kriegsausbruch zu veröffentlichen und so die Deutschen auf das vorzubereiten, was sie seitens der Sieger erwartete. Auch in der Sozialdemokratie wünschte im Frühjahr und Sommer 1919 eine große Mehrheit keine offene und selbstkritische Auseinandersetzung mit der Kriegsschuldfrage. Als Eduard Bernstein auf dem ersten Nachkriegsparteitag der SPD, der vom 10. bis 15. Juni 1919 in Weimar stattfand, die Delegierten aufrief, sich der «Frage der Schuld und der Verantwortung» zu stellen und sich nicht länger zu Gefangenen jener Abstimmung vom 4. August 1914 zu machen, in der die sozialdemokratische Reichstagsfraktion den Kriegskrediten zugestimmt hatte, wurde er förmlich niedergemacht – von Hermann Müller besonders heftig und mit unüberhörbaren antisemitischen Untertönen. Scheidemann übertrumpfte Müller noch, als er Bernstein einen «Advokaten des Teufels» nannte, der in seiner Übergerechtigkeit sogar schon die feindlichen Imperialisten verteidige.
Die Scheu, die Politik der Reichsleitung in der Julikrise von 1914 vorurteilsfrei zu betrachten, schlug auf der politischen Rechten rasch um in eine Leugnung der deutschen Kriegsschuld. In Abwehr der alliierten «Kriegsschuldlüge» begann eine Kriegsunschuldlegende zu wuchern, die sich ähnlich wie ihre Zwillingsschwester, die Dolchstoßlegende, als gefährliche Waffe im Kampf nicht nur mit «Versailles», sondern auch mit «Weimar» erwies. Der Behauptung, daß die Deutschen «im Felde unbesiegt» geblieben seien, hatte Friedrich Ebert Vorschub geleistet, als er, noch als Vorsitzender des Rats der Volksbeauftragten, am 10. Dezember 1918 heimgekehrten Truppenverbänden zurief: «Kein Feind hat Euch überwunden!» Ihre klassische Form erhielt die Dolchstoßlegende am 18. November 1919. An diesem Tag legte Hindenburg, der Ende Juni, zusammen mit Groener, sein Amt als letzter Chef der Obersten Heeresleitung niedergelegt hatte, vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuß einem ungenannt bleibenden englischen General die Äußerung in den Mund, die deutsche Armee sei «von hinten erdolcht worden». Von hinten: Das hieß für die deutsche Rechte von der deutschen Linken, den «Marxisten» und «Bolschewisten» oder, noch einfacher und immer häufiger, von den Juden.
Doch nicht nur die deutsche Kriegsschuld von 1914 wurde von den meisten Deutschen verdrängt, sondern auch das Diktat, das das Kaiserreich im Frühjahr 1918 Rußland auferlegt hatte. Versailles war, was wirtschaftliche und territoriale Verluste anging, milder als Brest-Litowsk. Gerecht und klug war freilich weder der eine noch der andere Friedensschluß. Die Vertreter der Siegermächte standen, als sie an den Pariser Vorortverträgen arbeiteten, unter dem Druck ihrer Völker, die eine Bestrafung der ehemaligen Mittelmächte, obenan Deutschlands, und einen Ausgleich für erlittene Schäden verlangten. Die Sieger verstießen zu Lasten der Besiegten gegen das Selbstbestimmungsrecht der Völker, zum Beispiel im Fall des «polnischen Korridors», der Ostpreußen fortan vom Reich trennte: Im nördlichen Westpreußen war die deutsch- und nicht die polnischsprachige Bevölkerung in der Mehrheit. Aber hatten die Deutschen nicht, wo sie siegreich waren, dasselbe getan? Hatten sie Polen nicht seit dem späten 18. Jahrhundert das Recht auf staatliche Existenz bestritten? Und war ein lebensfähiger polnischer Staat ohne Zugang zur Ostsee, also auf Kosten von deutsch besiedelten Gebieten, überhaupt vorstellbar?
In Deutschland wurde dem amerikanischen Präsidenten, auf den so viele ihre Hoffnungen gesetzt hatten, seit dem Bekanntwerden der Friedensbedingungen Verrat am obersten seiner eigenen Grundsätze, dem Selbstbestimmungsrecht der Völker, vorgeworfen. Wilson war in Deutschland fortan ähnlich verhaßt wie Clemenceau. Wilson hatte Frankreich Zugeständnisse machen müssen, aber das galt in der umgekehrten Richtung in noch höherem Maß. Die beiden angelsächsischen Mächte bewahrten Deutschland vor vielem, was es zu ertragen gehabt hätte, wenn der Friede allein von Frankreich diktiert worden wäre. Wilson mußte während der Pariser Verhandlungen auf die amerikanische Öffentlichkeit und namentlich auf den von den Republikanern beherrschten Senat Rücksicht nehmen, denn nur, wenn dieser mit Zweidrittelmehrheit zustimmte, traten internationale Verträge in Kraft. Wäre Wilson zu irgendeinem Zeitpunkt vor Abschluß der Verhandlungen unter Protest nach Washington zurückgekehrt, hätte er Clemenceau das Feld überlassen und in Europa ein Chaos angerichtet. In den letzten Konferenzwochen lautete, in den Worten des Historikers Klaus Schwabe, die Alternative, der sich Wilson gegenübersah, nicht mehr «Kompromißfrieden … oder Wilson-Frieden», sondern nur noch: «Kompromißfrieden oder gar kein Frieden.»
Der Vertrag von Versailles war hart. Aber kaum jemand in Deutschland machte sich bewußt, daß alles noch viel schlimmer hätte kommen können. Das Reich blieb erhalten und das Rheinland ein Teil von Deutschland. Deutschland war nach wie vor das bevölkerungsreichste Land westlich der russischen Grenzen und die wirtschaftlich stärkste Macht Europas. In gewisser Weise hatte sich die außenpolitische Lage Deutschlands gegenüber der Zeit vor 1914 sogar verbessert: Der Konflikt zwischen den Westmächten und Sowjetrußland bedeutete, daß Deutschland keinen Grund mehr hatte, sich «eingekreist» zu fühlen. Und schon in Versailles waren die ersten Risse zwischen den westlichen Verbündeten, Frankreich auf der einen, England und den Vereinigten Staaten auf der anderen Seite, sichtbar geworden. Die Mitgliedschaft im Völkerbund war Deutschland vorerst noch verwehrt, aber dabei mußte es nicht bleiben. Deutschland hatte gute Aussichten, wieder zur europäischen Großmacht aufzusteigen. Es bedurfte nur der nüchternen Einsicht in die neue Lage, um «Versailles» in realistischen Proportionen zu sehen.
Kritik am Friedensvertrag war nicht nur aus Deutschland zu hören. In den Staaten der Sieger waren es vor allem linksstehende Parteien und Zeitungen, die sich scharf ablehnend äußerten. Der «Daily Herald», das Blatt der Labour Party, schrieb nach der Bekanntgabe der Friedensbedingungen, diese verletzten alle Versprechungen; der geplante Völkerbund sei eine «Liga der Sieger ohne Seele» (a League of Victors without a soul). Der «Labour Leader», das Organ der Independent Labour Party, sah Wilsons Vierzehn Punkte mit «gefühlloser Verachtung» (callous contempt) behandelt. Der Führer der Mehrheit («ex-minoritaires») der französischen Sozialisten, Jean Longuet, verglich den Entwurf der Friedensbedingungen mit den Diktatfrieden von Tilsit im Jahre 1807 und Brest-Litowsk im Jahre 1918. Der «Avanti», das Sprachrohr des Partito Socialista Italiano, nannte den Vertragsentwurf unter Anspielung auf die demütigende Niederlage des italienischen Heeres vom Oktober 1917 ein «diplomatisches Caporetto» und sagte den Zusammenbruch der demokratischen Ideologie voraus, die die kapitalistischen Regierungen nur benutzt hätten, um eine Weltkatastrophe mit 12 Millionen Toten zu rechtfertigen. In den USA meinte die linksliberale «Nation», Wilson habe Friedensbedingungen akzeptiert, die allen seinen Versprechungen Hohn sprächen, und sich damit als «Autokrat und ein sich selbst kompromittierender Politiker» erwiesen. Die «New Republic» bezeichnete den Vertragsentwurf als Karthagofrieden, der nur zum «Vorspiel von Streitigkeiten in einem tief gespaltenen und schrecklich verbitterten Europa» werden könne.
Auch von der politischen Rechten in den Siegerstaaten war Kritik zu vernehmen. Sie unterschied sich freilich radikal von der der Linken. Der Historiker Jacques Bainville, einer der führenden Publizisten der «Action française», behauptete, dieser Friede sei «dafür, daß er so hart ist, zu weich». Deutschland werde als Großmacht überleben, die mit etwas Geduld auf die Befreiung von den Bedingungen hoffen könne, die sie infolge der militärischen Niederlage habe akzeptieren müssen. In 15 Jahren, also 1934, werde die entscheidende Kraftprobe kommen, wobei Deutschland sich wohl eher an Polen und der Tschechoslowakei rächen dürfte als an Frankreich. Vergleichsweise milde fiel der Tadel britischer Rechtsblätter aus. Die «Morning Post», die «Daily Mail» und der «Chronicle» fanden, daß die maritimen, militärischen territorialen Klauseln des Vertrags besser ausgefallen seien als erwartet. Dagegen blieben die finanziellen Entscheidungen weit hinter den Versprechungen aus der Zeit der Unterhauswahl vom Dezember 1918 zurück.
Zu einem anderen, ja dem entgegengesetzten Schluß gelangte der Ökonom John Maynard Keynes, der als Finanzexperte und Vertreter des britischen Schatzkanzlers an den Beratungen des Großen Wirtschaftsrates in Paris teilgenommen hatte, bis er Anfang Juni 1919 seine Ämter aus Protest gegen den Vertrag von Versailles niederlegte. 1920 begründete er seine Kritik an der Arbeit der Friedenskonferenz in dem Buch «The Economic Consequences of the Peace», das kurz darauf auch ins Deutsche übersetzt wurde und in Deutschland auf breite Zustimmung stieß. «Paris» erschien Keynes rückblickend als «ein böser Traum» und jeder der maßgebenden Teilnehmer der Verhandlungen als ein «Kranker». Über Clemenceau, in dem er den bösen Geist der Friedenskonferenz sah, urteilte er sarkastisch, er sei einer Täuschung erlegen, Frankreich, und habe eine Enttäuschung erlebt, «die Menschheit, die Franzosen und nicht am wenigsten seine Beratungsgenossen eingeschlossen». Das Ziel des französischen Ministerpräsidenten und damit Frankreichs sei es gewesen, die Uhr so weit als möglich zurückzustellen und ungeschehen zu machen, was der Fortschritt Deutschlands seit 1870 vollbracht habe. Wilson porträtierte der Verfasser als weltfremden Idealisten, der den geistig beweglichen und gerissenen Machtpolitikern Clemenceau und Lloyd George von Anfang an unterlegen gewesen und darum zum Verlierer der Konferenz geworden sei.
Die wichtigste Absicht, die Keynes mit dem Buch verfolgte, war der Nachweis, daß ein «Karthagofriede auch praktisch nicht richtig oder möglich ist». Der Grund dieser Unmöglichkeit war nach Meinung des Autors ein eklatanter Widerspruch der Ziele des Friedensvertrages: Einerseits enthalte er alles, was Deutschland in der Gegenwart berauben und seine Entwicklung in der Zukunft unterbinden könne, andererseits solle Deutschland Geldzahlungen in einem Umfang erbringen, der für Keynes ein Ausdruck von reinem Wunschdenken war. Die wirtschaftspolitischen Illusionen der Akteure führte er auf ihr Desinteresse an einer funktionsfähigen internationalen Wirtschafts- und Finanzordnung zurück. «Der Rat der Vier schenkte diesen Fragen keine Aufmerksamkeit, da er mit anderem beschäftigt war – Clemenceau, das Wirtschaftsleben seiner Feinde zu vernichten, Lloyd George, ein Geschäft zu machen und etwas nach Hause zu bringen, was wenigstens eine Woche lang sich sehen lassen konnte, der Präsident, nur das Gerechte und Rechte zu tun … Wiedergutmachung war ihr Hauptinteresse auf wirtschaftlichem Gebiet, und sie behandelten sie als eine Frage der Theologie, der Politik, der Wahltaktik, kurz, von jedem anderen Gesichtspunkt als dem der wirtschaftlichen Zukunft der Staaten, deren Schicksal in ihren Händen lag.»
Keynes geißelte die enormen Fehlbeträge im französischen Staatshaushalt als Folge der Weigerung, die Steuern zu erhöhen, wie als Ursache der fortschreitenden Entwertung des Franc und stellte dem die vergleichsweise solide britische Kriegsfinanzierung Großbritanniens gegenüber. Die Auswirkungen der verfehlten Reparationspolitik der Verbündeten trafen nicht nur die Besiegten, sondern früher oder später auch die Sieger: «Vor uns steht ein leistungsunfähiges, arbeitsloses, desorganisiertes Europa, zerrissen vom Haß der Völker und innerem Aufruhr, kämpfend, hungernd, plündernd und schwindelnd – wo soll man weniger düstere Farben hernehmen?»
Seine Kritik ergänzte Keynes durch Vorschläge, die darauf abzielten, eine Wende zum Besseren zu bewirken. Er forderte eine Pauschalsumme von 40 Milliarden Goldmark als realistische deutsche Reparationsleistung. Er drängte auf eine internationale Anleihe, verbunden mit einer internationalen Währungsreform, und ein Zusammenwirken der Verbündeten und Deutschlands beim wirtschaftlichen Wiederaufbau Rußlands. Nicht minder revolutionär wirkte der Appell, die interalliierten Kriegsschulden vollständig zu streichen. Opfer hätten dabei die Vereinigten Staaten und Großbritannien zu bringen: die USA als reine Gläubigernation, deren finanzielle Leistungen den Sieg der Westmächte überhaupt erst ermöglicht hatten, Großbritannien als ein Staat, der mehr Kredite an seine europäischen Verbündeten vergeben als Kredite von Amerika erhalten hatte.
Ein Verzicht Großbritanniens auf deutsche Reparationen zugunsten der neuen Staaten Ostmittel- und Südosteuropas war aus Keynes’ Sicht eine Vorbedingung einer solchen zukunftsweisenden Lösung des Problems der interalliierten Kriegsschulden – eines Problems, das auf Italien nicht minder als auf Frankreich lastete. Die Wirtschaftskraft der USA hielt Keynes für so stark, daß sie sich einen Verzicht auf die Rückzahlung der interalliierten Schulden leisten konnten. Ob Washington sich rasch zu dieser Einsicht durchringen würde, war allerdings höchst zweifelhaft. Keynes konnte nur hoffen, daß die Zeit für die Verbreitung seiner Erkenntnis arbeiten würde: «Soll Europa seine Not überleben, so wird es so viel Großherzigkeit von Amerika bedürfen, wie es sie selbst üben muß.»
Die schärfste Kritik am Friedensvertrag mit Deutschland kam aus Moskau. Das Exekutivkomitee der vier Monate zuvor gegründeten Kommunistischen Internationale verglich im Juli 1919 in einem Aufruf an die Werktätigen der ganzen Welt Versailles mit Brest-Litowsk. Der Friedensvertrag falle in seiner ganzen Wucht in erster Linie auf die Arbeiterklasse Deutschlands. «Wenn der Versailler Friede sich als einigermaßen dauernd erweisen würde, so bedeutet das, daß die Arbeiterklasse Deutschlands unter einem Doppeljoch zu stöhnen hätte: unter dem der eigenen Bourgeoisie und dem der ausländischen Sklavenhalter.» Die derzeitige deutsche Regierung protestiere nur mit Worten gegen den Frieden, tatsächlich helfe sie den Imperialisten der Entente, ihren teuflischen Plan in bezug auf die deutsche Arbeiterklasse auszuführen. «In Deutschland hat der Henker Clemenceau keine treueren Diener als Scheidemann und Ebert … Die proletarische Weltrevolution – das ist die einzige Rettung der unterdrückten Klassen der ganzen Welt … Solange der Kapitalismus lebt, kann es keinen dauernden Frieden geben. Der dauernde Friede wird auf den Trümmern der bürgerlichen Ordnung aufgebaut. Es lebe der Aufstand der Arbeiter gegen ihre Unterdrücker! Nieder mit dem Versailler Frieden! Nieder mit Brest! Nieder mit der Regierung der Sozialverräter! Es lebe die Rätemacht der ganzen Welt!»[6]
Die Friedensverträge, die dem Pioniervertrag mit Deutschland folgten, trugen Keynes’ Mahnung keine Rechnung. Der zweite der Pariser Vorortverträge war der am 10. September 1919 in St. Germain unterzeichnete Friedensvertrag mit Österreich. Das Anschlußverbot in Artikel 80 des Vertrags von Versailles ergänzte Artikel 88 des Vertrags von St. Germain. Der Staatsname «Deutschösterreich» mußte in «Republik Österreich» abgeändert werden. Dem Prinzip der nationalen Selbstbestimmung widersprach auch die Grenzziehung am Brenner, die das Land Tirol teilte und das deutschsprachige Südtirol Italien zuschlug, ebenso die schon vorher erfolgte Festlegung der Verbündeten auf einen tschechoslowakischen Staat, der ganz Böhmen und Mähren, also auch dessen deutschsprachige Gebiete, umfassen sollte.
Die Rechte der nationalen Minderheiten, wie der Deutschen und der im slowakischen Landesteil lebenden Ungarn, gedachten die Westmächte durch einen Minderheitenschutzvertrag mit der Tschechoslowakei zu sichern, der am gleichen Tag unterzeichnet wurde wie der Friedensvertrag mit Österreich: am 10. September 1919. Bei der Regelung zweier anderer Grenzfragen gab es Volksabstimmungen: im Oktober 1920 in Kärnten, das zuvor einen heftigen deutsch-slowenischen Nationalitätenkampf samt einer Intervention serbischer Truppen erlebt hatte und als Ganzes bei Österreich blieb, und im Dezember 1920 in Ödenburg, auf ungarisch Sopron, das sich für Ungarn entschied. Die an Österreich grenzenden, deutsch besiedelten Teile Westungarns kamen hingegen auf italienisches Drängen hin zu Österreich, wo sie fortan das Bundesland «Burgenland» bildeten. Dem von tschechischen und südslawischen Nationalisten angestrebten, auf kroatische Streusiedlungen im westlichen Ungarn gestützten «slawischen Korridor» zwischen der Tschechoslowakei und dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen war damit ein Riegel vorgeschoben.
