3.
Demokratien und Diktaturen:
1933–1939

Ein New Deal für Amerika:
Die Präsidentschaft F. D. Roosevelts 1933–1936

Der Anfang sei schon die Hälfte des Ganzen, so besagt eine von Aristoteles in seiner «Politik» zitierte griechische Redensart. Wenn sich je eine Regierung an diese Einsicht gehalten hat, dann die erste Administration Franklin Delano Roosevelts im Jahrs 1933. In die berühmten «ersten hundert Tage» fielen 15 Botschaften des Präsidenten an den Kongreß und 15 große Reformgesetze. Der Tag der Amtseinführung, der 4. März, war ein Samstag. Über das Wochenende verständigte sich die Regierung auf eine viertägige allgemeine Bankenschließung («bank holiday»). Sie folgte damit dem Beispiel von New York und Illinois, die ihre Banken bereits am Morgen des 4. März geschlossen hatten.

Am 9. März erging der im Schnellverfahren verabschiedete Emergency Banking Act. Er gab der Regierung umfassende Vollmachten für Maßnahmen zugunsten bedrohter privater Banken und ermächtigte sie zur Kontrolle aller Goldbewegungen und der Ausgabe neuer Noten durch die Federal Reserve. Das energische Vorgehen verhinderte eine Panik und in ihrem Gefolge den völligen Zusammenbruch des amerikanischen Bankensystems. Im Juni 1933 folgte der (nach seinen Urhebern, dem Senator Carter Glass aus Virginia und dem Kongreßabgeordneten Henry B. Steagall aus Alabama, benannte) Glass-Steagall Act, der, um der Spekulation straffe Zügel anzulegen, Geschäfts- und Investmentbanken trennte und die Federal Deposit Insurance Corporation ins Leben rief, die alle Spareinlagen bis zur Höhe von 2500 Dollar garantierte.

Die Regierung Roosevelt war noch keine sieben Wochen im Amt, als sie eine währungspolitische Entscheidung von weltweiter Bedeutung traf: Sie gab am 19. April 1933 den Goldstandard auf. Der Präsident hoffte, dadurch unpopulären Preiserhöhungen durch die Regierung zu entgehen und die Gefahren einer fortschreitenden Deflation bannen zu können. Tatsächlich profitierten Landwirtschaft und Exportindustrie vom fallenden Dollarkurs, während die Importe in die USA zurückgingen. Auf die weltwirtschaftlichen Auswirkungen nahm Roosevelt keine Rücksicht. Die Weltwirtschaftskonferenz, die seit 12. Juni 1933 in London tagte, beschied er am 3. Juli, daß der Wert des Dollars sich künftig ausschließlich an seiner inneren Kaufkraft bemessen werde. Der Sinn der «bombshell message» war klar: Die USA gedachten nicht, sich von anderen Nationen währungspolitische Fesseln anlegen zu lassen.

Die lange Reihe von sozialpolitischen Neuerungen, die mit dem Begriff des New Deal verbunden sind, begann am 31. März 1933 mit der Schaffung des Civilian Conservation Corps (CCC). Das CCC sollte arbeitslosen jungen Männern im Alter von 18 bis 25 Jahren gegen die eher symbolische Entlohnung von einem Dollar pro Tag zu einer Beschäftigung im Dienst des Gemeinwohls verhelfen. Der Schwerpunkt seiner Tätigkeit war Umweltschutz in Gestalt von Bodenkultivierung und Wiederaufforstung. Die Lager des CCC wurden vom Kriegsministerium errichtet. Im September 1935 belief sich die Zahl der Jugendlichen, die in solchen Lagern lebten, auf über 500.000; bis 1941 hatten insgesamt zweieinhalb Millionen Jungen und junge Männer eine Zeitlang beim Civilian Conservation Corps verbracht.

Aus der Sicht der Gewerkschaften war das Experiment gefährlich: Es drohte die Tendenz zum Lohnabbau zu verstärken und die Entrechtung der Arbeiterschaft zu fördern. «Nach meinem Eindruck schmeckt es nach Faschismus, Hitlerismus, nach einer Art von Sowjetismus», erklärte der Präsident der American Federation of Labor, William Green, 1933 vor einem Ausschuß des Senats. Tatsächlich gab es in Deutschland schon seit 1931 einen Freiwilligen Arbeitsdienst, der im Juni 1935 dem Reichsarbeitsdienst (RAD) wich, in dem alle Deutschen zwischen 18 und 25 Jahren ein halbes Jahr lang Dienst tun mußten. Das CCC hingegen blieb eine freiwillige Einrichtung, was erheblich zu seiner Popularität beitrug. Eine paramilitärische Note hatte freilich nicht nur der RAD, sondern auch das CCC. In den USA wirkte dieses Element als ein Fremdkörper, im nationalsozialistischen Deutschland fügte sich diese Ausrichtung nahtlos in das Gesamtsystem.

Der CCC folgten am 12. Mai FERA und AAA: Hinter dem Kürzel FERA steckte die Federal Emergence Relief Administration unter Leitung von Roosevelts langjährigem Mitarbeiter Harry Hopkins, die Sozialhilfemaßnahmen zugunsten der Arbeitslosen zu koordinieren hatte. Unter Hopkins Ägide wurde die Civil Works Administration (CWA) errichtet, die öffentliche Arbeiten zu Mindestlöhnen vergab und Mitte Januar 1934 über 4 Millionen Menschen mit dem Bau von Straßen, Schulen, Kinderspielplätzen, Sportanlagen und Flugplätzen beschäftigte.

AAA («Triple A») stand für die Agrarian Adjustment Administration. Ihre Aufgabe bestand darin, unter Mitwirkung von Farmerorganisationen die Preise für landwirtschaftliche Erzeugnisse von Weizen und Mais über Baumwolle und Molkereiprodukte bis zu Schweinefleisch durch Mengenbeschränkung, Bebauungsverzicht und Produktvernichtung, einschließlich der massenhaften Tötung von Schweinen, anzuheben. Das Einkommen der Farmer stieg infolge dieser Maßnahmen, aber es waren nicht die Landarbeiter, sondern die Landbesitzer, und vor allem die größeren unter ihnen, denen die Eingriffe von «Triple A» am meisten zugute kamen. Flankiert wurde der Agrarian Adjustment Act von dem ebenfalls am 12. März 1933 verabschiedeten Emergency Farm Mortgage Act, der das landwirtschaftliche Hypothekenwesen auf eine neue finanzielle Grundlage stellte. Ihm folgte am 16. Juni in Gestalt des Farm Credit Act eine Reform des landwirtschaftlichen Kreditwesens.

Das spektakulärste Projekt der ersten hundert Tage war die Errichtung der Tennessey Valley Authority (TVA) am 18. Mai 1933. Mit diesem gigantischen Vorhaben zur Energiegewinnung griff die Roosevelt-Administration die Forderung progressiver Reformer auf, die großen Wasserressourcen des Landes für die Erzeugung preiswerter Elektrizität zu nutzen. Die TVA wurde ermächtigt, ein während des Ersten Weltkriegs in Angriff genommenes, aber nicht fertiggestelltes Projekt, den Bau eines Staudamms bei Muscle Shoals in Alabama, zu vollenden, andere Staudämme im Tal des Tennessey zu errichten, Kraftwerke zu bauen und so einer großen unterentwickelten Region zu wirtschaftlichem Aufschwung zu verhelfen. Das letztere Vorhaben wurde nur in bescheidenem Umfang verwirklicht, aber der TVA gelang es doch, Elektrizität in Gegenden zu bringen, wo es diese zuvor nicht gegeben hatte, und die privaten Energieversorger im ganzen Land zu Preissenkungen zu bewegen.

Die ersten hundert Tage waren knapp verstrichen, als am 16. Juni 1933 der National Industrial Recovery Act in Kraft trat. Auf seiner Grundlage wurde unter Leitung von General Hugh Johnson die National Recovery Administration (NRA) errichtet. Sie bildete das Dach über Selbstverwaltungsorganen der einzelnen Wirtschaftszweige – Gremien, in denen die Vereinigungen der Arbeitgeber und der Arbeitnehmer paritätisch vertreten waren. Sie hatten branchenspezifische «codes» mit Regelungen über Mindestlöhne (zwischen 30 und 40 Cents pro Stunde), wöchentlichen Höchstarbeitszeiten (zwischen 35 und 40 Stunden), dem Verbot von Kinderarbeit und allgemeinen Bestimmungen über Beschäftigung und Produktion zu vereinbaren. Das Gesetz sicherte in Absatz 7 (a) den Arbeitnehmern das Recht zu, sich gewerkschaftlich zu organisieren und Löhne tariflich zu verein baren. Allerdings sah der entsprechende Passus keine Maßnahmen vor, mit deren Hilfe Tarifverhandlungen erzwungen werden konnten. Die NRA erhielt 3,3 Milliarden Dollar für die Finanzierung öffentlicher Arbeiten im Rahmen der Public Works Administration (PWA) – Arbeiten, die überall in den USA unter dem werbewirksamen Symbol des «Blauen Adlers» vergeben wurden. Weniger sichtbar waren die Mängel, die dem System von Anfang an innewohnten: die Begünstigung großer Firmen auf Kosten der kleineren und die Willkür, mit denen in manchen Codes Löhne und Preise fixiert worden waren.

Eine einheitliche «Philosophie» lag dem New Deal nicht zugrunde. Die meisten Ideen, die in ihn einflossen, entstammten dem «progressive movement» des frühen 20. Jahrhunderts. Gemeinsam war den Intellektuellen, die Roosevelt berieten, die Überzeugung, daß die Marktmechanismen nicht ausreichten, um Amerika aus der Krise herauszuhalten, weshalb der Staat planend und intervenierend tätig werden mußte. Weder der Präsident noch die Wirtschaftswissenschaftler, auf die er hörte, waren «Keynesianer». Vielmehr versuchte Roosevelt, so weit es nur irgend ging, am Prinzip des ausgeglichenen Haushalts festzuhalten. Zumindest eines der frühen New-Deal-Gesetze hatte einen ausgeprägt «prozyklischen» Charakter: Der Economy Act vom 20. März 1933 kürzte die Pensionen der Kriegsveteranen und die Gehälter der Bundesbediensteten um 15 Prozent und senkte damit die Massenkaufkraft. Das Civil Works Program beendete Roosevelt 1934 rasch wieder, als er fand, daß es zu kostspielig war. Öffentlicher Arbeitsbeschaffung maß er 1933/34 keineswegs die Priorität bei, die sie nach Meinung von John Maynard Keynes und seinen Gefolgsleuten haben sollte.

Am 31. Dezember 1933 veröffentlichte die «New York Times» einen offenen Brief, in dem der britische Ökonom den Präsidenten aufforderte, durch großzügiges staatliches «deficit spending» die fehlende Nachfrage der Verbraucher auszugleichen und so die Wirtschaft anzukurbeln. Fünf Monate später, am 28. Mai 1934, wurde Keynes von Roosevelt im Weißen Haus empfangen. Überzeugen konnte er seinen Gastgeber nicht. Gegenüber seiner Arbeitsministerin Frances Perkins, dem ersten weiblichen Kabinettsmitglied der amerikanischen Geschichte, bemerkte der Präsident wenig später, Keynes habe ihn mit Zahlen überschüttet und sei wohl eher Mathematiker als Ökonom. Keynes gewann seinerseits den Eindruck, der Präsident verstehe überhaupt nichts von Wirtschaft.

Die große Mehrheit der Amerikaner war beeindruckt von der Art und Weise, wie die neue Regierung ihre Aufgaben anpackte. Roosevelt, seine Minister und Behördenchefs strahlten Dynamik und Tatkraft aus und hoben sich dadurch positiv von dem Fatalismus ab, der rückblickend das herausstechende Merkmal der Regierung Hoover gewesen zu sein schien. Roosevelt verstand es, durch regelmäßige Rundfunkansprachen vor dem Kamin des Oval Office, die legendären «fireside chats», die Amerikaner direkt anzusprechen und so das neue Massenmedium in ein Herrschaftsmittel zu verwandeln. Er war ein begnadeter, ja charismatischer Redner, dem es immer wieder gelang, seine politischen und publizistischen Gegner dadurch in die Defensive zu drängen, daß er sich zum unmittelbaren Sprachrohr des Volkes machte. Daß er nur wenige unverrückbare Überzeugungen besaß, klaren Festlegungen gern auswich und am liebsten den Weg des geringsten Widerstands ging, wußten die, die Zugang zu ihm hatten. Seiner öffentlichen Wirkung taten diese Eigenschaften keinen Abbruch.

Die Große Krise verstärkte in allen Ländern den Hang zur nationalen Abschottung. Die USA gaben dieser Neigung ohne zu zögern nach und huldigten, unter Roosevelt noch stärker als zuvor unter Hoover, einem Primat der Innenpolitik, der ganz nach dem Geschmack der Isolationisten war. Um nicht erneut in europäische Händel hineingezogen zu werden, ließ Washington die Diktatoren in Rom und Berlin gewähren. Die antijüdischen Ausschreitungen vom April 1933 in Deutschland wurden mit Besorgnis registriert, riefen aber keine massiven Reaktionen hervor. Hitler galt zu Beginn seiner Herrschaft in weiten Kreisen als ein eher gemäßigter Repräsentant der nationalsozialistischen Bewegung. Im November 1933 nahmen die Vereinigten Staaten als letzte westliche Großmacht diplomatische Beziehungen zur Sowjetunion auf – ein Schritt, der der Regierung Roosevelt lebhaften Beifall der am Exportgeschäft interessierten Wirtschaftskreise einbrachte.

Lateinamerika gegenüber setzte Washington unter der neuen demokratischen Administration die von Hoover eingeleitete «Politik der guten Nachbarschaft» fort. Im Dezember 1933 erklärte Außenminister Cordell Hull in Montevideo ausdrücklich, daß kein Staat das Recht habe, sich in die Angelegenheiten eines anderen einzumischen. Roosevelt bekräftigte diese Position wenige Tage später zur Freude der Lateinamerikaner durch eine klare Absage an eine Politik der bewaffneten Intervention. Diese Linie galt freilich auch gegenüber brutalen Diktaturen wie der Rafael Trujillos in der völlig von den USA abhängigen Dominikanischen Republik. Ihrer einzigen überseeischen Kolonie, den Philippinen, die sie im Krieg von 1898 Spanien abgenommen hatten, gewährten die Vereinigten Staaten durch die Verabschiedung des Tydings-McDuffie Act im März 1934 den Status eines autonomen «Commonwealth», das nach Ablauf von zehn Jahren in die Unabhängigkeit entlassen werden sollte. Für diesen Schritt sprachen vor allem finanzielle Gründe. In Japan freilich wurde der Kongreßbeschluß als Zeichen dafür verstanden, daß Amerika sich zu einem Rückzug aus Asien entschlossen hatte.

Ein Jahr, nachdem die ersten New-Deal-Gesetze in Kraft getreten waren, war die erste Euphorie längst verflogen. Die meiste Kritik zog die National Recovery Administration auf sich. Die Gewerkschaften waren unzufrieden mit der weitgehenden Folgenlosigkeit der Bestimmungen, die die tarifliche Lohnvereinbarung betrafen; die Unternehmer beklagten sich über die ständigen Einmischungen der Regierung; für die Verbraucher waren die steigenden Preise der Stein des Anstoßes. «Progressives» unter den Republikanern wie die Senatoren William Borah aus Idaho und Gerald Nye aus North Dakota sahen in den codes Mittel zur Unterdrückung von Kleinbetrieben und zur Förderung der Monopolbildung. Selbst Präsident Roosevelt gewann mehr und mehr den Eindruck einer Überregulierung durch die NRA. Im September 1934 veranlaßte er General Johnson zum Rücktritt. Sein Nachfolger Donald Richberg war ein enger Vertrauter des Präsidenten. Er bemühte sich fortan um Lösungen, von denen er sicher sein konnte, daß sie von «big business» mitgetragen werden würden. Die Public Works Administration, die unter der Leitung von Innenminister Harold Ickes stand, war inzwischen von der NRA organisatorisch abgetrennt worden.

Wenn es im ersten Jahr des New Deal noch eine breite Unterstützung der Maßnahmen der Regierung gegeben hatte, begann dieser Rückhalt 1934 zu bröckeln. Roosevelts «Maklerstaat» (broker state), eine amerikanische Variante des Korporativismus, stieß nicht nur bei Großindustrie und Banken, sondern auch bei konservativen Demokraten, bis hin zum Präsidentschaftskandidaten von 1928, «Al» Smith, auf Widerspruch. Im August 1944 artikulierte sich der Protest in der Gründung der American Liberty League, in der Konzerne wie Du Pont und General Motors über großen Einfluß verfügten. Unter den Demokraten, die sich der neuen Vereinigung anschlossen, waren auch solche, die es Roosevelt besonders verübelten, daß seine Regierung, ein demokratisches Wahlkampfversprechen erfüllend, 1933 durch das 21. Amendment einen Schlußstrich unter das Kapitel Prohibition gezogen hatte.

Die American Liberty League beschwor den Geist der amerikanischen Verfassung, der allen ausländischen Regierungssystemen wie Kommunismus, Nationalsozialismus und Faschismus weit überlegen sei. Es gelte, so erklärte ihr Vorsitzender, Jouett Shouse, im November 1934, gegenüber subversiven Theorien und fremdartigen Doktrinen den «fundamental Americanism» aufrechtzuerhalten. Gemeint war damit die freie, nicht von der staatlichen Bürokratie regulierte Unternehmerwirtschaft im Sinne des Manchesterkapitalismus – eine liberale Idylle, die angesichts der Weltwirtschaftskrise notwendigerweise reaktionäre Züge annahm. In der Tat schlug die American Liberty League ernsthaft vor, alle direkten Fürsorgefälle dem Roten Kreuz zu übertragen. Für alle übrigen hieß das Allheilmittel «Selbsthilfe».

Weitaus massiver als die Aktivität der Liberty League war die Agitation des Pressemagnaten William Randolph Hearst, der sich 1933 binnen kurzem von einem Anhänger zu einem Gegner Roosevelts gewandelt hatte. Daß die Regierung sich in die Privatwirtschaft «einmischte», setzte sie bereits dem Verdacht aus, kommunistisch infiltriert zu sein. Gegen den Kommunismus aber mußte mit allen Mitteln vorgegangen werden, und das in Europa getan zu haben, war das ausgiebig gewürdigte Verdienst Mussolinis und Hitlers. In den Vereinigten Staaten sah Hearst, wie er im November 1934 die Chefredakteure seiner etwa 30 Zeitungen und Zeitschriften wissen ließ, noch («as yet») keine wirklich faschistische Bewegung am Werk. Für die Zukunft schloß er die Notwendigkeit einer solchen jedoch nicht aus. «Der Faschismus ist ganz eindeutig eine Bewegung mit dem Ziel, den Kommunismus zu bekämpfen und unschädlich zu machen, und so die am wenigsten fähige und glaubwürdige Klasse davon abzuhalten, die Kontrolle über dieses Land zu gewinnen. Der Faschismus wird in den Vereinigten Staaten erst entstehen, wenn eine solche Bewegung wirklich nötig wird, um uns vor dem Kommunismus zu bewahren.»

Für wünschenswert hielt Hearst diese Entwicklung nicht. Solange die bestehende Gesellschaftsordnung mit den traditionellen Mitteln aufrechtzuerhalten war, zeigte sich der Pressemagnat geneigt, dem amerikanischen Regierungssystem den Vorzug vor allen «crazy isms» zu geben. Allerdings mußte man zu diesem Zweck bereit sein, gravierende Abstriche an durchaus nicht unamerikanischen Errungenschaften vorzunehmen. So erklärte die Hearst-Presse die akademische Freiheit für eine «Phrase, die von den radikalen Gruppen als eine neue Tarnung übernommen wurde, um uns fremdartige Doktrinen zu lehren». Im Herbst 1934, unmittelbar nach seiner Rückkehr von einem Besuch bei Hitler, organisierte Hearst eine Pressekampagne zur gewaltsamen Unterdrückung eines Generalstreiks in San Francisco. Die Bewunderung für die faschistischen Regime Europas schlug zusehends um in die Propagierung einer Politik, die Amerika diesen Systemen angleichen mußte.

Eine außerparlamentarische Opposition gegen Roosevelt formierte sich 1934 nicht nur in der «upper class», sondern auch in breiteren Bevölkerungsschichten. Die frühesten Anzeichen einer solchen Entwicklung kamen aus Louisiana, einer Hochburg der Südstaatendemokraten, ja faktisch einem Einparteienstaat. Dort war 1928 der fünfunddreißigjährige, mit großen rhetorischen Fähigkeiten ausgestattete Rechtsanwalt Huey P. Long zum Gouverneur gewählt worden. Seine Wahlerfolge hatte er vor allem in ländlichen Gebieten errungen, wo vor der Jahrhundertwende die «Populists» stark gewesen waren. Sein «Image» war das eines Sprechers der weißen Unterschichten, und in der Tat betrachtete Long als Gouverneur das überkommene Honoratiorenregime der Plantagenbesitzer und der Standard Oil Company als seinen Hauptgegner. Seine innenpolitischen Errungenschaften – eine armenfreundliche Steuergesetzgebung, umfangreiche Straßenbauarbeiten, die Einführung kostenloser Lernmittel an den Schulen – sicherten ihm eine breite Resonanz nicht nur bei den weißen, sondern auch bei den schwarzen Unterschichten. Die Verwaltung brachte er durch ein System perfektionierter Patronage unter seine Kontrolle. Binnen kurzem beherrschte er überdies die Legislative und die Justiz und hatte derart umfassende Möglichkeiten zur Manipulation von Wahlergebnissen, daß es keine Übertreibung war, von einer persönlichen Diktatur Longs zu sprechen. Daran änderte sich auch nichts, als er 1932 das Amt des Gouverneurs aufgab und fortan Louisiana im amerikanischen Senat vertrat.

Zu einem Faktor der nationalen Politik wurde Long erst, als er sich im Sommer 1933 vom Unterstützer zum Gegner Roosevelts wandelte. Nach Meinung des jungen Senators war die Politik des Präsidenten viel zu wenig radikal; Roosevelt wiederum sah in Long einen politischen Demagogen und gefährlichen Rivalen. Seine Entscheidung, Anhänger Longs von der Ämterpatronage auszuschließen, machte den Bruch perfekt. Long warf nunmehr dem Präsidenten öffentlich die Kürzung der Veteranenrenten, mangelnde Bereitschaft zur Umverteilung des Vermögens und eine wachsende Abhängigkeit von Banken und Konzernen vor.

Die nationale Plattform Longs bildete seit Januar 1934 das «Share-Our-Wealth»-Programm, eine Sammlung werbewirksamer wirtschaftspolitischer Leitsätze, deren Prämissen freilich nicht durchwegs von ökonomischem Sachverstand zeugten. Nach den Vorstellungen Longs sollte jeder Familie ein schuldenfreies Mindestvermögen von 5000 Dollar garantiert und, um dieses Ziel zu erreichen, eine obere Vermögensgrenze etwa bei 5 Millionen Dollar gezogen werden. Ferner sollten alle Personen über 60 Jahren eine monatliche Rente erhalten, jedermann ein jährliches Mindesteinkommen von 2000 Dollar gewährleistet, die Arbeitszeit verkürzt, die Agrarproduktion durch Regierungskäufe ausbalanciert und begabten Kindern eine kostenlose College-Ausbildung gewährt werden. Angesichts der raschen Ausbreitung der Share-Our-Wealth-Clubs über das ganze Land – ihre Zahl betrug im Februar 1935 27.000 – und der erfolgreichen Werbefeldzüge Longs bei den Farmern des Mittelwestens nahm man im Weißen Haus die offenkundigen Ambitionen des Senators auf das höchste Amt der Vereinigten Staaten durchaus ernst. Zur Nominierung Longs als Präsidentschaftskandidat einer dritten Partei kam es jedoch nicht mehr. Am 8. September 1935 wurde der Senator in Baton Rouge Opfer des Attentats eines linksstehenden jungen Arztes. Zwei Tage später erlag Long seinen schweren Schußverletzungen.

Vielen Zeitgenossen hatte Long als potentieller amerikanischer Hitler gegolten, und noch häufiger war er dem Vorwurf ausgesetzt gewesen, ein faschistisches System nach Art Mussolinis in den USA errichten zu wollen. Doch die weitgehende Abschaffung aller für eine demokratische Repräsentativverfassung konstitutiven Elemente in Louisiana Huey Longs reicht kaum aus, sein Regime als faschistisch zu bezeichnen. Von den faschistischen Diktaturen unterschied es sich schon darin, daß es nicht gegen die organisierte Arbeiterschaft gerichtet war. Indem Long die traditionelle Oberschicht aus ihrer politischen Führungsrolle verdrängte, blieb er vielmehr durchaus der populistischen Tradition treu. Sein Regime trug manche Züge einer Entwicklungsdiktatur lateinamerikanischen Typs. Ein solches System hatte wohl nur unter den besonderen Bedingungen Louisianas entstehen können. Bei einem Versuch, es auf die Vereinigten Staaten zu übertragen, wäre Long mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit gescheitert.

Long war nicht der einzige Agitator, der 1934 Massen gegen die Politik der Roosevelt-Administration zu mobilisieren versuchte. In der gleichen Absicht und mit beträchtlichem Erfolg betätigte sich Father Charles Coughlin, ein katholischer Priester aus Holy Oak in Michigan, der mit seinen regelmäßigen, seit 1930 überall in den USA ausgestrahlten Rundfunkansprachen zeitweilig ein Publikum von 40 Millionen Menschen erreichte. Wie Long hatte Coughlin als Anhänger Roosevelts und des New Deal begonnen, um dann seit 1934 eine immer schärfere Sprache gegenüber dem Präsidenten anzuschlagen. Über die mangelnde Würdigung seiner rhetorischen Hilfsdienste für Roosevelt enttäuscht, konzentrierte Coughlin seine Attacken auf das nach seiner Ansicht zu langsame Tempo beim Kampf gegen die Depression, die nicht ausreichenden Schutzmaßnahmen für die Farmer und die unverändert große Macht des Finanzkapitals. Seine Kampagne stellte er folgerichtig einmal auf das agrarische Amerika ab, das dem modernen Kapitalismus innerlich fremd gegenüberstand, zum anderen auf die städtische Unterschicht, soweit sie sich vom New Deal nicht hinlänglich berücksichtigt sah. In diesem Milieu fand Coughlin, als er sich im November 1934 in der National Union for Social Justice eine politische Plattform schuf, auch die meisten Anhänger: neben Farmern im mittleren Westen schlecht entlohnte Arbeiter und Arbeitslose im Nordosten, während «small business» weniger stark in Erscheinung trat.

Das Programm der neuen Vereinigung forderte unter anderem einen gerechten Mindestlohn für jede Art von Arbeit, gerechte Preise für die Farmer, die ausschließliche Zuständigkeit des Kongresses für Fragen der monetären Politik, das Koalitionsrecht für die Arbeiter bei gleichzeitiger Pflicht des Staates, die Organisationen der Arbeiter vor den «vested interests of wealth and intellect» zu schützen. Der radikalste Programmpunkt bestand in der Forderung nach einer Nationalisierung von solchen Wirtschaftssektoren, «die ihrer Natur nach zu wichtig sind, um von Privatpersonen kontrolliert zu werden» – gemeint waren Energieversorgung und Bodenschätze. In allen übrigen Bereichen sollte das Privateigentum unangetastet bleiben.

Ihre regionalen Schwerpunkte hatte die National Union for Social Justice in katholischen Stadtbezirken der Staaten Massachusetts und New York, wo es 1935 viermal so viele lokale Untergruppen gab wie in den agrarisch-protestantisch geprägten Staaten Minnesota und Wisconsin. Coughlin griff damit über das Einzugsfeld des agrarischen Populismus vor 1900 weit hinaus. Seine das unverdorbene Volk gegen die korrupten Führungsschichten ausspielende Rhetorik, der Ruf nach einer Silberwährung – im Effekt einer Politik des leichten Geldes also – und die direkte Berufung auf Wortführer des Farmerprotests des späten 19. Jahrhunderts machten aber deutlich, in welcher Tradition sich Coughlin selber sah. Einen «Faschisten» konnte man ihn, was die Jahre 1934/35 angeht, nicht nennen. Falls er schon damals mit den faschistischen Regimen Europas sympathisierte, ließ er das in seinen Reden und Verlautbarungen nicht erkennen.

Auch im äußersten Westen der USA, in Kalifornien, regte sich im zweiten Amtsjahr Roosevelts Protest gegen «Washington». Im Januar 1934 rief der damals siebenundsechzigjährige promovierte Mediziner Francis Townsend zusammen mit einem Grundstücksmakler, Robert Clements, eine Bewegung zur Reform der Altersrenten, die Old Age Revolving Pensions Limited, ins Leben. Ihre zentrale Forderung war eine Altersrente von 200 Dollar im Monat, die alle über 60 Jahre alten Bürger erhalten sollten, wenn sie sich aus jeder Art von Erwerbstätigkeit zurückzogen und sich verpflichteten, den gewährten Betrag innerhalb eines Monats in den USA auszugeben. Finanziert werden sollte die Rente über eine zweiprozentige Steuer auf Geschäftstransaktionen. Der Ertrag war in einen «revolving fund» genannten nationalen Rentenfonds einzuzahlen. Townsend und seine Mitstreiter glaubten, auf diese Weise die Massenarbeitslosigkeit überwinden zu können: Junge Erwerbslose sollten die frei gewordenen Arbeitsplätze der Älteren besetzen und diese die Konjunktur durch einen Nachfrageschub beleben. Offenbar sahen viele Amerikaner der älteren Generation im «Townsend-Plan», ungeachtet aller rasch laut gewordenen Expertenkritik, einen Ausweg aus ihren materiellen Nöten: Ende 1934 gab es bereits 1200 Clubs, die sich zur Idee des «revolving fund» bekannten, die meisten von ihnen im Westen der USA.