Der Friede mit Ungarn wurde am 4. Juni 1920 in Trianon abgeschlossen. Aus dem Nationalitätenstaat, der das Königreich Ungarn gewesen war, wurde infolge der erzwungenen Gebietsabtretungen an Rumänien, die Tschechoslowakei und Jugoslawien ein fast rein magyarischer Nationalstaat, in dem aber längst nicht alle ethnischen Magyaren lebten: Insgesamt 3,5 Millionen von ihnen wurden zu Bürgern der genannten drei Nachbarstaaten. Ungarn büßte nun auch de jure zwei Drittel seines historischen Territoriums und seiner Bevölkerung ein: ein Verlust, der viel schwerer wog als die Verkleinerung des Staatsgebietes, die der Vertrag von Versailles Deutschland zumutete. Die leicht vorhersehbare Folge war ein radikaler, auf die Revision des Vertrages auf Trianon ausgerichteter Nationalismus, der die Geschichte Ungarns in der Zwischenkriegszeit prägen sollte.
Verglichen mit Ungarn erschienen die Gebietsverluste, die Bulgarien hinnehmen mußte, weniger dramatisch. Der Friedensvertrag von Neuilly, der am 27. November 1919 unterzeichnet wurde, bedeutete für Bulgarien nicht nur die Preisgabe aller Gebiete, die es im Ersten Weltkrieg erobert hatte. Es hatte fortan auch keinen Zugang mehr zur Ägäis: Das fragliche Gebiet, Südthrakien mit dem Hafen Dedeagatsch, auf griechisch Alexandropolis, kam zunächst unter die Kontrolle der Alliierten, die es dann, im April 1920, im Vertrag von San Remo, Griechenland übergaben. Zwischen der Türkei und Bulgarien wurde für die ethnisch gemischten Gebiete ein wechselseitiger Bevölkerungsaustausch vereinbart.
Das bulgarische Territorium verkleinerte sich durch den Vertrag von Neuilly von 114.000 Quadratkilometern im Jahr 1915 auf nunmehr 103.000 Quadratkilometer. Das Königreich durfte künftig nur noch ein kleines Heer von 10.000 Mann unterhalten; es mußte Reparationen in Höhe von 2,25 Milliarden Goldfrancs zahlen. Unterzeichnet wurde der Friedensvertrag von einer vom Bauernbund geführten Koalitionsregierung unter Alexander Stambolijski, der auch die Sozialisten angehörten. Der Bauernbund blieb in den ersten Nachkriegsjahren die stärkste Kraft in dem noch ganz überwiegend agrarisch geprägten Land. Die stärksten Widersacher der größten Partei waren auf der Linken die Kommunistische Partei, die sich eines wachsenden Rückhalts bei den ärmeren Bauern erfreute, und auf der Rechten die Armee, die wichtigste Verbündete aller auf die Revision des Vertrags von Neuilly drängenden Kräfte.
Am längsten zog sich der Abschluß des Friedens mit der Türkei hin. Der Waffenstillstand von Mudros, der am 30. Oktober 1918 abgeschlossen worden war, erwies sich nur als kurzes Intermezzo. Mitte Mai 1919 landeten griechische Truppen mit britischer Unterstützung und ausgestattet mit einem Mandat des Obersten Rates der alliierten und assoziierten Mächte in Paris in Smyrna, auf türkisch Izmir, wo sie ein furchtbares Blutbad unter den einen «Fez» tragenden Bewohnern anrichteten, und begannen von dort aus mit einer Invasion in Westanatolien. Die Truppen, die kurz zuvor noch einer von Frankreich geführten antibolschewistischen Interventionsstreitmacht in Südrußland angehört hatten, sollten angeblich einem italienischen Griff nach Südanatolien zuvorkommen, waren jedoch in Wirklichkeit das Instrument einer sehr viel ehrgeizigeren Politik der Athener Regierung. Dieser ging es um nichts Geringeres als um die griechische Herrschaft über die teils griechisch, teils türkisch besiedelte kleinasiatische Küstenregion und damit um die Schaffung eines Großgriechenland.
Die griechische Intervention stieß bald auf heftigen Widerstand unter Führung von General Mustafa Kemal, dem erfolgreichsten Heerführer der Kriegsjahre und späteren Gründer und Führer der türkischen Republik, den die Regierung von Sultan Mehmed VI. mit der Demobilisierung von Teilen der osmanischen Armee beauftragt hatte. Zwei Nationalkongresse in Erzerum und Sivas wählten ihn im Sommer und Frühherbst 1919 zum Vorsitzenden. Sein Programm war der am 22. September 1919 in Sivas beschlossene «Nationalpakt», der einen türkischen Nationalstaat zum Ziel erhob. Er sollte freilich nicht nur die von ethnischen Türken, sondern auch die von Armeniern, Kurden und Griechen bewohnten Gebiete Anatoliens und Thrakiens umfassen.
Das von Mustafa Kemal gebildete «Repräsentationskomitee» mit Sitz in Ankara bekannte sich zwar zum Schutz des Sultanats und des Kalifats, bildete aber tatsächlich eine Gegenregierung zu der des Sultans. Das Wichtigste war für Mustafa Kemal die Organisierung des Kampfes um die Unabhängigkeit – eines Kampfes, der sich im Westen Anatoliens gegen die Griechen, im Norden gegen die von den Briten protegierte «Ordnungstruppe» oder «Kalifatsarmee», im Osten gegen die armenische Unabhängigkeitsbewegung und im Süden, in dem von französischen Truppen besetzten Kilikien, gegen ebendiese Streitkräfte richtete. Als sich Sultan Mehmed VI. Anfang 1920 der von Mustafa Kemal vertretenen Linie anzunähern begann und das auf seine Weisung hin neugewählte Parlament den Nationalpakt beschloß, entschieden sich die Briten für ein hartes Vorgehen: Am 16. März unterstellten sie Istanbul ihrer Militärverwaltung. Mustafa Kemal ordnete daraufhin die Wahl einer neuen, mit außerordentlichen Vollmachten versehenen Großen Nationalversammlung an, die in Ankara zusammentrat. Am 23. April erklärte sie sich angesichts der faktischen Internierung des Sultans zur vorläufigen Trägerin der gesamten türkischen Souveränität und beauftragte Mustafa Kemal mit der Bildung einer neuen Regierung. In einem auf 20 Tage befristeten Waffenstillstand, der zur Räumung Kilikiens führte, erkannte Frankreich als erste auswärtige Macht die Regierung in Ankara an. Am 18. Juli legte sich die Große Nationalversammlung durch einen feierlichen Eid auf den Nationalpakt fest und sagte damit den Friedensbedingungen den Kampf an, die die Verbündeten am 10. Juni in Sèvres vorgelegt hatten.
Dessen ungeachtet unterzeichneten die Vertreter des Sultans, wenn auch unter nachdrücklichem Protest, am 10. August 1920 den Vertrag von Sèvres. Er bestätigte den Verlust aller nichttürkischen, das heißt arabischen Reichsteile, auf den sich die Verbündeten schon während des Krieges verständigt hatten. Mesopotamien, also das spätere Königreich Irak, und Palästina wurden als Völkerbundsmandate an Großbritannien übergeben, Syrien und Libanon, ebenfalls als Mandatsgebiete, an Frankreich. Griechenland sollte das südöstliche Thrakien bis zur Tschatschalda-Linie, rund 40 Kilometer vor Istanbul, erhalten, außerdem, zunächst für fünf Jahre, Smyrna. Für Armenien war die Unabhängigkeit, für Kurdistan zunächst die Autonomie vorgesehen. Die Meerengen unterstellte der Vertrag internationaler Verwaltung und Kontrolle: ein tiefer Eingriff in die türkische Souveränität. Internationale Militärgerichte sollten osmanische Kriegsverbrechen, vor allem die massenhafte Deportation und Ermordung von Armeniern 1915/16, verfolgen und damit das Werk zu Ende führen, das türkische Militärgerichte, unter massivem Druck der Entente und in Abwesenheit der wichtigsten der damals Verantwortlichen, im April 1919 mit den «Jungtürken-Prozessen» begonnen hatten. (Von den Todesurteilen gegen den ehemaligen Großwesir Talaat Pascha, den ehemaligen Kriegsminister Enver Pascha und den ehemaligen Marineminister Djemal Pascha konnte keines vollstreckt werden, weil sich die Angeklagten dem Prozeß durch die Flucht nach Deutschland entzogen hatten. Talaat Pascha wurde am 15. März 1921 in Berlin von einem armenischen Studenten, der einer nationalistischen Verschwörergruppe angehörte, ermordet.)
Der Vertrag von Sèvres markierte keinen Aufbruch in eine neue, von der Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker geprägte Zeit, sondern einen Rückfall in die Hochzeit des europäischen Imperialismus. Er war der letzte der Pariser Vorortsverträge – und der einzige, der nicht in Kraft trat. Die Große Nationalversammlung verweigerte die Ratifizierung. Um den Ententemächten wirksam entgegentreten zu können, hatte Mustafa Kemal sich mittlerweile um ein taktisches Zusammengehen mit Sowjetrußland bemüht. Die langwierigen Verhandlungen wurden dadurch erschwert, daß Moskau zeitweilig die im Mai 1918 proklamierte Demokratische Republik Armenien unterstützte, gegen die die Türkei Mustafa Kemals 1920 Krieg führte. Im März 1921 kam schließlich ein Freundschaftsvertrag zwischen Sowjetrußland und der Türkei zustande, der (neben russischen Goldlieferungen) die Teilung Armeniens zwischen beiden Ländern zur Folge hatte und die kurze Phase der armenischen Unabhängigkeit jäh beendete.
Um dieselbe Zeit konnte die türkische Nationalarmee unter dem Generalstabschef Ismet Pascha wichtige militärische Erfolge erringen: Sie schlug die griechischen Interventionstruppen, die inzwischen ein Drittel des Landes erobert hatten, zweimal, im Januar und März 1921, bei einem kleinen, etwa auf halber Strecke zwischen Ankara und Istanbul gelegenen Ort namens Inönü (was Mustafa Kemal die Möglichkeit gab, dem Sieger und späteren Regierungs- und Staatschef Ismet Pascha 1934, als Familiennamen obligatorisch wurden, den Namen «Inönü» zu verleihen).
Ein großer politischer Erfolg Mustafa Kemals war es, daß Frankreich sich im Oktober 1920 genötigt sah, einen Vertrag mit der Regierung in Ankara zu schließen, der praktisch einen Sonderfrieden bedeutete. Auch Italien, dem auf Grund des Londoner Geheimvertrages vom April 1915 eine Einflußzone im südlichen Anatolien zugestanden worden war, stellte sich offen auf die Seite Mustafa Kemals. Im September 1922 drang die türkische Nationalarmee unter Führung Mustafa Kemals bis nach Smyrna (oder Izmir) vor. Am 12. September fiel Smyrna. Die vorwärts stürmenden türkischen Truppen trieben die flüchtenden griechischen Soldaten und Zivilisten ins Meer; längst nicht alle von ihnen erreichten auf Schiffen und Booten die nahe gelegenen griechischen Inseln Chios und Mytilene.
Die Jahrtausende alte Geschichte des kleinasiatischen Griechentums nahm damit ein Ende mit Schrecken. Infolge revolutionärer Unruhen in Griechenland mußte König Konstantin I. (der im Juni 1917 schon einmal, unter dem Druck der Entente, auf seinen Thron verzichtet, diesen aber nach dem Tod seines Sohnes und Nachfolgers Alexander und einer Volksabstimmung im Dezember 1920 erneut bestiegen hatte) am 27. September zugunsten seines Sohnes Georg II. abdanken. Beinahe wäre es Anfang September 1922, als die türkischen Truppen sich Tschanak in der neutralen Zone der Dardanellen näherten, auch zu einem direkten Zusammenstoß von türkischen und britischen Truppen gekommen; er unterblieb nur dank der Umsicht des kommandierenden Generals Harrington und der bewußten Zurückhaltung der Türken. Der britische Premierminister Lloyd George, der die Griechen bis zuletzt zum Kampf gegen die Türken angetrieben hatte, mußte für seine Halsstarrigkeit einen hohen Preis bezahlen: Die Konservativen kündigten die Kriegskoalition auf. Aus den Unterhauswahlen vom 15. November 1922 gingen sie als Sieger hervor.
Dem türkischen Sieg in Kleinasien folgten wenig später, am 10. Oktober, der Waffenstillstand von Mudanya und kurz darauf, am 19. Oktober, die Übernahme von Ostthrakien durch die Nationalarmee. Am 1. November 1922 begannen die Friedensverhandlungen in Lausanne. Da die Alliierten hierzu auch die Regierung des Sultans eingeladen hatten, erklärte die Große Nationalversammlung noch am gleichen Tag das Sultanat für erloschen. An Stelle des aus Istanbul geflohenen Sultans Mehmed VI. wählte sie am 18. November den Thronfolger Abdulmecid zum Kalifen und damit zum Oberhaupt der Muslime, versagte ihm aber alle politischen Herrschaftsrechte.
Auf der Konferenz von Lausanne konnte die Regierung Mustafa Kemals ihre wichtigsten politischen Ziele durchsetzen. Im Friedensvertrag, der am 24. Juli 1923 abgeschlossen wurde, erkannten die Alliierten die Unabhängigkeit und Souveränität der Türkei an. Die historischen Vorrechte ausländischer Mächte in der Türkei, die sogenannten «Kapitulationen», wurden aufgehoben, die fremden Truppen auch aus Istanbul abgezogen. Als nicht durchsetzbar erwiesen sich nur die erstrebte volle Souveränität über die Meerengen und die Wiedergewinnung der erdölreichen Provinz Mosul. Die Türkei verpflichtete sich ihrerseits, den türkischen Staatsangehörigen nichtmuslimischen Glaubens die gleichen Rechte, einschließlich der Religionsfreiheit, zu gewähren wie den Muslimen.
Mit Griechenland war bereits im Januar 1923 Einverständnis über einen Austausch nicht nur der Kriegs- und Zivilgefangenen, sondern fast der gesamten muslimischen Bevölkerung Griechenlands und der griechisch-orthodoxen Bevölkerung der Türkei (außer den Griechen in Istanbul und den Türken Westthrakiens) erzielt und eine entsprechende Konvention abgeschlossen worden, die der Vertrag von Lausanne ausdrücklich bestätigte. Insgesamt wurden etwa 1,5 Millionen Griechen und 400.000 Türken umgesiedelt. Bereits vier Jahre zuvor, im November 1919, hatte der Vertrag von Neuilly einen ähnlichen Bevölkerungsaustausch zwischen der Türkei und Bulgarien vorgesehen.
Eine von Staats wegen erzwungene, vertraglich vereinbarte, international sanktionierte, den Willen der Einzelnen mißachtende Massenumsiedlung ethnischer Minderheiten war ein Novum der internationalen Politik und des Völkerrechts. Was 1919 und 1923 zwischen der Türkei und ihren südosteuropäischen Nachbarn mit Zustimmung der westeuropäischen Großmächte vereinbart wurde, sollte die Schaffung ethnisch homogener Nationalstaaten ermöglichen. Es war ein frühes, aber, wenn man an die Massenvertreibungen während des Balkankrieges 1912/13 und die Vernichtung der Armenier 1915/16 denkt, nicht das erste Beispiel dessen, was man später «ethnic cleansing» (ethnische Säuberung) nannte – ein, wie sich nach dem Zweiten Weltkrieg zeigen sollte, gefährlicher Präzedenzfall.
Am 13. Oktober 1923, elf Tage nach dem Abzug der alliierten Truppen aus Istanbul, erklärte Mustafa Kemal Ankara zur endgültigen Hauptstadt der Türkei. Am 29. Oktober rief die Große Nationalversammlung die Republik aus und wählte Mustafa Kemal zum Präsidenten. Damit begann ein historisch einzigartiger Modernisierungsprozeß: die grundlegende gesellschaftliche, politische und mentale Erneuerung eines islamischen Landes. Aus dem einstigen osmanischen Vielvölkerreich, das zugleich die Vormacht der muslimischen Welt gewesen war, sollte ein westlicher Nationalstaat, ja, wie der Staatsgründer schon im März 1923 auf dem «Wirtschaftskongreß» in Izmir erklärt hatte, die «modernste Nation» überhaupt werden.
Der Untergang des Osmanischen Reiches, das Ende seiner Herrschaft über die arabische Welt, war notwendig, um die Türkei, soweit es nur irgend ging, vom arabischen, aus Mustafa Kemals Sicht rückständigen Erbe zu befreien. Diesem Ziel dienten die Abschaffung des Kalifats am 3. März 1924, die Aufhebung der geistlichen Schulen und der islamischen Gerichte, die schrittweise Erweiterung der Rechte der Frauen, die forcierte Industrialisierung, die Europäisierung von Bekleidung und Kopfbedeckung, das Verbot der Derwischkonvente, die Verwandlung von Klöstern in Museen, die Einführung der christlichen Jahreszählung und der lateinischen Schrift, die Türkisierung der Sprache, ihre Reinigung von arabischen und persischen Elementen und nicht zuletzt die Beseitigung des Islam als Staatsreligion durch die Verfassung vom 20. April 1924, die den türkischen Staat als «republikanisch, nationalistisch, volksverbunden, interventionistisch, laizistisch und revolutionär» bezeichnete.
Das Regime Mustafa Kemals, dem die Nationalversammlung 1934 den Ehrennamen «Atatürk» (Vater der Türken) verlieh, erinnerte in manchem an die Herrschaftssysteme des Aufgeklärten Absolutismus. Es war keine vollentwickelte Diktatur, aber noch weniger eine ausgereifte Demokratie. Die Partei des Staatsgründers, die Republikanische Volkspartei, hatte im Parlament stets die beherrschende Stellung inne und duldete nur zeitweise andere, konkurrierende Parteien neben sich. Die kemalistische Türkei orientierte sich systematisch an europäischen Vorbildern: Sie übernahm von der Schweiz das Zivil-, von Deutschland das Handels- und vom faschistischen Italien das Strafrecht. Das normative Projekt des Westens aber, die Ideen der unveräußerlichen Menschenrechte des Individualismus und des Pluralismus, eignete sie sich nicht an.
Das Ende des Osmanischen Reiches ließ, in den Worten des amerikanischen Politologen Samuel P. Huntington, «den Islam ohne Kernstaat» zurück. Die kemalistische Türkei konnte und wollte diese Rolle nicht übernehmen. Ihre Staatsideologie war ein auf politische und weltanschauliche Homogenität ausgerichteter säkularer Nationalismus. Dieser wandte sich, trotz der anderslautenden Bestimmungen des Vertrags von Lausanne, gegen jedes von der Mehrheitskultur abweichende religiöse oder sprachliche Anderssein. Die Christen, von denen es nach 1923 nur noch sehr wenige gab, die Kurden und die Alewiten bekamen das immer wieder zu spüren. Doch Religionsfreiheit genossen auch die Muslime nicht: Der Islam war zwar seit 1924 keine Staatsreligion mehr, seine Ausübung aber unterlag einer strikten staatlichen Kontrolle. Die Verfolgung und Ermordung der Armenier ging ebenso wie die Vertreibung der Griechen in die Fundamente des neuen Staates ein. Die Politiker und Militärs, die wegen des Völkermords von 1915/16 angeklagt worden waren, kamen im März 1923 in den Genuß einer politischen Amnestie. Die unmittelbare Vorgeschichte der Staatsgründung wurde fortan tabuisiert, weil sie dem idealisierenden Bild der kemalistischen Revolution widersprach.
Zur Hauptstütze der Modernisierung von oben wurde das Militär. Es diente als Bollwerk gegen eine Re-Islamisierung und gegen alles, was den straffen Zentralismus des neuen Staates bedrohen konnte. Ein starker Staat war notwendig, um die Kluft zwischen dem entwickelten, urbanisierten Westen und dem rückständigen, agrarischen Osten der Türkei zu überbrücken. Die Bereitschaft, von Europa zu lernen, war in keiner islamisch geprägten Gesellschaft so groß wie in der Türkei. Das Ergebnis war eindrucksvoll, bedeutete aber letztlich nur eine Teilverwestlichung: Die Türkei Atatürks rezipierte vom Westen alles, was sich mit den Zielen und Idealen des Kemalismus vereinbaren ließ, und nichts, was sein Selbstverständnis ernsthaft hätte herausfordern können.[7]
Die Türkei konnte sich gegen den Vertrag von Sèvres auflehnen, ohne daß sie eine massive Intervention der Verbündeten befürchten mußte. Hätte Deutschland sich gegen die Ratifizierung des Versailler Vertrags entschieden, wäre die für diesen Fall geplante Besetzung durch Truppen der alliierten und assoziierten Mächte die unmittelbare Folge gewesen. Dieser Krieg nach dem Krieg fand in Mitteleuropa nicht statt, wohl aber ein anderer: der polnisch-russische Krieg von 1920. Kurz nach dem Ende des Ersten Weltkrieges, am 23. November 1918, hatte sich Piłsudskis Armee im Kampf mit den Ukrainern Lembergs bemächtigt; Ende Dezember wurden ohne größere Kampfhandlungen die Stadt Posen und die polnischsprachigen Teile der gleichnamigen Provinz eingenommen. Als Vorbedingung für die Eingliederung der neuen Westgebiete ratifizierte der polnische Sejm (bei zahlreichen Gegenstimmen der Nationaldemokraten) am 31. Juli 1919 einen Minderheitenschutzvertrag, der den Deutschen und anderen Minderheiten das Recht auf ein Mindestmaß an muttersprachlichem Schulunterricht verbürgte. Mit der Annahme des Friedensvertrages durch Deutschland war die polnische Westgrenze, abgesehen von Gebieten, in denen noch Volksabstimmungen vorgesehen waren, festgelegt.
Der Verlauf der Ostgrenze hingegen war um diese Zeit noch offen. Der russische Bürgerkrieg bot Polen die Chance, sein Gebiet im Zusammenspiel mit der einen oder der anderen Seite zu erweitern. Piłsudski sah in den großrussischen «Weißen» zunächst eine sehr viel größere Gefahr als in den Bolschewiki, die sich, wenn auch mit offenkundigen taktischen Hinterabsichten, für das Recht der nationalen Selbstbestimmung aussprachen. Deshalb verweigerte sich der Erste Marschall von Polen (dies war der Titel, den Piłsudski seit einer Akklamation seiner Legionäre vom 14. November 1918 trug) im November 1919 einem Hilferuf Denikins. Die Situation änderte sich, als seit dem Winter 1919/20 ein Sieg der «Roten» immer wahrscheinlicher wurde. Piłsudski ging von einer kurz bevorstehenden Westoffensive der Roten Armee aus. Tatsächlich wurde im Generalstab der sowjetrussischen Streitmacht im Februar 1920 ein Angriffsplan gegen Polen ausgearbeitet. Um dem erwarteten Schlag zuvorzukommen, entschied sich der Marschall von Polen, entgegen Warnungen des Großen Rates in Paris, zum Angriff auf die Rote Armee.
Als Bündnispartner kam nur die von Symon Petliura geführte ukrainische Volksrepublik in Frage. Am 21. April 1920 schlossen Piłsudski und Petliura einen Offensivpakt ab, der die Volksrepublik Ukraine östlich des Dnjepr der Regierung Petliura überließ, die sich ihrerseits bereit erklärte, eine Föderation mit Polen einzugehen. Polen hätte damit nach Osten hin fast wieder den Gebietsstand erreicht, den es vor der Ersten polnischen Teilung im Jahre 1772 besessen hatte. Fünf Tage später begann die Offensive unter Piłsudskis persönlicher Führung. Die polnisch-ukrainischen Truppen stießen rasch bis Kiew vor, fanden jedoch nicht die erhoffte Unterstützung durch die einheimische Bevölkerung. Der Juni sah dann die Rote Armee auf dem Vormarsch. Dieser verlief so erfolgreich, daß Mitte Juli bereits Wilna und Grodno in «rote» Hände fielen. Die Entwicklung schien Lenin recht zu geben, der gegen den Rat Trotzkis auf eine Offensive der Bolschewiki gedrängt hatte, um endlich die kommunistische Revolution nach Warschau und von dort nach Deutschland, ja ganz Mittel- und Westeuropa zu tragen.
Die Lage wurde für Polen so ernst, daß der neue Ministerpräsident Wladyslaw Grabski, ein Nationaldemokrat, nach Spa reiste, wo er die Alliierten um Hilfe bat. Die Verbündeten waren dazu nur unter harten Bedingungen bereit: Polen mußte sich im voraus den Entscheidungen des Obersten Rates im Hinblick auf die Grenzen zu Litauen und der Tschechoslowakei unterwerfen, zugunsten Litauens auf Wilna verzichten und seine Truppen auf eine Linie zurückziehen, die im wesentlichen die Kongreßpolens von 1815 war. Den Verlauf dieser Linie, die zugleich die künftige Ostgrenze Polens bilden sollte, teilte der britische Außenminister Curzon am 11. Juli, nachdem die Polen zugestimmt hatten, telegraphisch der sowjetrussischen Regierung mit. Die von den Bolschewiki so genannte Curzon-Linie nahm im Norden ihren Anfang an der Bahnlinie Dünaburg-Wilna-Grodno und ging dann über Brest den Bug entlang bis nach Krylów und schließlich durch Galizien westlich von Lemberg und östlich von Przemyol weiter nach Süden. Nur für den Fall, daß die Rote Armee diese Linie überschritt, sollte Polen westliche Militärhilfe erhalten.
Kurz darauf trat der «Bündnisfall» ein. Die westliche Hilfe, vor allem in Gestalt der Lieferung von Kriegsgütern, wurde aber durch viele Faktoren behindert: anhaltende Proteste der politischen Linken und der organisierten Arbeiterschaft in Großbritannien, wo Labour Party und Gewerkschaften sogar mit dem Generalstreik drohten, in Frankreich, Italien und Deutschland gegen einen Krieg gegen Sowjetrußland, die Weigerung der Danziger Hafenarbeiter, Munition von alliierten Schiffen zu entladen, das Nein der Regierungen in Berlin und Prag zum Transport von Truppen und Kriegsmaterial über deutsches beziehungsweise tschechoslowakisches Territorium. Polen war daher überwiegend auf sich selbst gestellt. Eine neue «Regierung der nationalen Verteidigung» unter dem Bauernführer Wincenty Witos, der Politiker aller Parteien mit Ausnahme der Kommunisten angehörten, stellte eine mit umgeschmiedeten Sensen bewaffnete Freiwilligenarmee von 80.000 Mann auf. Insgesamt wuchs die Stärke der polnischen Armee vorübergehend auf 900.000 Mann an.
Die militärische Wende zugunsten Polens führte Marschall Piłsudski, unterstützt von einem französischen Kontingent unter General Weygand, herbei. (Zu den Beteiligten auf französischer Seite gehörte auch der junge Charles de Gaulle, der seit 1919 als Stabsoffizier in der polnischen Armee Dienst tat.) Am 6. August entschied sich der polnische Staatschef für die Offensive. Die Schlacht von Warschau vom 13. bis 25. August 1920, die als «Wunder an der Weichsel» in die Geschichtsbücher einging, endete mit einem Sieg der Polen, dem einige Tage später ein weiterer Sieg am Njemen folgte. Die Rote Armee mußte den Rückzug antreten. Im September standen die polnischen Truppen bereits wieder tief in Weißrußland und der Ukraine. Am 9. Oktober nahmen sie kampflos Wilna ein. Sie setzten sich damit bewußt und mit Billigung Piłsudskis über ein zwei Tage zuvor unterzeichnetes polnisch-litauisches Abkommen hinweg, dem zufolge Wilna bei Litauen bleiben sollte.
Unter dem Eindruck des polnischen Vormarsches willigte Sowjetrußland in den Abschluß eines Vorfriedensvertrages ein, der am 12. Oktober 1920 in Riga unterzeichnet wurde und das Ende des Krieges bedeutete. Der endgültige Frieden, der am 18. März 1921 ebenfalls in Riga geschlossen wurde, brachte Polen eine Ostgrenze ein, die mehr als 200 Kilometer östlich der Curzon-Linie verlief. Pinsk, Lemberg und Tarnopol gehörten nunmehr zu Polen, aber damit auch Gebiete mit einer weißrussischen und ukrainischen Bevölkerung, die sich zur orthodoxen oder griechisch-unierten Kirche bekannte. «Mittel-Litauen», das von Polen, Litauern und Juden bewohnte Gebiet um Wilna, wurde, nachdem Vermittlungsversuche des Völkerbundsrates gescheitert waren, im März 1922 mit Polen vereinigt. Litauen, das in Wilna seine historische Hauptstadt sah, weigerte sich, diesen einseitigen Akt anzuerkennen. Zwischen beiden Staaten gab es infolgedessen keine diplomatischen Beziehungen. Den Zustand ihres Verhältnisses werteten beide Seiten zutreffend als «weder Krieg noch Frieden».
Von den 27 Millionen Bewohnern Polens in den Grenzen von 1922/23 bekannten sich nur 19 Millionen oder rund 70 Prozent zur polnischen Nationalität. 4 Millionen waren ethnische Ukrainer, mehr als 2 Millionen Deutsche und Weißruthenen. Dazu kamen kleinere Gruppen von Russen, Tschechen und Tataren. Das Polen von 1923 war kein «Nationalstaat» mehr, sondern, wie der Historiker Hans Roos urteilt, ein «ausgesprochener Nationalitätenstaat». Es war von Gegnern umzingelt, die alle auf eine Revision dieses Zustands drängten. In diesem einem Punkt gab es Übereinstimmung zwischen mindestens drei Nachbarn: Deutschland, Sowjetrußland und Litauen. Und auch zur Tschechoslowakei war das Verhältnis schlecht: Polen mochte sich nicht damit abfinden, daß eine alliierte Botschafterkonferenz Ende Juli 1920 das zwischen Warschau und Prag umstrittene Gebiet von Teschen entlang des Olsa-Flusses so teilte, daß die Stadt Teschen in zwei Teile zerschnitten wurde und etwa 70.000 Polen Bürger der Tschechoslowakei wurden.
Das «Wunder an der Weichsel» war ein historischer Wendepunkt nicht nur für Polen. Der polnische Sieg ließ die Aussichten, die Revolution von Ost nach West zu tragen, drastisch sinken. Frankreich, das die Rolle der kontinentaleuropäischen Vormacht und des Hauptgegners Sowjetrußlands übernommen hatte, konnte die Früchte seiner militärischen Unterstützung Piłsudskis ernten: Polen wurde zum Eckstein jenes Kartells mittlerer und kleiner Staaten, das als «cordon sanitaire» sowohl das bolschewistische Rußland als auch Deutschland daran hindern sollte, ihren Einfluß auf das mittlere und südliche «Zwischeneuropa» auszudehnen.
Am 20. März 1921, zwei Tage nach dem Friedensschluß von Riga, fand die vom Versailler Vertrag vorgesehene Abstimmung in Oberschlesien statt. Knapp 60 Prozent sprachen sich für Deutschland, 40 Prozent für Polen aus, wobei 597 Gemeinden eine polnische und 664 eine deutsche Mehrheit aufwiesen. Die Reichsregierung forderte daraufhin ganz Oberschlesien für Deutschland, während Polen und die Alliierten für eine Teilung waren. Um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen, unterstützte die Warschauer Regierung insgeheim einen von dem früheren Reichstagsabgeordneten Adalbert Korfanty geführten Aufstand, in dessen Verlauf polnische Insurgenten große Teile des Abstimmungsgebietes besetzten.
Die Reichs- und die preußische Regierung antworteten mit Waffenlieferungen an den oberschlesischen Selbstschutz, eine seit 1920 bestehende paramilitärische Formation, die am 23. Mai zusammen mit dem bayerischen Freikorps «Oberland» den Annaberg, die höchste Erhebung Oberschlesiens, stürmte. Ende Juni bewirkte die Interalliierte Abstimmungskommission den Abzug der bewaffneten Parteien. Am 20. Oktober 1921 entschied der Oberste Rat der Alliierten entsprechend einem Gutachten des Völkerbundsrates die Grenzfrage: Vier Fünftel des oberschlesischen Industriegebietes sollten zu Polen kommen – darunter die Städte Kattowitz und Königshütte, in denen es am 20. März große Mehrheiten für Deutschland gegeben hatte. Deutschland blieb nur der Protest gegen diese Auslegung des Selbstbestimmungsrechtes. Machtmittel, um eine günstigere Entscheidung herbeizuführen, hatte es nicht.
Polen war nicht das einzige unter den Ländern im Lager der Sieger, das mit Entscheidungen der Verbündeten haderte. Auch Italien tat dies. Es hatte zwar Südtirol, Julisch-Venetien, Triest und Istrien sowie die Inseln des Dodekanes erhalten, nicht aber, wie die radikalen Irredentisten verlangt hatten, die einstmals venetianischen Gebiete an der dalmatinischen Küste bis hinunter zur Bucht von Cattaro oder Kotor, die dem neuen Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zugeschlagen wurden. Unerreicht blieb auch das Ziel, Albanien in ein italienisches Protektorat zu verwandeln und einen Anteil an den ehedem deutschen Kolonien zu bekommen. Als besonders schmerzhaft empfanden es die entschiedenen Nationalisten, daß die Anfang November 1918 von italienischen Truppen besetzte ostadriatische Hafenstadt Fiume oder Rijeka, in der mehr Italiener als Kroaten lebten, nicht zu Italien kam, sondern eine unabhängige freie Stadt werden sollte. Die Verbitterung der radikalen Rechten schlug sich im Schlagwort vom «verstümmelten Sieg» (vittoria mutilata) nieder.
Auf der italienischen Seite übernahmen Ministerpräsident Francesco Nitti, der Nachfolger des am 19. Juni 1919 gestürzten Orlando, und Außenminister Tommaso Tittoni, der Nachfolger Sonninos, die Verantwortung für die Ergebnisse der Friedensverhandlungen. Als Nitti im September nach Zusammenstößen zwischen italienischen und französischen Besatzungstruppen in Fiume den Abzug einiger der dort stationierten Einheiten anordnete, rebellierten diese. Sie schlossen sich den Freischärlern unter Führung des Dichters Gabriele D’Annunzio an, der am 12. September in Fiume einzog und sich dort vom italienischen Kommandanten die Gewalt über die Stadt und das anliegende Gebiet übertragen ließ. Nitti reagierte zunächst empört, mußte dann aber zur Kenntnis nehmen, daß die Armeeführung nicht bereit war, gegen D’Annunzio, den vermeintlichen Garibaldi des frühen 20. Jahrhunderts, vorzugehen. Kurz darauf begann der Ministerpräsident das Regime D’Annunzio mit Geldmitteln und Lebensmittellieferungen zu unterstützen.
Nachdem bei den Parlamentswahlen vom November 1919 sowohl die Sozialisten als auch die neuen christlich-demokratischen «Popolari» ausgezeichnete Ergebnisse erzielt hatten (zusammen verfügten sie in der Deputiertenkammer über die Hälfte der Sitze), bildete der «große alte Mann» des italienischen Vorkriegsliberalismus, Giovanni Giolitti, die neue Regierung. Er setzte zunächst die verdeckte Hilfe für D’Annunzio fort. Im November 1920 schloß Giolitti in Rapallo einen Vertrag mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, der Fiume den Status einer freien Stadt gab und die Stadt Zara oder Zadar sowie vier dalmatinische Inseln in italienischen Besitz übergehen ließ. Nach schweren Zusammenstößen zwischen italienischem Militär und D’Annunzio ergebenen Einheiten im Dezember 1920 gab die Regierung Giolitti der Armee einen offiziellen Angriffsbefehl, worauf D’Annunzio kapitulierte. Drei Jahre später wurde der Status Fiumes nochmals verändert: Im Januar 1924, im zweiten Jahr seiner Herrschaft, schloß Benito Mussolini einen Freundschaftsvertrag mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, der diesem Teile des Hafens und das gesamte Hinterland überließ, während die Stadt Fiume ein Teil Italiens wurde.[8]
Die Schaffung des Völkerbundes sollte nach dem Willen Woodrow Wilsons das positive Signal sein, das von der Pariser Friedenskonferenz ausging. Am 10. Januar 1920 trat die Völkerbundsakte zusammen mit dem Vertrag von Versailles in Kraft; am gleichen Tag nahm der Völkerbund in Genf offiziell seine Arbeit auf. Gut zwei Monate später, am 19. März, geschah im amerikanischen Senat das, was für aufmerksame Beobachter nicht mehr überraschend kam, seit es dort am 18. November 1919 eine Mehrheit für amerikanische «Vorbehalte» (reservations) gegen den Vertrag von Versailles gegeben hatte: Bei der entscheidenden Abstimmung fehlten sieben Stimmen zur erforderlichen Zweidrittelmehrheit. Abgestimmt wurde freilich über eine Vorlage, die die von Wilson abgelehnten «reservations» enthielt, so daß auch eine ausreichende Mehrheit dem Präsidenten nicht geholfen hätte. Es waren nicht die Deutschland betreffenden Teile des Vertrages, sondern die in ihm enthaltene Charta des Völkerbunds, die zum Scheitern von Wilsons großem Projekt führten. Die Niederlage des Präsidenten war das Werk der «Isolationisten» unter Führung von republikanischen Senatoren wie William E. Borah aus Idaho und Henry Cabot Lodge aus Massachusetts. Ihr Hauptargument war die Sorge, daß die USA, wenn sie Mitglied des Völkerbunds wurden, immer tiefer in jene «entangling alliances» hineingezogen werden könnten, denen Thomas Jefferson in seiner ersten Inaugurationsrede vom 4. März 1801 eine Absage erteilt hatte. Die Gefahr einer Verwicklung in europäische Händel sahen die Gegner Wilsons aber nicht nur mit dem Eintritt in den Völkerbund verbunden, sondern auch mit dem Garantievertrag, den Wilson und Lloyd George auf der Pariser Friedenskonferenz Frankreich zum Schutz gegen einen unprovozierten deutschen Angriff zugesagt hatten. Auch dieser Vertrag war durch die Entscheidung vom 19. März 1920 hinfällig geworden
Präsident Wilson hatte nach seiner Rückkehr von der Pariser Friedenskonferenz am 8. Juli 1919 im Senat wie auf zahllosen Kundgebungen im ganzen Land für den Völkerbund geworben. Am 25. September brach er nach einer Rede in Pueblo, Colorado, zusammen; nach dem Abbruch der Reise erlitt er wenige Tage später in Washington einen Schlaganfall. Acht Wochen lang konnte er seine Amtsgeschäfte nicht mehr ausüben. Er erholte sich zwar wieder, befand sich aber in den letzten 18 Monaten seiner Amtszeit in einem sehr geschwächten Zustand.