Kein Protest gegen die Regierung, wohl aber gegen die Konzerne waren die großen und vielfach gewaltsam verlaufenen Streikaktionen von 1934. Milwaukee erlebte Ausschreitungen anläßlich eines Ausstands der Straßenbahner; in Philadelphia und New York gab es Taxifahrerstreiks, in Des Moines einen Streik der Arbeiter der Elektrizitätswerke, in Kalifornien und im südlichen New Jersey Landarbeiterstreiks. Besonders blutig verliefen ein Streik der Lastkraftwagenfahrer in Minneapolis im Mai, bei dem zwei von den Unternehmern bezahlte Streikbrecher ums Leben kamen, und ein Generalstreik in San Francisco im Juli, bei dem zwei Streikende getötet wurden. Am Labor Day, dem ersten Montag im September, der seit 1894 ein gesetzlicher Feiertag war, begann ein Ausstand der Textilarbeiter, der sich zum bislang größten Streik in der Geschichte der USA entwickelte. In Rhode Island wurden bei einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Streikenden und Miliz 50 Arbeiter verwundet, in Honea Path im südlichen Kalifornien sechs Arbeiter von bezahlten Streikbrechern getötet. Fast alle Arbeitskämpfe endeten mit Niederlagen der Arbeiter. Bei vielen Aktionen gehörten Sozialisten, Kommunisten oder Trotzkisten zu den treibenden Kräften. Von einer revolutionären Bewegung zur Abschaffung des kapitalistischen Wirtschaftssystems aber konnte 1934 keine Rede sein: Der Masse der Arbeiter ging es ausschließlich um höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen.

Wirtschaftlich gesehen war 1934 noch immer ein Depressionsjahr. Die Zahl der Arbeitslosen lag bei 11,3 Millionen; das waren etwa 1,5 Millionen weniger als 1933, als die Erwerbslosigkeit ihren absoluten Höhepunkt erreicht hatte. Bezogen auf die erwerbstätige Bevölkerung war der Anteil der Arbeitslosen zwischen 1933 und 1934 von 24,9 auf 21,7 Prozent gesunken. Das Nationaleinkommen lag 1934 um ein Viertel über dem des Vorjahres, erreichte aber nur etwas mehr als die Hälfte des Standes von 1929. Als Erfolgsbilanz konnte die Regierung Roosevelt solche Daten nicht deuten, aber sie eigneten sich noch weniger als Argumente gegen den New Deal.

1934 war das Jahr der Halbzeitwahlen. Von den außerparlamentarischen Bewegungen drohte der Regierung keine Gefahr, da sie sich noch nirgendwo parteiförmig organisiert hatten. Die Republikaner hatten bisher noch keine überzeugende Antwort auf den New Deal gefunden. Gewöhnlich gewann bei den Zwischenwahlen die jeweilige Oppositionspartei Sitze hinzu. Diesmal war alles anders. Die Republikaner eroberten im neuen Repräsentantenhaus 13 Abgeordnete weniger als im alten und erzielten damit prozentual ihr schlechtestes Ergebnis überhaupt. Im Senat, der zu einem Drittel neu zu wählen war, waren die Verluste der «Grand Old Party» noch dramatischer. Die Demokraten erreichten hier eine satte Zweidrittelmehrheit und das beste Resultat, das je eine Partei hatte verbuchen können. Einer der neuen demokratischen Senatoren war Harry S. Truman aus Missouri, der Präsident der Jahre 1945 bis 1953.

Der Wahlsieg der Demokraten war ein persönlicher Triumph Franklin Delano Roosevelts: Das konnten auch die Gegner des Präsidenten nicht bestreiten. Doch der große Erfolg hatte seine Kehrseite: Bei den Demokraten gab es eine starke Tendenz, «FDR» zu einer radikaleren Politik zu drängen, als er sie bisher betrieben hatte. Der Demokratischen Partei lag mehr an ihrem Massenrückhalt als an der Sympathie der Eliten. Der Präsident hingegen wollte sich nicht damit abfinden, daß «big business» inzwischen in mehr oder minder geschlossener Opposition zu ihm stand, und bemühte sich weiter um eine Verständigung mit Banken und Großindustrie. Daß er um eine vorsichtige Kurskorrektur nach «links», ja um einen «Second New Deal» nicht herumkam, war aber Roosevelt wohl bewußt.

Zu den Gesetzen des «Zweiten New Deal», die die Regierung Roosevelt Anfang 1935 auf den Weg brachte, gehörte ein tatsächlicher Schlag gegen die Macht der «corporate interests»: der Public Utility Holding Company Act, dessen Ziel es war, die Holdinggesellschaften im Bereich der Energieversorgung zu zerschlagen, sofern sie nicht bis zum 1. Januar 1940 ihre gesellschaftliche Notwendigkeit gegenüber der Securities and Exchange Commission (SEC) nachweisen konnten. Auf Drängen der betroffenen Unternehmen machte das Repräsentantenhaus daraus schließlich eine Ermessensentscheidung der SEC.

Einen noch tieferen Einschnitt brachte der vom Arbeitsministerium unter Frances Perkins ausgearbeitete Social Security Act. Er sah eine Altersbeihilfe des Bundes von 15 Dollar monatlich vor und schuf eine Altersversicherung, die von Arbeitgebern und Arbeitnehmern durch einen Steuerzuschlag finanziert wurde. Die Zahlungen sollten 1942 beginnen und den Empfängern vom vollendeten 65. Lebensjahr ab zwischen 10 und 85 Dollar monatlich einbringen. Landarbeiter und Hausangestellte waren von der Versicherung ausgeschlossen. Für Personen, die nicht in den Genuß der Versicherung kamen, sollten Bund und Einzelstaaten Fürsorgeleistungen übernehmen. Das Gesetz enthielt ferner eine rudimentäre, von Bund und Einzelstaaten einzurichtende Arbeitslosenversicherung, deren Kosten allein die Arbeitgeber zu tragen hatten, Bestimmungen über eine Bundeshilfe für alleinerziehende Mütter und Behinderte sowie öffentliche Dienstleistungen im Gesundheitswesen. An europäischen Maßstäben gemessen wirkten diese Neuerungen überaus bescheiden, ja kärglich. Für die USA bedeutete die Einführung eines obligatorischen öffentlichen Versicherungswesens gleichwohl einen Durchbruch in Richtung Sozialstaat.

Angesichts der anhaltend hohen Arbeitslosigkeit sah sich die Regierung auch zu neuen, ehrgeizigen Anstrengungen auf dem Gebiet der Arbeitsbeschaffung («work relief») und damit zu einer «keynesianischeren» Politik als bisher genötigt. Die Verantwortung hierfür übernahm eine neue, von Harry Hopkins geleitete Behörde, die Works Progress Administration (WPA). Unter ihrer Ägide wurden über 1 Million Kilometer Straßen, darunter vielspurige National Parkways durch landschaftlich besonders schöne Gegenden, fast 125.000 Brücken, über 125.000 öffentliche Gebäude, über 800 Parks und 850 Flughäfen gebaut. Der WPA standen 5 Milliarden Dollar zur Verfügung; sie beschäftigte im Durchschnitt mehr als 2 Millionen Menschen zur gleichen Zeit. Einer Unterbehörde der WPA, der Emergency Housing Division, oblag die Förderung des öffentlichen Wohnungsbaus mit Bundesmitteln. Die Rural Electrification Administration widmete sich der Elektrifizierung des ländlichen Amerika: 1935 waren neun von zehn Farmen ohne Stromversorgung, 1941 waren es noch sechs, 1950 nur noch eine.

Unter dem Dach der WPA standen auch besondere Einrichtungen für die Jugend, für Künstler und Schriftsteller. Die National Youth Administration sorgte für gemeinnützige Arbeit, auch Teilzeitarbeit, für erwerbslose Jugendliche und vergab Hochschulstipendien. Das Federal Writers Project unterstützte arbeitslose Schriftsteller, das Federal Music und das Federal Theater Project arbeitslose Musiker beziehungsweise Theaterschaffende. Von den Regierungsaufträgen, die im Rahmen des Federal Art Project an erwerbslose Maler und Bildhauer vergeben wurden, zeugen noch heute die Mauer- und Wandmalereien in vielen von der WPA errichteten öffentlichen Gebäuden wie Bibliotheken und Postämtern. Ein beliebtes Motiv waren dabei Arbeiter in Heldenpose, die von ferne an den sowjetischen «Proletkult», mitunter auch an zeitgenössische «Kunstwerke» aus Deutschland und Italien erinnerten.

Bis Ende Mai 1935 war erst eines der Gesetze des «Second New Deal», die Relief Bill, vom Kongreß verabschiedet worden, was seinen Hauptgrund im Widerstand «progressiver» Senatoren und Abgeordneter gegen die nach ihrer Meinung allzu unternehmerfreundliche Politik des Präsidenten hatte. Am 27. Mai 1935 erlebte die Regierung Roosevelt ihren bisher schwersten Rückschlag: Der Oberste Gerichtshof erklärte in einer einstimmig ergangenen Entscheidung den National Industrial Recovery Act für verfassungswidrig. Ausgelöst hatten den Richterspruch die Gebrüder Schechter in Brooklyn, die lebendes Geflügel an koschere Schlachthäuser lieferten und unter anderem wegen der Verletzung von «codes», betreffend Mindestlöhne und Arbeitszeiten, nach Absatz 7 (a) des Gesetzes vom 16. Juni 1933 verurteilt worden waren. Der Supreme Court stufte die wirtschaftliche Betätigung der Firma Schechter als «intrastate commerce» (innerstaatlichen Handel) und nicht als «interstate commerce» (zwischenstaatlichen Handel) ein und bestritt der Bundesregierung damit das Recht, hier gesetzgeberisch tätig zu werden. Durch diese restriktive Auslegung der «commerce»-Bestimmung in Artikel 1 der Verfassung der Vereinigten Staaten stellte das Gericht einen Großteil der New-Deal-Gesetze in Frage. Die Schlagzeile der Londoner «Daily Express» traf ins Schwarze: «Amerika wie betäubt; Roosevelts Arbeit von zwei Jahren in zwanzig Minuten vernichtet» (America Stunned; Roosevelt’s Two Years’ Work Killed in Twenty Minutes).

Hinter dem Urteil vom 27. März 1935 standen nicht nur die konservativen Richter, die zusammen mit sogenannten «middle-of-the-roaders» über eine knappe Mehrheit verfügten, sondern auch erklärte «progressives» wie Louis D. Brandeis und Benjamin N. Cardozo. Für sie war die Schwächung des Wettbewerbs durch die monopolfreundlichen Bestimmungen des National Industry Recovery Act Anlaß zu juristischem Einspruch. Bei ihren weiteren Urteilen gegen New-Deal-Gesetze waren die eher konservativen Richter unter sich: Die Entscheidungen ergingen mit einer Mehrheit von 5 zu 4 oder 6 zu 3 Stimmen. Die öffentliche Meinung stellte sich überwiegend gegen die Urteile des Supreme Court, lehnte aber auch die Absicht des Präsidenten ab, durch Gesetz die Zahl der Richter dadurch zu erhöhen, daß für jeden Richter, der das 70. Lebensjahr überschritten hatte, ein zusätzlicher Richter bestellt wurde. Im März 1937 lehnte der Kongreß einen entsprechenden Gesetzentwurf des Präsidenten ab. Kurz darauf löste sich aber der Konflikt zwischen dem Gericht und der Regierung auf überraschende Weise: Ein gemäßigt konservativer Richter, Owen J. Roberts, wechselte seinen Standort und schloß sich seinen liberalen Kollegen an. Bald darauf traten mehrere Richter der bisherigen Mehrheit zurück. Sie wurden durch liberale ersetzt. Der Oberste Gerichtshof hörte auf, ein Bollwerk der New-Deal-Gegner zu sein.

«FDR» hatte sich schon kurz vor dem Urteilsspruch vom 27. Mai 1935, auf Grund einer unverblümten Kampfansage der United States Chamber of Commerce von Anfang Mai, zu der Einsicht durchgerungen, daß er einer offenen Konfrontation mit «big business» nicht länger ausweichen konnte. Die Aufhebung der National Industrial Recovery Act durch den Supreme Court war nur noch der letzte Anstoß für eine neue politische Offensive, die von Historikern mitunter die «zweiten hundert Tage» Roosevelts genannt wird. Anfang Juni ließ der Präsident den Kongreß wissen, daß er auf eine rasche Verabschiedung mehrerer wichtiger Gesetze Wert lege, darunter der Social Security Bill, der Public Utility Holding Company Bill und des Entwurfs eines neuen Bankgesetzes. Senat und Repräsentantenhaus kamen dem Drängen nach, so daß alle Gesetze noch 1935 in Kraft treten konnten.

Überraschend war, daß der Präsident sich nunmehr auch für ein bislang von ihm und Arbeitsministerin Perkins mit Skepsis aufgenommenes Vorhaben aussprach: den von dem demokratischen Senator Robert Wagner, einem geborenen Deutschen, vorgelegten Entwurf eines National Labor Relations Act. Wagners Bill war der «radikalste» Gesetzesentwurf der gesamten New-Deal-Ära. Sie erhob das Prinzip des «collective bargaining», der tariflichen Lohnvereinbarung, zu rechtsverbindlicher Geltung und verpflichtete die Unternehmer, der gewerkschaftlichen Organisation ihrer Belegschaften keine Hindernisse in den Weg zu legen. Vergleichbare Auflagen für die Gewerkschaften sah der Entwurf nicht vor, was von konservativen Kritikern scharf gerügt wurde. Der Senat hatte der Bill bereits am 2. Mai zugestimmt; am 27. Juni fand sie auch im Repräsentantenhaus eine große Mehrheit. Am 5. Juli setzte der Präsident seine Unterschrift unter das Gesetz.

Die Verabschiedung des Wagner Act erhöhte die Schlagkraft der Gewerkschaften, die sich um diese Zeit in einer schweren organisatorischen Krise befanden. Die American Federation of Labor (AFL), der größte gewerkschaftliche Dachverband, hatte sich seit jeher um die handwerklich ausgebildeten Facharbeiter gekümmert und die ungelernten Arbeiter in den auf Massenproduktion beruhenden Wirtschaftszweigen vernachlässigt. Eine Minderheit um den Präsidenten der Bergarbeitergewerkschaft, der United Mine Workers of America, John L. Lewis, hinter der knapp 30 Prozent aller Mitglieder der AFL standen, machte seit 1934 offen Front gegen die einseitige Betonung des überkommenen Prinzips der Berufsgewerkschaft (craft union) und stellte ihm das modernere Prinzip der berufsübergreifenden Industriegewerkschaft (industrial union) gegenüber.

Auf dem Kongreß der AFL in Atlantic City im Oktober 1935 kam es zur Zerreißprobe: Die Mehrheit erteilte dem Prinzip der Industriegewerkschaft eine klare Absage, woraufhin sich die in der Minderheit gebliebenen Verbände der Berg-, Bekleidungs- und Textilarbeiter zu einer eigenen Unterorganisation, dem Committee for Industrial Organization (CIO), zusammenschlossen. Da die Mehrheit einen solchen Dualismus nicht hinnehmen wollte, eskalierte der Konflikt. 1936 wurde die Mitgliedschaft der oppositionellen Verbände suspendiert. Versuche, diese Maßnahme mit juristischen Mitteln außer Kraft zu setzen, waren erfolglos. Im Oktober 1938 verwandelte sich daraufhin das Committee for Industrial Organization unter Beibehaltung des Kürzels «CIO» in einen selbständigen Dachverband, den Congress of Industrial Organizations.

Der CIO erreichte sehr viel mehr weibliche und schwarze Arbeiter als die AFL und trat insgesamt deutlich militanter auf als der ältere Dachverband. Zu einer antikapitalistischen Kraft aber entwickelte sich der CIO, obwohl in seinen Reichen auch viele Sozialisten und Kommunisten mitarbeiteten, nicht. Die Entfaltungsmöglichkeiten, die der Wagner Act den Gewerkschaften bot, trug viel dazu bei, daß sich der CIO ähnlich «systemstabilisierend» verhielt wie die AFL. Die Gegensätze zwischen den beiden Dachverbänden schliffen sich bald ab, so daß schließlich der Weg für ihre Wiedervereinigung zur AFL-CIO im Jahr 1955 frei wurde.

Zu den «linken» Signalen, die im Frühsommer 1935 vom Präsidenten kamen, gehörte auch die Ankündigung eines Steuergesetzes vom 19. Juni. Roosevelt sprach sich in seiner Botschaft an den Kongreß für eine nationale Erbschaftssteuer, Abgaben auf besonders hohe Nettoeinkommen, eine Schenkungssteuer und eine nach der Größe der Unternehmen gestaffelte Steuer auf Kapitalgesellschaften aus. Am Motiv des Vorstoßes ließ der Präsident gegenüber seinem Berater Raymond Moley keinen Zweifel: Er wollte Huey Long und seiner «Share-Our-Wealth»-Bewegung «den Donner stehlen». William Randolph Hearst antwortete sogleich mit einer Kampagne: Er schlug seinen Redakteuren vor, den «Bastard»-Vorschlag einem «zusammengesetzten Wesen» namens «Stalin Delano Roosevelt» zuzuschreiben, statt von «New Deal» von «Raw Deal» zu sprechen und dem Präsidenten eine Politik nach der Devise «Schröpft die Erfolgreichen!» (Soak the Successful) vorzuhalten.

Im Repräsentantenhaus fand die Botschaft des Präsidenten starken Beifall bei den Demokraten; der Senat aber reagierte mit demonstrativem Schweigen. Am Ende des Gesetzgebungsverfahrens stand eine abgeschwächte Vorlage ohne Erbschaftssteuer und mit einer sehr niedrigen Progression bei der Kapitalgesellschaftssteuer. Nach dem Urteil des Historikers William E. Leuchtenburg tat der Wealth Tax Act zwar wenig, um kleinere Unternehmen steuerlich besser zu stellen als große, den Wohlstand gerechter zu verteilen und die Staatseinkünfte zu vermehren. «Aber da das Gesetz die Steuern auf Grundbesitz, Schenkungen und Kapitalvermögen erhöhte, eine von Roosevelt gar nicht verlangte Sondersteuer auf exzessive Gewinne einführte und die Steuerzuschläge auf den höchsten Stand der Geschichte brachte, rief es in Wirtschaftskreisen mehr Ressentiments hervor als jedes andere New-Deal-Gesetz.»

Alle Gesetze von 1935, für die Roosevelt sich persönlich einsetzte, dienten auch der Verbesserung seiner Chancen, im Jahr darauf als Präsident wiedergewählt zu werden. Nach dem Bruch mit «big business» traten die Konturen der «Roosevelt Coalition» so klar wie nie hervor: Sie umfaßte vor allem Arbeiter, Katholiken, Frauen, die ethnischen Minderheiten und die schwarzen Amerikaner. Die organisierten Arbeiter waren die Zielgruppe des Wagner Act, die erwerbslosen Arbeiter die Adressaten einer Vielzahl von Hilfsprogrammen; um die Frauen kümmerte sich besonders Eleanor Roosevelt, die Frau des Präsidenten; die Katholiken und die noch nicht voll assimilierten ethnischen Minderheiten gehörten meist zu den weniger gut situierten Bevölkerungsschichten und standen darum den besonders unternehmerfreundlichen Republikanern ferner als den Demokraten, die sich gern als die Partei der «kleinen Leute» gaben.

Die schwarze Bevölkerung zog aus dem New Deal Nutzen, soweit er den unteren Gesellschaftsschichten zugute kam. Eine Politik zur Durchsetzung der Bürgerrechte der Schwarzen aber betrieb Roosevelt nicht. Er nahm es hin, daß die CCC separate Lager für schwarze Amerikaner errichtete, die NRA Tarifverträge akzeptierte, die für schwarze Arbeiter trotz gleichwertiger Leistung niedrigere Löhne vorsah als für weiße und die WPA Schwarzen regelmäßig die am schlechtesten bezahlten Arbeitsplätze gab. Der Präsident machte sich nicht einmal zum Anwalt des Entwurfs eines Anti-Lynching-Gesetzes, den die demokratischen Senatoren Robert F. Wagner aus New York und Edward P. Costigan aus Colorado 1935 vorlegten. (1935 wurden insgesamt 18 Lynchmorde im Süden der USA begangen.) Der Präsident fürchtete, durch ein solches Engagement die Unterstützung der Südstaatendemokraten zu verlieren und so den New Deal insgesamt zu gefährden. Wenn es trotzdem gelang, die Schwarzen in die «Roosevelt Coalition» einzugliedern, dann nur, weil die Demokraten inzwischen aus ihrer Sicht ein kleineres Übel darstellten als die einstige Partei Abraham Lincolns.

Für die Republikaner ging 1936 der Gouverneur von Kansas, Alfred M. Landon, ins Rennen um die Präsidentschaft. Father Coughlin, der als gebürtiger Kanadier nicht selbst kandidieren konnte, Francis Townsend und Gerald L. K. Smith, der an Stelle des ermordeten Huey Long an die Spitze der Share-Our-Wealth-Bewegung getreten war, schlossen sich im Juni 1936 zu einer neuen Partei, der Union Party, zusammen und stellten den nominell republikanischen Kongreßabgeordneten William Lemke aus North Dakota als ihren Kandidaten auf. Von einem gemeinsamen Wahlkampf der Union Party konnte keine Rede sein: Coughlin und Smith verschreckten gemäßigte Wähler durch antisemitische Tiraden und Smith noch deutlicher als Coughlin durch offen bekundete Sympathie für den Faschismus, was Lemke und Townsend veranlaßte, sich zumindest vom Nachfolger Longs zu distanzieren. Für die Sozialisten trat erneut Norman Thomas, für die Kommunisten ihr Parteivorsitzender Earl Browder an.

Der Wahlkampf der Republikaner litt darunter, daß der Partei sowohl ein faszinierender Kandidat als auch zündende Parolen fehlten. Lemke appellierte vor allem an die Furcht der Arbeiter vor einer Lohnsenkung als Folge der Abzüge zugunsten der Altersversicherung, die am 1. Januar 1937 in Kraft trat. Roosevelt nahm seine erneute Nominierung als Präsidentschaftskandidat der Demokraten am 27. Juni in Philadelphia mit einer Rede an, von der ein (von seinem Pressesprecher Thomas Corcoran formulierter) Satz in die Geschichtsbücher einging: «This generation of Americans has a rendezvous with destiny». Was er damit sagen wollte, machte er wenig später deutlich: «Wir kämpfen, um eine große und kostbare Regierungsform für uns selbst und für die Welt zu bewahren» (We are fighting to save a great and precious form of government for ourselves and for the world).

Die Wahl vom 3. November 1936 brachte Roosevelt einen Stimmanteil von 60,8 Prozent und damit die größte Mehrheit, die je ein Präsidentschaftsbewerber errungen hatte. Entsprechende Rekorde verbuchten die Demokraten in Senat und Repräsentantenhaus. Der republikanische Bewerber Landon kam auf 36,5 Prozent. Nur in zwei Staaten, Maine und Vermont, hatte er mehr Stimmen auf sich ziehen können als der Amtsinhaber. Der «Unionist» William Lemke verbuchte 2,0, der Sozialist Norman Thomas 0,4, der Kommunist Earl Browder 0,2 Prozent.

Father Coughlin hatte im Wahlkampf erklärt, er würde aufhören, Rundfunkansprachen zu halten, wenn es ihm nicht gelinge, Lemke 9 Millionen Stimmen einzubringen. Tatsächlich mußte sich der Kandidat der Union Party mit weniger als 900.000 Stimmen begnügen. Für kurze Zeit hielt sich Coughlin an sein Versprechen. Dann nahm er seine Agitation redend und schreibend mit extremeren Botschaften als je zuvor wieder auf. 1938 bezeichnete er sich offen als Antisemit und Kommunismus und internationales Finanzkapital als verschiedene Formen derselben jüdischen Weltverschwörung. In seiner Zeitschrift «Social Justice» druckte er die «Protokolle der Weisen von Zion», eine antisemitische Fälschung, ab. Er gründete einen neuen rechtsradikalen Kampfbund, die «Christian Front», die antijüdische Demonstrationen organisierte und Waffenlager anlegte, und feierte Hitler, Mussolini und Franco als Retter der abendländischen Kultur. 1940 wurde seine «Christian Front» verboten. 1942 mußte er auf Grund öffentlichen Drucks und eines kirchlichen Verbots seine Rundfunkreden einstellen. Damit endete die politische Betätigung des Pfarrers der Gemeinde von Holy Oak.

Roosevelts triumphale Wiederwahl fiel in eine Zeit, in der es schien, als habe Amerika wirtschaftlich das Schlimmste hinter sich. Das Nationaleinkommen war gegenüber 1933 um 50 Prozent gestiegen, die Zahl der Arbeitslosen sank 1936 erstmals seit 1932 wieder unter die 10-Millionen-Grenze und lag jetzt mit 16,9 Prozent um 8 Prozentpunkte unter dem Höchststand von 1933. Der Dow-Jones Industrial Index übertraf 1936 den Stand von 1933 um 80 Prozent. Für die Automobilindustrie war 1936 das erfolgreichste Jahr seit 1929. Der Aufschwung war so bemerkenswert, daß Winthrop Aldrich, der Mann an der Spitze der Chase Manhattan Bank, bereits vor der Gefahr einer Inflation warnen konnte.

Die wirtschaftliche Erholung war eine relative; von einer endgültigen Überwindung der Depression konnte, wie sich bald zeigen sollte, 1936 noch nicht gesprochen werden. Der Anteil, den Gesetze und Maßnahmen der Regierung an der Behebung der Konjunktur hatten, ließ sich nicht exakt bestimmen. Leichter war es, das zu benennen, was der New Deal nicht erreicht hatte: Es gab keine Umverteilung der Einkommen und keine energischen Maßnahmen zur Durchsetzung der faktischen Gleichberechtigung von Männern und Frauen; die rassische Diskriminierung der schwarzen Bevölkerung hielt an; die untersten Schichten der Gesellschaft wie Slumbewohner, arbeitslose Schwarze, landwirtschaftliche Saisonarbeiter und kleine Pächter hatten, weil kaum oder gar nicht organisiert, an der politischen Willensbildung nach wie vor keinen Anteil; den «American Indians» wurde zwar durch den Indian Reorganization Act von 1934 das Recht zurückgegeben, kollektives Grundeigentum zu besitzen und eigene Stammesregierungen zu wählen, das Land, das sie besaßen, war aber in der Regel von so schlechter Qualität, das weiße Amerikaner daran kein Interesse hatten.

Teils waren es politische Widerstände, die die New Dealer daran hinderten, mehr zu erreichen, teils war es ihre innere Bindung an den «American way of life», die sie davon abhielt, radikalere Veränderungen anzustreben. Immerhin konnten sie sich zugute halten, daß das Risiko, aus purer Not zu verhungern, inzwischen sehr viel geringer war als vor 1933. Sie hatten Amerika ein wenig sozialer, genauer gesagt: sozialstaatlicher, und damit «europäischer» gemacht. Sie hatten die Modernisierung der USA durch die Elektrifizierung großer ländlicher Regionen vorangetrieben. Ihr größter Erfolg aber war die Überwindung der psychologischen Depression, die die Vereinigten Staaten nach 1929 befallen hatte. Und weil Amerika bald nach dem Regierungsantritt Roosevelts wieder an sich zu glauben begann, war das demokratische System während der Weltwirtschaftskrise niemals ernsthaft in Gefahr geraten. Darin lag der fundamentale Unterschied zwischen den USA und jenen europäischen Staaten, die sich in den zwanziger oder frühen dreißiger Jahren in Diktaturen verwandelt hatten.

Viele Zeitgenossen sahen freilich Amerika unter Roosevelt sich in eine Richtung entwickeln, die der Italiens unter Mussolini und Deutschlands unter Hitler ähnlich war. Ein linksliberaler Publizist wie I. F. Stone meinte schon 1933, Roosevelts Politik werde als Ganzes nur unter der Hypothese verständlich, daß er sich auf den Faschismus zubewege. Der Sozialistenführer Norman Thomas fand 1934, die Wirtschaftspolitik des New Deal sehe dem Korporativismus Mussolinis und Hitlers Totalitarismus zum Verwechseln ähnlich. Im gleichen Jahr nannte der Vorsitzende der Kommunistischen Partei der USA, Earl Browder, Roosevelts Programm eines «des Hungers, der Faschisierung und des imperialistischen Krieges»; es sei seinem politischen Wesen und seiner Richtung nach dasselbe wie Hitlers Programm.

Doch man mußte nicht links stehen, um den New Deal in die Nähe von Faschismus oder Nationalsozialismus zu rücken. Der demokratische Senator Carter Glass aus Virginia prangerte 1933 im Zusammenhang mit den «codes» der NRA «die äußerst gefährlichen Bemühungen der Bundesregierung in Washington» an, «den Hitlerismus in jeden Winkel des Landes zu verpflanzen» (to transplant Hitlerism to every corner of this nation). Ein isolationistischer Republikaner wie der Senator Arthur Vandenberg aus Michigan hatte 1934 keine Bedenken, die Ermächtigung des Präsidenten, Zollsätze nach dem Prinzip der Reziprozität zu senken, «faschistisch in ihrer Philosophie, faschistisch in ihrer Zielsetzung» zu nennen. Der Kongreßabgeordnete J. W. Taylor, ein Parteifreund Vandenbergs, erklärte in einer Rede, die er am 18. Juni 1934 anläßlich des Geburtstags von Abraham Lincoln im Repräsentantenhaus hielt, unter Hinweis auf die Machtverlagerung vom Kongreß zur Exekutive, er sei zum Zeugen der Entstehung einer Diktatur geworden, «die die Nasen von Herrn Hitler, Stalin, Mussolini und Mustafa Kemal in der Türkei grün vor Neid färben mußte. Unabhängigkeit in der Privatwirtschaft gehört der Vergangenheit an, und individuelle Freiheit ist nur noch eine Erinnerung.»

Roosevelts amerikanische Gegner waren nicht die einzigen, die dem New Deal eine große Nähe zu Faschismus und Nationalsozialismus unterstellten. Kein Geringerer als Benito Mussolini entdeckte in einer Rezension der italienischen Ausgabe von Roosevelts Buch «Looking Forward» im «Popolo d’Italia» vom 7. Juli 1933 Ähnlichkeiten zwischen dem faschistischen Italien und den USA des New Deal. «Der Appell an die Jugend und die Entschlossenheit und männliche Nüchternheit, mit der hier der Kampf aufgenommen wird, erinnern an die Art und Weise, in der der Faschismus das italienische Volk erweckt hat … An den Faschismus erinnert, daß der Staat die Wirtschaft sich jetzt nicht mehr selber überläßt, weil ihr Wohlergehen mit dem des Volkes identisch ist. Die Stimmung dieses Umbruchs ähnelt zweifellos der des Faschismus. Mehr läßt sich jedoch gegenwärtig nicht sagen.»

Ähnlich positiv äußerte sich das Organ der deutschen Nationalsozialisten. Am 17. Januar 1934 bekannte der «Völkische Beobachter»: «Auch wir deutschen Nationalsozialisten schauen nach Amerika … Roosevelt macht Experimente, und sie sind kühn. Auch wir fürchten die Möglichkeit ihres Fehlschlags.» Am 21. Juni 1934 bescheinigte das Blatt dem amerikanischen Präsidenten: «Roosevelt hat auf einer schmalen und unzureichenden Basis alles nur Menschenmögliche erreicht.»

Gewisse Ähnlichkeiten zwischen dem Amerika Roosevelts und den Diktaturen Mussolinis und Hitlers sind in der Tat offenkundig. Die Stärkung der Exekutivgewalt, die staatliche Lenkung der Wirtschaft, der Kult der Arbeit und eine kriegerische Rhetorik im Kampf gegen die Wirtschaftskrise, die pathetische Berufung auf die historische Sendung der eigenen Nation: All das gab es nicht nur in Italien und Deutschland, sondern nach 1933 auch in den USA. Wer der National Mall entlang durch das Zentrum der amerikanischen Hauptstadt wandert, findet es noch heute geprägt von klassizistischen Monumentalbauten, die meist aus den Jahren 1933 bis 1939 stammen und auffallend der Staatsarchitektur des faschistischen Italien und des nationalsozialistischen Deutschland ähneln – von Bauten wie dem Ensemble des Federal Triangle mit der National Gallery, den National Archives, dem Supreme Court, dem Komplex der Smithsonian Institution, dem Jefferson Memorial, vielen Ministerien und Behörden.

Die Architekten der New-Deal-Periode brauchten allerdings nicht bei ihren Kollegen aus europäischen Diktaturen in die Lehre zu gehen, um monumental zu bauen. Sie verwirklichten Pläne, die in den ersten Jahren des 20. Jahrhunderts, ja teilweise schon im ausgehenden 18. Jahrhundert entwickelt worden waren und der klassizistischen Bautradition Amerikas entsprachen. Die Wirtschaftskrise förderte aber in vielen Ländern, unabhängig vom politischen System, den Hang zu Demonstrativbauten, die die gewachsene Bedeutung der Staatsgewalt unterstreichen sollten und insofern «postliberal» wirken. In den Worten des Kulturhistorikers Wolfgang Schivelbusch: «Egal ob es sich um bolschewistisch und faschistisch umgekrempelte oder um kapitalistisch-demokratisch reparierte Gesellschaften handelte, sie bedurften gleichermaßen einer Architektur, die dem Gemeinwesen, für das oder besser über dem sie sich tempelartig erhob, Vertrauen, Respekt, ja religionsähnlichen Sinn und Zusammenhalt vermittelte und auch dem Rest der Welt klarmachte, wer sie waren.»

Die Ähnlichkeiten der Anti-Depressions-Architektur verweisen auf gleichartige Herausforderungen der Krisenjahre. Die Antworten aus Rom, Berlin und Washington aber waren, wo immer es um die politischen Grundlagen des Gemeinwesens ging, denkbar unterschiedlich. Die Vereinigten Staaten vollzogen keinen Regimewechsel, sondern festigten ihre Demokratie durch Reformen. Sie behielten ihre Verfassung, die 1933.146 Jahre alt wurde, und gaben nichts von dem preis, was ihren Gründervätern als wesentlich erschienen war. Eine derart ungebrochene demokratische Tradition und eine durch sie geprägte politische Kultur kannten nur wenige europäische Länder. Italien und Deutschland gehörten nicht dazu. Wäre es anders gewesen, hätten sie der Errichtung der Diktatur wohl mehr Widerstand entgegengesetzt.[1]

Machtergreifung als Prozeß:
Die Errichtung der nationalsozialistischen Diktatur 1933/34

An der Spitze der deutschen Reichsregierung stand seit dem 30. Januar 1933 ein Mann, der sich als den von der Vorsehung auserwählten Erlöser der Deutschen und damit zugleich der germanischen Rasse betrachtete. Erlösen wollte er die Deutschen nicht nur von der Schmach des Versailler Vertrags, vom Marxismus, Liberalismus und Parlamentarismus, sondern vom Bösen schlechthin, das sich der unterschiedlichsten Masken bediente, um sein Zersetzungswerk zu tarnen: dem internationalen Judentum. Der Marxismus war aus Hitlers Sicht nur eine, aber die bislang erfolgreichste Verkleidung des Juden: Sie hatte ihm zur Beherrschung der Arbeiterschaft verholfen. Die Arbeiter dem Einfluß des internationalistischen Marxismus zu entreißen und für die Sache der Nation zu gewinnen konnte folglich nur einer Bewegung und einem Führer gelingen, die zum rücksichtslosen Kampf gegen das Judentum entschlossen waren.

Als ein solcher Führer wußte sich Adolf Hitler. In «Mein Kampf» hatte er während seiner Landsberger Festungshaft 1924 den Glauben an seine Sendung in Worte gefaßt, die so apokalyptisch gemeint waren, wie sie klangen: «Siegt der Jude mit Hilfe seines marxistischen Glaubensbekenntnisses über die Völker dieser Welt, dann wird seine Krone der Totentanz der Menschheit sein, dann wird dieser Planet wieder wie einst vor Jahrmillionen menschenleer durch den Äther ziehen. Die ewige Natur rächt unerbittlich die Übertretung ihrer Gebote. So glaube ich heute im Sinne des allmächtigen Schöpfers zu handeln. Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn.»

Die sakrale Wendung machte deutlich, was der Nationalsozialismus nach dem Willen seines Führers sein sollte: eine innerweltliche «ecclesia militans», außerhalb deren es kein Heil gab – eine totalitäre Religion, in ihrem Totalitätsanspruch nur dem italienischen Faschismus auf der einen und dem Sowjetkommunismus auf der anderen Seite vergleichbar. Als totalitäres Regime war der Nationalsozialismus eine Diktatur neuen Typs, die sich von autoritären Systemen, europäischen oder lateinamerikanischen Militärdiktaturen etwa, deutlich unterschied. Neu waren gegenüber den herkömmlichen Diktaturen vor allem die Mobilisierung der Massen und der Anspruch auf den ganzen Menschen, der zu einem «neuen Menschen» erzogen werden sollte. Ein solches System gab es in Deutschland am 30. Januar 1933 und in den ersten Wochen danach noch nicht. Aber wer Hitlers öffentliche Bekundungen aus der «Kampfzeit» ernst nahm, wußte, daß es ihm um die Errichtung eines Regimes ging, das mindestens so «totalitär» sein würde wie das faschistische System Benito Mussolinis.

Mit dem italienischen Faschismus hatte der deutsche Nationalsozialismus vieles gemein: radikalen Nationalismus, Antimarxismus und Antiliberalismus, die Militarisierung des innenpolitischen Kampfes, den Kult von Jugendlichkeit, Männlichkeit und Gewalt, die zentrale Rolle des charismatischen Führers. Beide Bewegungen hatten ihren Ursprung in der traumatischen Erfahrung der Ergebnisse des Ersten Weltkriegs. So wie die Nationalsozialisten die deutsche Niederlage auf einen «Dolchstoß» der «Novemberverbrecher» zurückführten, so lasteten die italienischen Faschisten den «verstümmelten Sieg», die Durchkreuzung ehrgeiziger Annexionspläne durch die westlichen Verbündeten, der Schwächlichkeit der Liberalen und dem Internationalismus der Linken an. Beide Parteien verstanden es, die verbreitete Angst vor einer «roten Revolution» nach dem Vorbild der russischen Bolschewiki auszunutzen. Beide zogen Gewinn aus der Spaltung der marxistischen Arbeiterbewegung im Gefolge von Weltkrieg und Oktoberrevolution.

Die Gemeinsamkeiten zwischen den Bewegungen Mussolinis und Hitlers waren so ausgeprägt, daß viele Zeitgenossen, vor allem auf der Linken, im Nationalsozialismus von Anfang an nur die deutsche Erscheinung des «Faschismus» zu erkennen vermochten. Das war er auch, sofern man den Begriff «Faschismus» zur Kennzeichnung eines neuen Typs von militanter Massenbewegung der extremen Rechten verwendet, wie es sie vor dem Ersten Weltkrieg noch nirgendwo in Europa gegeben hatte. Doch der Nationalsozialismus war nicht nur der «deutsche Faschismus». Er war in viel höherem Maß als der italienische Faschismus eine den ganzen Menschen beanspruchende politische Religion (und insofern eher seinem Antipoden, dem Bolschewismus, ähnlich). Er war in jeder Hinsicht extremer und totalitärer als das römische Vorbild, und er verfügte über ein mythologisches Feindbild, das Mussolini, seine Bewegung und sein Regime nicht besaßen: Der italienische Faschismus kannte nicht den tödlichen Haß auf die Juden, der im Mittelpunkt von Hitlers «Weltanschauung» stand.

Die «positive» Kehrseite des Kampfes gegen die Juden war der Kampf für das rassisch reine deutsche Großreich der Zukunft, hinter dem die früheren deutschen Reiche, das mittelalterliche wie das Bismarcksche, verblassen mußten. «Die Grenzen des Jahres 1914 bedeuten für die Zukunft der deutschen Nation gar nichts. In ihnen lag weder ein Schutz der Vergangenheit, noch läge in ihnen eine Stärke für die Zukunft», heißt es in «Mein Kampf». «Deutschland wird entweder Weltmacht oder überhaupt nicht sein. Zur Weltmacht aber braucht es jene Größe, die ihm in der heutigen Zeit die notwendige Bedeutung und seinen Bürgern das Leben gibt. Damit ziehen wir Nationalsozialisten bewußt einen Strich unter die außenpolitische Richtung unserer Vorkriegszeit. Wir setzen dort an, wo man vor sechs Jahrhunderten endete. Wir stoppen den ewigen Germanenzug nach dem Süden und Westen Europas und weisen den Blick nach dem Land im Osten. Wir schließen endlich ab die Kolonial- und Handelspolitik der Vorkriegszeit und gehen über zur Bodenpolitik der Zukunft.»

Der Osten: das hieß «Rußland und die ihm untertanen Randstaaten». Es war das Schicksal selbst, das nach Hitlers Überzeugung Deutschland diesen Fingerzeig hatte geben wollen, indem es Rußland dem Bolschewismus überantwortete. Die Machtübernahme der Bolschewiki bedeutete aus seiner Sicht die Ersetzung der bisherigen ursprünglich germanischen Führungsschicht durch die Juden, die aber das mächtige Reich auf die Dauer nicht zusammenhalten konnten. «Das Riesenreich im Osten ist reif zum Zusammenbruch. Und das Ende der Judenherrschaft in Rußland wird auch das Ende Rußlands als Staat sein. Wir sind vom Schicksal ausersehen, Zeugen einer Katastrophe zu werden, die die gewaltigste Bestätigung für die Richtigkeit der völkischen Rassentheorie sein wird.»

Die größte westliche Großmacht, die Vereinigten Staaten von Amerika, betrachtete Hitler mit einer Mischung aus Bewunderung und Besorgnis. In seinem 1928 verfaßten, zu seinen Lebzeiten aber nicht veröffentlichten «Zweiten Buch» bezeichnete er die USA als einen «neuen Machtfaktor … von Ausmaßen, der die gesamten bisherigen Kraft- und Rangordnungen der Staaten über den Haufen zu werfen droht». Er sah im «Amerikanertum» ein «junges, rassisch ausgesuchtes Volk», und nur eine «bewußte völkische Rassenpolitik» könne die europäischen Nationen davor retten, «das Gesetz des Handelns an Amerika zu verlieren, infolge des minderen Wertes der europäischen Völker gegenüber dem amerikanischen». An anderer Stelle des Manuskripts heißt es, in ferner Zukunft lasse sich vielleicht eine neue Völkervereinigung denken, «die aus Einzelstaaten mit hohem Nationalwert bestehend, dann der drohenden Überwältigung der Welt durch die amerikanische Union entgegentreten könnte. Denn mir scheint, daß den heutigen Nationen das Bestehen der englischen Weltherrschaft weniger Leiden zufügt als das Aufkommen einer amerikanischen.»

Von England, der anderen angelsächsischen Großmacht, sprach Hitler in seinem «Zweiten Buch» in Tönen höchsten Respekts. Wenn die Erde heute ein englisches Weltreich besitze, dann gebe es aber auch «zur Zeit kein Volk, das auf Grund seiner allgemeinen staatspolitischen Eigenschaften sowie seiner durchschnittlichen politischen Klugheit mehr dazu befähigt wäre». Ein Bündnis der Landmacht Deutschland mit der Seemacht England erschien Hitler nicht nur denkbar, sondern so erstrebenswert, daß er bereit war, auf eine künftige deutsche Kolonialpolitik zu verzichten. Frankreich hingegen blieb für Hitler der Erbfeind, der es seit 300 Jahren auf die Auflösung Deutschlands abgesehen hatte. Den Gegenpol dazu bildete das faschistische Italien: Es war der geborene Bündnispartner eines nationalsozialistischen Deutschland, weshalb es sich für Hitler von selbst verbot, die italienische Südtirolpolitik zu kritisieren oder gar den Status Südtirols in Frage zu stellen. In diesem Punkt unterschieden sich die Nationalsozialisten schroff von allen anderen deutschen Parteien, gleichviel ob rechts oder links.

Was Hitler zwischen 1930 und 1933 öffentlich verkündete, ließ den Kern seiner Überzeugungen kaum erkennen – und das war einer der Gründe des Massenzulaufs zu den Nationalsozialisten. Die Verbindung von Nationalismus und Sozialismus unterschied Hitlers Bewegung von den rechten Sammlungsbewegungen des Kaiserreichs. Die NSDAP war keine Partei von Honoratioren; sie verdankte ihre Wahlerfolge mehr den demagogischen Fähigkeiten ihres Führers und dem Einsatz seiner Anhänger als der finanziellen Unterstützung durch rechtsstehende Industrielle und Bankiers. Der «Sozialismus» der Nationalsozialisten verschreckte viele bürgerliche Wähler, namentlich solche in den selbständigen Mittelschichten. Noch im Dezember 1932 hielt es die zuständige Parteigliederung, der neugegründete Kampfbund des gewerblichen Mittelstandes, für notwendig, den kleinen Gewerbetreibenden zu versichern, das Ziel der nationalsozialistischen Wirtschafts- und Sozialpolitik sei die «Entproletarisierung» des deutschen Arbeiters: «Sinn der sozialistischen Idee ist die Beeignung der Besitzlosen. Damit steht der Sozialismus Adolf Hitlers in schärfstem Gegensatz zu dem verlogenen Scheinsozialismus der Marxisten, der sich die Enteignung der Besitzenden zum Ziel gesetzt hat.» Für «nationale» Arbeiter und Angestellte, für Studenten und jüngere Akademiker aber bedeutete der «nationale Sozialismus» ein Angebot: Sie konnten sich unter diesem Panier sowohl vom internationalistischen Marxismus als auch von der nationalistischen «Reaktion» absetzen und eine «dritte» Position beziehen – eine, wie es schien, zukunftsweisende Position jenseits von proletarischem Klassenkampf und bürgerlicher Besitzstandswahrung.

Der Nationalismus der NSDAP war das, was sie mit dem bürgerlichen Deutschland verband – oder doch zu verbinden schien. Es gab keine Partei, die Versailles rechtfertigte oder das Streben nach Großdeutschland ablehnte. Die Nationalsozialisten verlangten die Gleichberechtigung Deutschlands und die Vereinigung mit Österreich in einer radikaleren Tonlage als irgend jemand sonst. Aber in der Sache selbst, der Revision der Nachkriegsordnung, bestand, vordergründig jedenfalls, ein breiter nationaler Konsens. Es kam Hitler zugute, daß er, der Großdeutsche aus Österreich, keinerlei Schwierigkeiten hatte, die Forderung nach dem Anschluß seiner Heimat an das Deutsche Reich mit dem Bekenntnis zur preußischen Tradition, zu Friedrich dem Großen und Bismarck, zu verbinden. Es schadete ihm auch nicht, daß er von Hause aus Katholik war. Die jüngeren Deutschen, soweit sie weder Marxisten noch «kirchlich» waren, hielten den konfessionellen Gegensatz für historisch ebenso überholt wie den Klassenkampf. Hitlers Chance lag darin, daß ihm viele zutrauten, er werde miteinander versöhnen, was ehedem unvereinbar schien: nicht nur Nationalismus und Sozialismus, sondern auch das evangelische und katholische Deutschland.

«Volksgemeinschaft» und «Reich» waren die Zauberworte der großen Synthese. Das Wort «Volksgemeinschaft» hat als erster wohl Friedrich Schleiermacher in einem Manuskript aus dem Jahr 1809 verwendet. In den folgenden Jahrzehnten fand der Begriff Eingang erst in die Rechtswissenschaft, dann in die Soziologie. Seit dem Ersten Weltkrieg sprachen dann alle politischen Richtungen mit Ausnahme der erklärten Marxisten von «Volksgemeinschaft»: Konservative und Liberale bedienten sich des Wortes ebenso wie Gewerkschaftsführer und sozialdemokratische Reformer.

Je nachdem, von wem der Begriff verwendet wurde, konnte er höchst Unterschiedliches bedeuten: ein Bekenntnis zum friedlichen Ausgleich sozialer Gegensätze im freien Volksstaat etwa oder den Ruf nach einer autoritären Ordnung, in der von «oben» bestimmt wurde, was dem Gemeinwohl diente und was ihm abträglich war. Die Nationalsozialisten aber waren die radikalsten Vertreter dieser Parole: Sie kündigten die Zerschlagung des Marxismus an, weil der Aufruf zum Klassenkampf die Verneinung der «Volksgemeinschaft» in sich schließe. Außerdem deuteten sie, und das unterschied sie von allen anderen Parteien der Weimarer Republik, die «Volksgemeinschaft» im Sinne ihrer rassischen Vorstellungen: In der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft hatten nur «arische» Deutsche einen Platz, nicht aber Juden, Zigeuner und Angehörige anderer, als minderwertig erachteter Rassen.

Das «Reich» war in den Jahren vor 1933 immer mehr zum rechten Kampfbegriff gegen die Republik geworden. Zugleich aber wies die Reichsidee in Vergangenheit und Zukunft. Das «Reich» war von alters her mit Heilserwartungen verknüpft. Sie traten besonders deutlich zutage, wenn vom «Dritten Reich» gesprochen wurde – einem Begriff, von dessen Karriere bereits im Zusammenhang mit dem 1923 veröffentlichten Buch «Das dritte Reich» des jungkonservativen Publizisten Arthur Moeller van den Bruck die Rede war.

Die Nationalsozialisten übernahmen schon bald nach Erscheinen von Moellers Buch das Schlagwort vom «Dritten Reich», das ihre Bestrebungen einprägsam zu bündeln schien. Zum Führer der NSDAP gelangte der Begriff durch die Vermittlung von Gregor Strassers Bruder Otto, der im Juli 1930 mit Hitler brach, weil dieser, so lautete der Vorwurf, den «Sozialismus» des Parteiprogramms von 1920 preisgegeben habe. Erst sehr viel später kamen Hitler Bedenken. Der Begriff «Drittes Reich» konnte leicht zu Spekulationen über ein weiteres, ein viertes Reich verführen und war überdies geeignet, die Kontinuität des Reiches der Deutschen in Frage zu stellen. Im Juni 1939 teilte die Parteikanzlei den Willen des «Führers» mit, die Bezeichnung «Drittes Reich» nicht mehr zu verwenden. Doch zu diesem Zeitpunkt hatte der Begriff längst seine Wirkung getan: Er trug mit dazu bei, daß viele Deutsche in Hitler ihren Erlöser sahen.

Vom «Reich» aber hörte Hitler nicht auf zu sprechen. Fast neun Jahre nachdem er an die Macht gelangt war, in der Nacht vom 17. zum 18. Dezember 1941, bemühte er sich im Führerhauptquartier in der «Wolfsschanze» bei Rastenburg in Ostpreußen um eine historische Einordnung der damaligen Ereignisse. «Zur Zeit der Machtübernahme», sagte er, «war es für mich ein entscheidender Moment: Will man bei der Zeitrechnung bleiben? Oder haben wir die neue Weltordnung als das Zeichen zum Beginn einer neuen Zeitrechnung zu nehmen? Ich sagte mir, das Jahr 1933 ist nichts anderes als die Erneuerung eines tausendjährigen Zustands. Der Begriff des Reiches war damals fast ausgerottet, aber er hat sich heute siegreich durchgesetzt bei uns und in der Welt: Man spricht von Deutschland überall nur als vom Reich.» Hitler überschätzte sein «Verdienst». Im gebildeten Deutschland war «das Reich» bereits in den Jahren zuvor zu neuer, wenn auch nur zu gedanklicher Größe erwacht. Hitler erntete nur, was andere gesät hatten.

Wie die «Volksgemeinschaft» und der Mythos vom «Reich» war auch der «Führergedanke» keine nationalsozialistische Erfindung. Nicht nur auf der nationalistischen Rechten, sondern auch in der bürgerlichen Mitte erlebten Begriffe wie «Führer», «Führerschaft» und «Führung» in der Endphase der Weimarer Republik eine Hochkonjunktur. Von rechts wurde der Führergedanke der Anonymität der Funktionärsherrschaft, der parteipolitischen Zersplitterung und dem parlamentarischen Meinungsstreit entgegengesetzt. Bei manchen jungkonservativen Autoren erschien der «Führer» als nationaler Messias, als Werkzeug der Geschichte und als kommender Träger einer nationalen Diktatur. Wenn Hitler sich als «Führer» feiern ließ, setzte er auf einen weit verbreiteten Überdruß am «System» von Weimar und eine Erlösungssehnsucht, der andere den Boden bereitet hatten. Aber nur ein Charismatiker wie er konnte den Eindruck hervorrufen, daß allein er berufen war, die Rolle des Retters aus aller Not zu übernehmen. Ohne diese Fähigkeit wäre er nicht in der Lage gewesen, Reichskanzler zu werden und dieses Amt zwölf Jahre lang zu behaupten.[2]

Der Reichstagswahlkampf im Zeichen der «nationalen Erhebung» war der erste, bei dem die NSDAP von der Gesamtheit der Großindustrie und der Großbanken (und nicht nur wie zuvor von einigen Konzernherren wie Fritz Thyssen und Friedrich Flick oder den leitenden Direktoren der IG Farben) finanziell großzügig unterstützt wurde. Neu war auch, daß sich die Nationalsozialisten bei ihrer Agitation des öffentlich-rechtlichen Rundfunks bedienen konnten. Überschattet wurde der Wahlkampf von zahllosen Terrorakten der SA, denen vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten zum Opfer fielen. Am 17. Februar forderte Hermann Göring, der kommissarische preußische Innenminister, die Polizeibeamten auf, im Zweifelsfall rücksichtslos von der Schußwaffe Gebrauch zu machen. Fünf Tage danach setzte er SA, SS und Stahlhelm als freiwillige Hilfspolizei ein, um die angeblich zunehmende Gewalt von links wirksamer als bisher bekämpfen zu können. Abermals fünf Tage später, am 27. Februar, ging das Reichstagsgebäude in Flammen auf.

Hitler, Göring und Goebbels erklärten sofort, ohne irgendeinen Beweis für ihre Unterstellung beibringen zu können, die Urheber des Verbrechens seien die Kommunisten, die damit ein «Fanal zum blutigen Aufruhr und zum Bürgerkrieg» hätten setzen wollen. Für die naheliegende Vermutung vieler Zeitgenossen und Nachlebender, die Nationalsozialisten selbst hätten den Brand gelegt, gibt es ebenfalls keinerlei Beweis. Nach der überwiegenden Meinung der Forschung war die Brandstiftung das alleinige Werk des am Tatort festgenommenen holländischen Anarchosyndikalisten Marinus van der Lubbe, der auf diese Weise seiner Abscheu vor Nationalsozialismus und Faschismus Ausdruck verleihen wollte.

Noch in der Nacht zum 28. Februar verabschiedete das Reichskabinett die «Notverordnung zum Schutz von Volk und Staat», die die wichtigsten Grundrechte «bis auf weiteres» außer Kraft setzte, neue Handhaben zum Vorgehen gegen die Länder schuf und für eine Reihe von Terrordelikten, darunter Brandstiftung, die Todesstrafe einführte. Die Verordnung nach Artikel 48 der Reichsverfassung war nichts Geringeres als die Liquidation des Rechtsstaates in Deutschland. Zu den ersten Opfern des Willkürakts gehörten neben kommunistischen Funktionären bekannte Intellektuelle. In «Schutzhaft» genommen wurden noch am 28. Februar der Herausgeber der «Weltbühne», Carl von Ossietzky, die Schriftsteller Erich Mühsam und Ludwig Renn, der «rasende Reporter» Egon Erwin Kisch, der Sexualforscher Max Hodann und der Rechtsanwalt Hans Litten, ein bekannter Strafverteidiger. Am 3. März konnte die Polizei in einem Geheimquartier in Berlin-Charlottenburg den Vorsitzenden der KPD, Ernst Thälmann, und einige seiner engsten Mitarbeiter festnehmen.

Terror und Propaganda taten ihre Wirkung: Aus der Reichstagswahl vom 5. März 1933 ging die Regierung Hitler als Siegerin hervor. 51,9 Prozent entfielen auf die beiden Formationen, die das neue Kabinett trugen: Die NSDAP erzielte 43,9 Prozent, die Kampffront Schwarz-Weiß-Rot, ein Zusammenschluß von Deutschnationalen, Stahlhelm und parteimäßig nicht gebundenen konservativen Politikern, darunter Vizekanzler Franz von Papen, 8 Prozent. Die Kommunisten, von der Verfolgung durch die Nationalsozialisten härter betroffen als alle anderen Parteien, erlitten starke, die Sozialdemokraten vergleichsweise bescheidene Verluste (4,6 beziehungsweise 2,1 Prozentpunkte). Die beiden katholischen Parteien konnten sich dagegen gut behaupten: Auf das Zentrum entfielen 11,2, auf die Bayerische Volkspartei 2,7 Prozent. Die beiden liberalen Parteien blieben Splittergruppen: Die Deutsche Volkspartei verbuchte 1,1, die Deutsche Staatspartei 0,9 Prozent. Dramatisch war neben dem Stimmenzuwachs der NSDAP (sie stieg um 10,8 Prozentpunkte) die Zunahme der Wahlbeteiligung von 80,6 Prozent am 6. November 1932 auf jetzt 88,8 Prozent.