Ob Zugeständnisse an seine Kritiker im Senat das Blatt noch hätten wenden können, ist fraglich. Wilson lehnte ein Entgegenkommen ab, weil dies nach seiner Überzeugung weitere einseitige Änderungen des Vertragswerks zur Folge gehabt hätte. Bei den Präsidentschaftswahlen von 1920 hätte er nach zwei Amtsperioden, der gängigen Praxis entsprechend, ohnehin nicht mehr antreten können. Seit dem März 1920 galt er, der Träger des Friedensnobelpreises 1919, endgültig als ein gescheiterter Präsident – auf eine fast schon tragisch zu nennende Weise gescheitert am Mißverhältnis zwischen seinen hohen idealen Ansprüchen und der widerstrebenden Wirklichkeit Europas und Amerikas.
Die globale Führungsrolle, die Wilson seinem Land zugedacht hatte und die letztlich zu einer «Pax Americana» hätte führen müssen, wurde von großen Teilen der amerikanischen Öffentlichkeit und namentlich der politischen und wirtschaftlichen Eliten nicht angenommen. Amerika hatte durch seine Kredite, seine Materiallieferungen und seine Truppen Großbritannien und Frankreich zum Sieg über Deutschland und seine Verbündeten verholfen, aber es war nicht darauf vorbereitet, die weltpolitische Verantwortung zu tragen, die ihm der gemeinsam errungene Sieg aufbürdete. Die USA wandten sich, als sie den Beitritt zum Völkerbund verweigerten, von Europa zwar nicht vollständig ab: Wirtschaftlich und finanziell blieben sie auf dem alten Kontinent höchst präsent. Sie glichen damit bis zu einem gewissen Grad die Schwächung des bisherigen Weltbankiers Großbritannien aus, der während des Krieges selbst auf amerikanische Hilfe angewiesen war und auch danach weiter angewiesen blieb. Die weltpolitische Lücke aber, die der amerikanische Senat durch sein Veto gegen den Völkerbund riß, konnte keine europäische Macht schließen.
Eine «Pax Britannica» hatte es vor 1914 nur an der kolonialen Peripherie, nicht aber auf dem europäischen Kontinent gegeben. Dort war jetzt Frankreich die stärkste Macht. Doch Frankreich hatte, nachdem seine Maximalziele am Rhein nicht durchsetzbar gewesen waren, ganz auf eine Beistands- und Sicherheitsgarantie der beiden angelsächsischen Mächte gesetzt. Mit dem amerikanischen Nein zum Völkerbund und zum Vertrag von Versailles mußte es diese Hoffnung aufgeben. Frankreichs äußerlich starke Stellung im internationalen System von 1919 war folglich, wie Theodor Schieder geurteilt hat, nur eine «Scheinhegemonie». Sie war zum einen bedroht durch die Zerrüttung der französischen Staatsfinanzen, zum anderen durch die Möglichkeit eines Wiederaufstiegs Deutschlands und eines Zusammengehens der beiden «revisionistischen», den Status quo in Frage stellenden Hauptmächte, Deutschlands und Sowjetrußlands – ein Alptraum, der auch Lloyd George schon auf der Pariser Friedenskonferenz verfolgt hatte.
Die Siegermacht Frankreich fühlte sich also nach 1919 nicht sicher, und weil sie es nicht war, suchte sie sich in der Folgezeit auf dem Weg über die deutschen Reparationen zusätzliche Sicherheit zu verschaffen. Der französische Nationalismus der Nachkriegszeit war so ausgeprägt, daß an eine «Pax Gallica» gar nicht zu denken war. Eine französisch geprägte Friedensordnung hätte die Pariser Bereitschaft erfordert, das nationale Interesse in einen großen, übergeordneten Zusammenhang einzufügen, und an dieser Bereitschaft fehlte es.
Frankreich hätte zudem hinreichend starke Partner finden müssen, denen es das Gefühl einer wirklichen Partnerschaft vermitteln konnte. Vor 1917 war Rußland ein solcher Partner gewesen, doch der stand seit der Oktoberrevolution nicht mehr zur Verfügung. Der Partner der Entente cordiale von 1904, England, dachte nach 1918 nicht daran, Frankreich noch stärker und Deutschland noch schwächer zu machen. Frankreichs Partner waren jetzt Polen und die Staaten der «Kleinen Entente», zu der sich 1920/21 unter französischem Patrionat die Tschechoslowakei, Rumänien und das Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen zusammenschlossen, um dem ungarischen Revisionismus wirksam entgegentreten zu können. Aber Polen, mit dem Paris im Februar 1921 einen Beistandspakt abschloß, war auch nach dem Frieden von Riga, zumindest im Hinblick auf seine Westgrenze und vor allem die zur Tschechoslowakei, selbst ein revisionistischer Staat, und die Staaten der «Kleinen Entente», mit denen der Quai d’Orsay zwischen 1924 und 1927 Bündnis- oder Freundschaftsverträge zuwege brachte, bedurften mehr der französischen Hilfe, als daß sie Frankreich, dem Erfinder des «Cordon sanitaire», solche hätten leisten können. Italien war über den «verstümmelten Sieg» verbittert und viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um ernsthaft als Bundesgenosse in Frage zu kommen. Die europäische Nachkriegsordnung war also prekär und der Friede fragil: ein Zustand, über den sich die französische Politik keinen Illusionen hingeben konnte.
Das Werk der Friedenskonferenz von 1919/20 unterschied sich grundlegend von dem des Wiener Kongresses von 1814/15. Damals hatte das besiegte Frankreich mit am Verhandlungstisch gesessen; es erhielt Friedensbedingungen, die nichts von Rache und Vergeltung an sich hatten, sondern sich am Ziel eines stabilen Gleichgewichts ausrichteten. Die Friedensstifter von 1814/15 mußten noch keine Rücksichten auf ihre Völker nehmen; außer England waren sich alle einig, daß einem Anspruch der Völker auf politische Mitsprache, wenn überhaupt, dann nur in engen Grenzen Rechnung zu tragen war. Hundert Jahre später hatten die demokratischen Ideen sich soweit durchgesetzt, daß es unmöglich geworden war, Friedensverträge zu schließen, die den Willen der Völker mißachteten. Die Völker der Siegermächte wünschten die Bestrafung der Macht, der sie die alleinige Schuld am Krieg gaben, also Deutschlands, und ein Höchstmaß an Entschädigungen für das Leid, die Schäden und die Entbehrungen, die der Krieg mit sich gebracht hatte. Eine Regierung, die dieses Verlangen unter Berufung auf übergeordnete Gebote der Staatsräson zurückgewiesen hätte, wäre sofort gestürzt worden. Folglich konnte Deutschland kein Teilnehmer der Friedenskonferenz sein. Es mußte vielmehr die Bedingungen akzeptieren, die die Sieger unter sich ausgehandelt hatten.
Im Hinblick auf Ostmitteleuropa mußte sich die Pariser Friedenskonferenz mit Problemen befassen, von denen einige bereits in der Revolution von 1848/49 auf die Tagesordnung gekommen waren. Damals hatten die meisten slawischen Völker der Habsburgermonarchie, anders als die Deutschen oder Italiener, noch keinen souveränen Nationalstaat angestrebt, sondern auf einen angemessenen Platz innerhalb des Vielvölkerreiches gedrängt. Sie waren dadurch zu Gegnern aller Kräfte geworden, die die Auflösung des Habsburgerreiches betrieben oder sie billigend in Kauf nahmen: der österreichischen Deutschen, soweit sie die Schaffung eines einheitlichen deutschen Staates unterstützten, der Polen, die die Teilung ihres Landes überwinden und auf ein unabhängiges Polen hinarbeiteten, und der Ungarn, die sich gegen die Oberhoheit des Kaisers in Wien auflehnten. Aus dieser Gegnerschaft ergab sich ein Bündnis mit der habsburgischen Gegenrevolution, das wesentlich zum Scheitern der Revolution in ganz Mitteleuropa beitrug.
Sieben Jahrzehnte später gab es keine slawischen Völker mehr, die das Habsburgerreich aufrechterhalten wollten. Ihr Ziel waren jetzt unabhängige Nationalstaaten, und damit stellten sich erneut Probleme, die erstmals 1848/49 zutage getreten waren, als die Magyaren sich anschickten, aus den Ländern der Stephanskrone einen selbständigen, von Wien unabhängigen Staat zu machen, und damit den Widerstand der slawischen Nationalitäten wie auch der Rumänen und Deutschen herausforderten, die alle nicht zur ungarischen Titularnation gehörten. Die westliche, genauer gesagt französische Idee der «nation une et indivisible» setzte ein hohes Maß an nationaler Homogenität voraus oder erzwang dieses, wo es noch nicht vorhanden war. In Ostmittel- und Südosteuropa hingegen war eine nationale Gemengelage eher die Regel als die Ausnahme. Die uneingeschränkte Anwendung des Mehrheitsprinzips konnte hier nur dazu führen, daß sich die stärkste Nationalität auf Kosten der anderen durchsetzte und deren Identität bedrohte.
Die westlichen Verbündeten sahen dieses Problem und versuchten es mit Hilfe von Minderheitsschutzverträgen zu lösen. Ihre Ratifizierung war die Vorbedingung der vollen völkerrechtlichen Anerkennung der neuen, wiedererstandenen oder territorial stark vergrößerten Staaten Ostmittel- und Südosteuropas. Der erste der Minderheitenschutzverträge wurde am 28. April 1919 mit Polen abgeschlossen. Im Verlauf des Jahres 1919 folgten entsprechende Verträge mit dem Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen, mit der Tschechoslowakei und Rumänien, im August 1920 der mit Griechenland. Die betroffenen Staaten sahen in den Verträgen schwerwiegende Eingriffe in ihre Souveränität und wehrten sich nach besten Kräften dagegen. Tatsächlich enthielten die Verträge nur Mindestforderungen im Hinblick auf die Gleichberechtigung aller Staatsbürger und gewisse kulturelle Rechte derjenigen unter ihnen, die nicht der Titularnation angehörten, darunter unter gewissen Voraussetzungen des Rechts auf muttersprachlichen Schulunterricht.
Ein kollektives Recht auf nationale Identität enthielten die meisten Verträge nicht. Gewisse Ausnahmen zugunsten der ungarischen und der deutschen Minderheit enthielt der rumänische Minderheitenschutzvertrag. Litauen mußte, als Preis für die völkerrechtliche Anerkennung der defacto-Annexion des Memelgebiets im Januar 1923, in der Memelkonvention vom 8. Mai 1924 dem angegliederten Gebiet einen autonomen Status mit einem eigenen Landtag und einer eigenen Regierung gewähren. Am weitesten ging aus freien Stücken Estland, das 1925 seinen nationalen Minderheiten volle Kulturautonomie einräumte, so daß sie sich als öffentlich-rechtlicher Personenverband mit dem Recht auf Steuererhebung konstituieren konnten. Sowohl die deutsche als auch die jüdische Minderheit machten davon Gebrauch. Schule aber machte das estnische Beispiel nicht. Die meisten neuen Nationalstaaten begnügten sich mit der Erfüllung der Mindestbedingungen, die vom Völkerbund garantiert wurden. Die deutschen und die ungarischen Minderheiten hatten in ihren «Mutterländern» Protektoren, die dafür sorgten, daß das Thema Minderheitenschutz nicht in Vergessenheit geriet. Anderen Nationalitäten standen solche einflußreichen Schutzmächte nicht zur Verfügung.
Der Historiker Theodor Schieder hat zwischen drei Phasen der Nationalstaatsgründung in Europa unterschieden. In der ersten Phase formten sich bereits bestehende Staaten durch die Integration ihrer Territorien in zentral regierte Nationalstaaten um: England nach den Revolutionen des 17. Jahrhunderts und Frankreich nach der Revolution von 1789 sind die beiden klassischen Beispiele. In der zweiten Phase, für die die Fälle Italien nach 1859 und Deutschland nach 1866 typisch sind, entstand der Nationalstaat aus dem Zusammenschluß mehrerer staatlich getrennter Nationsteile, wobei liberale Vereinigungsbewegungen und ein historischer Staat, Piemont beziehungsweise Preußen, zusammenwirkten. Der geographische Schwerpunkt war im Fall der ersten Phase Westeuropa, im Fall der zweiten Phase Mitteleuropa. Die Nationalstaatsgründungen von 1918/19 fallen in die dritte Phase, deren Anfänge bis zur Befreiung Griechenlands und Serbiens von der osmanischen Herrschaft in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurückreichen. Die neuen Nationalstaaten entstanden alle aus Sezessionsbewegungen, die sich gegen ein Vielvölkerreich richteten, das osmanische, das habsburgische oder das der Romanows. Ihren Schwerpunkt hatte diese dritte und letzte Phase in Ostmittel- und Südosteuropa.
Das westliche, besser französische Prinzip, wonach eine Nation auf der politischen Entscheidung der vielen Einzelnen beruht, so daß die Existenz der Nation nach dem berühmten Wort von Ernest Renan aus dem Jahr 1882 ein sich täglich wiederholendes Plebiszit (un plébiscite de tous les jours) ist, verlor, je weiter man nach Osten kam, immer mehr an Bedeutung. Schon in Deutschland überwog seit Herder die Ansicht, daß objektive Faktoren wie gemeinsame Sprache, Kultur und Überlieferung und nicht subjektive Willensäußerungen für die Zugehörigkeit zur Nation maßgeblich waren. In den weiter östlich gelegenen neuen Nationalstaaten galt das erst recht.
In dieser verbreiteten Selbsteinschätzung lag die tiefere Ursache der Krise des Nationalstaates in Ostmittel- und Südosteuropa der Zwischenkriegszeit. Wer nicht zur Titularnation gehörte, war, was immer in den Minderheitenschutzverträgen stand, weniger «gleich» als die Angehörigen der hegemonialen oder staatstragenden Nation. Die Übernahme des westlichen Prinzips der demokratischen Mehrheitsentscheidung war von Anfang an mit der Gefahr der Diskriminierung der nationalen Minderheiten verbunden. Um sich in den neuen Nationalstaaten bewähren zu können, mußte dieses Prinzip eingeschränkt und der Schutz der nationalen Minderheiten majorisierungsfest gemacht werden. Daß es die neuen Staaten fast alle an dieser Einsicht in mehr oder minder hohem Maß fehlen ließen, belastete die Entwicklung der Demokratie in den meisten von ihnen.
So konnte es denn auch nur auf den ersten Blick so scheinen, als sei aus dem Ersten Weltkrieg die Welt hervorgegangen, von der die äußerste Linke in den Revolutionen von 1848/49 geträumt hatte: Die «Völkerkerker» waren beseitigt, unter ihnen auch die Vormacht der europäischen Reaktion, das Zarenreich; es gab in fast ganz Europa freie, demokratisch verfaßte Nationalstaaten und über ihnen einen Völkerbund, bei dessen Entstehung die Idee des Selbstbestimmungsrechts der Völker Pate gestanden hatte. Doch nur ein Teil der Linken vermochte in dem kommunistischen Regime, das im November 1917 in Rußland an die Macht gelangt war, ein fortschrittliches oder gar freiheitliches System zu erkennen. Ein anderer Teil tat, mitunter im Bund mit konservativen Kräften, alles, um eine Ausbreitung des Sowjetkommunismus nach Westen zu verhindern, und handelte sich so denselben Vorwurf ein, den 1848 die gemäßigten Liberalen auf sich gezogen hatten: den des Verrats an der Revolution. Ob in den Nachfolgestaaten des osmanischen, des habsburgischen und des russischen Vielvölkerreiches die Freiheit auf sicheren Grundlagen beruhte, daran gab es bereits 1919/20 starke Zweifel, und deshalb war auch ungewiß, ob diese Staaten zu verläßlichen Stützen einer weltumspannenden Friedensordnung werden konnten, wie sie seiner Charta zufolge der Völkerbund anstrebte.
Einer der Väter der Völkerbundsakte, der südafrikanische General und Politiker Jan Christiaan Smuts, seit 1917 einer der Vertreter der Dominions im neugeschaffenen Imperial War Cabinet, hatte ursprünglich vorgeschlagen, die neuen Nationalstaaten Ostmittel- und Südosteuropas zunächst als Mandatsgebiete des Völkerbunds ins Leben zu rufen: eine Konstruktion, die die Souveränität der neuen Staaten massiv eingeschränkt hätte und darum von diesen energisch zurückgewiesen wurde. Angewandt wurde der Mandatsgedanke hingegen, ganz im Sinne von Smuts, auf die arabischen Gebiete des Osmanischen Reiches und die ehemaligen deutschen Kolonien.
Der Gedanke des Völkerbundsmandats war auch ein Zugeständnis an die starke antikolonialistische Strömung in den USA, der Wilson freilich in Paris, aus Rücksicht auf seine europäischen Verbündeten wie aus persönlichem Desinteresse, nur widerwillig Rechnung getragen hatte. Wenn der Völkerbund eines seiner Mitglieder mit der Vormundschaft (tutelage) über ein abhängiges Gebiet betraute, mochte das als eine mildere Form des Kolonialismus und Imperialismus erscheinen als der Kolonialstatus «pur et simple». Im Prinzip war das Mandat als Durchgangsstadium zu späterer Unabhängigkeit gedacht. Realistisch war diese Aussicht zunächst nur bei der ersten der drei Kategorien, in die die betroffenen Gebiete eingeteilt wurden, der Kategorie A. Zu dieser gehörten die arabischen Gebiete des untergegangenen Osmanischen Reiches, von denen drei, Irak, Transjordanien und Palästina, Großbritannien und zwei weitere, Syrien und Libanon, Frankreich als Mandatar erhielten. Mandatsgebiete der Kategorie A galten als so entwickelt, daß die Gewährung der Unabhängigkeit relativ bald zu erwarten war. Als erstes Gebiet dieser Kategorie wurde der Irak, seit 1921 ein Königreich unter Faisal I., dem Sohn des Scherifen von Mekka, Hussein Ibn Ali, im Oktober 1932 in die Selbständigkeit entlassen.