Dem Wahlsieg Hitlers folgte, was die Nationalsozialisten die «nationale Revolution» nannten. Eines ihrer wichtigsten Ergebnisse war die «Gleichschaltung der Länder»: die Ersetzung rein bürgerlicher oder von den Sozialdemokraten mitgetragener Landesregierungen durch nationalsozialistisch geführte Kabinette. Die «Gleichschaltung» war ein Produkt kombinierten Drucks von «oben», durch Reichsinnenminister Frick, und von «unten», durch die Sturmkolonnen der SA und SS. Am längsten dauerte der Machtwechsel in der Hochburg des deutschen Föderalismus, in Bayern. Seit dem 16. März regierten auch in München die Nationalsozialisten.

Parallel zur Gleichschaltung der Länder vollzog sich die Eroberung der Macht in Städten und Gemeinden. SA und SS besetzten die Rathäuser, nahmen vielerorts «marxistische», das heißt sozialdemokratische Gemeinderäte fest und zwangen Bürgermeister und Oberbürgermeister, die ihnen nicht genehm waren, zum Rücktritt. Denselben Übergriffen waren Arbeitsämter und Ortskrankenkassen ausgesetzt.

Viele, aber längst nicht alle festgenommenen politischen Gegner wurden der Polizei überstellt. Häufig übernahmen SA und SS den «Strafvollzug» in eigene Regie. In Berlin und Umgebung entstanden kurz nach der Reichstagswahl die ersten «wilden» Konzentrationslager, in denen gnadenlos mit den «Bolschewisten» abgerechnet wurde. Noch im März 1933 folgten, beginnend mit dem bayerischen Dachau, die ersten offiziellen Konzentrationslager. In diese von SA und SS kontrollierten Lager wurden nicht nur Kommunisten, sondern zunehmend auch Sozialdemokraten und andere Gegner des Regimes eingeliefert. Ende Juli 1933, als der Terror der SA bereits abgeflaut war, gab es amtlichen Angaben zufolge im ganzen Reich 27.000 «Schutzhäftlinge». Die Zahl derer, die in den ersten Monaten des «Dritten Reiches» in den Folterkellern von SA und SS ermordet wurden, hat keine Statistik erfaßt.

Zur «nationalen Revolution» gehörten auch zahllose Pogrome. In Breslau veranstaltete die SA einen Putsch gegen jüdische Anwälte und Richter; vielerorts wurden beamtete jüdische Ärzte für abgesetzt erklärt sowie jüdische Theater, Kabaretts, Juweliergeschäfte, Kleiderläden, Banken und Warenhäuser gestürmt. Deutschnationale Proteste veranlaßten Hitler am 10. März, seinen Anhängern «Belästigungen einzelner Personen, Behinderungen von Autos oder Störungen des Geschäftslebens» zu untersagen. Zwei Tage später verkündete Hitler zur Freude des konservativen Deutschland über den Rundfunk einen (verfassungswidrigen) Erlaß des Reichspräsidenten: Bis zur endgültigen Regelung der Reichsfarben sollten fortan die schwarz-weiß-rote Flagge des Kaiserreichs und die Hakenkreuzfahne gemeinsam gehißt werden.

Der Flaggenerlaß war ein Vorspiel zum «Tag von Potsdam». In der Garnisonkirche der heimlichen Hauptstadt Preußens fand am 21. März die feierliche Eröffnung des neugewählten Reichstags statt. «Marxisten» nahmen daran nicht teil: Die kommunistischen Abgeordneten waren verhaftet worden oder untergetaucht; die sozialdemokratische Fraktion hatte tags zuvor in Abwesenheit von neun Mitgliedern, die sich in «Schutzhaft» befanden, beschlossen, der Zeremonie fernzubleiben. Die Feierlichkeiten waren darauf angelegt, Hitlers Bekenntnis zur Verbindung von «alter Größe» und «junger Kraft» zu unterstreichen. Unter lebhafter Beteiligung der beiden großen christlichen Kirchen wurde Weimar endgültig zu Grabe getragen. Als Hindenburg in der Garnisonkirche allein in die Gruft zum Sarg Friedrichs des Großen hinunterstieg, um stumme Zwiesprache mit dem König zu halten, trat bei vielen Deutschen die gleiche patriotische Rührung ein, die seit Jahren die Fridericus-Filme aus Alfred Hugenbergs Filmkonzern, der «Ufa», hervorriefen.

Am 23. März trat der Reichstag an seinem neuen Tagungsort, der Krolloper am Platz der Republik in Berlin, zusammen, um über den (nominell von den Fraktionen der NSDAP und der DNVP vorgelegten) Entwurf eines Gesetzes zur Behebung der Not von Volk und Reich zu beraten. Das Ermächtigungsgesetz gab der Reichsregierung für die Dauer von vier Jahren pauschal das Recht, Gesetze zu beschließen, die von der Reichsverfassung abwichen. Die einzigen «Schranken» bestanden darin, daß die Gesetze nicht die Einrichtung des Reichstags und des Reichsrats als solche zum Gegenstand haben und nicht die Rechte des Reichspräsidenten berühren durften. Reichstag und Reichsrat hatten fortan keinen Anspruch mehr darauf, an der Gesetzgebung beteiligt zu werden. Das galt ausdrücklich auch für Verträge mit fremden Staaten. Für das Inkrafttreten der von der Reichsregierung beschlossenen Gesetze genügten nunmehr die Ausfertigung durch den Reichskanzler und die Verkündung im Reichsgesetzblatt.

Um die notwendige verfassungsändernde Mehrheit sicherzustellen, brach die Reichsregierung bereits vor der Verabschiedung des Gesetzes die Verfassung. Sie behandelte die kommunistischen Mandate als nicht existent, wodurch sich die «gesetzliche Mitgliederzahl» des Reichstags um 81 verminderte. Sodann änderte der Reichstag am 23. März seine Geschäftsordnung: Unentschuldigt fehlende Abgeordnete durften vom Reichstagspräsidenten bis zu sechzig Sitzungstagen von den Verhandlungen ausgeschlossen werden; die ausgeschlossenen Abgeordneten galten dennoch als «anwesend». Die SPD hätte also, selbst wenn sie geschlossen der Sitzung ferngeblieben wäre, nicht die beiden Voraussetzungen einer Verfassungsänderung verhindern können: Zwei Drittel der Anwesenden mußten zustimmen.

Die Zustimmung des Zentrums und der Bayerischen Volkspartei gewann Hitler dadurch, daß er einige Formulierungen des Zentrumsvorsitzenden, des Prälaten Kaas, zum Verhältnis von Staat und Kirche in seine Regierungserklärung aufnahm und den Unterhändlern der katholischen Partei zusätzliche Versprechungen machte (auf deren schriftliche Bestätigung das Zentrum am 23. März dann vergeblich wartete). Das ablehnende Votum der 93 anwesenden Sozialdemokraten war einkalkuliert. Zur Begründung des Nein hielt der Parteivorsitzende Otto Wels eine Rede, mit der er die Ehre nicht nur der SPD, sondern der deutschen Demokratie rettete. «Freiheit und Leben kann man uns nehmen, die Ehre nicht»: So lautet der berühmte Satz, der sich inzwischen in das kollektive Gedächtnis der Deutschen eingegraben hat. Die Abgeordneten der kleineren bürgerlichen Parteien, darunter auch die der Deutschen Staatspartei, stimmten der Vorlage zu. Mit 444 Ja- gegen 94 Nein-Stimmen wurde die verfassungsändernde Mehrheit bequem erreicht. Es hätte nicht einmal der verfassungswidrigen Manipulation der gesetzlichen Mitgliederzahl bedurft, um diese Hürde zu nehmen.

Das Ja der bürgerlichen Parteien war das Ergebnis von Täuschung, Selbsttäuschung und Erpressung. Aus ihrer Sicht war die von der Mehrheit gewünschte «legale» Diktatur immer noch ein kleineres Übel als die illegale Diktatur, die bei Ablehnung des Gesetzentwurfs drohte. Der Schein der Legalität förderte den Schein der Legitimität und sicherte dem Regime die Loyalität der Mehrheit, darunter, was besonders wichtig war, der Beamten. Die Loyalitätstaktik, eine wesentliche Vorbedingung der Machtübertragung an Hitler, hatte ihren Zweck am 30. Januar 1933 noch nicht zur Gänze erfüllt. Sie bewährte sich ein weiteres Mal am 23. März 1933, als sie zur faktischen Abschaffung der Weimarer Reichsverfassung herangezogen wurde. Hitler konnte fortan die Ausschaltung des Reichstags als Erfüllung eines Auftrags erscheinen lassen, der ihm vom Reichstag selbst erteilt worden war.

Die erste große Aktion des Regimes nach dem Ermächtigungsgesetz war der Boykott jüdischer Geschäfte am 1. April 1933. Die nationalsozialistische Führung wollte damit zum einen ein Ventil für den Druck von «unten», aus den Reihen der eignen Anhänger, öffnen, zum anderen auf die scharfe Kritik reagieren, die jüdische Organisationen sowie liberale und sozialistische Zeitungen in aller Welt an den deutschen Märzpogromen übten. Mit der Leitung der Aktionen gegen die «Weltgreuelhetze» wurde Julius Streicher, der fränkische Gauleiter der NSDAP und Herausgeber des antisemitischen Kampfblattes «Der Stürmer», beauftragt. Eigentlicher Regisseur aber war der Berliner Gauleiter Joseph Goebbels, der am 14. März an die Spitze des neuen Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda getreten war. Mit dem Ablauf des eintägigen reichsweiten Boykotts war Goebbels zufrieden. «Das Ausland kommt allmählich zur Vernunft», schrieb er unter dem Datum des 2. April in sein Tagebuch. «Die Welt wird einsehen lernen, daß es nicht gut tut, sich von den jüdischen Emigranten über Deutschland aufklären zu lassen.» Die Warnung an die deutschen Juden war unüberhörbar. Die Verdrängung aus dem Wirtschaftsleben schwebte fortan wie ein Damoklesschwert über ihnen. Das Regime behielt sich vor, über Zeitpunkt und Reichweite der nächsten Schritte gegen den wirtschaftlichen Einfluß des Judentums zu bestimmen: Das war die Botschaft des 1. April 1933.

Der Ausschaltung der Juden aus der Wirtschaft ging ihre Verdrängung aus dem öffentlichen Dienst voraus. Am 7. April 1933 erließ die Reichsregierung das Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Es richtete sich gegen alle Beamten, die den regierenden Nationalsozialisten als nicht zuverlässig galten: gegen sogenannte «Parteibuchbeamte» der Weimarer Republik und namentlich solche, die einer Linkspartei angehört oder nahegestanden hatten, aber auch gegen die «nichtarischen» Beamten. Sie waren in den Ruhestand zu versetzen, soweit sie nicht Frontkämpfer, Väter oder Söhne von Kriegsgefallenen oder schon vor dem 1. August 1914 verbeamtet gewesen waren. Die Ausnahmeregelungen gingen auf den Reichspräsidenten von Hindenburg zurück, der seinerseits vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten um einen entsprechenden Vorstoß bei Hitler gebeten worden war.

Das Gesetz vom 7. April 1933 beendete die Phase der «wilden Säuberungen» des öffentlichen Dienstes und leitete eine «geordnete» und umfassende Säuberung von Staats wegen ein. Zu den Betroffenen gehörten Hunderte von Hochschullehrern. Die Berliner und die Frankfurter Universität verloren fast ein Drittel ihres Lehrkörpers, Heidelberg ein Viertel und Breslau mehr als ein Fünftel. Unter denen, die aus dem Amt gedrängt wurden, waren mehrere Nobelpreisträger, darunter die Physiker Albert Einstein und Gustav Hertz und der Chemiker Fritz Haber. Ihre Stellung verloren, aus rassischen oder politischen Gründen oder weil beides zusammentraf, die Philosophen Theodor Adorno, Max Horkheimer und Helmuth Plessner, die Juristen Hermann Heller, Hans Kelsen und Hugo Sinzheimer, die Soziologen Karl Mannheim und Emil Lederer, die Wirtschaftswissenschaftler Moritz Julius Bonn und Wilhelm Röpke, der Psychologe Erich Fromm, der evangelische Theologe Paul Tillich und zahlreiche andere. Die meisten Entlassenen emigrierten; ganze Forschungsstätten wie das Frankfurter Institut für Sozialforschung und Fachrichtungen wie die Psychoanalyse Freudscher Prägung wurden ausgelöscht.

Zur Säuberung des Lehrkörpers kam die der Studentenschaft. Am 28. April wurde im Zuge eines allgemeinen Numerus clausus der Anteil der «nichtarischen» Studenten in etwa dem jüdischen Anteil an der Bevölkerung angepaßt und auf 1,5 Prozent gedrückt. Studenten, die der KPD angehört oder mit ihr sympathisiert hatten, mußten ihr Studium abbrechen. Mißliebige Rektoren wurden durch neue ersetzt, die dem Regime freundlich gegenüberstanden. In Freiburg wurde am 20. April 1933, dem 44. Geburtstag Hitlers, Martin Heidegger zum Rektor gewählt. Am 1. Mai (dem gleichen Tag, an dem der Staatsrechtler Carl Schmitt denselben Schritt tat) trat er der NSDAP bei. Am 27. Mai schwor Heidegger Lehrende und Lernende in seiner Rektoratsrede auf den Dreiklang der Bindungen von Arbeitsdienst, Wehrdienst und Wissensdienst ein.

Der Kampf gegen alles, was die Nationalsozialisten als «undeutsch», «dekadent» und «zersetzend» empfanden, richtete sich gegen Lebende und Tote. Am 10. Mai 1933 fanden in den deutschen Haupt- und Universitätsstädten öffentliche Bücherverbrennungen statt. Mitglieder des Nationalsozialistischen Deutschen Studentenbundes warfen Schriften linker, pazifistischer, liberaler und jüdischer Autoren in die Flammen, darunter Werke von Heinrich Heine, Karl Marx, Karl Kautsky, Sigmund Freud, Alfred Kerr, Heinrich Mann, Erich Kästner, Lion Feuchtwanger, Erich Maria Remarque, Arnold Zweig, Theodor Wolff, Bertolt Brecht, Kurt Tucholsky und Carl von Ossietzky. Die meisten lebenden Opfer der Aktion hatten Deutschland bereits verlassen; einer, Carl von Ossietzky, war am 28. Februar verhaftet worden; ein anderer, Erich Kästner, wohnte in Berlin unerkannt der nächtlichen Zeremonie auf dem Platz vor der Friedrich-Wilhelms-Universität bei.

Der Bücherverbrennung folgten Kampagnen gegen alle Formen «entarteter Kunst» in Literatur und Musik, Malerei und Architektur. Rundfunk, Film, Theater und Presse wurden 1933 binnen weniger Monate gesäubert und gleichgeschaltet, wobei das Regime bei den Zeitungen einen gewissen Sinn für Nuancen zeigte. Daß ein international angesehenes Blatt wie die «Frankfurter Zeitung» einen sachlicheren Stil pflegte als der «Völkische Beobachter», ja in engen Grenzen sich sogar kritisch äußerte, lag im wohlverstandenen Interesse des «Dritten Reiches». Eine Fassade von professioneller Gediegenheit und dosierter Vielfalt war aus außenpolitischen, einstweilen aber auch aus innenpolitischen Gründen zweckmäßig. Entscheidend war, daß, wo immer es um wichtige Dinge ging, die Sprachregelungen des Propagandaministeriums beachtet und so umgesetzt wurden, wie Goebbels es wünschte.

Der 7. April 1933 war nicht nur der Tag des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums. Am gleichen Tag stellte die Reichsregierung auch das Verhältnis von Reich und Ländern auf eine neue gesetzliche Grundlage. Ein erstes Gleichschaltungsgesetz vom 31. März hatte die Zusammensetzung der Landtage dem Ergebnis der Reichstagswahl vom 5. März im jeweiligen Land (natürlich ohne Berücksichtigung der kommunistischen Stimmen) angepaßt und die Landesregierungen ermächtigt, ohne Beschlußfassung der Landtage Gesetze, auch solche mit verfassungsänderndem Charakter, zu erlassen. Das Zweite Gesetz zur Gleichschaltung der Länder mit dem Reich vom 7. April schuf die Institution des Reichsstatthalters, der fortan die höchste Gewalt im Land verkörperte. In den meisten Ländern betraute Hitler die Gauleiter der NSDAP mit diesem Amt. Reichsstatthalter in Preußen, wo am 5. März ein neuer Landtag gewählt worden war, wurde Hitler selbst. Am 11. April ernannte er einen neuen preußischen Ministerpräsidenten: Es war Hermann Göring, in Personalunion Reichstagspräsident und Reichsminister ohne Geschäftsbereich.

Der wichtigste politische Gegner des Nationalsozialismus, der «Marxismus», war durch die Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes geschwächt, aber noch nicht vernichtet worden. Von Ausschaltung konnte man nur im Fall der Kommunisten sprechen. Ihre Mandate wurden am 31. März kassiert, was aber nur noch symbolische Bedeutung hatte. Die SPD bestand als Organisation fort. Einige ihrer besonders gefährdeten Führer waren emigriert, so Otto Braun, Rudolf Hilferding und Philipp Scheidemann; andere befanden sich in Haft. Die verbliebenen höheren Funktionäre taktierten mit größter Vorsicht, vermieden aber meist eine Anpassung an das neue Regime, wie sie zur gleichen Zeit der Allgemeine Deutsche Gewerkschaftsbund betrieb. Dessen Bundesvorstand begrüßte am 15. April ausdrücklich den Beschluß der Reichsregierung, den 1. Mai zum «Tag der nationalen Arbeit» zu erklären und fortan als gesetzlichen Feiertag zu begehen.

Am 1. Mai 1933 wurden die Gewerkschaftshäuser schwarz-weiß beflaggt. Der Textilarbeiterverband marschierte auf der zentralen Kundgebung des Regimes auf dem Tempelhofer Feld sogar unter einer Hakenkreuzfahne auf. Hitler hielt eine große, von allen Rundfunksendern übertragene Rede, in der er von der «gigantischen Aufgabe» des Straßenbaus sprach, die Einheit von Kopf- und Handarbeit beschwor und seinen Friedenswillen beteuerte. Doch der Opportunismus der Gewerkschaftsführer zahlte sich nicht aus. Dem «Tag der nationalen Arbeit» folgte der 2. Mai: der Tag, an dem, seit längerem generalstabsmäßig geplant, das Regime zum Schlag gegen die Freien Gewerkschaften ausholte. Überall im Reich besetzten SA und SS die Gewerkschaftshäuser, die Redaktionen der Gewerkschaftszeitungen sowie die Bank der Arbeiter, Angestellten und Beamten mit ihren Filialen. Der Vorsitzende des ADGB, Theodor Leipart, und andere Gewerkschaftsführer wurden in «Schutzhaft» genommen, die in den meisten Fällen etwa zwei Wochen, bei Leipart und seinem Stellvertreter Peter Grassmann bis in den Juni hinein, dauerte. An weniger prominente Funktionäre erging die Aufforderung, unter neuer Führung, nämlich der Nationalsozialistischen Betriebszellen-Organisation (NSBO), weiterzuarbeiten.

Das Schicksal der Freien (das heißt: der Sozialdemokratie nahestehenden) Gewerkschaften vor Augen, unterstellten sich die anderen beiden Richtungsgewerkschaften, die christlich-nationalen Gewerkschaften und die liberalen («Hirsch-Dunckerschen») Gewerkvereine, am 4. Mai bedingungslos der Führung Hitlers. Zwei Tage später kündigte Robert Ley, Gregor Strassers Nachfolger als Reichsorganisationsleiter der NSDAP, die Gründung der Deutschen Arbeitsfront (DAF) an. Ihr erster Kongreß fand am 10. Mai in Berlin unter Hitlers Schirmherrschaft statt, der sich bei dieser Gelegenheit als «ehrlicher Makler» zwischen den verschiedenen Schichten des deutschen Volkes bezeichnete. Ley wurde zum Führer der DAF ernannt. Die Führung der Arbeiterverbände übernahm Walter Schumann, der Leiter der NSBO. Das «Dritte Reich» hatte damit seine Organisation der Arbeit. Unabhängige Organisationen der Arbeiter aber gab es seit dem 4. Mai 1933 nicht mehr. Tarifliche Lohnvereinbarungen gehörten ebenfalls der Vergangenheit an. Die Bedingungen für den Abschluß von Arbeitsverträgen rechtsverbindlich zu regeln oblag auf Grund eines Gesetzes vom 19. Mai 1933 Treuhändern der Arbeit, die vom Reichskanzler ernannt wurden.

Im Unterschied zu den Gewerkschaften konnten die Unternehmerverbände ihre organisatorische Selbständigkeit behaupten. Sie mußten sich zwar von ihren jüdischen und, in den Augen der Nationalsozialisten, politisch belasteten Spitzenfunktionären trennen, sicherten sich dadurch aber ein hohes Maß an korporativer Kontinuität. Im Juni 1933 schlossen sich der Reichsverband der Deutschen Industrie und die Vereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zum Reichsstand der deutschen Industrie zusammen. Der Begriff «Stand» kam der Sprache der nationalsozialistischen Mittelstandsideologen entgegen. In der Sache aber erlitten diese im Sommer 1933 eine schwere Niederlage: Es gelang ihnen nicht, die Großwirtschaft ihrer Kontrolle zu unterwerfen; sie mußten auf Weisung des «Stellvertreters des Führers», Rudolf Heß, ihre Kampagnen gegen die «jüdischen» Warenhäuser und die «marxistischen» Konsumvereine einstellen. Eine Zerschlagung von Warenhäusern und Konsumgenossenschaften hätte die Entlassung zahlreicher Arbeiter und Angestellten zur Folge gehabt, kam also nicht in Frage. Die Mittelstandsfunktionäre der NSDAP mochten auf die anderslautenden Aussagen des Parteiprogramms von 1920 pochen, doch nachdem die Partei an der Macht war, hatten übergeordnete Gesichtspunkte den Vorrang.

Wiederum anders verlief die Entwicklung bei den landwirtschaftlichen Organisationen. Der Reichslandbund, der im Januar 1933 viel dazu beigetragen hatte, daß Hitler Reichskanzler werden konnte, ging im Juli 1933 im neugeschaffenen Reichsnährstand auf. An seine Spitze trat Richard Walther Darré, der Führer des Agrarpolitischen Apparates der NSDAP, der im Monat zuvor die Nachfolge Hugenbergs als Reichswirtschafts- und Reichsernährungsminister übernommen hatte. Der Machzuwachs des nationalsozialistischen Landwirtschaftspolitikers ging einher mit einer Machtminderung des ostelbischen Rittergutsbesitzes, der über Jahre hinweg der Politik des Reichslandbundes und der Deutschnationalen Volkspartei seinen Stempel aufgedrückt hatte. Die Verlagerung der Gewichte von den Großagrariern zur bäuerlichen Landwirtschaft entsprach einer strategischen Zielsetzung Hitlers: der Herstellung größtmöglicher Autarkie als Voraussetzung eines Lebensraumkrieges, der Deutschland vollständige Unabhängigkeit in allen Bereichen der Wirtschaft verschaffen sollte. Die Neuordnung der landwirtschaftlichen Interessenorganisation war, so gesehen, ebenso «logisch» wie der Verzicht auf radikale Veränderungen im industriellen Verbandswesen.

Die Zerschlagung der Freien Gewerkschaften konnte nicht ohne Folgen auf die Sozialdemokratie bleiben. Am 4. Mai beschloß der Parteivorstand der SPD, daß drei hauptamtliche Vorstandsmitglieder mit Otto Wels an der Spitze außer Landes gehen sollten, um den Kampf gegen Hitler von draußen weiterzuführen. Erste Station des Exilvorstands war Saarbrücken. Damit bahnte sich eine politische Teilung der SPD an: hier die Gruppe um Wels, dort die «Reichs-SPD», die in dem ehemaligen Reichstagspräsidenten Paul Löbe ihren inoffiziellen Sprecher fand.

Kurz darauf kam es zum offenen Konflikt zwischen den beiden «Lagern». Auf den 17. Mai war der Reichstag zu seiner ersten Sitzung nach der Verabschiedung des Ermächtigungsgesetzes einberufen worden. Hitler wollte an diesem Tag eine Regierungserklärung zur Genfer Abrüstungskonferenz abgeben. Um der außenpolitischen Isolierung des Reiches entgegenzuwirken, lag dem Kanzler an einer Demonstration nationaler Geschlossenheit. Der Parteivorstand in Saarbrücken empfahl der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion eine andere Demonstration: die Nichtbeteiligung an der Sitzung. In der Fraktion vertrat nur eine Minderheit unter der Führung des Abgeordneten Kurt Schumacher diese Position. Die Mehrheit fügte sich einer Erpressung des Reichsinnenministers Wilhelm Frick: Dieser hatte im Ältestenrat des Reichstags den Sozialdemokraten mit der Ermordung internierter Genossen gedroht, wenn die Fraktion nicht der gemeinsamen Erklärung zustimmen sollte, in der der Reichstag die Regierungserklärung billigte.

Die Rede Hitlers vom 17. Mai 1933 war die maßvollste und friedfertigste, die er je gehalten hat. Er äußerte Verständnis für die Sicherheitsbedürfnisse der Nachbarvölker, zumal der Franzosen und der Polen, und legte ein Bekenntnis zum Frieden ab, wie es eindringlicher keiner seiner Vorgänger hätte tun können. Für Deutschland forderte er nur gleiches Recht. Selbst eine versteckte Drohung klang defensiv: «Als dauernd diffamiertes Volk würde es uns schwer fallen, noch weiterhin dem Völkerbund anzugehören.» Im Anschluß an die stürmisch bejubelte Regierungserklärung verlas Reichstagspräsident Göring die gemeinsam von den Fraktionen der NSDAP, DNVP, des Zentrums und der BVP eingebrachte Billigungsresolution und bat die Abgeordneten, die der Entschließung zustimmen wollten, sich von ihren Plätzen zu erheben. Das taten alle, auch die Sozialdemokraten. Sie stimmten auch in das Deutschlandlied ein, das anschließend vom Hohen Haus gesungen wurde. Beim Horst-Wessel-Lied («Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen»), das der Nationalhymne folgte, blieben die Nationalsozialisten dagegen unter sich.

Das Votum für Hitler hatte den Bruch zwischen der «Reichs-SPD» und der Sozialistischen Arbeiter-Internationale zur Folge. Deren Büro mißbilligte das Abstimmungsverhalten der sozialdemokratischen Reichstagsabgeordneten. Für den Parteivorsitzenden Otto Wels gab es seit dem 17. Mai keinen Zweifel mehr, daß mit der Reichstagssitzung ein Kampf um die Partei begonnen hatte, den der Parteivorstand nur mit Hilfe der Internationale gewinnen konnte. Am 21. Mai beschloß der Parteivorstand, seinen Sitz von Saarbrücken nach Prag zu verlegen. Für die Wahl der tschechoslowakischen Hauptstadt sprach ein strategisches Argument: Über die dichtbewaldeten Gebirge im Westen und Norden konnte man leicht die Grenze nach Bayern, Sachsen und Schlesien passieren – eine wichtige Voraussetzung jener illegalen Arbeit, zu der die emigrierten Parteiführer nun keine Alternative mehr sahen. Am 18. Juni erschien in Karlsbad die erste Ausgabe des «Neuen Vorwärts» mit einem Aufruf des Exilvorstands unter der Überschrift «Zerbrecht die Ketten!» Es war die schärfste Kampfansage, die bisher von Sozialdemokraten gegen das Regime Hitlers gerichtet worden war.

Tags darauf trat die «Löbe-SPD» im preußischen Landtag zu einer Reichskonferenz zusammen. Die Linie der Mehrheit brachte der Vorsitzende der preußischen Landtagsfraktion, Ernst Heilmann, auf die klassische Formel: «Wir müssen den Faden der Legalität weiterspinnen, so lange er weitergesponnen werden kann.» Mit der Führung der Parteigeschäfte wurde ein sechsköpfiges Direktorium beauftragt, das rein «arisch» zusammengesetzt war. Vom Prager Exilvorstand distanzierte sich der neue Vorstand, dem auch Löbe angehörte, mit klaren Worten: Parteigenossen, die ins Ausland gegangen seien, könnten keinerlei Erklärungen für die Partei abgeben. «Für alle Äußerungen lehnt die Partei jede Verantwortung ausdrücklich ab.»

Den Reichsinnenminister konnte die «Löbe-SPD» damit nicht beeindrucken. Am 21. Juni ordnete Frick unter Hinweis auf «hoch- und landesverräterische Unternehmungen gegen Deutschland», die vom Exilvorstand ausgingen, ein umfassendes politisches Betätigungsverbot für die SPD an. Am 22. Juni trat der Erlaß in Kraft. Am gleichen Tag wurden im Rahmen einer groß angelegten Welle von Verhaftungen neben zahlreichen Funktionären, Reichs- und Landtagsabgeordneten der SPD auch vier Mitglieder des neuen Direktoriums, darunter Löbe, festgenommen. Ein Mitglied, der frühere Ministerpräsident von Mecklenburg-Schwerin, Johannes Stelling, wurde von SA-Leuten im Zuge der «Köpenicker Blutwoche» auf bestialische Weise umgebracht. Am 6. Juli nahm die Geheime Staatspolizei (Gestapo) den schärfsten Kritiker des «Löbe-Kurses», den Reichstagsabgeordneten Kurt Schumacher, fest. Im August folgte die Einlieferung in sein erstes Konzentrationslager auf dem Heuberg bei Stuttgart. Es sollte zehn Jahre dauern, bis Schumacher wieder freikam.

Die Ausschaltung der Sozialdemokratie bildete den Auftakt zur Zerschlagung des Parteiwesens insgesamt. Am gleichen 21. Juni, an dem das politische Betätigungsverbot für die SPD erging, ordnete Frick auch ein Verbot der Deutschnationalen Kampfringe, der paramilitärischen Organisation der Deutschnationalen Front (wie sich die DNVP seit Mitte Mai nannte), mit der abenteuerlich klingenden Begründung an, sie seien durch kommunistische und andere staatsfeindliche Elemente unterwandert worden. Hugenberg, der einige Tage zuvor auf der Weltwirtschaftskonferenz in London ein deutsches Kolonialreich in Afrika gefordert und damit den Unwillen Hitlers erregt hatte, erklärte daraufhin am 27. Juni seinen Rücktritt von sämtlichen Ministerämtern im Reich und in Preußen. Die Selbstauflösung der Deutschnationalen Front vollzog sich am gleichen Tag in Gestalt eines «Freundschaftsabkommens» mit der NSDAP, das den deutschnationalen Mandatsträgern die Aufnahme in die nationalsozialistischen Fraktionen zusicherte. Der deutsche Konservativismus verlor damit seinen politischen Arm durch Kapitulation vor der revolutionären Bewegung, die zu zähmen er sich vorgenommen hatte.

In den folgenden Tagen lösten sich die beiden liberalen Parteien, die Deutsche Staatspartei und die Deutsche Volkspartei, auf. Über das Ende des politischen Katholizismus wurde in Rom entschieden – während der Verhandlungen über ein Konkordat, die Vizekanzler von Papen seit April 1933 führte, wobei der (seit Anfang Mai nur noch nominelle) Zentrumsvorsitzende Kaas als päpstlicher Hausprälat auf kirchlicher Seite eine wichtige Rolle spielte. Gegen die Zusicherung eines kirchlichen Entfaltungsspielraums gab die Kurie die politischen, sozialen und berufsständischen Organisationen des deutschen Katholizismus preis. Am 5. Juli, drei Tage vor der Paraphierung des Konkordats, löste sich das Zentrum auf. Die Bayerische Volkspartei hatte denselben Schritt schon am Tag zuvor getan.

Am 14. Juli 1933 – dem 144. Jahrestag des Sturms auf die Bastille – erließ die Regierung Hitler ein Gesetz, wonach in Deutschland nur noch eine einzige politische Partei bestand, die NSDAP, und jeder mit Gefängnis- oder Zuchthausstrafen bedroht wurde, der es unternahm, «den organisatorischen Zusammenhalt einer anderen politischen Partei aufrechtzuerhalten oder eine neue politische Partei zu bilden». Weniger als ein halbes Jahr hatten die Nationalsozialisten benötigt, um sich als Monopolpartei durchzusetzen. Noch gab es andere Teilhaber der Macht wie die Reichswehr, das hohe Beamtentum und die Großindustrie. Aber im Prozeß der «Machtergreifung», der am Tag der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler begonnen hatte, war die Ausschaltung der anderen Parteien eine wichtige Zäsur.[3]

Um Popularität zu gewinnen, mußte die Regierung Hitler vor allem eines vorweisen können: rasch sichtbare Erfolge in der «Arbeitsschlacht», dem Kampf gegen die Massenarbeitslosigkeit. Pläne zur Arbeitsbeschaffung mußten nicht erst neu entwickelt werden: Die vorangegangenen Kabinette, vor allem das des Generals von Schleicher, hatten das meiste von dem geplant, was die Nationalsozialisten nun in die Tat umsetzten. Dazu gehörte ein Sofortprogramm mit 500 Millionen Reichsmark als Reichsgarantie für die mit der Arbeitsbeschaffung betrauten Stellen und die Vorfinanzierung der öffentlichen Maßnahmen mit Hilfe von prolongierbaren, vom Reich garantierten und von der Reichsbank mit einer Rediskontzusage versehenen Wechseln. Im Vordergrund stand wie bei Schleicher zunächst die Förderung der ländlichen Siedlung durch Bodenverbesserung. Auf die Zeit der Weimarer Republik ging auch das Projekt von Reichsautobahnen zurück, das von den Nationalsozialisten propagandistisch überhöht wurde und von Anfang an auch einem militärischen Zweck, der raschen Verlagerung von Truppen, dienen sollte. Für den Abbau der Arbeitslosigkeit spielten die Autobahnen hingegen nur eine geringe Rolle: Ende Juni 1934 waren in ganz Deutschland nicht mehr als 38.000 Arbeiter in diesem Bereich beschäftigt. In der Summe trugen die von der Regierung Hitler verfügten Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen dazu bei, daß die Arbeitslosigkeit im Winter 1933/34 nicht wesentlich über die Vier-Millionen-Marke stieg, auf die sie im September 1933 gefallen war.

Erschwert wurde die wirtschaftliche Erholung Deutschlands durch die Abwertung des Dollars, die Präsident Roosevelt im April 1933 durch die Preisgabe des Goldstandards herbeiführte. Die deutsche Handelsbilanz stürzte daraufhin ins Defizit ab, die Devisenbestände der Reichsbank schmolzen dahin. Am 8. Juni 1933 beschloß die Reichsregierung ein einseitiges Moratorium für alle privaten Auslandsschulden (soweit sie nicht unter frühere Stillhaltevereinbarungen fielen). Die deutschen Schuldner mußten zwar weiterhin, angeblich als Zeichen des guten Willens, anstehende Beträge auf Konten überweisen, die von der Reichsbank verwaltet wurden, eine Übertragung in Devisen erfolgte aber nicht mehr. Adam Tooze bezeichnet das Schuldenmoratorium zu Recht als den «ersten offen aggressiven außenpolitischen Schritt der Hitlerregierung».

Um dieselbe Zeit fiel die Entscheidung für ein äußerst riskantes Mittel der Finanzierung der deutschen Aufrüstung: die von Hjalmar Schacht, dem im März 1933 in sein früheres Amt zurückgekehrten Reichsbankpräsidenten, erdachten Sonderwechsel auf die Metallurgische Forschungsgesellschaft, die sogenannten Mefowechsel, mit denen ab April 1934 alle Rüstungslieferanten bezahlt werden mußten. Die Mefowechsel, ein zentraler Bestandteil von Schachts «Neuem Plan» zur Ankurbelung der Wirtschaft, konnten von den mit Rüstungsaufträgen versorgten Unternehmen mit einem kleinen Diskont bei der Reichsbank eingelöst werden, blieben aber, da sie gut verzinst waren, meist längere Zeit im Umlauf. Die ersten dieser Wechsel wurden bereits im Herbst 1933 ausgegeben. Im großen Umfang begannen die Auszahlungen aber erst im April 1934 – zur gleichen Zeit, als das Regime mit großem propagandistischem Aufwand eine zweite Welle von Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen einleitete. Flankiert wurden die Mefowechsel von einer rigorosen Devisenbewirtschaftung und einer staatlich subventionierten Exportoffensive.

Dem Schuldenmoratorium und der Weichenstellung für die forcierte Aufrüstung folgte am 14. Oktober 1933 der bislang spektakulärste außenpolitische Schritt des «Dritten Reiches»: der Auszug aus der Genfer Abrüstungskonferenz und der Austritt aus dem Völkerbund. Hitler reagierte damit auf den westlichen Vorschlag eines Kontrollsystems, das der Aufrüstung Deutschlands für die Dauer von acht Jahren einen Riegel vorschieben sollte. Die demonstrative Kampfansage an das Versailler System war populär, und eben deshalb gelang es Hitler, eine außenpolitische Niederlage in einen innenpolitischen Sieg zu verwandeln. Am 12. November 1933 hatten die Deutschen Gelegenheit, ihr Votum zum Austritt aus dem Völkerbund abzugeben und gleichzeitig einen neuen Reichstag zu wählen. 95,1 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen bei der Volksabstimmung waren Ja-Stimmen, was eine Zustimmung von 89,9 Prozent der Stimmberechtigten bedeutete. Bei der Reichstagswahl entfielen 92,1 Prozent der gültigen Stimmen auf die Einheitsliste der NSDAP. Das entsprach einem Anteil von 87,8 Prozent der Stimmberechtigten.

Zwei Monate nach Volksabstimmung und Reichstagswahl konnte Deutschland seine außenpolitische Isolierung mit Hilfe eines überraschenden Partners mildern: Polen. Der östliche Nachbarstaat war in den Jahren der Weimarer Republik fast einhellig als Bedrohung wahrgenommen worden; seine Grenzen, ja seine bloße staatliche Existenz galten weithin als unvereinbar mit den Interessen Deutschlands. Nachdem Hitler Reichskanzler geworden war, hatte Polens «starker Mann», Marschall Pilsudski, mit großer Wahrscheinlichkeit im April 1933, möglicherweise auch schon im März, über streng vertrauliche Kanäle sondieren lassen, ob Frankreich sich an einer eventuellen Präventivaktion nach Art der Ruhrbesetzung von 1923, nämlich einer zeitweiligen Besetzung von Danzig, Ostpreußen und Deutsch-Oberschlesien, beteiligen würde, um das Deutsche Reich zur Einhaltung der Rüstungs- und Grenzbestimmungen des Vertrags von Versailles zu zwingen, von Paris aber keine positive Antwort erhalten. Am 2. Mai 1933 ließ Pilsudski daraufhin Hitler eine ultimative Anfrage nach etwaigen deutschen Revisionsabsichten übermitteln. Hitlers Antwort zielte auf die Beruhigung Warschaus ab: Deutschland gedenke, die bestehenden Grenzen gegenüber Polen zu respektieren.

Nachdem auch eine zweite Sondierung Pilsudskis in Paris im Dezember 1933 erfolglos geblieben war, entschied sich der Marschall für eine Verständigung mit Deutschland. Das Ergebnis der Verhandlungen war der deutsch-polnische Nichtangriffspakt vom 26. Januar 1934. Dem gebürtigen Österreicher Hitler fiel diese sensationelle Kehrtwende der deutschen Außenpolitik leichter als dem preußisch geprägten, traditionell antipolnischen Auswärtigen Amt. Dem Kanzler war eine andere Gegnerschaft sehr viel wichtiger: die zur Sowjetunion. Aus seiner Sicht konnte das antikommunistische und antirussische Polen durchaus die Rolle eines Juniorpartners einer gegen Moskau gerichteten deutschen Politik übernehmen: eine Perspektive, die vor 1933 ganz undenkbar gewesen wäre.

Vier Tage nach dem Abschluß des deutsch-polnischen Nichtangriffsvertrags jährte sich zum ersten Mal die sogenannte «Machtergreifung». Die Reichsregierung nahm den 30. Januar 1934 zum Anlaß, vom neugewählten Reichstag das verfassungsändernde Gesetz über den Neuaufbau des Reiches beschließen zu lassen. Es hob die Volksvertretungen der Länder auf und übertrug ihre Hoheitsrechte dem Reich. Die Länderregierungen unterstanden fortan der Reichsregierung und die Reichsstatthalter der Dienstaufsicht des Reichsinnenministers. Das schien einen epochalen Einschnitt zu bedeuten: den endgültigen Sieg der unitarischen über die partikularistischen Kräfte.

Tatsächlich dachten die mächtigeren unter den Reichsstatthaltern gar nicht daran, sich bedingungslos Berliner Ministerien unterzuordnen, und da sie immer wieder Hitler für sich gewinnen konnten, war ihre Opposition keineswegs wirkungslos. Hitler war auf seine Endziele fixiert; in Fragen der inneren Staatsordnung hatte er keine klare Konzeption und wich Entscheidungen am liebsten aus. Damit durchkreuzte er wiederholt Tendenzen, die an sich in der «Logik» des Nationalsozialismus lagen – wie etwa die von Reichsinnenminister Frick geforderte systematische Zentralisierung im Sinne des Führerprinzips. Aber in gewisser Weise hatte auch die Inkonsequenz System: Hitlers Politik war mehr auf «Bewegung» als auf «Ordnung» angelegt, und ständige Dynamik war mit der Herausbildung stabiler Strukturen nicht vereinbar. Im übrigen hatten Rivalitäten zwischen seinen Gefolgsleuten auch ihr Gutes: Er mußte als Schiedsrichter angerufen werden, und auch wenn er nicht entschied, blieb er doch der Meister des Spiels.

Auch im Verhältnis zu den christlichen Kirchen suchte Hitler sich, wenn es zu Konflikten kam, als über den Dingen stehende letzte Instanz zu präsentieren. Die Regelung der Beziehungen zwischen dem «Dritten Reich» und der katholischen Kirche hatte er weithin Vizekanzler von Papen überlassen. Das Ergebnis war das Konkordat, das am 20. Juli 1933 im Vatikan unterzeichnet wurde und am 10. September 1933 in Kraft trat. Die katholische Kirche durfte ihre inneren Angelegenheiten selbständig ordnen; sie erhielt staatliche Zusicherungen im Hinblick auf die Bekenntnisschulen, den Religionsunterricht und das kirchliche Vereinswesen, darunter die Jugendbünde. Die wichtigste Gegenleistung der Kurie war der Verzicht des Klerus auf politische Betätigung. Damit hatte das Regime einen Etappensieg errungen: Die politische Neutralisierung des Katholizismus war die Grundlage, die der Nationalsozialismus benötigte, um den weltanschaulichen Einfluß der katholischen Kirche zurückzudrängen.

Im evangelischen Deutschland hatte der Nationalsozialismus schon vor dem 30. Januar 1933 starke Bastionen erobert – unter den Kirchenmitgliedern freilich mehr als in den überwiegend deutschnational gesinnten Kirchenleitungen. Der nationalsozialistischen «Glaubensbewegung Deutsche Christen» (DC), die sich selbst gelegentlich als «SA Jesu Christi» oder «SA der Kirche» bezeichnete, war bei den preußischen Kirchenwahlen vom November 1932 bereits ein Drittel der Sitze zugefallen. Vor den allgemeinen evangelischen Kirchenwahlen im Juli 1933 rief Hitler, nominell immer noch katholisch, von Bayreuth aus, wo er gerade an den Richard-Wagner-Festspielen teilnahm, über den Rundfunk zur Wahl der «Deutschen Christen» auf. Der Appell verfehlte nicht seine Wirkung: Die «DC» errangen eine Zweidrittelmehrheit. Es folgte der Versuch der Machtergreifung in der evangelischen Kirche, der zunächst auf Anhieb zu gelingen schien: Ende September wurde auf der Deutschen Nationalsynode zu Wittenberg der ostpreußische Wehrkreispfarrer Ludwig Müller, ein «Deutscher Christ» und Hitlers persönlicher Berater in Kirchenfragen, in das Amt eines Reichsbischofs der neugegründeten Deutschen Evangelischen Kirche gewählt.

In Wittenberg trat aber erstmals auch eine Gegenbewegung in Erscheinung: der Pfarrernotbund um den Pastor Martin Niemöller aus Berlin-Dahlem, einen ehemaligen U-Boot-Kommandanten und Freikorpskämpfer, den Berliner Privatdozenten Dietrich Bonhoeffer sowie Otto Dibelius, den die «DC» im Juni 1933 aus seinem Amt als Superintendent der Kurmark entfernt hatten. Aus dem Pfarrernotbund erwuchs binnen weniger Wochen die Bekennende Kirche (BK), der sich bis Ende 1933 etwa ein Drittel der evangelischen Pfarrer anschloß.

Die Bekennende Kirche verstand sich nicht als politische Opposition. Sie tat dies auch nicht, als sie im Mai 1934 auf der Barmer Bekenntnissynode den von den «DC» beherrschten Kirchenleitungen den Gehorsam aufkündigte. Die «BK» wandte sich lediglich gegen die Politisierung des Evangeliums, gegen politischen Zwang innerhalb der Kirche und gegen den von den Deutschen Christen geforderten Arierparagraphen, der darauf abzielte, Judenchristen aus allen kirchlichen Ämtern zu entfernen. Eine Kampfansage gegen die allgemeine Politik der nationalsozialistischen Führung aber bedeutete das ebensowenig wie eine Solidarisierung mit den Juden, die nicht zum Christentum übergetreten waren.

Aus der Sicht der Deutschen Christen war allerdings auch dieser begrenzte Widerstand politisch, weil er dem Anspruch des Nationalsozialismus auf den ganzen Menschen widersprach. Hitler sah das im Prinzip nicht anders, aber er war auch «Realpolitiker». Als solchen erschienen ihm andere Ziele vordringlicher als die Eroberung der evangelischen Kirche von innen. Die unerwartete Stärke der Gegenkräfte veranlaßte ihn im Herbst 1934 zu einer Art «Frontbegradigung». Bischöfe, die von den «DC» abgesetzt worden waren, konnten in ihre Ämter zurückkehren. Der «Reichsbischof» behielt seinen Titel, hatte aber keinen tatsächlichen Einfluß mehr auf die Kirche.

Der Kampf um die weltanschauliche Gewinnung von Protestanten und Katholiken wurde nach dem Abbruch des Kirchenkampfes von «außen» und gegen die Kirchen fortgesetzt. Die Leitung übernahm der Schriftleiter des «Völkischen Beobachters», Alfred Rosenberg, seit Januar 1934 offiziell der «Beauftragte des Führers für die gesamte geistige und weltanschauliche Erziehung der NSDAP». Rosenberg galt frommen Lutheranern und gläubigen Katholiken gleichermaßen als der Vertreter des nationalsozialistischen «Neuheidentums»; sein Buch «Der Mythus des 20. Jahrhunderts» wurde im Februar 1934 durch päpstliches Dekret auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Hitler selbst war es am wichtigsten, daß die Jugend dem Einfluß der Kirche und kirchlich gebundener Elternhäuser entzogen wurde. Auf diesem Gebiet war der Kirchenkampf kein Fehlschlag: Ende 1933 wurden die 1,2 Millionen Mitglieder der evangelischen Jugendbünde der Hitler-Jugend eingegliedert. Ihre Erziehung zu Nationalsozialisten konnte beginnen.

Daß Hitler sich aus dem Kirchenkampf zurückgezogen hatte, kam seinem Ansehen in kirchlichen Kreisen und besonders im konservativen Bildungsbürgertum zugute. Dessen wichtigste Bannerträger waren nach wie vor die Universitätsprofessoren. Nach der Entfernung ihrer jüdischen und linken Kollegen brauchten sie weder ihre Lehre noch ihre Forschung grundlegend zu ändern: Wer vor 1933 «national» gewesen war, blieb unbehelligt, solange er auf Kritik am Nationalsozialismus und an der Führung des Reiches verzichtete. Den Professoren wurde auch kein Bekenntnis zum Antisemitismus abverlangt. Dennoch taten viele freiwillig, was vor 1933 vom Katheder aus noch nicht üblich gewesen war: Sie machten aus ihrer Abneigung gegen die Juden keinen Hehl mehr.

Ähnlich wie in den beiden Kirchen war es auch im Lehrkörper der Universitäten die junge Generation, aus der sich das Gros der überzeugten Nationalsozialisten rekrutierte. Viele der jüngeren Dozenten waren durch die «bündische» Jugendbewegung und die Ideen der «Konservativen Revolution» geprägt. Wer von dort kam, mußte nicht Nationalsozialist werden. Aber nachdem der Nationalsozialismus an der Macht war, bedurfte es starker Überzeugungen, um sich ihm nicht anzuschließen. Nur eine Minderheit der jungen Akademiker verfügte 1933 über solche geistigen und moralischen Ressourcen.

Was von der Wissenschaft galt, traf auch für alle Bereiche der Kultur zu. Die Vertreibung der Juden und Linken aller Schattierungen ging mit zunehmender Selbstgleichschaltung einher. Im September 1933 konnte Goebbels die Reichskulturkammer errichten: eine Mammutbehörde, unter deren Dach die «Kulturschaffenden» aller Sparten in zahlreichen für sie zuständigen Spezialkammern organisatorisch und damit politisch und weltanschaulich erfaßt wurden. Die Mitgliedschaft in einer Kammer, sei es für Schrifttum, Presse, Rundfunk, Theater, Musik oder bildende Künste, war erforderlich, um weiter am deutschen Kulturleben teilnehmen zu können. Der Erfassung der Erwünschten entsprach die Ausgrenzung der Unerwünschten. Sie waren mittlerweile nicht nur aus den Akademien verdrängt, sondern verloren auch, soweit sie sich ins Ausland begeben und von dort aus Kritik an den Zuständen in Deutschland geübt hatten, am 23. August 1933 die deutsche Staatsbürgerschaft. Ihr Vermögen wurde eingezogen. Betroffen waren, neben zahlreichen Politikern der Linken, der Theaterkritiker Alfred Kerr, der Schriftsteller Lion Feuchtwanger und die Publizisten Kurt Tucholsky und Leopold Schwarzschild.

Den absoluten Gegenpol zur urbanen Intelligenz, die im Herbst 1933 zu einem großen Teil bereits aus Deutschland vertrieben worden war, bildete, den nationalsozialistischen Ideologen zufolge, das bodenständige Bauerntum. Dieses zu erhalten und zu festigen war der Zweck des Reichserbhofgesetzes vom 29. September 1933. Es trug die Handschrift des maßgeblichen Vertreters des Mythos von «Blut und Boden», des Führers des Reichsnährstands und Reichsernährungsministers Richard Walther Darré. Das Gesetz galt für etwa ein Drittel der landwirtschaftlichen Betriebe – weder die ganz großen noch die ganz kleinen, sondern für die mittleren bäuerlichen Familienbetriebe. Der Hoferbe, in der Regel der jüngste Sohn, mußte Bauer werden; sein Besitz war nur noch bedingt hypothekarisch belastbar und durfte nicht mehr, wie etwa im Südwesten Deutschlands üblich, zwischen den Familienmitgliedern aufgeteilt werden.

Eine verstärkte Landflucht war die unausweichliche Folge. Diese widersprach zwar den agrarromantischen Parolen der NSDAP, diente aber einem übergeordneten Ziel der Führung. Die neue industrielle Reservearmee lieferte Arbeitskräfte für die Rüstungsindustrie, bei der die Löhne sehr viel höher waren als in der Landwirtschaft. Dem dadurch hervorgerufenen Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften sollte der (1931 eingeführte) Freiwillige Arbeitsdienst abhelfen – die Vorstufe des paramilitärisch geprägten Reichsarbeitsdienstes, in dem, im Prinzip jedenfalls, vom Juni 1935 ab alle Deutschen, Männer wie Frauen, zwischen 18 und 25 Jahren ein halbes Jahr lang Dienst tun mußten. Der Arbeitsdienst wiederum bot die Gelegenheit, ein Versprechen einzulösen, das Hitler in seiner Rede vom 1. Mai 1933 gegeben hatte: Auch Kopfarbeiter mußten mindestens einmal in ihrem Leben körperliche Arbeit kennenlernen.

Die psychologische Aufwertung der Arbeit war das Gegenstück zur tatsächlichen Entrechtung der Arbeiter. Am 20. Januar 1934 erließ die Reichsregierung das Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit, die «Magna Charta» der Betriebsverfassung im «Dritten Reich». Das Gesetz übertrug dem «Führer des Betriebs» die Aufgabe, für das Wohl der «Gefolgschaft» zu sorgen und ihr gegenüber in allen betrieblichen Angelegenheiten zu entscheiden. Dem Betriebsführer trat ein Vertrauensrat mit beratender Kompetenz zur Seite. Er wurde in einer Listenwahl gewählt, wobei der Betriebsführer und der Obmann der Deutschen Arbeitsfront sich im Voraus über die Kandidaten verständigten. Mit den Betriebsräten der Weimarer Republik hatten die Vertrauensräte nichts mehr gemeinsam. Die Nutznießer der Neuordnung waren die Unternehmer, die sich wieder als «Herren im Hause» fühlen konnten – sofern sie nicht mit der DAF in Konflikt gerieten. Von Opposition gegen das Regime bei den Arbeitern war dennoch wenig zu spüren. Der Rückgang der Arbeitslosigkeit (sie sank zwischen Dezember 1933 und November 1934 von 4,1 auf 2,3 Millionen) wurde vielfach dem «Dritten Reich» und seinem «Führer» zugute gehalten. Für den Verlust an politischer und gewerkschaftlicher Freiheit gab es eine Entschädigung: Die Angst vor dem Verlust des Arbeitsplatzes begann zu schwinden.

Das galt auch für die meisten weiblichen Arbeitskräfte. Die Nationalsozialisten hatten zwar vor dem 30. Januar 1933 dem «Doppelverdienertum» den Kampf angesagt und taten dies auch danach – doch nur in Worten. Auf die Praxis hatte die Devise, die Frau gehöre ins Heim und an den Herd, habe sich, mit anderen Worten, vorrangig Mann und Kindern zu widmen, kaum Auswirkungen. Die Erwerbsarbeit verheirateter Frauen ging im «Dritten Reich» nicht nur nicht zurück, sondern stieg an. Lediglich Beamtinnen in leitender Stellung, also Akademikerinnen, wurden systematisch aus dem Berufsleben verdrängt. Außerdem senkte das Regime, gestützt auf das Reichsgesetz gegen die Überfüllung von deutschen Schulen und Hochschulen vom 25. April 1933, den Anteil der Studentinnen an der Gesamtheit der Studierenden bis zum historischen Tiefststand von 11,2 Prozent im Sommer 1939. Was Deutschland an rechtlicher und tatsächlicher Gleichstellung der Frauen erreicht hatte, wurde nach 1933 weitgehend rückgängig gemacht. Der Nationalsozialismus war radikal antiemanzipatorisch: ein Befund, der sich ganz und gar nicht mit der These mancher Historiker und Soziologen verträgt, das «Dritte Reich» habe, gleichviel ob gewollt oder ungewollt, zu einer umfassenden Modernisierung der deutschen Gesellschaft beigetragen.

Die «Volksgemeinschaft» der Nationalsozialisten begann ein Jahr nach der «Machtergreifung» festere Konturen anzunehmen. Die «Volksgemeinschaft» wollte die Unterschiede im Bewußtsein von Protestanten und Katholiken, Stadt- und Landbewohnern, «Arbeitern der Stirn und der Faust» einebnen; sie war männlich dominiert, in Ständen, Kammern und in der Deutschen Arbeitsfront erfaßt und dem «Führerprinzip» unterworfen. Der Unternehmer hatte sich in den Betriebsführer, die Belegschaft in die Gefolgschaft verwandelt; an die Stelle von gewählten Vertretern landwirtschaftlicher Organisationen waren die vom Reichsnährstand ernannten Orts- und Kreisbauernführer getreten; an den Universitäten fiel dem vom Kultusministerium ernannten Rektor die Rolle des Führers zu; bei Zeitungen und Zeitschriften übernahm auf Grund eines Gesetzes vom 4. Oktober 1933 der Schriftleiter die Verantwortung für alle Äußerungen seiner Mitarbeiter. Und es gab die riesige Zahl kleiner und mittlerer Führer der NSDAP vom Blockwart über den Zellenleiter, den Ortsgruppenleiter und den Kreisleiter bis zum Gauleiter, wozu noch die Funktionäre der Gliederungen und angeschlossenen Verbände der Partei, der NS-Frauenschaft etwa, der NS-Volkswohlfahrt und des Nationalsozialistischen Kraftfahrerkorps, kamen. Sie alle waren vom Willen des einen Führers abhängig – und konnten sich doch gleichzeitig als Teilhaber seiner Herrschaft fühlen.

Wenn sich jemand kritisch über die Führung oder gar über Hitler selbst äußerte, mußte er mit Denunziationen und, je nach der Schwere des Falls, mit der Einlieferung in ein Konzentrationslager rechnen. Um die Deutschen zu kontrollieren, war das Regime nicht ausschließlich auf die bezahlten Spitzel und vergleichsweise wenigen Beamten der Geheimen Staatspolizei (Gestapo) angewiesen. Die Nationalsozialisten konnten sich vielmehr auf unzählige «Volksgenossinnen» und «Volksgenossen» verlassen, die dem «Führer» zu helfen glaubten, wenn sie vermeintliche «Volksschädlinge» den Behörden meldeten.

Bereits im ersten Jahr der nationalsozialistischen Herrschaft war der Glaube an Hitler und seine geschichtliche Sendung zur wichtigsten Klammer der «Volksgemeinschaft» geworden. Der Führermythos durfte seine Wirkung nicht verlieren, weil das «Dritte Reich» ohne ihn nicht denkbar war. Auf dieser durchaus zutreffenden Einsicht beruhte die tagtägliche, von Goebbels koordinierte Propaganda, der sich auf die Dauer kaum ein Deutscher zu entziehen vermochte.[4]

Bedroht wurde die Herrschaft Hitlers ein Jahr nach seiner Ernennung zum Reichskanzler nicht durch irgendwelche Untergrundaktivitäten verbotener Parteien wie der Kommunisten oder der Sozialdemokraten, sondern aus dem Innern der nationalsozialistischen Bewegung heraus: von der SA. Bereits im Juni 1933 hatte ihr Stabschef Ernst Röhm in einem Artikel in den «Nationalsozialistischen Monatsheften» in ultimativer Form die Forderung erhoben, endlich von der «nationalen» zur «nationalsozialistischen Revolution» überzugehen. Der SA gehörten, seit ihr im Juli 1933 der Stahlhelm angegliedert worden war, mindestens 1,5 Millionen Mitglieder an. Röhm aber fühlte sich nach wie vor als Sprecher der «alten Kämpfer», die es als ihr Verdienst betrachteten, daß Hitler am 30. Januar 1933 an die Spitze der Reichsregierung getreten war. Sie waren unzufrieden mit dem, was sich bisher in Deutschland geändert hatte, und verlangten eine «zweite Revolution», die sie, die «braunen Bataillone», an die Schalthebel von Staat und Gesellschaft bringen sollte.