In die Kategorie B, bei der der Zeitpunkt der Unabhängigkeit noch völlig unbestimmt war, fielen, mit der Ausnahme von Deutsch-Südwestafrika, die früheren afrikanischen Kolonien des Deutschen Reiches. Togo und Kamerun wurden zwischen Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. Von Deutsch-Ostafrika fiel die Hauptmasse an Großbritannien; Belgien erhielt die Provinzen Ruanda und Burundi; das Kionga-Dreieck ging an Portugiesisch-Ostafrika, das heutige Mozambique. Deutsch-Südwestafrika wurde auf Drängen von Smuts der Kategorie C zugeordnet, bei der die Unabhängigkeit in noch weiterer Ferne lag als bei der Kategorie B, und der Südafrikanischen Union übertragen, die dort fortan dieselbe Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung betrieb wie in ihrem eigentlichen Staatsgebiet. Der Kategorie C wurden auch die deutschen Kolonien in Polynesien zugeschlagen. Soweit sie südlich des Äquators lagen, wurden die Dominions Australien und Neuseeland als Mandatare bestellt; soweit sie nördlich davon lagen, fielen sie an Japan. Das fernöstliche Kaiserreich erhielt auch die früheren deutschen Rechte in China, allerdings mit der Auflage, Kiautschou später an China zurückzugeben. Das geschah als Folge einer von den USA angeregten internationalen Abrüstungskonferenz, die von November 1921 bis Februar 1922 in Washington stattfand. Dort akzeptierte Japan nicht nur eine Begrenzung seiner Flottenstärke (in einem Verhältnis von 5 zu 5 zu 3, bezogen auf die Kapazitäten der USA, Großbritanniens und Japans), es erkannte auch die Unabhängigkeit Chinas an und verpflichtete sich ihm gegenüber zu einer «Politik der offenen Tür» – aus Sicht japanischer Nationalisten und vieler Militärs ein demütigendes Zugeständnis an die Westmächte.
Was der Völkerbund im Hinblick auf die ehemaligen Kolonien und die arabischen Gebiete des einstigen Osmanischen Reiches tat, bedeutete keinen Bruch mit der bisherigen Praxis des Kolonialismus und Imperialismus. Von den Mandatsgebieten des Nahen Ostens abgesehen, hatten die «neuen» Kolonien kaum bessere Chancen, in die Unabhängigkeit entlassen zu werden, als die «alten» Kolonien der Siegermächte und der Neutralen. Durch die relative Privilegierung der Mandate der Kategorie A und die Diskriminierung aller übrigen Kolonien förderten die europäischen Kolonialmächte ungewollt das Unabhängigkeitsstreben in allen von ihnen abhängigen Gebieten, und zwar am meisten dort, wo, wie in Indien und Ägypten, der Nationalismus schon vor 1914 starken Zuspruch gefunden hatte.
Ägypten erlebte 1919 revolutionäre, von der nationalistischen Wafd-Partei geschürte Unruhen, ausgelöst durch die Weigerung Großbritanniens, eine ägyptische Abordnung («wafd») an der Pariser Friedenskonferenz teilnehmen zu lassen. Im Jahr darauf erfaßten die anti-kolonialistischen Unruhen auch die Mandatsgebiete des Nahen Ostens: In Syrien und Irak protestierten die Araber gegen die Verhinderung eines größeren beziehungsweise eines gesamtarabischen Staates durch Großbritannien, Frankreich und den Völkerbund, in Palästina gegen das Projekt einer nationalen Heimatstatt für die Juden, auf das sich die britische Politik durch die Balfour-Deklaration vom November 1917 festgelegt hatte. 1921 begann ein Aufstand der Rifkabylen erst in Spanisch-, dann auch in Französisch-Marokko, der endgültig erst 1926 niedergeschlagen werden konnte.
In Indien, das während des Ersten Weltkrieges einen großen Anteil an den Armeen des Empire gehabt hatte, kam es ein halbes Jahr nach Kriegsende zu blutigen Zusammenstößen zwischen der Kolonialmacht und der Bevölkerung. In Amritsar schossen im April 1919 Gurkha-Truppen unter dem Befehl eines britischen Generals auf eine unbewaffnete Menge, die ungeachtet eines offiziellen Verbots gegen repressive Notstandsgesetze, die nach ihrem Urheber, einem britischen Richter, benannten Rowlatt-Gesetze, protestierten; es gab 379 Tote und etwa 1200 Verletzte. Die Vorgänge von Amritsar und anderen Orten des Panjab, wo sogar Flugzeuge und Maschinengewehre gegen die Bevölkerung eingesetzt wurden, erschütterten Indien zutiefst. Die Unabhängigkeitsbewegung radikalisierte sich, und seit 1920 auch ihr bis dahin gemäßigter Wortführer Mahatma Gandhi. Die britische Herrschaft war so bedroht wie niemals zuvor seit dem Aufstand von 1857/58 – ein Warnsignal an alle, die glaubten, mit der imperialistischen Politik in Asien und Afrika nach 1918 so weitermachen zu können, als ob es den Ersten Weltkrieg gar nicht gegeben hätte.
Im August 1914, als der Krieg begann, hatte der englische Schriftsteller Herbert George Wells, ein Mitglied der sozialdemokratisch orientierten Fabian Society, von einem «War That Will End War» gesprochen und damit, ohne es zu wissen, eine Parole des deutschen Linkshegelianers Arnold Ruge aufgegriffen, der am 22. Juli 1848 in der Frankfurter Paulskirche im Hinblick auf den erhofften europäischen Befreiungskrieg gegen das autokratische Rußland behauptet hatte, dieser Krieg wäre «der letzte Krieg, der Krieg gegen den Krieg, der Krieg gegen die Barbarei, welche der Krieg ist». Wells’ Kriegsdeutung fand nicht nur in England und Frankreich, sondern auch auf der anderen Seite des Atlantiks, in den Vereinigten Staaten, einen starken Widerhall. Sie floß mit ein in die Ideen zur Befriedung der Welt, mit denen Präsident Wilson die amerikanische Öffentlichkeit von der Notwendigkeit des Kriegseintritts der USA und Europa von der Mission Amerikas zu überzeugen versuchte. Die Nachkriegsordnung, wie sie aus den Pariser Friedensverhandlungen hervorging, bot nur wenig Anlaß zu der Hoffnung, daß nun eine Ära des dauerhaften Friedens beginnen werde.[9]
Protest, Prohibition,
Prosperität:
Die USA in den zwanziger Jahren
Mit 115.000 gefallenen Soldaten hatten die USA sehr viel weniger Opfer zu beklagen als die europäischen Mächte: Deutschland und Rußland kamen auf 1,8 beziehungsweise 1,7 Millionen, Frankreich auf 1,4, Österreich-Ungarn auf 1,2 und Großbritannien auf knapp 1 Million militärische Kriegstote. Dennoch bedeutete der Erste Weltkrieg für die Amerikaner einen tiefen Einschnitt. In den Jahren 1917/18 hatten sie mit vielem gebrochen, was für ihr Selbstverständnis grundlegend war: Sie hatten nicht nur in Europa gekämpft, sondern sich zeitweilig von den althergebrachten Grundsätzen des «free enterprise» und der Meinungs- und Pressefreiheit verabschiedet. Nach dem Ende der Kampfhandlungen lag also nichts näher als der Wunsch, so rasch wie möglich zu dem zurückzukehren, was vor dem Kriegseintritt normal gewesen war.
Für die Unternehmer hieß Normalisierung vor allem eines: Rücknahme der Zugeständnisse, die sie während des Krieges den Arbeitern und ihren Gewerkschaften hatten machen müssen. Die Arbeiter, die zum Militärdienst einberufen worden waren, wollten ihrerseits die Arbeitsplätze wieder einnehmen, die in der Zwischenzeit vielfach von Frauen und nicht zuletzt von Schwarzen besetzt worden waren, die in den Jahren seit 1914 im Zuge der «Great Migration» aus dem landwirtschaftlichen Süden in den industriellen Norden gekommen waren. Alle Arbeiter litten 1919/20 unter einer wirtschaftlichen Kriegsfolge: der grassierenden Inflation mit Preissteigerungsraten von bis zu 15 Prozent, die die bescheidenen Lohnzuwächse von 1917/18 rasch auffraßen.
Im Jahre 1919 erschütterten mehrere Wellen von Streiks das Land von der West- bis zur Ostküste: In Seattle im Bundesstaat Washington weitete sich im Januar ein Ausstand der Werftarbeiter zu einem mehrtägigen Generalstreik aus, der zwar von den radikalen Industrial Workers of the World (IWW), kurz «Wobblies» genannt, nicht aber vom größten, von Samuel Gompers geführten gewerkschaftlichen Dachverband, der American Federation of Labor (AFL), unterstützt wurde und nach dem Einsatz von Bundestruppen ein rasches, unblutiges Ende fand. In Boston weigerte sich im September sogar die Polizei aus Protest gegen ihre schlechte Entlohnung, weiter Dienst zu tun. Die Folge waren Ausschreitungen und Plünderungen, die den republikanischen Gouverneur von Massachusetts, Calvin Coolidge, zum Einsatz der Nationalgarde veranlaßten. Den Vorschlag von Gompers, den Lohnforderungen der streikenden Polizisten entgegenzukommen, wies er mit einem Verdikt zurück, das ihm bei konservativen Amerikanern im ganzen Land viel Beifall einbrachte: «Es gibt kein Recht, gegen die öffentliche Sicherheit zu streiken – für niemanden, nirgendwo, niemals» (There is no right to strike against public safety by anybody, anywhere, anytime).
Wenige Tage nach dem Bostoner Polizeistreik begann im Mittleren Westen ein Streik in der Stahlindustrie, an dem sich 365.000 Arbeiter und, wie in Seattle, die IWW, nicht aber die AFL beteiligten. Der blutige Höhepunkt waren Anfang Oktober Zusammenstöße zwischen Streikenden und Militär in Gary, Indiana, bei denen 19 Arbeiter ums Leben kamen. Die Produktion lief unterdessen weiter, weil unorganisierte, meist schwarze Arbeiter die Plätze der Streikenden einnahmen. Im Januar 1920 brach der Ausstand in sich zusammen – ohne daß die Arbeiter irgendeine Verbesserung erreicht hätten.
Die schwarzen Amerikaner hatten im Krieg ebenso tapfer gekämpft wie ihre weißen Kameraden. Dem Ziel der Gleichbehandlung brachte sie dieser Einsatz aber nicht näher. Schwarze, die nach 1917 in der Industrie Beschäftigung gefunden hatten, wurden seit Ende 1918 rasch durch zurückgekehrte weiße Veteranen ersetzt. Daß schwarze Arbeiter meist sehr viel weniger verdienten als weiße, machte sie in den Augen der letzteren zu Lohndrückern: ein wichtiger Grund zunehmender Ressentiments gegenüber der farbigen Minderheit. Die Zahl der gelynchten Schwarzen stieg von 48 im Jahr 1917 auf 63 im Jahr 1918 und 78 im Jahr 1919. In Chicago, wo es bereits im Frühjahr 1919 mehrere Bombenanschläge in schwarzen Wohngegenden gegeben hatte, entluden sich die Spannungen zwischen den Rassen im Juli in bürgerkriegsähnlichen Unruhen. Es gab 537 Verletzte und 38 Tote, die meisten von ihnen Schwarze. Insgesamt starben bei Rassenkrawallen im Sommer 1919.120 Menschen.
Die größte Interessenvertretung der farbigen Amerikaner, die National Association for the Advancement of Colored People (NAACP), zog aus der Eskalation der Gewalt den Schluß, daß die Schwarzen sich nicht länger mit dem Ruf nach Schutz durch die Behörden begnügen durften, sondern zur Selbstverteidigung gegenüber dem weißen Mob schreiten mußten. Radikale Schwarze um den gebürtigen Jamaikaner Marcus Garvey gingen weiter und propagierten den Bruch mit der weißen Gesellschaft und die Rückkehr nach Afrika. Einige Jahre später setzte in New York die «Harlem Renaissance» ein: eine Bewegung von schwarzen Schriftstellern und Künstlern, die das Selbstbewußtsein der farbigen Minderheit durch Rückbesinnung auf ihre afrikanischen Wurzeln und ihre kulturelle Identität als schwarze Amerikaner zu heben versuchte.
Im April 1919 wurde die amerikanische Öffentlichkeit durch eine Reihe von Bombenpäckchen aufgeschreckt, die an prominente Wirtschaftsführer und Politiker adressiert waren, von denen die Post aber, mit einer Ausnahme, alle abfangen konnte, ehe sie die Empfänger erreichten. (In dem einen Fall, wo dies nicht gelang, wurden der Hausangestellten eines Senators beim Öffnen des Päckchens beide Hände abgerissen.) Nicht mehr rechtzeitig entschärft werden konnten die Bomben, die am 2. Juni in acht Städten nahezu gleichzeitig explodierten; eine von ihnen richtete an der Fassade des Hauses von Wilsons Justizminister A. Mitchell Palmer erhebliche Schäden an. In der Presse war sofort von einer großangelegten, weitverzweigten, von der Kommunistischen Internationale in Moskau gesteuerten Verschwörung gegen die politische und gesellschaftliche Ordnung der USA die Rede. Die meisten Einzelstaaten beantworteten den «Red Scare» mit Anti-Aufruhr-Gesetzen; in zahlreichen Städten, Schulen und Universitäten kam es zu politischen Säuberungsaktionen gegen vermeintliche oder tatsächliche Revolutionäre.
Justizminister Palmer reagierte auf den «Red Scare» mit äußerster Härte. Anfang November 1919 ließ er 250 Mitglieder einer «Union of Russian Workers» festnehmen und auf dem Seeweg über Finnland nach Sowjetrußland deportieren. Im Januar 1920 holte Palmer, unterstützt von seinem jungen Mitarbeiter J. Edgar Hoover, zum entscheidenden Schlag aus: Über 6000 «Radikale», darunter Streikagitatoren, Mitglieder von zwei kleinen kommunistischen Parteien und Anarchisten, wurden vom neugegründeten Federal Bureau of Investigation (FBI) festgenommen und verhört. Etwa 500 verdächtige Ausländer wurden, obwohl den meisten weder eine extreme Gesinnung noch Straftaten nachzuweisen waren, ausgewiesen, rund 250 aus dem einstigen Zarenreich stammende Personen nach Sowjetrußland deportiert.
Die «Palmer Raids» fanden in der Öffentlichkeit zunächst viel Beifall; nur vereinzelt protestierten Liberale und Linke gegen die krasse Verletzung der bürgerlichen Freiheitsrechte. Zu den bekanntesten Opfern des Generalverdachts gegen linke «Aliens» wurden zwei italienische Einwanderer, der Schuhmacher Nicola Sacco und der Fischverkäufer Bartolomeo Vanzetti, die aus ihren anarchistischen Neigungen keinen Hehl machten. Im Mai 1920 wurden sie wegen gemeinschaftlich begangenen Raubmordes an dem Zahlmeister einer Schuhfabrik in Braintree, Massachusetts, angeklagt und am 14. Juli 1921 auf Grund höchst zweifelhafter Indizien zum Tode verurteilt. Liberale, Sozialisten und Kommunisten organisierten daraufhin weltweite, von vielen prominenten Intellektuellen, darunter George Bernard Shaw, H. G. Wells und Albert Einstein, unterstützte Solidaritätsaktionen, die aber nur einen Aufschub der Urteilsvollstreckung bewirkten. Am 23. August 1927 wurden Sacco und Vanzetti trotz internationaler Proteste auf dem elektrischen Stuhl hingerichtet. Die posthume Rehabilitierung der beiden italienischen Anarchisten erfolgte ein halbes Jahrhundert später, im Juli 1977, durch den Gouverneur von Massachusetts, den Demokraten Michael Dukakis.
Wenn es ein Thema gab, das die amerikanische Öffentlichkeit in den Jahren 1919/20 noch mehr bewegte als der «Red Scare», dann war es die Prohibition. Am 16. Januar 1920 trat, nachdem die notwendigen verfassungsändernden Mehrheiten im Kongreß und in den einzelstaatlichen Parlamenten zustande gekommen waren, das 18. Amendment zur Verfassung von 1787 in Kraft. Es verbot die Herstellung, den Verkauf und den Transport alkoholischer Getränke in den USA. Die Prohibition war ein altes Anliegen der Temperenzler von der Anti-Saloon League, der evangelikalen Fundamentalisten, vor allem jener aus den ländlichen Gegenden des Südens und des Mittleren Westens, vieler Frauenverbände und schließlich auch des Progressive Movement, der großen Reformbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts. Die erforderlichen Mehrheiten auf nationaler wie auf einzelstaatlicher Ebene kamen nur zustande, weil Senatoren und Abgeordnete von der Anti-Alkohol-Lobby unter massiven Druck gesetzt worden waren.
In der Praxis erwies sich das Alkoholverbot als nicht durchsetzbar. Von der großen Mehrheit der Bevölkerung wurde es abgelehnt und mißachtet. An die Stelle der verbotenen «Saloons» traten illegale, als private Clubs getarnte Kneipen, die sogenannten «speak easy»-Lokale. An der Schwarzbrennerei und dem Alkoholschmuggel über die mexikanische und kanadische Grenze verdiente das organisierte Verbrechen. Nach dem scharfen, aber zutreffenden Urteil des Politikwissenschaftlers und Juristen Ernst Fraenkel war die Prohibition «der vielleicht größte politische Narrenstreich der amerikanischen Geschichte». Sie untergrub, so Fraenkel, «die Rechtsmoral der Nation, förderte das Gangsterwesen, korrumpierte den Staatsapparat und brachte das Land an den Abgrund eines administrativen Chaos». Das Kapitel Prohibition endete im Jahre 1933 zu Beginn der Präsidentschaft von Franklin Delano Roosevelt, als die öffentliche Meinung das 21. Amendment erzwang. Es hob das 18. Amendment auf, gestattete es aber den Einzelstaaten, den Transport oder die Einfuhr von alkoholischen Getränken durch Gesetze zu verbieten.
Ein gutes halbes Jahr nach dem 18. Amendment, im August 1920, trat das 19. Amendment in Kraft. Es brachte den Frauen endlich das Recht, für das die amerikanischen Suffragetten seit Jahrzehnten gekämpft und das sie bis 1914 bereits in elf Bundesstaaten durchgesetzt hatten: das Recht, an Wahlen unter denselben Bedingungen teilzunehmen wie Männer. Die ersten Präsidentschaftswahlen, bei denen die Frauen ihre Stimme abgeben konnten, waren die vom November 1920. Aus ihnen gingen die Republikaner als überlegene Sieger hervor, obwohl ihr Kandidat, der konservative Senator Warren G. Harding aus Ohio, sich zuvor politisch in keiner Weise hervorgetan hatte und als unbeschriebenes Blatt galt. Sein «running mate» für das Amt des Vizepräsidenten war der Gouverneur von Massachusetts, Calvin Coolidge, der «Held» des Bostoner Polizeistreiks vom September 1919. Auf das demokratische «Ticket», auf dem der Gouverneur von Ohio, James M. Cox, und, als Kandidat für das Amt des Vizepräsidenten, der junge Assistant Secretary des Marineministeriums, Franklin Delano Roosevelt, standen, entfielen lediglich 34 Prozent der Wählerstimmen: das bisher schlechteste Ergebnis eines Präsidentschaftskandidaten einer der beiden großen Parteien. Der Triumph der Republikaner war Ausdruck einer überwältigenden Sehnsucht nach Rückkehr zur Normalität – jener amerikanischen «normalcy», von der Harding gern sprach und in der er seine Absage an den idealistischen Internationalismus der Wilson-Jahre bündelte.
Die Amtszeit Hardings dauerte nur etwas über zwei Jahre: Sie endete mit seinem Tod am 2. August 1923, der Folge von zwei Herzinfarkten. In die Amtszeit von Wilsons Nachfolger fielen Betrugs- und Korruptionsskandale, in die der Innen- und der Justizminister verwickelt waren. Der spektakulärste Fall war der des Innenministers, des bisherigen Senators von New Mexico, Albert B. Fall. Er hatte sich von Harding die Kontrolle über Ölreserven der Marine in Wyoming und Kalifornien übertragen lassen und diese dann insgeheim gegen großzügige Schmiergeldzahlungen an private Unternehmer verpachtet. An die Öffentlichkeit gelangte die Affäre, die Fall schließlich für ein Jahr ins Gefängnis brachte, im Sommer 1923, kurz nach dem Tod des Präsidenten. Die Nachfolge Hardings trat Vizepräsident Coolidge an. Im November 1924 gewann er die Präsidentschaftswahlen als Kandidat der Republikaner souverän. Auf ihn entfielen 54 Prozent der Wählerstimmen, auf den demokratischen Bewerber, John W. Davis, einen Wirtschaftsanwalt aus New York, 29 Prozent, auf den Senator Robert M. La Follette aus Wisconsin, der für die League for Progressive Political Action antrat, 17 Prozent.
Die Demokraten hatten während des Präsidentschaftswahlkampfes von 1924 überlegt, ob sie offensiv gegen den Ku-Klux-Klan (KKK) auftreten sollten, sich aber dann aus Rücksicht auf ihre Wählerschaft in den Südstaaten dagegen entschieden. Der KKK, die nach dem Bürgerkrieg entstandene, in den siebziger Jahren abgestorbene Geheimorganisation rassistischer Südstaatler, war 1915 neu gegründet worden. Sein «mobbing» richtete sich nicht nur gegen die Schwarzen, sondern auch gegen Juden, Katholiken und «linke» Ausländer. In der Nachkriegszeit fand er zunehmenden Widerhall nicht nur im Süden, sondern auch in kleineren Städten des Mittleren und des Fernen Westens; Indiana wurde seine neue Hochburg. Die Anhänger waren überwiegend verschuldete Farmer, kleine Ladenbesitzer, andere Selbständige und Angestellte. Die Mitgliederzahlen erreichten 1924 mit angeblich über 4 Millionen ihren Höhepunkt. Einschüchterung bis hin zu Verprügeln, «Teeren und Federn», Auspeitschen und Lynchen gehörten zu den Kampfmethoden des KKK, die schon in der Zeit der Reconstruction erprobt worden waren. Während der Prosperität der mittleren zwanziger Jahre ließ der Zulauf zum KKK nach, aber auch danach blieb er die schlagkräftigste, seit 1928 auch nicht mehr geheime Kampforganisation der äußersten Rechten.
Der Ku-Klux-Klan war die extremste Äußerung des amerikanischen «Nativismus» der Nachkriegsjahre. Der Klan machte sich damit zum Sprachrohr verbreiteter Ängste und Ressentiments, denen auch die Gesetzgebung Tribut zollte. 1921 verabschiedete der Kongreß ein Gesetz zur Beschränkung der Einwanderung. Eine darin enthaltene Quotenregelung sah vor, daß aus keinem Land mehr als 3 Prozent der Personen gleicher Nationalität einwandern durften, die schon 1910 in den USA gelebt hatten. Die Zahl der offiziell zugelassenen Immigranten sank daraufhin von 800.000 auf 300.000, was die Nativisten aber nur für eine Abschlagszahlung hielten.
1924 folgte ein weiteres Gesetz, der National Origins Act. Er sperrte, das Vorbild des kanadischen Chinese Exclusion Act von 1923 noch übertreffend, die Vereinigten Staaten für Einwanderer aus Ostasien vollständig und senkte für die europäischen Länder den 1921 festgelegten Quotenanteil von 3 auf 2 Prozent, wobei nicht mehr die Zahlen von 1910, sondern die von 1880 zugrunde gelegt wurden – eine Bestimmung, die unter anderem jüdische Einwanderer aus Ost- und Ostmitteleuropa diskriminierte. 1929 wurde die Einwanderung weiter eingeschränkt: auf eine Obergrenze von 150.000 Personen jährlich. In den folgenden Jahren lag die Zahl der zugelassenen Immigranten meist weiter unter dieser Marge. An den rassistischen Motiven der Einwanderungspolitik gab es nichts zu deuteln. Einer der Experten, die das Repräsentantenhaus bei der Erarbeitung des Gesetzes von 1924 berieten, war der Eugeniker Harry H. Laughlin. Er wurde nicht müde, seine Landsleute vor der Gefahr der «mongrelization» (Bastardisierung) zu warnen. Einer der Hauptbefürworter des Gesetzes, der demokratische Abgeordnete R. E. Allen aus West Virginia, ging so weit, am 5. April 1924 im Plenum des Repräsentantenhauses die «Reinigung und Reinhaltung des amerikanischen Blutes» (purifying and keeping pure of the blood of America) als einzigen Weg zur Rettung vor dem Bolschewismus zu bezeichnen.
Die Furcht vor dem Kommunismus war in keinem westlichen Land so wenig begründet wie in den USA. 1919 hatten sich von der kleinen Sozialistischen Partei zwei kommunistische Parteien abgespalten: die Communist Labor Party, deren 60.000 Mitglieder zu neun Zehnteln Einwanderer waren, und die kleinere, etwa 10.000 Mitglieder zählende Communist Party, der überwiegend geborene Amerikaner angehörten. Im Mai 1921 vereinigten sich beide Gruppen auf Drängen der Komintern zur Communist Party of America. Bis zum Ausschluß der Anhänger Leo Trotzkis im Jahre 1928 wurde die CPA von heftigen «Fraktionskämpfen» erschüttert. Auch danach kam sie über den Status einer Splittergruppe nicht hinaus: 1929 zählte sie weniger als 10.000 Mitglieder. Einzig die Bombenanschläge der Anarchisten und die Sympathien, die es bei den IWW anfänglich für die Sache der Bolschewiki gab, ließen 1919/20 den Anschein einer revolutionären Bedrohung aufkommen.
Die Socialist Party lehnte die gewaltsamen Methoden der Bolschewiki strikt ab, blieb aber ebenfalls eine Randerscheinung. Den Höhepunkt ihres Rückhalts in der Wählerschaft erreichte sie bei den Präsidentschaftswahlen von 1920 mit fast einer Million Stimmen, die auf ihren zu dieser Zeit noch inhaftierten Vorsitzenden Eugene V. Debs entfielen. Die große Mehrheit der amerikanischen Arbeiter war nach wie vor für eine grundlegende Veränderung der überkommenen kapitalistischen Wirtschaftsordnung nicht zu gewinnen. Was sie erstrebten, waren höhere Löhne und kürzere Arbeitszeiten, wie sie die AFL forderte, also «bread and butter» und keine Vergesellschaftung der Produktionsmittel.
Die Art und Weise, wie große Teile der amerikanischen Öffentlichkeit auf die kommunistische Herausforderung reagierten, hatte Gründe, die tief in die Geschichte zurückreichten. In keinem großflächigen Land war die Demokratie so fest in der Alltagskultur verwurzelt wie in den USA; nirgendwo wurde das private Eigentum so «heilig» gehalten wie hier. Ein System, das im Namen der «Diktatur des Proletariats» eine völlig neue, auf das Gemeineigentum gegründete Gesellschaft errichten wollte, war die denkbar radikalste Kampfansage an den «American way of life». Mehr noch: Ein solches System schien die von Gott gewollte Ordnung der weltlichen Dinge von Grund auf in Frage zu stellen. Der militante Atheismus der Bolschewiki machte diese und ihre Gefolgsleute außerhalb der russischen Grenzen für die christliche Rechte zu einer modernen Erscheinungsform des Antichrist. Unter den entschiedenen Antikommunisten waren denn auch nicht zufällig evangelikale Fundamentalisten besonders zahlreich vertreten.
Man mußte freilich kein Kommunist oder Sozialist sein, um die geballte Feindschaft dieser tief religiösen Minderheit auf sich zu ziehen. Dafür reichten öffentlich geäußerte Zweifel am Wahrheitsgehalt der biblischen Schöpfungsgeschichte völlig aus, gleichviel ob diese von liberalen Theologen oder von Anhängern der Evolutionslehre von Charles Darwin geäußert wurden. In Tennessee errangen die Fundamentalisten Mitte der zwanziger Jahre einen spektakulären Erfolg im Kampf gegen diese vermeintliche Irrlehre: Im März 1925 wurde dort ein Gesetz verabschiedet, das es Lehrern verbot, im Unterricht eine andere als die biblische Deutung der Schöpfung vorzutragen. Die Kampfansage an Aufklärung und freies Denken rief die 1917 gegründete American Civil Liberties Union auf den Plan. Sie ermunterte einen jungen Biologielehrer aus Dayton, John T. Scopes, der sich an das Gesetz nicht halten wollte, zu einem Musterprozeß, bei dem sie die Verteidiger, darunter den berühmten Anwalt Clarence Darrow, stellte und die Kosten des Verfahrens übernahm. Die Sache des Staates Tennessee und damit der Fundamentalisten vertrat der mehrmalige, erst demokratische, dann progressive Präsidentschaftskandidat William Jennings Bryan.
Am Ende wurde der inzwischen aus dem Schuldienst entlassene Scopes zu einer Geldstrafe von 100 Dollar verurteilt (die ihm wegen eines Formfehlers später von einem höheren Gericht erlassen wurde). Der im ganzen Lande, ja weit über Amerika hinaus mit großer Aufmerksamkeit verfolgte Schlagabtausch zwischen Darrow und Bryan aber ging eindeutig zugunsten des ersteren aus. Auch wenn sich in der Folgezeit noch weitere Südstaaten dem Beispiel von Tennessee anschlossen, hatten die Fürsprecher der Meinungsfreiheit mit dem Scopes-Prozeß einen wichtigen moralischen Sieg errungen und die Fundamentalisten in die Defensive gedrängt.
In der Entwicklung des gesellschaftlichen, politischen und intellektuellen Klimas im Nachkriegsamerika schlugen sich auch die jeweiligen materiellen Verhältnisse nieder. Die sozialen Unruhen des Jahres 1919 trugen den Stempel der Geldentwertung, die in mehr oder minder großem Umfang alle Länder heimsuchte, die sich am Krieg beteiligt und zum Zweck der Kriegsfinanzierung verschuldet hatten. Die Inflation wirkte zunächst konjunkturbelebend, Ende 1920 aber brach wegen der wachsenden «Schere» zwischen hohen Preisen und niedrigen Löhnen der Markt für Konsumgüter zusammen. Damit begann eine bald die ganze Welt (mit der bezeichnenden, noch zu erörternden Ausnahme Deutschlands) erfassende Nachkriegsdepression. In den Vereinigten Staaten sank das Bruttosozialprodukt zwischen 1920 und 1921 um fast 10 Prozent; etwa 100.000 Unternehmen meldeten Bankrott an; rund 5 Millionen Beschäftigte verloren ihren Arbeitsplatz. Erst in der zweiten Hälfte des Jahres 1922 begann sich die Wirtschaft wieder zu beleben.
Die USA erlebten in den sieben Jahren danach eine Periode hoher Wachstumsraten, die vor allem von zwei Faktoren bestimmt wurde: der Bauindustrie, in der es einen gewaltigen, kriegsbedingten Nachholbedarf an Investitionen gab, und in der Automobilindustrie, die dank der immensen technologischen Fortschritte des vorangegangenen Jahrzehnts so preiswert produzieren konnte, daß sie sich binnen kurzem einen Absatzmarkt von bisher unbekannten Ausmaßen schuf. Im Jahre 1917 waren 1,7 Millionen Autos hergestellt worden, 1929 waren es 4,5 Millionen. In diesem letzten Jahr der Prosperitätsperiode rollten bereits 26 Millionen Personen- und Lastkraftwagen über die Straßen der USA. Das Auto war zu einem für die meisten Haushalte erschwinglichen Luxusgut geworden. Im Heimatland von Ford, General Motors und Chrysler entfiel Ende der zwanziger Jahre ein Auto auf fünf Personen, in Großbritannien auf 43, in Italien auf 325, in Rußland auf tausend Personen. Amerika wurde in den zwanziger Jahren vollends zum Pionierland des gehobenen Massenkonsums: eine Entwicklung, die schon vor 1914 eingesetzt hatte, sich aber erst nach dem Krieg auf breiter Front durchsetzen konnte und schon Zeitgenossen begeistert von einer «New Era» sprechen ließ.
Der Boom in der Automobilbranche stimulierte viele andere Wirtschaftszweige: den Straßenbau und damit die Baubranche, die Stahlindustrie, die Reifenhersteller und zahllose andere Zulieferindustrien, die Ölkonzerne, das Tankstellen- und das Gaststättengewerbe. Das Auto ließ die Entfernungen schrumpfen und Amerika weiter zusammenwachsen; es erleichterte das tägliche Pendeln zwischen «suburb» und «downtown»; es erhöhte die Mobilität der Einzelnen und gab, ebenso wie die Überlandbusse und die immer schneller fahrenden Eisenbahnen, dem Massentourismus Auftrieb. Kaum weniger einschneidend wirkte sich der Siegeszug eines Mittels der modernen Massenkommunikation aus: des Rundfunks, der in Amerika, anders als in Europa, nicht von staatlichen, sondern von privaten Sendern betrieben wurde. 1925 gab es etwa zwei Millionen Radiogeräte in den USA; fünf Jahre später war fast jeder amerikanische Haushalt im Besitz eines solchen Apparats. Die Zeitungen erhielten Konkurrenz durch eine sehr viel schnellere Form der Nachrichtenübermittlung; Rundfunksender wetteiferten fortan mit Theatern, Opernhäusern und Varietés um die Gunst des Publikums.
Was populäre oder anspruchsvolle Unterhaltung betraf, konnte der Rundfunk das Kino aber nicht überbieten. 1922 zählten die amerikanischen Lichtspielhäuser 40 Millionen, acht Jahre später 100 Millionen Besucher. Seit 1927 verdrängte der Tonfilm allmählich den Stummfilm. Hollywood, die Filmmetropole der USA, nutzte die zeitweilige Schwächung der europäischen Konkurrenz durch den Krieg, um seinen globalen Führungsanspruch durchzusetzen. So viel Amerika auch in diesem Bereich vom «alten Kontinent» lernte, mit seinen «Stars» Buster Keaton, Charlie Chaplin, Stan Laurel, Oliver Hardy und Rudolph Valentino und den Zeichentrickfilmen von Walt Disney verhalf es der eigenen «popular culture» zu einem weltweiten Triumph, den ihm kein anderes Land streitig machen konnte. Über Hollywood machten auch europäische Stars wie Pola Negri und Greta Garbo internationale Filmkarriere. Der Tonfilm eignete sich überdies vorzüglich als Vehikel eines anderen amerikanischen Exportartikels, der nicht aus dem «weißen» Hollywood, sondern aus dem «schwarzen» New Orleans stammte: des Jazz, personifiziert durch Louis Armstrong und Duke Ellington. («The Jazz Singer» von 1927 mit Al Jolson in der Hauptrolle war der erste Tonfilm überhaupt.) In den zwanziger Jahren eroberte der Jazz endgültig auch Europa, wo sich alsbald die Geister schieden: in Bewunderer und Verächter dieser amerikanischen Musikrevolution.
Die «roaring twenties» begannen in Amerika und erfaßten rasch die ganze Welt, aber nirgendwo waren die Zwanzigerjahre so «golden» wie in den USA. Von der Prosperität der «New Era» seit 1923 profitierte nicht nur «big business», sondern auch das Gros der Bevölkerung. Henry Ford, der Chef der Ford Motor Company, hielt fest an der Philosophie des «Fordismus», zu der es gehörte, Rationalisierungserfolge in Form von Lohnerhöhungen und Arbeitszeitverkürzungen an die Arbeitnehmer weiterzugeben. Der «welfare capitalism» à la Ford schloß betriebliche Arbeitslosenversicherungen und Betriebsgewerkschaften ein, nicht aber eine Tarifpartnerschaft mit unabhängigen Gewerkschaften. Vielmehr gelang es den Großunternehmen nach 1919, auf breiter Front das Prinzip des «open shop» durchzusetzen, wonach kein Mitglied der Belegschaft genötigt werden durfte, einer Gewerkschaft beizutreten. Die Zahl der Gewerkschaftsmitglieder sank zwischen 1920 und 1929 von über 5 Millionen auf unter 3 Millionen, was freilich auch daran lag, daß die AFL ganz überwiegend eine Interessenvertretung der weißen Facharbeiter blieb und sich vergleichsweise wenig um die ungelernten Arbeiter und die in dieser Gruppe besonders zahlreichen Schwarzen kümmerte.
Die Administration von Calvin Coolidge war so unternehmerfreundlich, wie man das von einer republikanischen Regierung erwarten konnte. Coolidge, ein strenger neuenglischer Protestant, bekannte sich zu der Maxime: «Der Mann, der eine Fabrik baut, baut einen Tempel, der Mann, der darin arbeitet, verrichtet eine Andacht» (The man who builds a factory builds a temple, the man who works there worships there). Handelsminister Herbert Hoover förderte im Zeichen des «associationalism» systematisch den freiwilligen Zusammenschluß ganzer Industriebranchen zu Interessenvereinigungen, von denen er sich einen stabilisierenden Einfluß auf die Preisbildung versprach.