Hitler hingegen wußte sehr wohl, daß seine langfristigen Ziele nicht gegen Reichswehr, Beamtenschaft und Unternehmertum durchzusetzen waren. Am 6. Juli 1933 beantwortete er vor den in Berlin versammelten Reichsstatthaltern Röhms Herausforderung mit der Feststellung, daß die Revolution kein permanenter Zustand sei, sondern in das sichere Bett der Evolution übergeleitet werden müsse. «Die Partei ist jetzt der Staat geworden. Alle Macht liegt bei der Reichsgewalt. Es muß verhindert werden, daß das Schwergewicht des deutschen Lebens wieder in einzelne Gebiete oder gar Organisationen verlagert wird.»

Die öffentliche Belehrung des Stabschefs der SA blieb ebenso wirkungslos wie seine Ernennung zum Reichsminister ohne Geschäftsbereich am 4. Dezember 1933 – eine Maßnahme, von der Hitler sich eine Zähmung der SA erhoffte. Röhm forderte nunmehr, daß die SA auch bei der «Wiederwehrhaftmachung» Deutschlands die Schlüsselrolle spielen und den Kern einer künftigen Miliz bilden sollte. Am 1. Februar 1934 sandte er Reichswehrminister von Blomberg ein Memorandum, in dem die Reichswehr auf die Funktion eines reinen Ausbildungsheeres herabgedrückt wurde. Röhms Absicht war klar: Reichswehr und SA sollten einen militärischen Rollentausch vornehmen.

Dem Reichswehrminister fiel es leicht, Hitler auf die Seite des regulären Militärs zu ziehen. Vor den Spitzen von Reichswehr, SA und SS erteilte der Reichskanzler am 28. Februar den Milizplänen Röhms eine klare Absage. Er sei entschlossen, sagte er, «ein Volksheer, aufgebaut auf der Reichswehr, gründlich ausgebildet und mit den modernsten Waffen ausgerüstet, aufzustellen». Diese neue Armee müsse nach fünf Jahren für jede Verteidigung, nach acht Jahren auch für den Angriff geeignet sein. Von der SA verlangte Hitler, daß sie sich seinen Anweisungen füge. Für die Übergangszeit werde sie für Aufgaben des Grenzschutzes und der vormilitärischen Ausbildung herangezogen werden. Im übrigen müsse die Wehrmacht der einzige Waffenträger der Nation sein. Die Reichwehr honorierte Hitlers Entgegenkommen mit einem Erlaß vom 28. Februar 1934: Darin verpflichtete Blomberg die Wehrmacht zur Anwendung des Arierparagraphen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums.

Röhm stellte in den folgenden Wochen die neuen Richtlinien seines Führers nach außen nicht in Frage. Aber die Reden des Stabschefs, darunter eine vor dem Diplomatischen Korps am 18. April, blieben so «revolutionär» wie eh und je, und die Zwischenfälle zwischen SA und Reichswehr mehrten sich. In der Bevölkerung bereitete sich erstmals seit dem Beginn der Kanzlerschaft Hitlers der Eindruck von Führungsschwäche aus – eine Mißstimmung, gegen die Goebbels im Mai 1934 mit einer Kampagne gegen «Miesmacher und Kritikaster» anzugehen versuchte. Die fortdauernde Unruhe veranlaßte konservative Kreise in der Umgebung des Vizekanzlers Franz von Papen, auf eine Klärung der Machtfrage in ihrem Sinn hinzuarbeiten. Ein geeignetes Mittel hierzu erschien ihnen die Wiederherstellung der Monarchie nach dem Tod Hindenburgs – einem Ereignis, mit dem für die nächste Zukunft gerechnet werden mußte, da sich der Gesundheitszustand des greisen Staatsoberhaupts im Frühjahr 1934 deutlich verschlechtert hatte.

Am 17. Juni 1934 hielt Papen an der Universität Marburg eine Rede, die das Signal zur konservativen Sammlung gegen die radikalen Kräfte im Nationalsozialismus bilden sollte. Den Text hatte einer der engsten Mitarbeiter des Vizekanzlers, der jungkonservative Publizist Edgar Jung, verfaßt. Jung ließ Papen ein Bekenntnis zu Menschlichkeit, Freiheit und Gleichheit vor dem Richter ablegen – Werten, die keine liberalen, sondern germanisch-christliche Begriffe seien. Die Kampfansage an die Vertreter der Parole von der zweiten Revolution war unüberhörbar. «Kein Volk kann sich den ewigen Aufstand von unten leisten, wenn es vor der Geschichte bestehen will. Einmal muß die Bewegung zu Ende kommen, einmal ein festes soziales Gefüge, zusammengehalten durch eine unbeeinflußbare Rechtspflege und durch eine unbestrittene Staatsgewalt, entstehen. Deutschland darf nicht ein Zug ins Blaue werden, von dem niemand weiß, wann er zum Halten kommt …»

Papen erhielt für seine Rede überwältigenden Beifall der Zuhörer, und das Echo in Deutschland wäre wohl nicht minder stark gewesen, wenn Goebbels nicht sofort die Verbreitung der Ansprache in Rundfunk und Presse untersagt hätte. Edgar Jung wurde am 25. Juni von der Gestapo verhaftet. Hitler aber hatte mittlerweile begriffen, daß er sich in einem innenpolitischen Zweifrontenkampf befand und seine einzige Chance darin lag, beide Gegner, Röhms «revolutionäre SA» und die monarchistische «Reaktion», gleichzeitig zu schlagen. Hätte er sich nur gegen den Kreis um Papen und damit gegen die alten Eliten gewandt, wäre das ein für Hitler äußerst gefährlicher Triumph der SA gewesen. Wenn er nur gegen die SA vorging, mußte das seine «bürgerlichen» Verbündeten stärken, was er auch nicht wollen konnte. Die Marburger Rede Papens gab ihm nun den Anlaß zu einer Überraschungsaktion nach zwei Seiten und die Möglichkeit, die innenpolitische Krise radikal zu lösen.

Die Ereignisse von Ende Juni und Anfang Juli 1934 haben sich den Zeitgenossen und der Nachwelt als «Röhm-Revolte» (dies die nationalsozialistische Bezeichnung) oder als «Röhm-Putsch» eingeprägt. Tatsächlich hat es einen Putsch oder eine Revolte des Stabschefs der SA nicht gegeben. Röhm hatte, nach einem längeren Gespräch mit Hitler, Anfang Juni eine Kur angetreten und für den Juli einen allgemeinen «Urlaub» der SA verfügt. Das erleichterte es Hitler sehr, im Zusammenspiel mit der Reichswehr und der SS, die formell immer noch der SA angegliedert war, zum großen Schlag gegen seinen langjährigen Freund und Kampfgefährten auszuholen. Am 30. Juni wurden Röhm und andere SA-Führer im bayerischen Bad Wiessee unter persönlicher Beteiligung Hitlers verhaftet, anschließend in das Gefängnis München-Stadelheim verbracht und dort, mit Ausnahme Röhms, ohne irgendein Gerichtsverfahren noch am gleichen Tag erschossen. Den abgesetzten Stabschef der SA ließ Hitler am 1. Juli erschießen.

SA-Führer waren nicht die einzigen Opfer des angeblichen «Röhm-Putsches». Hitler, Göring und die SS unter ihrem «Reichsführer» Heinrich Himmler nutzten die Gelegenheit zur Liquidation von politischen Gegnern aus unterschiedlichen Lagern. Ermordet wurden am 30. Juni der ehemalige bayerische Generalstaatskommissar Gustav Ritter von Kahr, der Papen nahestehende Vorsitzende der Katholischen Aktion, Ministerialdirektor Erich Klausener, Papens Mitarbeiter Herbert von Bose und Edgar Jung, der frühere Reichsorganisationsleiter der NSDAP, Gregor Strasser, der ehemalige Reichskanzler General Kurt von Schleicher und sein Mitarbeiter General Ferdinand von Bredow. Seinem Amtvorgänger Schleicher warf Hitler nachträglich Hoch- und Landesverrat in Zusammenspiel mit Röhm, dem General von Bredow außenpolitische Hilfsdienste für Schleicher vor – beides haltlose Unterstellungen. Gesichert ist dagegen die Zahl der namentlich bekannten Menschen, die während der Mordaktion ums Leben kamen: 85, davon 50 Angehörige der SA.

Neben der SA-Führung hatte Hitler sich am 30. Juni also auch mißliebiger Konservativer entledigt. Papen, die zeitweilige, alles in allem eher passive Galionsfigur der Fronde, kam glimpflich davon: Er wurde von Göring zwei Tage lang unter Hausarrest gestellt, erhielt dann aber wenig später von Hitler die erbetene persönliche Ehrenerklärung. Am 7. August schied er aus dem Amt des Vizekanzlers aus und übernahm auf Ersuchen Hitlers die Aufgabe eines deutschen Sonderbotschafters in Wien: Dort hatten am 25. Juli mit Billigung des «Führers» die österreichischen Nationalsozialisten geputscht und dabei, entgegen der Planung, Bundeskanzler Engelbert Dollfuß erschossen. Der Umsturzversuch wurde zwar rasch niedergeschlagen, löste aber eine internationale Krise aus: Mussolini, mit dem Hitler kurz zuvor, Mitte Juni, in Venedig erstmals zusammengetroffen war, ließ, um Deutschland vor einem Anschluß Österreichs zu warnen, italienische Truppen am Brenner aufmarschieren. Papens Mission bestand darin, in Wien an der Wiederherstellung des deutschen Ansehens zu arbeiten. Eine Wiederholung von Zwischenfällen wie seiner Marburger Rede war damit nach menschlichem Ermessen ausgeschlossen.

Am 3. Juli 1934 beschloß die Reichsregierung ein rückwirkendes Gesetz, wonach die zur «Niederschlagung hoch- und landesverräterischer Angriffe» am 30. Juni, 1. und 2. Juli 1934 vollzogenen Maßnahmen als «Staatsnotwehr» rechtens waren. Am 13. Juli rechtfertigte Hitler sein Vorgehen vor dem Reichstag: «Wenn mir jemand den Vorwurf entgegenhält, weshalb wir nicht die ordentlichen Gerichte zur Aburteilung herangezogen hätten, dann kann ich ihm nur sagen: In dieser Stunde war ich verantwortlich für das Schicksal der deutschen Nation und damit des deutschen Volkes oberster Gerichtsherr!»

Dem Staatsrechtler Carl Schmitt, seit November 1933 Reichsgruppenleiter der Fachgruppe Hochschullehrer im Bund Nationalsozialistischer Deutscher Juristen, blieb es vorbehalten, den von Hitler befohlenen, vom «gesunden Volksempfinden» gebilligten Morden den Schein einer naturrechtlichen Legitimation zu verschaffen und damit die Unabhängigkeit der rechtsprechenden Gewalt theoretisch zu liquidieren. Unter der Überschrift «Der Führer schützt das Recht» machte er sich Hitlers Formel vom «obersten Gerichtsherrn» zu eigen. «Der wahre Führer ist immer auch Richter», schrieb Schmitt. «Aus dem Führertum fließt das Richtertum. Wer beides voneinander trennen oder gar entgegensetzen will, macht den Richter entweder zum Gegenführer oder zum Werkzeug eines Gegenführers und sucht den Staat mit Hilfe des Staates aus den Angeln zu heben … In Wahrheit war die Tat des Führers echte Gerichtsbarkeit. Sie untersteht nicht der Justiz, sondern war selbst höchste Justiz … Das Richtertum des Führers entspringt derselben Rechtsquelle, der alles Recht jedes Volkes entspringt. In der höchsten Not bewährt sich das höchste Recht und erscheint der höchste Grad richterlich rächender Verwirklichung des Rechts. Alles Recht stammt aus dem Lebensrecht des Volkes.»

Die Gewinner der SA-Krise waren, außer Hitler selbst, die Reichswehr und die SS. Die Reichswehrführung hatte sich zum Komplizen eines Verbrechens gemacht, um ihr Monopol als Waffenträger der Nation durchzusetzen; um dieses Zieles willen nahm sie sogar die Ermordung von zwei Generälen hin; sie war seitdem moralisch erpreßbar. Die SS wurde am 20. Juli 1934 von Hitler in Anerkennung ihrer Verdienste bei der Ausschaltung der SA-Führung zur selbständigen Organisation im Rahmen der NSDAP erhoben. Heinrich Himmler, der «Reichsführer SS», der seit April 1934 an der Spitze der Politischen Polizei in ganz Deutschland stand, rückte damit in der Hierarchie des «Dritten Reiches» ein weiteres Stück nach oben. Seine «Schutzstaffeln» konnten beginnen, sich zum Staat im Staat zu entwickeln.

Am 2. August 1934 starb auf seinem Gut Neudeck, wo er seit Anfang Juni geweilt hatte, im Alter von 86 Jahren Paul von Hindenburg. Das zweite Staatsoberhaupt der Weimarer Republik hatte dem Parteiführer Hitler bis in die letzten Januartage des Jahres 1933 mißtraut, dem Reichskanzler Hitler gegenüber aber bald alle Vorbehalte aufgegeben. Ein mäßigender Einfluß des Reichspräsidenten war nach dem 30. Januar 1933 nur noch zweimal spürbar geworden: bei der Milderung der antisemitischen Bestimmungen des Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums im April 1933 und im Sommer desselben Jahres im Kirchenkampf. Unter Hitlers Kanzlerschaft schien sich dem greisen Reichspräsidenten die langersehnte innere Beruhigung Deutschlands anzubahnen. Die Niederwerfung des vermeintlichen «Röhm-Putsches» begrüßte Hindenburg, dem der homosexuelle Stabschef der SA persönlich zutiefst zuwider gewesen war, in Glückwunschtelegrammen an Hitler und Göring. Was er von den Ereignissen noch zur Kenntnis nahm, war geeignet, seine Wertschätzung für den Kanzler zu erhöhen.

An das Ziel seiner politischen Wünsche war Hindenburg, als er starb, aber noch nicht gelangt. Am 18. Januar 1871 hatte er als junger preußischer Offizier der Kaiserproklamation in Versailles beigewohnt. Im Mai 1934 unterschrieb er seinen «Letzten Wunsch», ein Bekenntnis zur Wiederherstellung der Hohenzollernmonarchie. Der «Letzte Wunsch» war an den «Herrn Reichskanzler» gerichtet und sollte diesem nach dem Tod des Reichspräsidenten ausgehändigt werden. Hitler kannte den Inhalt des Briefes längst, als Papen ihm das Schriftstück im Auftrag Oskar von Hindenburgs am 14. August in Berchtesgaden übergab. Veröffentlichen ließ der Reichskanzler tags darauf jedoch nur Hindenburgs «Testament», das ihm ebenfalls vom früheren Vizekanzler überreicht worden war. Dieses Dokument enthielt Worte höchster Anerkennung für «meinen Kanzler Adolf Hitler und seine Bewegung», aber nichts, was den «letzten Wunsch» des verstorbenen Reichspräsidenten erkennen ließ.

Hitler handelte so, wie es seinem Interesse entsprach. Eine monarchische Restauration lehnte er ab, weil sie mit seiner Auffassung vom eigenen Führertum unvereinbar war. Hindenburgs Tod bot die Chance, dieses Führertum weiter auszubauen. Bereits am 1. August, also einen Tag, bevor der Reichspräsident starb, beschloß die Reichsregierung die Vereinigung der Ämter des Reichspräsidenten und des Reichskanzlers und legte sich damit auf eine Lösung fest, die Hindenburgs «letztem Wunsch» strikt zuwiderlief und überdies dem Ermächtigungsgesetz widersprach, das die Rechte des Reichspräsidenten ausdrücklich unberührt gelassen hatte. Und nicht nur das: In der gleichen Kabinettssitzung kündigte Reichsminister von Blomberg an, daß er unmittelbar nach dem Ableben Hindenburgs die Soldaten der Wehrmacht auf den «Führer und Reichskanzler» vereidigen werde.

Am 2. August 1934 mußten die Soldaten die neue, durch kein Gesetz gedeckte Eidesformel nachsprechen, die keinerlei Verpflichtung auf Volk, Vaterland und Verfassung enthielt, sondern nur die Bindung an einen Mann vorsah: «Ich schwöre bei Gott diesen heiligen Eid, daß ich dem Führer des Deutschen Reiches und Volkes, Adolf Hitler, dem Obersten Befehlshaber der Wehrmacht, unbedingten Gehorsam leisten und als tapferer Soldat bereit sein will, jederzeit für diesen Eid mein Leben einzusetzen.»

Hitlers persönliche Machtfülle hatte am 2. August 1934 ein Ausmaß erreicht, wie es das seit der Zeit des Absolutismus in Deutschland nicht mehr gegeben hatte. Der Prozeß der Machtergreifung war, institutionell gesehen, abgeschlossen. Was noch ausstand, war die Akklamation des Volkes. Am 19. August 1934, vier Tage nach der Veröffentlichung von Hindenburgs Testament, hatten die Deutschen Gelegenheit, über das Gesetz über das Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches vom 1. August zu befinden. Wie nicht anders zu erwarten, sprach sich eine große Mehrheit für das Gesetz aus. 89,9 Prozent der abgegebenen gültigen Stimmen waren Ja-Stimmen. Das bedeutete eine Zustimmung von 84,3 Prozent der Stimmberechtigten.

Auf den ersten Blick war das Ergebnis ein überwältigender Erfolg. Ein Vergleich mit der Volksabstimmung vom 12. November 1933 aber wirkte ernüchternd. Die Zahl derer, die sich dem Regime durch Nichtteilnahme verweigerten, war gewachsen, die Zahl der Zustimmenden gesunken: von 89,9 auf 84,3 Prozent der Stimmberechtigten. Besonders hoch lag der Anteil der Nein-Stimmen in den großstädtischen Stimmkreisen Hamburg (20,4 Prozent), Aachen (18,6 Prozent) und Berlin (18,5 Prozent). In der Reichshauptstadt meldeten sämtliche Bezirke zweistellige Nein-Quoten, wobei der ehedem «rote» Wedding mit 19,7 Prozent an der Spitze lag.

Offenkundig war der Austritt Deutschlands aus dem Völkerbund sehr viel populärer als die Zusammenlegung der beiden wichtigsten Staatsämter. Hitlers Prestige wurde durch die Bekundung des Mißtrauens einer Minderheit nicht ernsthaft beeinträchtigt. Gemessen an den eigenen Erwartungen, war der Ausgang des zweiten Plebiszits jedoch jener «Mißerfolg», von dem Goebbels am 22. August in einem Tagebucheintrag sprach.

In der zeitweilig rückläufigen Popularität des Regimes spiegelten sich nicht zuletzt wirtschaftliche Faktoren. Ungeachtet massiver Ausfuhrsubventionen bekam die Bevölkerung 1934 den Rückgang des deutschen Außenhandels, zu erheblichen Teilen eine Folge des internationalen, aber auch des deutschen Protektionismus, zu spüren. Der Versuch, den faktischen Zusammenbruch des Handels mit den USA und Großbritannien durch eine Umorientierung des deutschen Außenhandels in den Donauraum nach Südosteuropa, aber auch nach Lateinamerika auszugleichen, zeitigte erst allmählich Erfolge. Am 14. Juni 1934 verkündete Reichsbankpräsident Schacht ein vollständiges Moratorium der Auslandsschulden und die Einführung von Devisenzuteilungen auf Tagesbasis. Gestapoberichten zufolge waren die Deutschen wegen der Wirtschaftsprobleme, die aus der Devisenkrise herrührten, stärker beunruhigt als durch die sogenannte «Röhm- Revolte».

Von Staatsaufträgen profitierte seit 1934 vor allem die Rüstungsindustrie: Militärausgaben machten schon im zweiten Jahr des «Dritten Reiches» über die Hälfte aller Staatsausgaben für Waren und Dienstleistungen aus: Der Anteil des Militärbereichs am Wachstum des Bruttoinlandsprodukts steigerte sich zwischen 1933 und 1934 um mehr als das Zehnfache: von 4,2 auf 47 Prozent. Auf diesen Sektor, nicht auf zivile Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, gingen 1934 die sinkenden Arbeitslosenzahlen zum größten Teil zurück. Wenn die Löhne gegenüber dem Tiefststand von 1929 geringfügig stiegen, dann allein wegen der längeren Arbeitszeiten. Der hohe Anteil der Nein-Stimmen beim Plebiszit vom 19. August in den Arbeiterbezirken von Großstädten kam also nicht von ungefähr.

Von einer breiten proletarischen Opposition gegen den Nationalsozialismus konnte im Sommer 1934 aber keine Rede sein. Die Anfang des Jahres geschaffene, dem italienischen «Opera nazionale Dopolavoro» nachempfundene, der DAF unterstellte Freizeitorganisation «Kraft durch Freude» (KdF) trug mit ihrem reichhaltigen Angebot an Urlaubsreisen, Volkssport, Konzert- und Theaterbesuchen sowie «bunten Abenden» erheblich dazu bei, das «Dritte Reich» bei den Arbeitern populär zu machen. Ein Berliner Vertrauensmann des Prager Exilvorstands der SPD kam kurz nach dem sogenannten «Röhm-Putsch» zu dem Ergebnis: «Die Stellung der Arbeiterschaft zum Regime muß nach wie vor als wohlwollend neutral bezeichnet werden, eine Änderung hat sich auch nach den letzten Ereignissen noch nicht bemerkbar gemacht.»[5]

Roms zweite Reichsgründung:
Das faschistische Italien und der Abessinienkrieg

Keinem europäischen Land fühlte sich Hitler ideologisch so eng verbunden wie dem faschistischen Italien; keinem politischen Führer zollte er so viel Respekt und Bewunderung wie Benito Mussolini. Als Hitler am 30. Januar 1933 das Amt des Reichskanzlers antrat, war Italien das einzige Land, dessen Presse positiv auf den Machtwechsel reagierte. Der «Popolo d’Italia» titelte am 31. Januar «Der Zusammenbruch der alten demoliberalen Systeme in der Welt. Adolf Hitler übernimmt in Koalition mit den nationalistischen Kräften und Wehrverbänden die Regierung in Deutschland». Der «Resto del Carlino» erschien am gleichen Tag mit der Schlagzeile: «Auf den Spuren des Faschismus. Reichskanzler Hitler führt in Deutschland die jungen Kräfte der Erneuerung an die Macht.»

Nach der Reichstagswahl vom 5. März 1933, die Hitler im Besitz der Macht bestätigte, versuchte Mussolini sich als Mittler zwischen Deutschland und den Westmächten zu profilieren. Der «Duce» beteiligte sich aktiv an dem vom britischen Premierminister MacDonald bereits im Sommer und Herbst 1932 angeregten Projekt eines Konsultativpakts zwischen Großbritannien, Frankreich, Deutschland und Italien, wie er dann tatsächlich am 7. Juli 1933 in Rom paraphiert wurde. Ratifiziert wurde der Vertrag im August und September 1933 dann freilich nur von Italien und Großbritannien. Das Scheitern des Vorhabens hing eng mit der aggressiven Politik zusammen, die Deutschland gegenüber Österreich einschlug – dem Land, an dessen fortdauernder Unabhängigkeit Mussolini schon deswegen gelegen sein mußte, weil er das Deutsche Reich nicht als unmittelbaren Nachbarn an der Brennergrenze zu bekommen wünschte.

Im Mai und Juni 1933 spitzte sich der Konflikt zwischen den österreichischen Nationalsozialisten und der autoritären Regierung des christlich-sozialen Bundeskanzlers Engelbert Dollfuß dramatisch zu. Attentate, Bombenanschläge und Brückensprengungen brachten die Alpenrepublik an den Rand eines Bürgerkrieges; die Regierung antwortete mit Verhaftungen, Hausdurchsuchungen und Versammlungsverboten. Nach mehreren aufrührerischen Reden, die er in Wien und Graz hielt, wurde der kurz zuvor eingereiste nationalsozialistische bayerische Justizminister Hans Frank Ende Mai des Landes verwiesen. Die Reichsregierung verhängte daraufhin die «Tausendmarksperre», durch die die Einreise deutscher Touristen nach Österreich unterbunden wurde. Berlin setzte darauf, daß mit diesen und anderen Kampfmaßnahmen die Regierung Dollfuß binnen kurzer Zeit zur Kapitulation gezwungen werden würde.

Um sich an der Macht zu behaupten und eine deutsche Annexion Österreichs zu verhindern, bat die Wiener Regierung Ende Juli London und Rom, in Berlin auf eine Abkehr von der völkerrechtswidrigen Politik gegenüber dem Nachbarland zu drängen. Mussolini hatte sich bisher bemüht, einer Parteinahme zwischen den Westmächten und Deutschland auszuweichen, und versuchte daher zunächst im Alleingang auf die Reichsregierung einzuwirken. Er hatte damit jedoch ebensowenig Erfolg wie London und Paris mit einer Demarche vom 4. August. Die Folgerung, die der «Duce» aus diesem Fehlschlag zog, war eine Politik, die auf die «Faschisierung des österreichischen Staates» und damit seine Umwandlung in einen italienischen Satellitenstaat hinauslief. Dollfuß mußte sich am 19./20. August 1933 bei einem Treffen mit Mussolini in Riccione, dem dritten Italienbesuch innerhalb von vier Monaten, verpflichten, seiner Regierung einen betont diktatorialen Charakter zu geben, wozu auch ein verschärfter Kampf gegen die Sozialdemokratie gehörte.

Den Republikanischen Schutzbund, den Wehrverband der Sozialdemokraten, hatte die Wiener Regierung bereits im März 1933 aufgelöst und damit in die Illegalität gedrängt. Im Oktober 1933 beschlossen die Sozialdemokraten auf einem außerordentlichen Parteitag, in vier Fällen zum bewaffneten Widerstand zu schreiten: bei einem Verbot der Partei, bei einem Verbot der Gewerkschaften, einem Angriff auf das «rote Wien» oder der Einführung einer faschistischen Verfassung. Am 18. Januar 1934 kam ein Abgesandter Mussolinis, der Unterstaatssekretär im Außenministerium, Fulvio Suvich, nach Wien, um von Dollfuß eine konsequente Durchführung der Vereinbarungen von Riccione zu fordern, wobei er auf einen scharf antiparlamentarischen und antimarxistischen Kurs drängte. Im gleichen Sinn wurden Ende Januar und Anfang Februar die paramilitärischen Heimwehren tätig.

Am 12. Februar kam es bei einer Polizeiaktion gegen das Linzer Arbeiterheim zu einer Verzweiflungstat des verbotenen Schutzbundes: der Beschießung der Ordnungskräfte aus dem belagerten Gebäude heraus. Als die Nachricht von den Linzer Ereignissen in Wien eintraf, proklamierte der sozialdemokratische Parteivorstand den Generalstreik. Damit begann auch in der Hauptstadt der bewaffnete Kampf. Drei Tage benötigten Polizei, Bundesheer und Wehrverbände, um den Widerstand der Arbeiter zu brechen, die sich in großen Wohnblocks wie dem Karl-Marx-Hof im Wiener Bezirk Döbling verschanzt hatten und von dort aus die Ordnungskräfte beschossen. Auf Seiten der letzteren gab es über 100 Tote und fast 500 Verwundete, auf Seiten des Schutzbunds und der Zivilbevölkerung fast 200 Tote und weit über 300 Verwundete. Es folgten standrechtliche Erschießungen von Aufständischen, das Verbot aller sozialdemokratischen Organisationen und die Annullierung der Mandate sozialdemokratischer Parlamentarier. Die Sieger waren das «austrofaschistische» Dollfuß-Regime und die beiden Mächte, die es massiv unterstützten: das faschistische Italien und das autoritär regierte Ungarn unter dem Reichsverweser Admiral Horthy und dem rechtsradikalen und antisemitischen Ministerpräsidenten Gyula Gömbös.

Einen Monat später, am 17. März 1934, vereinbarten diese drei Staaten in den Römischen Protokollen eine enge politische und wirtschaftliche Zusammenarbeit. Im Mai erließ das Dollfuß-Regime eine neue Verfassung, die dann vom Rumpfparlament verabschiedet wurde und Österreich unter Berufung auf den allmächtigen Gott zum «christlichen, deutschen Bundesstaat auf ständischer Grundlage» erklärte. Eine Befriedung bewirkte die Verschärfung des autoritären Charakters des österreichischen Staates nicht. Am 25. Juli 1934 putschten die österreichischen Nationalsozialisten auf Weisung der Landesleitung unter Theo Habicht, die ihren Sitz in München hatte und in engster Abstimmung mit Hitler handelte. Bei der Erstürmung des Bundeskanzleramtes wurde Dollfuß durch Pistolenschüsse getötet. Insgesamt forderte der Umsturzversuch 269 Menschenleben und zwischen 430 und 660 Verwundete.

Der nicht vorgesehene gewaltsame Tod von Dollfuß brachte den Putsch zum Scheitern. Mussolini ließ noch am 25. Juli vier Divisionen am Brenner und in Tarvisio aufmarschieren; Hitler verleugnete seine stümperhaften Gefolgsleute und verfügte in der Nacht vom 25. zum 26. Juli demonstrativ die Entlassung Habichts und die Auflösung der österreichischen Landesleitung der NSDAP. Die Nachfolge Dollfuß’ trat der bisherige Unterrichtsminister Kurt von Schuschnigg an, der die autoritäre, am faschistischen Italien ausgerichtete Politik seines Vorgängers fortsetzte. Das deutsch-italienische Verhältnis war im Gefolge des nationalsozialistischen Putsches an einem historischen Tiefpunkt angelangt.

Österreich war nicht der einzige Streitpunkt zwischen den deutschen Nationalsozialisten und den italienischen Faschisten. Eine angrenzende Region, wo die Interessen der beiden Regime hart aufeinander stießen, war der Donauraum. Das «Dritte Reich» sah in den Agrarländern des südlichen Ostmittel- und Südosteuropa einen wirtschaftlichen Ergänzungsraum der Industrienation Deutschland, den es fest mit dem Reich zu verbinden und seiner Führung zu unterstellen galt. Das besondere Augenmerk der Berliner Politik richtete sich auf Ungarn und Jugoslawien. Mit Budapest wurde im Juli 1933 ein Handelsvertrag abgeschlossen, der eindeutig darauf ausgerichtet war, Ungarn zum Teil eines deutsch beherrschten Großwirtschaftsraums zu machen. Seit Anfang 1934 begann Deutschland, gezielt Belgrad zu umwerben und die ungarischen Revisionsbestrebungen von Jugoslawien ab- und auf die Tschechoslowakei hinzulenken. Die Römischen Protokolle vom März 1934 weckten in Berlin die Furcht vor einer Durchkreuzung der deutschen Südosteuropastrategie. Tatsächlich strebte Rom seit langem danach, Ungarn und Jugoslawien in immer stärkere Abhängigkeit von sich zu bringen.

Da Jugoslawien ein Mitglied der Kleinen Entente von 1920/21 und seit 1927 auch direkt mit Frankreich verbündet war, verfolgte Paris die italienische und mehr noch die deutsche Politik gegenüber Belgrad mit Argwohn. Der nationalsozialistische Putsch in Österreich und der immer größere Einfluß Deutschlands auf Jugoslawien führten dann im Herbst 1934 zu einer von Berlin nicht erwarteten Annäherung Roms an Paris. Sie wurde auf französischer Seite begünstigt durch die Sympathien, die Außenminister Pierre Laval für Mussolini und die italienischen Faschisten hegte. Beim «Duce» spielte der Wunsch nach kolonialer Expansion in Afrika eine entscheidende Rolle bei dem Versuch, Frankreich als Bundesgenossen zu gewinnen. Im Januar 1935 unterzeichneten Mussolini und Laval in Rom eine Reihe von Protokollen, die nach den Worten des Historikers Jens Petersen «den endgültigen Übertritt Italiens in das Lager der antirevisionistischen Mächte zu besiegeln schienen». Bei deutschen Verstößen gegen den Versailler Vertrag wollten beide Mächte die zu ergreifenden Gegenmaßnahmen miteinander abstimmen. Dasselbe galt für eine Bedrohung der österreichischen Unabhängigkeit.

Das Kernstück der Vereinbarungen aber bildete eine geheime Absprache über Nordostafrika: Frankreich gab Italien freie Hand gegenüber Abessinien, was die Anwendung militärischer Gewalt einschloß. Damit eröffnete sich für Rom die Chance, die «Schmach von Adua», die Niederlage, die abessinische Truppen den Italienern 1896 beigebracht hatten, endlich zu beseitigen – ein Ziel, auf das der «Duce» seit dem Frühsommer 1932 systematisch hingearbeitet hatte. Das imperialistische Projekt sollte Italien zu einer der führenden Kolonialmächte machen und ihm zum seit langen erstrebten Status eines «Reiches», des «Impero», verhelfen. Eine wirksamere Antwort auf den «verstümmelten Sieg» von 1918 und die niederdrückende Erfahrung der wirtschaftlichen Depression gab es aus der Sicht der italienischen Faschisten nicht.

Zur weiteren Annäherung Italiens an die Westmächte leistete erneut Hitler seinen Beitrag. Im März 1935 brach er gleich zweimal den Versailler Vertrag: Am 1. März verkündete Deutschland die Wiederaufstellung der Luftwaffe, zwei Wochen später, am 16. März, die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht. Auf die zweite Herausforderung reagierte die italienische Presse mit einem Aufschrei der Empörung; der «Duce» stimmte der französischen Forderung nach einer Gipfelkonferenz zu, auf der die Vertragsverletzungen Hitlers verurteilt werden sollten. Vom 11. bis 14. April fand dieses Treffen statt, und zwar auf italienischem Boden: in Stresa am Lago Maggiore. Die Ministerpräsidenten Großbritanniens, Frankreichs und Italiens, Ramsay MacDonald, Pierre-Étienne Flandin und Benito Mussolini, kamen überein, «sich mit allen geeigneten Mitteln jeder einseitigen Aufkündigung von Verträgen zu widersetzen, die den Frieden in Europa gefährden könnten», und «zu diesem Zweck in einiger und freundschaftlicher Zusammenarbeit» vorzugehen.

Zu den wenigen praktischen Folgen der Konferenz von Stresa gehörten Militärabsprachen zwischen Frankreich und Italien, die für die Fälle einer deutschen Aktion gegen Österreich und eines deutschen Angriffs auf Frankreich galten. Die «Stresafront» hielt aber nicht lange zusammen. Das Thema «Abessinien» war bei dem Treffen am Lago Maggiore nicht erörtert worden. Bald danach machte London deutlich, daß es schwerste Bedenken gegen die kriegerischen Absichten Italiens in Nordostafrika hatte. Das britische Widerstreben veranlaßte Mussolini, sich außenpolitisch neu zu orientieren: Er begann, sich auf Hitler zuzubewegen. Deutschland war inzwischen der weitaus wichtigste Handelspartner Italiens; das galt sowohl für den Bereich des Imports wie für den des Exports. Dazu kam die ideologische Nähe von italienischem Faschismus und deutschem Nationalsozialismus. Für die von ihm beabsichtigte aggressive Expansionspolitik konnte der «Duce» nördlich der Alpen sehr viel mehr Verständnis erhoffen als bei den beiden westlichen Demokratien, mit denen er in Stresa an einem Tisch gesessen hatte.

Ein Verzicht auf den Krieg gegen Abessinien kam für Mussolini nicht in Frage. Expansionistische Kräfte gab es ja nicht nur, wie der Historiker Hans Woller schreibt, in der faschistischen Partei, sondern darüber hinaus in einer breiten, imperialistisch gesinnten Öffentlichkeit. «Mussolini hatte hier eine nationale Mission zu erfüllen, er wollte dabei aber nicht stehen bleiben, sondern diesen Auftrag mit einem weiteren nationalen Großanliegen verbinden: der Schaffung eines neuen Menschen, den er ganz nach seinen faschistischen Maßen formen wollte. Mussolini wollte sein Volk härter und unnachsichtiger mit sich und anderen Völkern machen, zu deren Beherrschung die Italiener angeblich berufen waren. Ohne Expansion, ohne Bewährung im Krieg wäre sein Regime in Stagnation versunken, es wäre Stückwerk und seine anthropologische Revolution nur ein Traum geblieben.»

Am 21. Mai 1935 tat Hitler seinerseits einen großen Schritt auf Mussolini zu. In einer Reichstagsrede bestritt er jede Absicht Deutschlands, sich in die inneren Angelegenheiten Österreichs einzumischen oder dieses zu annektieren. Er bedauerte ausdrücklich, daß durch den Konflikt mit Österreich eine Störung des früher so guten Verhältnisses zu Italien eingetreten sei, mit dem es sonst keinerlei Interessengegensätze gebe. Fünf Tage später erklärte der «Duce» einem deutschen Diplomaten, der am 2. Mai abgeschlossene französisch-sowjetische Beistandspakt habe einen völlig neuen Faktor in die internationale Politik hineingebracht und mache eine grundlegende Neuorientierung notwendig. Ende Mai vereinbarten Deutschland und Italien, die gegenseitigen Pressepolemiken einzustellen. Kurz darauf berief Mussolini den in Berlin seit längerem mißliebigen Botschafter Vittorio Cerruti ab und versetzte ihn nach Paris.

Hitler aber dachte gar nicht daran, Italien zu einem schnellen Erfolg in Abessinien zu verhelfen. Er wünschte zwar keine Niederlage des «Duce», wohl aber eine längere Kriegsdauer, um die Aufmerksamkeit der Westmächte von Deutschland und Mitteleuropa abzulenken. Im Juli 1935 reagierte er, nach Rücksprache mit Außenminister von Neurath, positiv auf eine Bitte des Negus Negesti, Kaiser Haile Selassie, um Militärhilfe: Äthiopien erhielt, streng geheim, für rund 3 Millionen Reichsmark auf Kreditbasis 10.000 Gewehre, 10 Millionen Patronen, Maschinengewehre, Handgranaten und etwa 70 Geschütze. In den folgenden Monaten versuchte Berlin den Eindruck hervorzurufen, es sei in der abessinischen Frage ein gänzlich unbeteiligter Beobachter.

Bei der ideologischen Kriegsvorbereitung griffen Mussolini und die faschistischen Propagandisten auf die alte von den italienischen Vorkriegsnationalisten eingeführte Gegenüberstellung von kapitalistischen und proletarischen Nationen zurück. Am 2. Oktober 1935, dem Tag vor dem Angriff auf Äthiopien, benutzte der «Duce» die Formel «Italia proletaria e fascista», um den Anspruch Italiens auf koloniale Expansion zu begründen. Der Krieg gegen das Kaiserreich Abessinien, ein Mitglied des Völkerbunds, begann ohne Kriegserklärung. Der Völkerbund verurteilte Italien als Aggressor, verhängte aber keine militärischen, sondern auf Drängen Frankreichs nur milde wirtschaftliche Sanktionen: Es gab kein Lieferverbot für Erdöl, Stahl und die wichtigsten Metalle. Das über Italien verhängte Waffen- und Rohstoffembargo und die Kreditsperre wurden überdies längst nicht von allen Ländern strikt befolgt. Von Deutschland, das am 7. November seine Neutralität erklärte und gleichzeitig ein Verbot der Ausfuhr von Rüstungsgütern an die kriegführenden Staaten verkündete, erhielt Italien Rohstofflieferungen in großem Stil, für die es freilich immense Mittel aufzubringen hatte.

Der Abessinienkrieg war ein an Völkermord grenzender rassistischer Vernichtungskrieg – der erste Krieg dieser Kategorie im 20. Jahrhundert und zugleich der größte Kolonialkrieg der bisherigen Geschichte. Dem Angriffskrieg und dem anschließenden Besatzungsregime fielen zwischen 1935 und 1941 zwischen 350.000 und 760.000 der rund 10 Millionen Abessinier zum Opfer. Der Krieg gegen die militärisch hoffnungslos unterlegenen Untertanen des Negus sah, wie der Schweizer Historiker Aram Mattioli feststellt, «den massivsten und brutalsten Luftwaffeneinsatz, den die Welt bis zu diesem Zeitpunkt erlebt hatte. Von höchster Stelle dazu ermächtigt, flogen die Geschwader der Regia Aeronautica Tausende von Angriffen, bei denen sie Splitter-, Brand- und Gasbomben auf menschliche Ziele abwarfen. Vor Italien hatte nur Spanien in seinem Protektorat Nordmarokko Giftgas von Flugzeugen aus eingesetzt. Damit war Italien überhaupt erst der zweite Staat, der diese Massenvernichtungswaffe aus der Luft zur Anwendung brachte.» In globaler Perspektive bildete der Abessinienkrieg nach Mattiolis Urteil «die ‹Brücke› zwischen den Kolonialkriegen des imperialistischen Zeitalters und Hitlers Lebensraumkrieg».

Italien hatte im Juni 1925 in Genf das Protokoll über das Verbot von erstickenden giftigen und ähnlichen Gasen sowie von bakteriologischen Mitteln im Krieg ratifiziert, das den Ersteinsatz von chemischen Kampfstoffen verbot. Dessen ungeachtet wurde seit Dezember 1935 unter dem Oberbefehl von Marschall Badoglio im abessinischen Hochland systematisch Giftgas aus der Luft nicht nur gegen Soldaten, sondern immer wieder auch gegen die Zivilbevölkerung sowie zur Besprühung von Flüssen, Wasserstellen und Viehweiden eingesetzt. Gegen Angriffe aus der Luft waren auch Lazarette des Roten Kreuzes und Krankenhäuser nicht sicher. Flüchtende Soldaten und Zivilisten wurden aus der Luft mit Maschinengewehren niedergemäht. Die Äthiopier, die älteste Nation Afrikas, galten als unzivilisierte Wilde, gegen die auch Mittel angewandt werden durften, auf die man gegenüber Europäern nicht zurückgegriffen hätte. In voller Absicht bedienten sich die italienischen Militärs im Kampf gegen die christlichen Abessinier auf breiter Front auch muslimischer Hilfstruppen aus Eritrea und Libyen, die sich ihres Auftrags auf besonders grausame Art entledigten.

Der Giftgaseinsatz war die von «Duce» und vom italienischen Oberkommando angeordnete Reaktion auf den unerwartet hartnäckigen Widerstand der Äthiopier. Den italienischen Kriegskorrespondenten wurde verboten, darüber zu berichten. Die Proteste des Negus Negesti und der kaiserlichen Regierung in Addis Abeba gegen die systematische Verletzung des Völkerrechts verhallten ungehört. Um die Sanktionen wirksam werden zu lassen, hätte der Völkerbund sie auf Treibstoffe, vor allem auf Öl, ausdehnen müssen. Außerdem wäre es notwendig gewesen, den unter britischer Kontrolle stehenden Suezkanal für italienische Truppen- und Militärtransporte zu sperren, was aber beides nicht geschah. Zwar mußte der britische Außenminister Samuel Hoare am 18. Dezember 1935 zurücktreten, nachdem ein zwischen ihm und seinem französischen Kollegen Pierre Laval ausgehandeltes Vermittlungsangebot, das Mussolini weit entgegenkam, durch eine gezielte Indiskretion vorzeitig bekannt geworden war und einen Proteststurm in der britischen Presse hervorgerufen hatte. Aber zu einem energischen Vorgehen konnte sich Großbritannien auch unter Hoares Nachfolger Anthony Eden nicht entschließen. Am 5. Mai 1936 zogen die italienischen Truppen in Addis Abeba ein, was formell das Ende des Krieges, nicht jedoch das Ende des äthiopischen Widerstands gegen die Okkupanten bedeutete.

Wenige Wochen nach dem Fall seiner Hauptstadt, am 30. Juni 1936, hielt Kaiser Haile Selassie, von seinem Exil in Südengland kommend, als erstes Staatsoberhaupt eine Rede vor der Plenarversammlung des Völkerbunds in Genf. Es gebe keinen Präzedenzfall dafür, sagte der Negus Negesti, «daß ein Volk Opfer solcher Greueltaten wurde und Gefahr läuft, völlig seinem Aggressor preisgegeben zu werden. Noch hat es je zuvor ein Beispiel für eine Regierung gegeben, die durch barbarische Mittel zur systematischen Ausrottung einer Nation schritt, unter Bruch der feierlichen Versprechungen, die allen Nationen dieser Welt gemacht wurden, daß Eroberungskriege illegitim seien und daß die schreckliche Giftgaswaffe gegenüber unschuldigen Menschen nicht angewendet werden dürfe.»

Der Appell des vertriebenen afrikanischen Herrschers an das Weltgewissen war vergeblich. Der Völkerbund hatte sich während des Abessinienkrieges um seine verbliebene moralische Autorität gebracht; folgerichtig hob er am 4. Juli 1936 die gegen Italien verhängten Sanktionen vollständig auf. Die meisten Staaten zögerten danach nicht lange mit der Anerkennung der Eroberung und Annexion Abessiniens durch das faschistische Italien. Die wenigen Ausnahmen waren die USA, die Sowjetunion, Mexiko, Neuseeland und Haiti. Das Urteil Aram Mattiolis trifft ins Schwarze: «Um des Friedens in Europa willen war das Kaiserreich Abessinien dem Expansionsdrang einer Diktatur geopfert worden. Damit sandten die Westmächte ein Zeichen der Ermutigung für Nachahmungstäter aus.»

Der Krieg in Äthiopien, von dem die italienische Presse nur berichtete, was das Regime verbreitet sehen wollte, erfreute sich der Unterstützung nicht nur der eingeschworenen Faschisten, sondern aller «national» gesinnten Italiener. Die Revanche für die Niederlage, die die Italiener vier Jahrzehnte zuvor in Adua erlitten hatten, brachte den «Duce» auf den Gipfel seiner persönlichen Popularität und dem Faschismus eine breitere Zustimmung als je zuvor. Wenige Stunden nach dem Fall von Addis Abeba rief Mussolini am 5. Mai 1936 vom Balkon des Palazzo Venezia vor einer jubelnden Menge den «römischen Frieden» aus. «Äthiopien ist italienisch! Italienisch der Sache nach, weil es von unserer siegreichen Armee besetzt ist, italienisch von Rechts wegen, weil es mit dem römischen Schwert zugleich die Zivilisation ist, die über die Barbarei triumphiert, die Gerechtigkeit, die über grausame Willkür triumphiert, die Befreiung der Elenden, die über eine Jahrtausende alte Sklaverei triumphiert.» Vier Tage später, am 9. Mai, proklamierte der «Duce» in einer weiteren, von den Massen frenetisch gefeierten Rede das neue römische Reich, das «Impero». «Das italienische Volk hat mit seinem Blut das Imperium geschaffen. Es wird es mit seiner Arbeit befruchten und gegen jedermann mit seinen Waffen verteidigen. In dieser höchsten Gewißheit, o ihr Legionäre, hebt die Zeichen, Schwerter und Herzen in die Höhe, um nach 15 Jahrhunderten das Imperium auf den schicksalhaften Hügeln Roms zu begrüßen.»

König Viktor Emanuel III. führte seit dem 9. Mai 1936 den Titel eines «Kaisers von Äthiopien»; Italien war fortan nach Großbritannien und Frankreich die drittgrößte Kolonialmacht. Der Prestigegewinn, den der gewonnene Krieg abwarf, ging einher mit einem Vormarsch des Rassismus in Italien. Er nahm seinen Ausgang im Gefühl der Überlegenheit (superiorità) gegenüber den dunkelhäutigen Afrikanern, mit denen es keinerlei Rassenmischung geben durfte. Schon bald aber wurde daraus ein Kult der rassischen Reinheit, der zur Ausgrenzung auch der «ebrei», der italienischen Juden, und damit zu einer Annäherung an den Antisemitismus der Nationalsozialisten führte.

Die Realität von «Africa Italiana Orientale», der durch die Legge organice vom 1. Juni 1936 geschaffenen, aus Äthiopien, Eritrea und Somalia bestehenden, von einem italienischen Vizekönig regierten Großkolonie, stand in scharfem Kontrast zum hohen Ton der faschistischen Propaganda. Zwischen 1935 und 1940 beanspruchte das Gebiet mehr als 20 Prozent des gesamten italienischen Staatshaushalts. Nur rund 300.000 italienische Siedler fanden dort eine immer wieder bedrohte und oft eher karge Heimstatt. Der anhaltende Widerstand der Äthiopier nahm rasch die Form des Guerillakrieges an und rief immer neue Wellen brutaler Repression seitens der Kolonialmacht hervor. Das Motto der Vergeltungsaktionen gab Mussolini am 8. Juli 1936 in einer Weisung an den Vizekönig, General Graziani, vor: Der oberste Vertreter Italiens in Äthiopien wurde aufgefordert, «systematisch mit einer Politik des Terrors und der Ausrottung gegen die Rebellen und die Bevölkerung, die mit diesen unter einer Decke steckt, zu beginnen und eine solche zu führen. Ohne das Gesetz der Vergeltung 1 zu 10 kann man der Plage nicht in der nötigen Zeit Herr werden.»

Der Vizekönig tat, was Rom von ihm erwartete. Als am 19. Februar 1937 zwei Intellektuelle aus Eritrea ein Bombenattentat auf ihn verübten, bei dem er selbst durch Splitter verletzt und sieben Menschen getötet wurden, entfesselte Graziani eine pogromartige Gewaltorgie, an der sich neben faschistischen Milizionären auch viele Mitglieder der italienischen Kolonie beteiligten. Innerhalb von drei Tagen wurden etwa 3000 unbeteiligte Menschen umgebracht. Im Mai erfolgte als weitere Repressalie ein Schlag gegen die mittelalterliche Klosterstadt Debre Libanòs, deren Geistliche pauschal einer Mitschuld an dem Anschlag verdächtigt wurden. Zwischen 1000 und 2000 Mönche, Diakone und Klosterbesucher kamen dabei ums Leben.

Dem Chauvinismus, der sich während des Abessinienkrieges breitmachte, zollten Bischöfe, Kardinäle und Intellektuelle wie der Dichter Luigi Pirandello, aber auch einige liberale und linke Antifaschisten, unter ihnen der Philosoph Benedetto Croce, der Journalist Luigi Albertini und der frühere Sozialist Arturo Labriola, Tribut. Unbeirrt in ihrer Gegnerschaft zum Faschismus und zum Krieg blieben die Wortführer des italienischen Exils, gleichviel ob sie Kommunisten, Sozialisten oder Linksliberale waren. Das einflußreichste, auch nach Italien hineinwirkende Sprachrohr der Emigranten war die Zeitschrift «Giustizia e Libertà», die der Publizist Carlo Rosselli nach seiner abenteuerlichen Flucht aus der Verbannung auf der Insel Lipari 1929 zusammen mit gleichgesinnten Intellektuellen wie Gaetano Salvemini und Emilio Lussu, gegründet hatte. «Alles am Faschismus ist Krieg», schrieb Rosselli 1936, «der Ursprung, die Mentalität, die Weltanschauung … Seit 1925 ist der Faschismus nichts anderes als Kriegsvorbereitung … Der Faschismus ist ein Klassenkrieg, der im Innern beginnt und der sich nicht zufällig, sondern weil er sich anders nicht erhalten kann, nach außen wendet.»

Am 11. Juni 1937 wurde Carlo Rosselli zusammen mit seinem Bruder Nello, vermutlich im Auftrag von Galeazzo Graf Ciano, dem italienischen Außenminister und Schwiegersohn des «Duce», durch Angehörige einer rechtsradikalen französischen Geheimorganisation in Bagnoles de l’Orne getötet. Der Doppelmord an den Brüdern Rosselli war der brutalste Schlag des Regimes gegen den italienischen Antifaschismus seit der Ermordung Giacomo Matteottis am 10. Juni 1924.[6]

Der große Terror:
Der Ausbau der stalinistischen Herrschaft in der Sowjetunion

Der politische Antipode des faschistischen Italien war in den dreißiger Jahren, nicht anders als zur Zeit des «Marsches auf Rom», die Sowjetunion. Der ideologische Gegensatz hinderte Stalin aber nicht, im September 1932 auf ein Angebot Mussolinis einzugehen und einen Nichtangriffspakt mit Italien zu schließen. Entsprechende Verträge hatte die Sowjetunion zwischen 1925 und 1927 bereits mit der Türkei, Afghanistan, Litauen und Persien abgeschlossen. 1932 folgte eine förmliche Lawine von Nichtangriffspakten: Außer mit Italien ging die Sowjetunion solche vertraglichen Vereinbarungen mit Finnland, Polen, Lettland, Estland und schließlich, am 29. November, mit Frankreich ein.

Im Mai 1933, ein Vierteljahr nach der Regierungsübernahme Hitlers, wurde der Berliner Vertrag, das deutsch-sowjetische Neutralitäts- und Freundschaftsabkommen von 1926, um drei Jahre verlängert, womit ein von der Regierung Brüning eingeleitetes, aber nicht ernsthaft betriebenes Ratifizierungsverfahren zum Abschluß kam. Die geheime Zusammenarbeit zwischen der Reichswehr und der Roten Armee allerdings brach Hitler im Juli 1933 demonstrativ ab. 1934 wurden, auch als Reaktion auf den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom Januar, die Nichtangriffsverträge mit den baltischen Staaten, Polen und Finnland verlängert. Im September desselben Jahres wurde die Sowjetunion Mitglied des Völkerbundes: Der einstige Paria von 1917 war nunmehr ein gleichberechtigtes Mitglied eines (dem Anspruch nach) weltweiten Systems kollektiver Sicherheit.

Die Westmächte reagierten positiv auf die demonstrative Mäßigung der offiziellen sowjetischen Außenpolitik. 1929 nahm Großbritannien die zwei Jahre zuvor abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zu Moskau wieder auf; im November 1933 erfolgte die diplomatische Anerkennung der Sowjetunion durch die USA. 1934 normalisierte Moskau durch den Verzicht auf Bessarabien und die wechselseitige Anerkennung der bestehenden Grenzen sein Verhältnis zu Rumänien. Seinen größten Erfolg erreichte der als entschieden «westorientiert» geltende Außenminister Maxim Litwinow 1935 mit den Beistandsverträgen mit Frankreich und der Tschechoslowakei – Verträgen, die sich eindeutig gegen das nationalsozialistische Deutschland richteten und namentlich eine Antwort auf den deutsch-polnischen Nichtangriffspakt vom Januar 1934 bildeten.

Von der Annäherung an die westlichen Staaten unberührt blieb zunächst die Politik der Kommunistischen Internationale. Sie beharrte nach der «Machtergreifung» der Nationalsozialisten auf dem Standpunkt, daß ihre «Generallinie», einschließlich des Kampfes gegen die «bürgerliche» Demokratie und die «Sozialfaschisten» der Zweiten Internationale, unverändert richtig war, und bestritt sogar, daß die Kommunisten oder die Arbeiterklasse in Deutschland eine Niederlage erlitten hätten. Stalin äußerte sich am 26. Januar 1934, also ein Jahr nach der Ernennung Hitlers zum Reichskanzler, erstmals zum «Sieg des Faschismus in Deutschland». Dieser Sieg sei «nicht nur als ein Zeichen der Schwäche der Arbeiterklasse und Ergebnis der Verrätereien an der Arbeiterklasse seitens der Sozialdemokratie (zu) betrachten, (sondern auch) als Zeichen dafür, daß die Bourgeoisie nicht mehr imstande ist, mit den alten Methoden des Parlamentarismus und der bürgerlichen Demokratie zu herrschen, und in Anbetracht dessen gezwungen ist, in der Innenpolitik zu terroristischen Regierungsmethoden zu greifen – als Zeichen dafür, daß sie nicht mehr imstande ist, einen Ausweg aus der jetzigen Lage auf dem Boden einer friedlichen Außenpolitik zu finden, weshalb sie gezwungen ist, zur Politik des Krieges zu greifen … Wie Sie sehen, geht es einem neuen imperialistischen Krieg entgegen, der als Ausweg aus der jetzigen Lage dienen soll.»

Die Nichtangriffs- und Beistandspakte mit ausgewählten europäischen Ländern, bis hin zum faschistischen Italien, waren seit 1933 ein Versuch, einen Keil zwischen die «imperialistischen» Mächte zu treiben – die weniger aggressiven unter ihnen gegen die aggressivste, das nationalsozialistische Deutschland, in Stellung zu bringen und sich bei ihnen rückzuversichern. Die offizielle sowjetische Außenpolitik war ein klassischer Fall von staatlicher «Realpolitik». Auf der Ebene der Kommunistischen Internationale hingegen konnte und durfte der ideologische und politische Kampf gegen die Bourgeoisie zunächst weitergeführt werden. Erst eineinhalb Jahre nach dem Regimewechsel in Deutschland setzte sich in Moskau die Einsicht durch, daß die Fortsetzung dieses kalkulierten Dualismus die «antifaschistischen» Kräfte des Westens schwächte und der extremsten Erscheinungsform des Faschismus, dem Nationalsozialismus, nützte.

Als erste kommunistische Partei schloß die französische im Juli 1934 mit den Sozialisten einen Aktionspakt gegen den Faschismus ab. Im Februar 1935 forderte dann die Moskauer Exil-KPD zur Bildung einer «geeinten antifaschistischen Volksfront» auf, in der alle zusammenarbeiten und kämpfen sollten, «die willens sind, auf den Sturz der Hitlerregierung und des faschistischen Barbaren-Regimes hinzuarbeiten». Eine Festlegung auf die kommunistischen «Endzielsetzungen» sollte es dabei nicht geben. «Die proletarische Einheitsfront ist der Hebel zur Volksfront, zur Volksrevolution. Die kommunistischen und sozialdemokratischen Arbeiter und Funktionäre haben den Hebel in der Hand, sie können die Einheitsfront zur Volksfront führen und damit zum Massenkampf, zum Kampf breiter Massen des werktätigen Volkes für den Sturz der faschistischen Diktatur.»