Die Wirtschaftspolitik der zwanziger Jahre war, der republikanischen Tradition entsprechend, liberal nach innen und protektionistisch nach außen. Bereits während der Präsidentschaft Hardings hatte die republikanische Kongreßmehrheit im Fordney-Cumber Tariff Act von 1922 die bisher höchsten Importzölle der amerikanischen Geschichte eingeführt, um die Landwirtschaft, die chemische und die Metallindustrie vor einem angeblichen Preisdumping des Auslands zu schützen. Die Farmer, die infolge der fortschreitenden Mechanisierung der Landwirtschaft unter massiver Überproduktion litten, drängten auf einen sehr viel weitergehenden Schutz und fanden dafür im Senat und im Repräsentantenhaus breite Zustimmung. Unter dem Eindruck weltweit fallender Agrarpreise stimmte der Kongreß 1927 und 1928 der McNary-Haugen Bill zu, die einen Ankauf von Weizen, Baumwolle, Tabak, Reis und Mais durch die Regierung und den anschließenden Weiterverkauf zu den niedrigeren Weltmarktpreisen vorsah. Präsident Coolidge legte aber beide Male sein Veto ein, weil er massive Vergeltungsmaßnahmen der betroffenen Länder fürchtete.
Auch ohne die McNary-Haugen Bill verdient die amerikanische Außenhandelspolitik der republikanischen Administrationen der zwanziger Jahre das Etikett «hochprotektionistisch». Die Schutzzölle der USA förderten den wirtschaftlichen Nationalismus in den Staaten, denen die Abschottung des amerikanischen Marktes besonders schadete. Betroffen war vor allem Deutschland, das darauf angewiesen war, seine Reparationszahlungen durch Exporte zu finanzieren. Mit Deutschland hatten die Vereinigten Staaten im August 1921 einen separaten Friedensvertrag abgeschlossen. Das war eine logische Konsequenz der Nichtratifizierung des Vertrags von Versailles durch den Senat. Deutschland war als Handelspartner und Standort amerikanischer Investitionen viel zu wichtig, als daß seine Entwicklung den USA hätte gleichgültig sein können. Auch deswegen stellte sich Präsident Coolidge bei der McNary-Haugen Bill zweimal der Kongreßmehrheit entgegen.
Der amerikanische Isolationismus hatte zwar den Eintritt des Landes in den Völkerbund verhindern können, aber den Verantwortlichen in Washington war klar, daß die wirtschaftlichen Interessen der Vereinigten Staaten in Europa und besonders in Deutschland einer flankierenden Politik bedurften. Die deutsche Reparationsfrage war auf engste verknüpft mit dem Problem der interalliierten Schulden, das nur von den USA gelöst werden konnte. Ein stabiles Deutschland in einem stabilen Europa war von höchster Bedeutung für Amerika: Diese Einsicht zog dem «Isolationismus» gewisse Grenzen und sorgte dafür, daß auch die Bäume der Protektionisten nicht in den Himmel wuchsen. Amerika sollte nach dem Ersten Weltkrieg auf dem «alten Kontinent» in viel höherem Maß präsent bleiben, als dies die Gegner Wilsons 1919/20 erwartet hatten.[10]
Die
Weltrevolution verzögert sich:
Die Entstehung der Sowjetunion und die Spaltung der europäischen
Linken
Das Land, das die meisten Amerikaner wohl als das gefährlichste der Welt eingestuft haben würden, konnte sich erst im Spätjahr 1919 einigermaßen sicher sein, daß es sich im Kampf gegen seine inneren Gegner würde behaupten können: Sowjetrußland oder, wie der offizielle Staatsname seit dem Juli 1918 lautete, die Russische Sozialistische Föderative Sowjetrepublik, abgekürzt RSFSR. Seit dem Oktober war die Rote Armee an allen Fronten auf dem Vormarsch. Admiral Koltschak, der zeitweilig gefährlichste unter den Führern der «Weißen», mußte nach Irkutsk zurückweichen, wo er von bürgerkriegsmüden Angehörigen der Tschechoslowakischen Legion den Parteigängern der Bolschewiki übergeben wurde, die ihn am 7. Februar 1920 erschossen. Im April stellte General Denikin nach mehreren schweren Niederlagen sein Amt als Oberbefehlshaber der «Weißen» in Südrußland zur Verfügung. Sein Nachfolger Wrangell scheiterte im Herbst mit einer von der Krim aus unternommenen, von den Briten unterstützten Offensive. Mit der Evakuierung seiner restlichen Truppen im November 1920 auf alliierten Schiffen war der russische Bürgerkrieg beendet, und mit ihm die halbherzige Intervention der Verbündeten, die sich 1918 auf die Seite der «Weißen» gestellt hatten.
Die Niederlage der uneinigen «Weißen» hatte ihren Hauptgrund im Unvermögen der Konterrevolutionäre, eine breite Anhängerschaft für sich zu gewinnen. Das industrielle Proletariat hatten sie fast geschlossen gegen sich; den kleinen Bauern waren sie verhaßt, weil sie als Anhänger der früheren Ordnung galten, die die Umverteilung von Grund und Boden rückgängig machen wollten; als großrussische Chauvinisten konnten sie auch keine zuverlässigen Verbündeten des ukrainischen Nationalismus sein. Was den «Weißen» schadete, nützte den «Roten»: Ihren stärksten Rückhalt hatten diese bei den Arbeitern; den meisten Bauern erschienen sie, ungeachtet aller Klagen über die laufende Beschlagnahmung von Getreide und Nahrungsmitteln, schon deswegen, verglichen mit den «Weißen», als das kleinere Übel, weil sie den Großgrundbesitz zerschlagen hatten; die nichtrussischen Nationalitäten erwarteten von den Bolschewiki mehr Rücksicht auf ihre Interessen als von den «Weißen», die durchweg Befürworter eines starken Zentralstaates waren.
1920 endete nicht nur der russische Bürgerkrieg. Dasselbe Jahr brachte auch die Anerkennung der Selbständigkeit Estlands, Litauens und Lettlands durch Sowjetrußland, im Oktober dann den Waffenstillstand im russisch-polnischen Krieg und den Frieden mit Finnland. Im März 1921 folgte, wovon schon die Rede war, der Friede von Riga mit Polen. Die von Moskau anerkannte Westgrenze der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik beziehungsweise der völlig von ihr abhängigen weißrussischen und ukrainischen Sowjetrepubliken verlief fortan weit östlich von der des Zarenreiches, schloß aber den größten Teil der Ukraine ein, darunter die Gebiete rechts des Dnjepr mitsamt Kiew, die bereits in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts (im russisch-polnischen Waffenstillstand von Andrusowo vom Januar 1667) an Rußland gekommen und überwiegend russisch geprägt waren.
Im Kaukasus gelang es den Bolschewiki hingegen, das sowjetrussische Territorium erheblich zu vergrößern. In Aserbaidschan und Armenien wurden 1920, nachdem die britischen Interventionstruppen sich zurückgezogen hatten, Sowjetregime eingesetzt. Georgien, wo sich 1918 ein unabhängiger, von den Menschewiki regierter, im Mai 1920 von Moskau offiziell anerkannter Staat konstituiert hatte, wurde im Februar 1921 von der Roten Armee besetzt und trotz scharfer internationaler Proteste, vor allem von seiten der nichtkommunistischen Linken, in eine Georgische Sozialistische Sowjetrepublik verwandelt; sie ging im Jahr darauf in der Transkaukasischen Föderation auf, die sich im Dezember 1922 an der Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken beteiligte. Eine direkte Gebietserweiterung nahm die RSFSR im November 1922 im Fernen Osten vor, als sie sich kurz nach dem Abzug der Japaner zwei in der Besatzungszeit entstandene Staatswesen, die Fernöstliche und die Küstenrepublik, einverleibte. Selbständig blieben vorerst noch die beiden zentralasiatischen Sowjetrepubliken, die 1920 mit Hilfe der russischen Bolschewiki im Khanat Chiwa und im Emirat Buchara ins Leben gerufen worden waren.
Als der Bürgerkrieg zu Ende ging, war Sowjetrußland von innerer Konsolidierung noch weit entfernt. Der 5. Allrussische Sowjetkongreß hatte zwar am 10. Juli 1918 eine Verfassung angenommen, die das Rätesystem festschrieb. Aber die Verfassungswirklichkeit sah anders aus. In der Zeit des Bürgerkriegs verloren die östlichen Sowjets viele ihrer bisherigen Kompetenzen an außerordentliche Organe, die mit umfassenden Vollmachten ausgestattet waren. Eines dieser Organe war die Allrussische Außerordentliche Kommission zum Kampf gegen Konterrevolution und Sabotage, kurz Tscheka genannt, deren Maßnahmen sich bald auch gegen verdächtige Mitglieder der Sowjets richteten. Die Koordinierung aller politischen, militärischen und wirtschaftlichen Aufgaben oblag zeitweilig nicht dem Rat der Volkskommissare, sondern dem im November 1918 gebildeten Rat der Arbeiter- und Bauernverteidigung. Alle ordentlichen und außerordentlichen Organe wurden gelenkt von der Kommunistischen Partei, die dem revolutionären Prozeß auf allen Ebenen die Richtung wies. Sie wuchs bis zum März 1921 auf 730.000 Mitglieder an, wobei die relativen Anteile der Arbeiter zurückgingen, die der Angestellten und anderer Berufsgruppen stiegen.
Der Bürgerkrieg war die Zeit des «Kriegskommunismus»: einer primitiven Kommandowirtschaft, die Arbeiter, Bauern und kleine Gewerbetreibende, wo immer nötig, mit den Mitteln des Terrors zur Erfüllung der ihnen auferlegten Pflichten zwang. Die Regierung mußte versuchen, den dramatischen Rückgang der industriellen Produktion zu kompensieren: Diese erreichte, nicht zuletzt infolge der Verstaatlichung der Großbetriebe im Frühsommer 1918, Ende des Jahres 1918 nur noch ein Fünftel des Standes von 1913. Arbeitskräfte wurden im Bedarfsfall zwangsrekrutiert. Da die Inflation die Kaufkraft der Löhne weitgehend vernichtet hatte, wurden die Arbeiter in Form von Naturalien und Lebensmittelrationen entlohnt. Im Uralgebiet zogen sich 1920 37 Prozent der Arbeiter aufs Land zurück; im Jahr darauf fehlte den metallverarbeitenden Fabriken rund die Hälfte der Belegschaften. Einen privaten Handel gab es schon seit dem Herbst 1918 nicht mehr.
Die Kornkammern Südrußlands waren im Bürgerkrieg in die Hände der «Weißen» gefallen. Die anschließende Requisition von Getreide in den von den Bolschewiki kontrollierten Gebieten, durchgeführt von den neugegründeten Komitees der Dorfarmut (Kombedy) und der Roten Armee, führte dazu, daß die Bauern aufhörten, ihr Land zu pflügen und nur noch anbauten, was sie für ihren eigenen Bedarf benötigten. 1921 war die Anbaufläche auf 62 Prozent geschrumpft, der Ernteertrag auf 37 Prozent. Die logische Konsequenz der Zwangsmaßnahmen in Stadt und Land war eine wachsende, die Initiative der Einzelnen lähmende Bürokratisierung.
Das Ende des Bürgerkrieges bedeutete noch nicht das Ende des Kriegskommunismus. Es war aber verbunden mit zunehmendem Protest gegen die Fortdauer der Kommandowirtschaft und des Terrors. Das Jahr 1921 sah in seiner ersten Hälfte zahllose Bauernaufstände und Hungerstreiks der Arbeiter, unter anderem in Moskau und Petrograd. Im Januar wurde die Brotverteilung in den Städten um ein Drittel gekürzt; in Petrograd mußten über 60 der größten Fabriken wegen Brennstoffmangel schließen. Am 22. Februar verlangten die Arbeiter anderer Petrograder Großbetriebe auf einer Kundgebung, auf der vor allem Menschewiki und Sozialrevolutionäre sprachen, die Abschaffung der bolschewistischen Diktatur, die Wiederherstellung der Grundfreiheiten und riefen zur Durchsetzung dieser Forderungen zum Generalstreik auf. Die Tscheka antwortete am 24. Februar mit Schüssen auf die Teilnehmer einer Arbeiterkundgebung, wobei 12 Menschen starben; es folgten Massenverhaftungen. Dennoch schlossen sich Tausende von Soldaten den streikenden Arbeitern an. Rußland schien am Vorabend einer neuen Revolution zu stehen.
Am 2. März 1921 begann, was die Moskauer Führung am meisten befürchtet hatte: eine Meuterei der 15.000 Matrosen von Kronstadt, auf der Insel Kotlin im Finnischen Meerbusen, also vor den Toren Petrograds gelegen. Die Matrosen von Kronstadt hatten 1917 zu den treuesten und radikalsten Unterstützern der Bolschewiki gezählt. Jetzt, dreieinhalb Jahre später, verlangten sie nicht nur einschneidende materielle Verbesserungen, sondern die Rückkehr zur (folgenlos gebliebenen) Verfassung der RSFSR vom Juli 1918, die geheime Neuwahl der Sowjets, die Wiederherstellung der in der Revolution erkämpften Freiheiten, und zwar auch für die Anhänger der Anarchisten und linker sozialistischer Parteien, und die Abberufung der kommunistischen Kommissare in Armee und Marine.
Lenin sah darin einen konterrevolutionären Anschlag und ordnete am 7. März den Angriff auf Kronstadt an. Trotzki, seit März 1918 Kriegskommissar, befahl General Tuchatschewski den Artilleriebeschuß der Insel und danach ihre Einnahme durch Landtruppen. Die Folge war ein Blutbad, das am 18. März, dem 50. Jahrestag der Pariser Kommune, zum Abbruch der Erhebung führte. Drei Monate später, im Juni 1921, warf Tuchatschewski mit gleicher Brutalität den größten und längsten Bauernaufstand in der Provinz Tambow nieder. Der Anführer, Alexander Antonow, wurde festgenommen und umgebracht, 15.000 Menschen in Gefängnisse gesteckt oder deportiert.
Während Kronstadt belagert und beschossen wurde, tagte in Moskau der 10. Parteitag der russischen Kommunisten. Lenin setzte gegen erhebliche Widerstände eine Resolution durch, die die Bildung von Fraktionen innerhalb der Partei verbot und damit einen Schlußstrich unter die ein Jahr zuvor nach heftigen Auseinandersetzungen eingeleitete Phase relativer innerparteilicher Demokratie zog. Das Verbot der Fraktionsbildung richtete sich vor allem gegen die von Gewerkschaftsfunktionären getragene «Arbeiteropposition», die sich seit dem Winter 1920/21 mit massiver Kritik an der «Militarisierung der Arbeit» hervorgetan hatte – einer Politik, für die namentlich Trotzki und Nikolai Bucharin, der Chefredakteur der «Prawda», in letzter Instanz aber auch Lenin die Verantwortung trugen.
Eine ähnlich weitreichende Entscheidung betraf den Übergang zur Neuen Ökonomischen Politik, der «NEP», die freilich erst seit der 10. Parteikonferenz Ende Mai 1921 so genannt wurde. Mit dieser Wendung zog Lenin die Konsequenzen aus dem Scheitern des Kriegskommunismus. Die Bauern sollten fortan nicht mehr zur Abgabe von Getreide und anderen Erzeugnissen gezwungen werden, sondern eine Naturalsteuer zahlen und alles behalten dürfen, was sie darüber hinaus produzierten. Die kurz zuvor, Ende November 1920, beschlossene Verstaatlichung der Kleinbetriebe wurde faktisch rückgängig gemacht, der wirtschaftliche Spielraum des Handwerks erweitert. Die «Kommandohöhen» der Wirtschaft, also Großbanken, Großunternehmen, Außenhandel und Verkehrsbetriebe, blieben in staatlicher Hand; ihre Lenkung und Kontrolle oblag der im Februar 1921 geschaffenen Staatlichen Plankommission, der Gosplan.
Den Kern der Gosplan bildeten die Mitglieder der Staatlichen Kommission für die Elektrifizierung Rußlands (GOELRO), eines überwiegend aus «bürgerlichen», das heißt nichtkommunistischen Fachleuten zusammengesetztes Gremiums, das sein ehrgeiziges Projekt rechtzeitig zum 8. Sowjetkongreß Ende Dezember 1920 vorgelegt hatte. «Kommunismus ist Sowjetmacht plus Elektrifizierung des ganzen Landes»: Lenins berühmte Formel war, wie der Historiker Heiko Haumann schreibt, mit Bedacht gewählt. «Elektrifizierung wurde nicht nur im engen technischen Sinn verstanden. Mit ihr wollte man darüber hinaus die Lenkung der Wirtschaft vereinfachen und die Produktivkräfte schneller entwickeln. Vor Augen stand das Ziel, den Gegensatz zwischen Stadt und Land aufzuheben sowie die ausführende Funktion des Arbeiters in eine organisierende zu verwandeln. Nicht zuletzt gelte es, die ‹Aufklärung durch Licht› vor allem auf dem Lande voranzubringen.»
Die teilweise Rückkehr zu kapitalistischen Wirtschaftsmethoden ebnete den Weg zu Handelsverträgen mit westlichen Staaten: Der mit Großbritannien vom 16. März 1921 war der erste; es folgten im Mai ein Handelsabkommen mit Deutschland und bald ähnliche Abkommen mit Italien und den meisten europäischen Staaten; nur Frankreich und die USA verweigerten sich dem sowjetischen Wunsch. Die Währung stabilisierte sich infolge der NEP; die industrielle Produktion stieg rasch wieder an. Gegen die Mißernten von 1920 und des großen Dürrejahres 1921 aber waren Partei und Regierung machtlos. Die Folge war eine Hungerkatastrophe, die im Winter 1921/22 ihren Höhepunkt erreichte und nach fundierten Schätzungen 4 bis 5 Millionen Menschenleben forderte. Die Zahl der Opfer wäre noch sehr viel größer gewesen, hätten nicht Fridtjof Nansen, der Völkerbundskommissar für Flüchtlingsfragen und berühmte Polarforscher, der amerikanische Handelsminister Herbert Hoover und, nicht zuletzt, die kommunistischen und die nichtkommunistischen Arbeiterparteien Europas großzügige Hilfsaktionen zugunsten der hungernden Bevölkerung Sowjetrußlands organisiert.
In einer im April 1921 verfaßten Broschüre wertete Lenin die kurz zuvor eingeführte Naturalsteuer als Übergang vom Kriegskommunismus zum geregelten sozialistischen Produktentausch und die Wiederzulassung des freien Handels als «Kapitalismus», der den Kommunisten helfen werde, die Zersplitterung der Kleinproduzenten und, bis zu einem gewissen Grad, auch den Bürokratismus zu bekämpfen. Er zitierte ausführlich aus seiner 1918 veröffentlichten Schrift «Über die heutige Wirtschaft Rußlands», in der er den Staatskapitalismus einen Schritt vorwärts gegenüber dem derzeitigen Zustand genannt und als Übergangsstadium zwischen dem privatwirtschaftlichen Kapitalismus und dem Sozialismus gewertet hatte. Nach wie vor hielt Lenin Sozialismus ohne großkapitalistische Technik für undenkbar. Der Kriegskommunismus sei durch Krieg und Ruin erzwungen worden, aber keine Politik, die den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats entsprochen habe, sondern nur eine zeitweilige Maßnahme. «Die richtige Politik des Proletariats, das seine Diktatur in einem kleinbäuerlichen Lande ausübt, ist der Austausch von Getreide gegen Industrieerzeugnisse, die der Bauer braucht. Nur eine solche Politik der Lebensmittelbeschaffung entspricht den wirtschaftlichen Aufgaben des Proletariats, nur sie ist geeignet, die Grundlagen des Sozialismus zu festigen und zu seinem vollen Siege zu führen.»
Der bolschewistische Massenterror, das herausragende Merkmal des Kriegskommunismus, wies viele Ähnlichkeiten mit der jakobinischen «terreur» auf, die Lenin, darin ein gelehriger Schüler von Karl Marx, als historisches Vorbild betrachtete. 1793/94 wie 1918 bis 1920 wirkte die Verbindung von innerer Konterrevolution und Intervention von außen radikalisierend: Sie forderte die entschiedensten Revolutionäre zu einem Kampf heraus, bei dem es um Sein oder Nichtsein der neuen Ordnung ging. In beiden Fällen steigerte sich die terroristische Dynamik bis zu dem Punkt, wo sie in Selbstzerstörung umzuschlagen drohte. Auf den jakobinischen Terror folgte der Thermidor, eine neue Vorherrschaft der Gemäßigten. Die Neue Ökonomische Politik war nicht der Thermidor der bolschewistischen Revolution. Die bisherigen revolutionären Machthaber blieben am Ruder; sie korrigierten selbst ihre Politik und verabschiedeten sich nicht vom Terror. Sie schränkten ihn nur auf das Maß ein, das ihnen nach Lage der Dinge erforderlich erschien, und legalisierten das, was vordem außergesetzlich geschehen war, um «Klassenfeinde» auszuschalten. Der Terror war mithin kein Durchgangsstadium der Revolution der Bolschewiki, sondern blieb auch nach dem Ende der unmittelbaren inneren und äußeren Bedrohung ihr Herrschaftsmittel – jederzeit reaktivierbar, wenn das jeweilige Machtzentrum es für erforderlich hielt.
Das Machtzentrum der Kommunistischen Partei Rußlands (Bolschewiki) war das Politbüro. Es wurde vom Zentralkomitee gewählt, das seinerseits vom Parteitag eingesetzt wurde. Innerhalb des Politbüros waren neben Lenin die maßgebenden Mitglieder zunächst die Führer der Parteiorganisationen von Petrograd und Moskau, Sinowjew und Kamenew, sowie Stalin, der im April 1922 vom Zentralkomitee zum Generalsekretär ernannt wurde. Trotzki verfügte über keinen festen organisatorischen Rückhalt in der Partei, der ökonomisch und theoretisch versierte Bucharin gewann ihn allmählich. Lenin erlitt im Mai 1922 einen ersten, im Dezember des Jahres einen zweiten Schlaganfall; nach seinem dritten Schlaganfall im März 1923 schied er aus dem politischen Leben Rußlands faktisch aus.
Die KPR wuchs 1920 durch den Übertritt konkurrierender Gruppen wie großer Teile der «maximalistischen» Sozialrevolutionäre, des Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbundes und der Revolutionären Kommunisten. Die aktivsten Funktionäre der Menschewiki wurden wegen ihrer Beteiligung an den Arbeiterprotesten von 1921 verhaftet, ihre Partei ebenso wie die der Sozialrevolutionäre verboten. Im Juli 1922 fand ein Schauprozeß gegen 47 Sozialrevolutionäre statt, denen konterrevolutionäre Aktivitäten, vor allem im Zusammenhang mit den Bauernaufständen, vorgeworfen wurden. Das Verfahren endete mit 14 Todesurteilen, die aber auf Grund weltweiter Proteste der nichtkommunistischen Linken nicht vollstreckt, sondern durch die Einweisung in ein Arbeitslager auf der Eismeer-Insel Solowki ersetzt wurden. Der Einparteienstaat, der Sowjetrußland seit 1921 war, fühlte sich inzwischen stark genug, um sich ein solches Entgegenkommen leisten zu können.
Die KPR gab auch in den Sowjets den Ton an, die in den ersten beiden Jahren nach der Oktoberrevolution nur wenig Einfluß gehabt hatten, seit dem 7. Allrussischen Sowjetkongreß im Dezember 1919 aber erweiterte Rechte erhielten. Ihr neugebildetes Exekutivkomitee drängte den Einfluß der Außerordentlichen Kommissionen, darunter der gegen Konterrevolution und Sabotage, allmählich zurück und schuf das neue Organ der Arbeiter- und Bauerninspektion, das an die Stelle des Volkskommissariats für Staatskontrolle treten sollte. Da die Bauern in den Sowjets stärker vertreten waren als in der KPR, eigneten sich die Sowjets als Instrument zur Durchsetzung der NEP, deren Kernstück eine neue, bauernfreundliche Agrarpolitik war. Als Erfolg konnten die Sowjets die Abschaffung der Todesstrafe im Januar 1920 betrachten. Doch schon im Mai 1922 wurde sie, rechtzeitig zum Prozeß gegen die Sozialrevolutionäre, wieder eingeführt: Der Sowjetstaat wollte auch in Zukunft die schärfste Sanktion gegen politische und andere Straftäter verhängen können.
Umstritten war über mehrere Jahre hinweg die Rolle der Gewerkschaften. Die «Arbeiteropposition» erstrebte eine unabhängige Interessenvertretung des Proletariats, während Trotzki und Bucharin die Gewerkschaften den Staatsorganen unterordnen wollten. Auf dem 9. Parteitag der KPR, der Ende März und Anfang April 1920 stattfand, gewann eine von Wjatscheslaw Molotow vertretene vermittelnde Linie an Unterstützung: Die Gewerkschaften sollten eine selbständige Organisation bleiben und einen «Transmissionsriemen» zwischen Arbeiterschaft und Partei bilden, das heißt der KPR die Wünsche der Arbeiter und diesen die Weisungen der Partei nahebringen. In der Praxis lief dieses Konzept auf eine dienende Funktion der Gewerkschaften hinaus: Sie hatten die proletarischen Massen für den Kommunismus zu schulen und auf eine höhere Arbeitsproduktivität hinzuwirken. Ende 1920 schwenkte Lenin, der zunächst der Position Trotzkis zugeneigt war, auf die Linie Molotows ein. Damit hörte die Gewerkschaftsfrage auf, eine Streitfrage zu sein. Im März 1921 legte der 10. Parteitag der KPR die neue Rolle der Gewerkschaften fest – im Sinne der Theorie vom Transmissionsriemen.
In der Logik der NEP lag auch eine elastischere, den Vorrang der Zentralgewalt aber nicht antastende Nationalitätenpolitik. Die Verfassung der RSFSR vom Juli 1918 hatte noch nichts über die wechselseitigen Beziehungen der einzelnen Sowjetrepubliken, der russischen, der weißrussischen und der ukrainischen, gesagt. Nachdem die Bolschewiki 1920/21 erst Aserbaidschan und Armenien, dann auch Georgien unter ihre Kontrolle gebracht und 1922 in der Transkaukasischen Föderation zusammengeschlossen hatten, war der Weg frei für die Gründung der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken (UdSSR), kurz Sowjetunion genannt. Die Konstituierung erfolgte in Gestalt eines Staatsvertrages der Ukrainischen, der Weißrussischen und der Transkaukasischen Sowjetrepublik mit der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik, der am 30. Dezember 1922 vom 1. Allunions-Sowjetkongreß gebilligt wurde (der seinerseits nichts anderes war als der erweiterte und umbenannte 7. Allrussische Sowjetkongreß).
Souverän waren um diese Zeit noch die beiden zentralasiatischen, muslimisch geprägten Sowjetrepubliken Chorezm (Chiwa) und Buchara. 1924/25 wurden sie im Zuge der sogenannten «nationalen Abgrenzung» mit den Generalgouvernements Steppe und Turkestan zusammengeschlossen und in die Unionsrepubliken Usbekistan und Turkmenistan umgewandelt. Der tadschikische Teil des ehemaligen Generalgouvernements Turkestan erhielt 1924 den Status einer Autonomen Republik. Fünf Jahre später wurde Tadschikistan eine eigene Unionsrepublik.
In der ersten Hälfte des Jahres 1923 wurde die Verfassung der UdSSR ausgearbeitet; im Juli wurde sie vom Zentralen Exekutivkomitee gebilligt und Ende Januar 1924 vom 2. Allunions-Sowjetkongreß ratifiziert. Sie enthielt keinen Artikel, der die Menschen- und Bürgerrechte definierte und garantierte, und keine (als «bürgerlich» charakterisierte) Gewaltenteilung: Gegen Entscheidungen des Obersten Gerichtshofes konnte Protest beim Zentralen Exekutivkomitee der Sowjets eingelegt werden. Dieser ging aus dem Allunions-Sowjetkongreß hervor und bestand aus zwei Kammern, dem Unions- und dem Nationalitätensowjet.
Außenpolitik und Außenhandel waren Sache der Zentralgewalt, ebenso das Militär- und Verkehrswesen, Post und Telegraphie. In den Bereichen Staatskontrolle von Wirtschaft und Finanzen, Versorgung und Arbeit waren die Zuständigkeiten der Zentralgewalt gegenüber den Unionsrepubliken so umfassend, daß es an der politischen Gewichtsverteilung nichts zu deuteln gab: Die Sowjetunion war in der Form ein föderalistisches, in der Sache ein zentralistisches Staatswesen. Ihr Territorium ähnelte, wenn man von den Gebietsverlusten im Westen absah, stark dem Zarenreich. Wie dieses war sie ein Nationalitätenstaat. Ob sie den Belangen der nichtrussischen Nationalitäten besser gerecht werden würde als die Monarchie, war eine Frage, die nur die Verfassungswirklichkeit beantworten konnte.
In den ersten Jahren der Sowjetunion galten in der Nationalitätenpolitik die Grundsätze der «Einwurzelung» (korenizacija) und des «nationalen Aufbaus»: Die nichtrussischen Ethnien sollten durch betonte Rücksichtnahme auf ihre kulturellen Besonderheiten für das neue revolutionäre Staatswesen und damit für die Sache des Kommunismus gewonnen werden. In den islamischen Unionsrepubliken wurden die arabischen nicht durch kyrillische, sondern lateinische Schriftzeichen ersetzt und regionale Verwaltungspositionen und Parteiämter, wenn auch nicht die höchsten, einheimischen Kräften übertragen.
In der Ukraine führte die neue Nationalitätenpolitik zu einer Wiederbelebung der ukrainischen Sprache in Gebieten sprachlicher, das heißt teils russischer teils ukrainischer, Gemengelage. Die Juden, von denen sich viele schon auf Grund der Unterdrückung durch das Zarenreich den Bolschewiki angeschlossen hatten und viele ihrer leitenden Funktionäre, unter anderen Sinowjew, Kamenew und Trotzki, stellten, behielten ein Recht, das ihnen schon nach der Februarrevolution von 1917 zugestanden worden war: Sie durften sich auch außerhalb der «Ansiedlungsrayons» in 13 westlichen Gouvernements des Zarenreiches im ganzen Staatsgebiet der Sowjetunion niederlassen. Die Nationalitätenpolitik der Jahre 1922 bis etwa 1926 richtete sich in der Theorie am Prinzip der kulturellen Selbstbestimmung aus. In der Praxis stieß sie sich schon damals an den großrussischen Traditionen des Parteiapparates, die in der Folgezeit immer stärker wurden.
Was «liberal» wirkte an der Nationalitätenpolitik der frühen Sowjetunion, paßte zum relativen Pluralismus der vorstalinistischen Jahre. Am wenigsten verdiente die Kirchenpolitik das Etikett «liberal». Das Verhältnis zur orthodoxen Kirche war seit jeher belastet durch ihre reaktionäre Tradition und den militanten Atheismus der Bolschewiki. In der Revolution war der kirchliche Grundbesitz enteignet und eine radikale Trennung von Staat und Kirche verfügt worden. Die heftigen Angriffe des Patriarchen, des Metropoliten von Moskau, Tichon, auf den gottlosen Bolschewismus konterte das revolutionäre Regime mit Kirchenschließungen und der gerichtlichen Verfolgung von Popen. Während des Bürgerkrieges wurden Tausende von orthodoxen Christen und mindestens 28 Bischöfe ermordet. Die Gesamtzahl der 1922/23 getöteten orthodoxen Geistlichen belief sich auf über 8000.
1922 entbrannte ein scharfer Machtkampf zwischen regimeloyalen innerkirchlichen «Reformern» und dem Patriarchen, der fast den gesamten Klerus hinter sich wußte. Als ein von den «Reformern» beherrschtes «Konzil» im April 1923 die Abschaffung des Patriarchats beschloß, lenkte Tichon ein. Er veröffentlichte in der Regierungszeitung «Iswestija» eine Loyalitätserklärung, die dazu führte, daß sein im Mai 1922 verhängter Hausarrest im Juni 1923 aufgehoben wurde. Damit begann eine Phase der staatlichen Duldung der Orthodoxie. Nach Tichons Tod im April 1925 kam es zu neuen Machtkämpfen zwischen Staat und Kirche, die 1927 damit endeten, daß der Patriarchatsverweser, der Metropolit von Nowgorod, Sergej (Stragorodski), ein neues, umfassendes Loyalitätsbekenntnis zum Sowjetstaat ablegte.
Nicht nur für gläubige Christen, sondern selbst für viele Bolschewiki zu «radikal» waren die Positionen, die die Vorkämpferin der Frauenemanzipation, Alexandra Kollontai, in bezug auf Ehe und Familie einnahm. Sie verfocht das Recht auf freie Liebe, die auch in den von ihr propagierten Kommunehäusern praktiziert werden sollte. Als Volkskommissarin für Sozialfürsorge in dem knappen halben Jahr zwischen November 1917 und dem März 1918 war sie die erste Ministerin der Welt. In dieser Funktion und als Leiterin der Frauenabteilung des Zentralkomitees lockerte sie das Ehe- und Familienrecht, verbesserte den Mutterschutz und erkämpfte das Recht auf Schwangerschaftsabbruch. Die von ihr geforderte kollektive Kindererziehung hingegen konnte sie nicht durchsetzen und, was ihre Ansichten über Ehe und Familie betraf, so wurden diese von Lenin und den anderen maßgeblichen Bolschewiki nicht geteilt. Kollontais politischer Einfluß ging zurück, als sie sich der linken «Arbeiteropposition» anschloß und mehr innerparteiliche Demokratie forderte. Ihr vom ZK betriebener Parteiausschluß scheiterte im März 1922 am Widerstand der Delegierten des 11. Parteitages. 1923 wurde Alexandra Kollontai Gesandte der Sowjetunion in Norwegen, was zur ersten Station einer langen, diplomatischen Karriere wurde. Die von ihr geprägten liberalen Ehe- und Familiengesetze von 1918 wurden 1926 bestätigt.
Vergleichsweise «liberal» war auch die frühe sowjetische Kulturpolitik, die in den Jahren von 1917 bis 1929 den Stempel des Volkskommissars für Volksbildung, Anatoli W. Lunatscharski, trug. Lenin hatte ihm die Beseitigung des Analphabetismus als Hauptaufgabe gestellt. Obwohl Lunatscharski schon mangels geeigneter Lehrkräfte noch nicht die allgemeine Schulpflicht einführen konnte (den entsprechenden Beschluß faßte das Zentralkomitee erst im Juli 1930), gelang es ihm, den Anteil der Analphabeten von etwa 60 bis 70 Prozent bis 1926 auf 49 Prozent der Bevölkerung über neun Jahre zu drücken. Eine maßgebliche Rolle spielten dabei die Arbeiterfakultäten («Rabfak»), die an Hochschulen, aber auch in Fabriken eingerichtet wurden, um ihren Absolventen innerhalb von drei Jahren neben Lesen und Schreiben die elementaren Grundlagen der Allgemeinbildung beizubringen.
Dazu kam die Ausweitung des Schulwesens. Selbst in den Bürgerkriegsjahren 1918 bis 1921 wurden 8500 neue Schulen errichtet. Im Zeichen der NEP gab Lunatscharski der Vermittlung von Grundwissen den Vorrang vor der ideologischen Schulung, die aber zu keiner Zeit vernachlässigt wurde: Die Lehrer galten als die wichtigsten Vermittler des Sozialismus auf den Dörfern. Der Volksbildungskommissar konnte freilich nicht verhindern, daß im Gefolge der Wirtschaftsmisere zwischen 1921 und 1923 die Zahl der vierklassigen Grundschulen von 76.000 auf 50.000 und die der Schüler von 6,1 auf 3,6 Millionen sank. Erst 1926 wurde das Vorkriegsniveau wieder erreicht. Im Jahr darauf lag die Zahl der Schüler um 3 Millionen über dem Stand von 1914.
Der Kampf gegen den Analphabetismus bildete nur einen Teil der Aktivitäten des Volksbildungskommissars Lunatscharski. Im Oktober 1920 wurde ihm auf Beschluß des Politbüros auch die bislang eigenständige Arbeiterkulturbewegung «Proletkult» unterstellt, die der Philosoph und Mediziner A. A. Bogdanow, unterstützt von Lunatscharski, in den Vorkriegsjahren ins Leben gerufen hatte. Bogdanow wollte die Arbeiter in eigenen Klubs, Bibliotheken und Theatern sowohl an die «bürgerliche» Kultur heranführen als auch zu Trägern einer neuen, proletarischen Kultur machen. In der Zeit des Bürgerkrieges verstärkte sich innerhalb der Bewegung die antibürgerliche Neigung zum radikalen Bruch mit der Tradition. Der «Proletkult» beerbte vielerlei avantgardistische Richtungen vom Expressionismus über den Kubismus bis zum Futurismus. Er brachte eine bedeutende Plakatkunst und ein anspruchsvolles politisches Agitationstheater hervor und beeinflußte das Schaffen von Schriftstellern und Filmregisseuren, von den letzteren vor allem das Sergej Eisensteins, dessen «Panzerkreuzer Potemkin» von 1925 viel dazu beitrug, die Oktoberrevolution in aller Welt in den Rang eines Mythos zu erheben.