Im August 1935 wiederholte Georgi Dimitroff, der Generalsekretär der Komintern, auf dem Siebten Weltkongreß der Dritten Internationale die im Dezember 1933 vom XIII. Plenum verabschiedete Formel, wonach der Faschismus an der Macht «die offene terroristische Diktatur der am meisten reaktionären chauvinistischen und imperialistischen Elemente des Finanzkapitals» war. Neu war hingegen der Appell an die Anhänger und Organisationen der Zweiten Internationale, sich mit der Dritten Internationale zur «antifaschistischen Volksfront» zusammenzuschließen. «Die Herstellung der Aktionseinheit aller Teile der Arbeiterklasse, unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zu der einen oder anderen Partei und Organisation, ist notwendig, bevor noch die Mehrheit der Arbeiterklasse sich zum Kampf für den Sturz des Kapitalismus und für den Sieg der proletarischen Revolution vereinigt haben wird.» Von kommunistischer Selbstkritik war bei Dimitroff keine Rede. Die Reformisten sollten vergessen, daß sie von der Komintern und ihren Mitgliedsparteien jahrelang als «soziale Hauptstütze der Bourgeoisie» und «Sozialfaschisten» diffamiert worden waren. Wenn sie es nicht taten, sabotierten sie aus der Sicht der Kommunisten das, worum es jetzt vor allem ging: den umfassenden Zusammenschluß aller Antifaschisten unter der Führung der Arbeiterklasse.

Die neue Generallinie der Komintern bedeutete keine Aufgabe des Ziels der kommunistischen Revolution, sondern nur einen neuen Weg zu diesem Ziel. Die Dritte Internationale war seit 1935 mehr als zuvor ein Instrument der sowjetischen Außenpolitik. Ihre leitenden Funktionäre wurden bald darauf ebenso vom stalinistischen Terror erfaßt und, wenn es Stalin zweckmäßig erschien, liquidiert wie die ehedem maßgeblichen Bolschewiki. Der siebte Weltkongreß war, so gesehen, der Anfang vom Ende der Komintern: ihrer Auflösung im Mai 1943.

Eine Zeitlang schien es seit 1933, als sei die Sowjetunion auch innenpolitisch in eine Phase der Mäßigung und Konsolidierung, einer Art von russischem Thermidor, eingetreten. Im März 1933 erhielten «Kulakenkinder» das Wahlrecht zurück. Im Mai 1934 erging der Beschluß, den ausgesiedelten Großbauern die Bürgerrechte wieder zuzuerkennen, sofern sie ihre Loyalität gegenüber dem Sowjetstaat glaubwürdig bewiesen hatten. Im Juli wurde die OGPU, die Geheimpolizei, formell aufgelöst und mit dem Innenministerium, dem NKWD, verschmolzen. Im Februar 1935 schlugen das Zentralkomitee der KPdSU und der Sowjetkongreß vor, die seit 1934 geltende Verfassung mit dem Ziel der «weiteren Demokratisierung» abzuändern und das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht einzuführen. Im Juni 1936 lag der von einer Kommission erarbeitete Entwurf einer Verfassung vor, der in den folgenden Monaten in zahllosen Versammlungen breit, offen und bemerkenswert kontrovers diskutiert wurde. Dabei trat deutlich zutage, wie mißtrauisch und feindselig große Teile der Landbevölkerung dem Sowjetregime gegenüberstanden.

Am 5. Dezember 1936 nahm der Sowjetkongreß die inzwischen leicht abgeänderte Vorlage an. Die neue Verfassung brachte der Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken ein direkt und in geheimer Abstimmung gewähltes gemeinsames Parlament, den Obersten Sowjet, der sich in den Unions- und den Nationalitätensowjet gliederte. Der Allrussische Rätekongreß und das Zentrale Exekutivkomitee waren damit abgeschafft. Die Sowjetunion wurde als «sozialistischer Staat der Arbeiter und Bauern» bezeichnet, dessen politische Grundlage die Sowjets der Deputierten der Werktätigen bildeten – «erwachsen und erstarkt im Ergebnis des Sturzes der Macht der Gutsherren und Kapitalisten und der Eroberung der Diktatur des Proletariats». Im Abschnitt über die gesellschaftliche Ordnung wurde die Arbeit als Pflicht und Ehrensache jedes arbeitsfähigen Staatsbürgers bezeichnet, getreu dem Grundsatz «Wer nicht arbeitet, soll auch nicht essen». Unter der Überschrift «Grundrechte und Grundpflichten der Staatsbürger» gewährleistete die Verfassung das Recht auf Arbeit, auf Erholung, auf materielle Versorgung im Alter und im Fall von Krankheit, auf Bildung, auf Gewissensfreiheit, auf die Freiheit der Ausübung religiöser Kulthandlungen und der Freiheit antireligiöser Propaganda. Weiter wurden verbürgt die Rede-, Presse- und Versammlungsfreiheit, die Gleichberechtigung von Mann und Frau sowie die aller Nationalitäten und Rassen, die Unverletzlichkeit der Person und der Wohnung sowie die Unabhängigkeit von Richtern und Staatsanwälten.

So liberal sich viele Artikel lasen, so enthielt die Verfassung doch auch Vorkehrungen, die deutlich machten, daß die bestehenden Machtverhältnisse in keiner Weise zur Disposition standen. Der Führungsanspruch der Kommunistischen Partei wurde im Artikel 126 festgeschrieben, der die KPdSU als «Vortrupp der Werktätigen in ihrem Kampf um die Festigung und Entwicklung des sozialistischen Systems» und als «führenden Kern aller Organisationen der Werktätigen, der gesellschaftlichen wie der staatlichen» bezeichnete. Die Artikel 130 und 131 verpflichteten die Bürger, die Arbeitsdisziplin zu wahren, ihren gesellschaftlichen Pflichten nachzukommen und die Regeln des sozialistischen Gemeinschaftslebens einzuhalten sowie das gesellschaftliche Eigentum zu hüten und zu festigen. Wer sich an diesem Eigentum vergriff, wurde zum Volksfeind erklärt. Das Recht, Kandidaten für die Sowjets aufzustellen, war nach Artikel 141 den gesellschaftlichen Organisationen und Vereinigungen der Werktätigen, das heißt der Kommunistischen Partei, den Gewerkschaften, Genossenschaften, Jugendorganisationen und Kulturvereinigungen, vorbehalten. Die Möglichkeit, gegen eine Verletzung der Grundrechte durch Partei- oder Staatsorgane Rechtsmittel einzulegen, gab es nicht. Die Unabhängigkeit der Gerichte stand nur auf dem Papier, was es den Machthabern erlaubte, die Verfassung so auszulegen, wie sie es für richtig hielten.

Die Verfassung von 1936 diente sicherlich auch dem Zweck, das Bemühen der Sowjetunion um bessere Beziehungen mit den westlichen Demokratien glaubwürdig erscheinen zu lassen. Doch für Stalin war vermutlich etwas anderes wichtiger: die dauerhafte, äußerlich rechtsförmige, institutionelle Absicherung dessen, was das Sowjetregime und er selbst in den knapp zwei Jahrzehnten seit der Oktoberrevolution an gesellschaftlichen und politischen Umwälzungen hervorgebracht hatten. Zeitweilig schien Stalin sich diesen Effekt auch von der Aufstellung mehrerer Kandidaten für die Wahlen zu den Sowjets versprochen zu haben. Warnungen örtlicher Parteigliederungen, auf diese Weise könnten feindliche Elemente an Einfluß gewinnen, reichten aber aus, um dieses Experiment bereits im Herbst 1937 abzubrechen und zur Scheinwahl von jeweils nur einem Kandidaten zurückzukehren. Was die Realität der Parteidiktatur betraf, erbrachte die Verfassung von 1936 nichts, was sich als historischer Einschnitt deuten ließe.

Nichts erhellte den Fassadencharakter der Verfassung so deutlich wie die Tatsache, daß zur Zeit ihrer Beratung und Verabschiedung längst eine neue Terrorwelle begonnen hatte. Am 1. Dezember 1934 fiel der als relativ «liberal» geltende, in der KPdSU beliebte Parteisekretär von Leningrad, Sergej Mironowitsch Kirow, den Revolverschüssen eines jüngeren, arbeitslosen Kommunisten zum Opfer. Die örtliche Abteilung des NKWD, Innenkommissar Jagoda und Stalin unterstellten sofort eine antisowjetische Verschwörung, während bei den Gegnern des Generalsekretärs frühzeitig die Vermutung aufkam, Stalin selbst habe den Mord in Auftrag gegeben. Dieser Verdacht drängte sich geradezu auf, da alle Tschekisten, die an der Untersuchung beteiligt waren, einer nach dem anderen und manche auf mysteriöse Weise umgebracht wurden. Beweise für eine mittelbare Täterschaft Stalins aber gibt es nicht.

Der Mord an Kirow war das Signal für eine großangelegte Verfolgung wirklicher oder vermeintlicher Regimefeinde innerhalb oder außerhalb des Parteiapparates. Noch am 1. Dezember 1934 veranlaßte Stalin eine Verordnung, die es dem NKWD gestattete, Verdächtige ohne Gerichtsurteil zu deportieren und zu töten. Eine Weisung des Generalsekretärs schloß bei Strafverfahren mit «terroristischem» Hintergrund eine Verteidigung und Kassationsbeschwerden fortan aus. Verfahren vor dem Militärtribunal des Obersten Gerichts waren am Tag der Anklageerhebung zu beenden, Todesurteile sofort zu vollstrecken. Eine Verordnung vom April 1935 weitete die Anwendung der Todesstrafe auf Jugendliche aus, die das zwölfte Lebensjahr vollendet hatten.

Unmittelbar nach dem Leningrader Attentat wurden Stalins ehemalige Widersacher Sinowjew und Kamenew verhaftet und in einem Geheimprozeß zu zehn Jahren Haft verurteilt. Beiden warf das NKWD eine Beteiligung am Mord an Kirow vor. Dem Prozeß gegen Sinowjew und Kamenew schloß sich eine vom zuständigen ZK-Sekretär und Nachfolger Jagodas als Innenkommissar, Nikolai Jeschow, einem gebürtigen Litauer, geleitete Aktion an, in deren Verlauf Anhänger der beiden Altbolschewiken im ganzen Land sowie Trotzkisten und andere Abweichler aufgespürt, aus der Partei ausgeschlossen und verhaftet wurden. Im Sommer 1935 folgte die Verhaftung von 110 Angestellten des Kreml, denen vorgeworfen wurde, sie hätten im Auftrag von Trotzki und Sinowjew die Festsetzung und Ermordung der Parteiführung vorbereitet.

Ein Jahr später, im Sommer 1936, begann eine Serie von Schauprozessen gegen bekannte ehemalige Parteiführer, zuerst gegen Sinowjew und Kamenew, 1937 auch gegen Bucharin, Rykow, Jagoda und viele andere. Die Angeklagten hatten vor Gericht keine Chance. Für ihre systematische Einschüchterung sorgte Stalins Chefankläger, Generalstaatsanwalt Wyschinski, der sich in den frühen dreißiger Jahren noch als Befürworter einer relativ unabhängigen Justiz hervorgetan hatte. Mit absurden Beschuldigungen konfrontiert, räumten die meisten der einst führenden Bolschewiki, um vielleicht doch mit dem Leben davonzukommen, die ihnen zur Last gelegten Verbrechen ein. Bucharin erklärte sich allgemein verantwortlich für politische Verbrechen, bestritt aber eine persönliche Mitwirkung. Viele, darunter auch Bucharin, flehten Stalin brieflich um Gnade an (und sei es, so Bucharin in seinem letzten Brief vom 10. Dezember 1937, um die Zustimmung zur Selbsttötung durch Morphium statt Erschießung) und versicherten ihn ihrer unverbrüchlichen Treue und Zuneigung – vergeblich.

Die meisten Schauprozesse endeten mit Todesurteilen und der Hinrichtung der Angeklagten. Nur wenige wurden zu Gefängnisstrafen verurteilt. Einer von ihnen war der ehemalige Deutschlandexperte der Komintern, Karl Radek, der 1939 in der Lagerhaft starb. Beträchtlich war die Zahl der führenden Bolschewiki, die sich, durch den Terror in Panik getrieben, aus Furcht vor einem Schauprozeß oder der erpreßten Denunziation Unschuldiger das Leben nahmen. Der prominenteste von ihnen war der Volkskommissar für die Schwerindustrie, Grigorij K. («Sergo») Orshonikidze: Er erschoß sich am 18. Februar 1937. Die Mediziner, die auf Befehl von oben einen Tod durch Herzstillstand diagnostizierten, wurden wenig später angeklagt und erschossen.

Mit den Schauprozessen ging eine radikale Säuberung des Parteiapparates einher, die sich gegen angebliche Spione, Saboteure, Weißgardisten, Trotzkisten, Alkoholiker und korrupte Elemente richtete. Dem Chef des NKWD, Jeschow, zufolge fiel in der zweiten Hälfte des Jahres 1935 ein Drittel aller ausgeschlossenen Parteimitglieder unter die Kategorien «Spione», «Weißgardisten» und «Trotzkisten». Das waren mehr als 43.000 Mitglieder der KPdSU. Nach Angaben des späteren Ersten Sekretärs der Partei, Nikita Sergejewitsch Chruschtschow, aus dem Jahr 1956 wurden 1937/38 98 der insgesamt 139 im Jahr 1934 gewählten Mitglieder des Zentralkomitees, also über 70 Prozent, liquidiert. Von der großen Säuberung betroffen waren auch kommunistische Exilparteien, vor allem die deutsche. 1937 wurden 619 Mitglieder der KPD verhaftet. Die meisten starben, vermutlich in der Haft. Von 82 weiß man, daß sie hingerichtet wurden, 132 wurden 1939/40 an das Deutsche Reich ausgeliefert.

Seit dem Frühjahr 1937 wurde auch die Armeeführung verdächtigt, mit Spionen und Saboteuren unter einer Decke zu stecken. Als erster wurde ein Held des Bürgerkriegs, der stellvertretende Verteidigungsminister Marschall Tuchatschewski, angeklagt, ein deutscher Agent zu sein. Das belastende Material bestand zum großen Teil aus Fälschungen des deutschen Sicherheitsdienstes, des SD, der die Akten über den ahnungslosen tschechoslowakischen Präsidenten Edvard Beneš der sowjetischen Seite zugespielt hatte. Der populäre Marschall wäre wohl auch ohne die Intrige des SD entmachtet und liquidiert worden: Stalin und Jeschow sahen in ihm seit längerem den Hauptverantwortlichen für zahllose Mißstände in der Roten Armee. Tuchatschewski wurde in der Haft gefoltert, von einem Militärtribunal zum Tode verurteilt und am 12. Juni 1937 durch Genickschuß exekutiert. Als angebliche Mitverschwörer erlitten sechs weitere hohe Generäle dasselbe Schicksal.

Insgesamt wurden 1937/38 im Zusammenhang mit der behaupteten «Militärverschwörung» mindestens 33.400 Offiziere aus der Armee ausgeschlossen und mindestens 7280 von ihnen verhaftet, darunter drei von fünf Marschällen der Sowjetunion, 15 von 16 Armee- und 60 von 70 Korpskommandeuren. Etwa 5000 Offiziere wurden hingerichtet. Damit war das Offizierskorps der Roten Armee weitgehend vernichtet. Es war das Opfer einer Parteiführung geworden, die die bewaffnete Macht von Feinden durchsetzt wähnte und sich durch systematischen Terror unbedingte Loyalität sichern wollte.

Während die Parteiführung die angebliche «Militärverschwörung» zerschlug, lief gleichzeitig eine mörderische Aktion gegen verdächtige Partei-, Staats- und Wirtschaftsfunktionäre. Das NKWD unter Nikolai Jeschow lieferte Stalin seit Juni 1937 fast täglich Listen mit den Namen von Todeskandidaten. In den meisten Fällen entsprach der Generalsekretär den Vorschlägen seines Sicherheitsministeriums. Zwischen 1937 und 1938 erhielt Stalin 383 solcher Listen. Knapp 39.000 der verdächtigten Funktionäre, darunter auch zahlreiche Tschekisten, wurden auf Stalins Weisung ohne Gerichtsverfahren erschossen. Der Diktator handelte nach der Devise, die er im Juni 1937 vor den Sicherheitsorganen ausgab: Jeder Kommunist, so gut er sich auch immer tarnen möge, sei potentiell ein «versteckter Feind». Und weil sich Feinde nicht jedem sogleich zu erkennen gäben, müßten möglichst viele Menschen getötet werden. Das Ziel sei erreicht, wenn auch nur fünf Prozent aller Liquidierten tatsächliche Feinde seien.

Beim Terror gegen Wirtschaftsfunktionäre spielten Aktivisten der «Stachanow-Bewegung» eine maßgebliche Rolle. Der Grubenarbeiter Alexei Stachanow aus Irmino im Donbass war dadurch berühmt geworden, daß er 1935 im Zuge des «sozialistischen Wettbewerbs» seine Norm bei der Kohleförderung um das Vierzehnfache übertroffen hatte. Die «Stachanow-Bewegung» rekrutierte sich aus ungelernten Stoßarbeitern, die bereit waren, diesem Vorbild nachzueifern. Vom kommunistischen Regime wurden sie eingesetzt, um den Widerstand von Fabrikdirektoren gegen überhöhte Planziffern zu brechen. Dieser Aufgabe widmeten sich die bei den übrigen Werktätigen verhaßten Stachanow-Arbeiter mit solcher Leidenschaft, daß die Zahl der von ihnen denunzierten und von den Sicherheitsorganen zur Rechenschaft gezogenen Wirtschaftsfunktionäre explosionsartig wuchs. Im Donbass wurde bis zum April 1938 ein Viertel aller Ingenieure und Manager verhaftet und liquidiert.

Die Stachanow-Bewegung hatte ihren tieferen Grund darin, daß sich das Wachstum der sowjetischen Industrieproduktion in den Jahren 1933 bis 1936 verlangsamt hatte. Das lag auch daran, daß die Sollzahlen des zweiten Fünfjahresplans von 1933 gegenüber dem ersten von 1929 gesenkt worden waren, vor allem aber am massenhaften Zustrom ungelernter, an industrielle Arbeitsdisziplin nicht gewöhnter dörflicher Arbeitskräfte in die Städte und Fabriken. Das Regime antwortete mit drakonischen Strafen auf Bummelei am Arbeitsplatz, Pfusch und Trunksucht. Auf dem Land richtete sich der Terror 1937 vor allem gegen Kolchosvorsitzende und Agrotechniker. In Schauprozessen mußten sie sich wegen Ernteausfällen und der Erzeugung von Unzufriedenheit bei den Bauern verantworten.

In der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre sah sich das Regime erneut mit der Kulakenfrage konfrontiert. Seit 1935 kehrten zahlreiche ehemaligen Großbauern in ihre Dörfer zurück. 78.000 Kulaken und Geistliche fielen unter eine im August 1935 erlassene Amnestie, die ihnen die Rückkehr gestattete. Die meisten Kulaken wurden von den Dorfbewohnern in die Kolchosen aufgenommen. Ein sehr viel größeres Problem stellten die fast 400.000 ehemalige Kulaken dar, die zwischen 1931 und 1937 aus den ihnen zugewiesenen Sondersiedlungen in Sibirien entflohen waren. Vor allem östlich des Ural schlossen sich entwichene Kulaken, geflohene Häftlinge, Landstreicher und gewöhnliche Verbrecher zu Räuberbanden zusammen, die Überfälle auf Kolchosen, Eisenbahnzüge und Polizeistationen verübten und häufig auch nicht vor Vergewaltigung und Mord zurückschreckten. Im nördlichen Kaukasus ging die Gewalt von «unten» meist auf das Konto bewaffneter Banken von Tschetschenen und Inguschen.

Im Juni 1937 erteilte das Politbüro der sibirischen Parteileitung den Befehl, die Mitglieder aller «konterrevolutionären Aufstandsorganisationen verbannter Kulaken» zu registrieren und die Aktivisten zu erschießen. Stalin präzisierte die Weisung in einem Telegramm vom 3. Juli 1937 in dem Sinne, daß die feindseligsten unter den Kulaken, Priestern, Kriminellen, ehemaligen Offizieren und Mitgliedern der vorrevolutionären Parteien zu liquidieren seien. Dem Zentralkomitee war innerhalb von fünf Tagen mitzuteilen, wer zu deportieren und wer zu erschießen sei. Die westsibirische NKWD-Leitung empfahl daraufhin in 11.000 Fällen Erschießung und in 15.000 Fällen Lagerhaft. Der Moskauer Parteichef Chruschtschow schlug dem Politbüro vor, 8500 Menschen erschießen zu lassen und 32.000 in ein Konzentrationslager einzuweisen. Auf Grund solcher Zahlenangaben erließ das Politbüro am 31. Juli 1937, demselben Tag, an dem Stalin freie und geheime Wahlen anordnete, den geheimen «Befehl 00447». Demnach waren Kulaken, die aus der Verbannung zurückgekehrt waren oder sich irgendwo versteckt hielten, Mitglieder ehemaliger antisowjetischer Parteien, Geistliche, Sektierer, Weißgardisten und führende Beamte des Zarenreiches, Banditen, Kriminelle sowie inhaftierte Wiederholungstäter festzunehmen. 75.950 waren zu töten, 193.000 in ein Lager der Lagerverwaltung GULag einzuliefern.

In der Folgezeit ersuchten regionale NKWD-Chefs um die Erhöhung der Tötungsquoten, woraufhin das Politbüro seinerseits die Sollzahlen nach oben korrigierte. Ende Januar 1938 verlangte Stalin, bis Mitte März nochmals 57.200 Volksfeinde zu verhaften und 48.000 von ihnen zu erschießen, um die Zahl der Lagerhäftlinge zu vermindern. Etwa 30.000 Menschen, meist solche, die wegen politischer Delikte verurteilt worden waren oder gegen die Lagerordnung verstoßen hatten, fielen diesem Befehl zum Opfer. In Moskau wurden die Massentötungen auch auf Invaliden, Beinamputierte, Blinde und Tuberkulosekranke, in Leningrad auf Taubstumme ausgedehnt – allesamt Menschen, die in den Lagern als Arbeitskräfte nicht zu verwenden waren.

Seit 1936 traf die kollektive Verfolgung auch ethnische Minderheiten, die antisowjetischer Umtriebe verdächtigt wurden – darunter Deutsche, Polen, Letten, Armenier, Koreaner und Chinesen. Im Juli 1937 wurden alle Deutschen verhaftet und deportiert, die in der sowjetischen Rüstungsindustrie arbeiteten, darunter auch Mitglieder der KPD. 42.000 Menschen wurden bei dieser Aktion umgebracht. Ende Dezember 1937 verurteilte ein Leningrader Gericht 992 Letten zum Tode. Im Sommer 1938 wurden 35.000 Polen aus dem polnisch-ukrainischen Grenzgebiet deportiert. Wegen des Verdachts der Spionage für Polen wurden 1937/38.143.810 Personen, die meisten von ihnen Polen, verhaftet und 111.091 hingerichtet. Die Zahl der erschossenen Angehörigen verfolgter Ethnien belief sich Ende 1938 auf fast eine Viertelmillion. Insgesamt wurden nach Angaben des NKWD zwischen dem 1. Oktober 1936 und dem 1. November 1938, als der Massenterror auf Stalins Weisung endete, weit über 1,5 Millionen Menschen verhaftet und 668.305 von ihnen erschossen.

Die Gründe für den Abbruch der Tötungsorgie sind unklar. Stalin hatte erstmals im Januar 1938 auf einem ZK-Plenum Kritik an Exzessen im Kampf gegen Parteimitglieder geübt. Im November 1938 wurde Sicherheitschef Jeschow durch Stalins getreuen Gefolgsmann Berijà ersetzt. Möglicherweise war es die drohende Kriegsgefahr, die es Stalin ratsam erscheinen ließ, den Massenterror zu beenden. Nicht auszuschließen ist, daß sich der Generalsekretär der KPdSU auch vor einer Verselbständigung der Sicherheitsorgane, einer Machtsteigerung auf seine Kosten, fürchtete. Jeschow wurde im Februar 1940 in einem Geheimverfahren als angeblicher Anführer einer ausländischen Verschwörung im NKWD zum Tod verurteilt und erschossen. Mit ihm fanden seine engsten Mitarbeiter und deren Angehörige, darunter Frauen und Kinder, zusammen 346 Menschen, den Tod.

Einen überzeugenden Versuch, den stalinistischen Massenterror strukturgeschichtlich und sozialpsychologisch zu erklären, hat Jörg Baberowski unternommen. Der deutsche Historiker beschreibt die stalinistische Sowjetunion als «feudalen Personenverbandsstaat, der von mächtigen Cliquen und ihren Gefolgschaften regiert wurde» – einen Staat, in dem die Provinzpotentaten zu den Vasallen Stalins gehörten, «die, wenn sie dem Führer gehorchten, eigene feudale Netze unterhalten durften». Stalins Gesellschaftsmodell war Baberowski zufolge «die Räuberbande, deren Mitglieder in der rauhen Wirklichkeit nur überlebten, wenn sie einander auf Gedeih und Verderb die Treue hielten … Der stalinistische Funktionär kam aus dem Dorf, er war eine Kreatur jener Kultur, die er mit Feuer und Schwert verfolgte … Der Stalinismus war ein gewalttätiges Verfahren zur Herstellung eindeutiger Verhältnisse, er war ein Versuch, den neuen aus der physischen Vernichtung des alten Menschen hervorzubringen. Aber der Stalinismus triumphierte in der unablässigen Ausübung exzessiver Gewalt, einer Gewalt, die aus den Traditionen kam, die er bekämpfen wollte … Es war die Allianz von manichäischen Wahnvorstellungen und archaischen Gewalttraditionen, die den Stalinismus in seinen schlimmsten Exzessen ermöglichte. Deshalb führte die Idee der kulturellen Homogenität unter ‹bolschewistischen› Bedingungen in den Massenterror.»

Stalin war in der Tat kein Einzeltäter. Er bedurfte der Gleichgesinnten an der Spitze und auf allen Stufen der Machtpyramide, bis hinunter zu den vielen, die in der von oben propagierten Denunziation angeblicher Feinde der sozialistischen Ordnung ihre staatsbürgerliche Pflicht sahen, und den Massen, die weisungsgemäß die strengste Bestrafung, also die Erschießung, von Verrätern und Saboteuren forderten. Daß der Generalsekretär in der KPdSU solche Kampfgenossen in großer Zahl fand, lag in der extremen Rückständigkeit der politischen Kultur Rußlands begründet, die ihn und die Bolschewiki hervorgebracht hatte. Die Kategorie des Klassenkampfes, die Marx entwickelt und Lenin den russischen Verhältnissen angepaßt hatte, nutzte Stalin, um die innerparteilichen Machtkämpfe zu seinen Gunsten zu entscheiden: Wer sich gegen ihn stellte oder von wem er annahm, daß er sich ihm künftig widersetzen könnte, war «objektiv» ein Verbündeter des Klassenfeindes und mußte eliminiert werden. Hatte Lenin noch das Fernziel der Herrschaftsfreiheit durch Überflüssigmachung des Staates beschworen, so gab es für Stalin kein Jenseits des Massenterrors mehr. Der Terror war die «raison d’être» des Regimes geworden. Es bewies seine Daseinsberechtigung, indem es immer wieder die Feinde ausspürte, die es zu liquidieren galt. Phasen der Milderung und der Mäßigung waren darum nicht auf Dauer angelegt. Eine Sowjetunion ohne äußere und innere Feinde war für den Stalinismus die gefährlichste aller Bedrohungen: Ein solcher Zustand hätte das Regime um seinen Sinn gebracht.

Spätere Apologeten haben dem Stalinismus immer wieder zugute gehalten, daß er, im Gegensatz zum italienischen Faschismus und erst recht zum deutschen Nationalsozialismus, eine Modernisierungsdiktatur gewesen sei. Tatsächlich war es eine enorme Leistung, daß die Sowjetunion sich unter Stalin in wenig mehr als einem Jahrzehnt von einer Agrar- in eine Industriegesellschaft verwandelte. Was das Volumen der industriellen Produktion betraf, lag die Sowjetunion am Vorabend des Zweiten Weltkriegs nur noch hinter den USA, also vor Deutschland, Großbritannien und Frankreich. Ohne massiven Zwang wäre ein derart rasantes Mengenwachstum nicht vorstellbar gewesen.

Die institutionelle Verkörperung dieses Zwangs war der von Alexander Solschenizyn so genannte «Archipel GULag», in dem 1938 821.000 und zwei Jahre später 1,5 Millionen Häftlinge arbeiteten. Ohne ihre Sklavenarbeit hätten solche gigantischen Bauprojekte wie der Weißmeer-Ostsee-Kanal und der Moskwa-Wolga-Kanal nicht binnen weniger Jahre gebaut werden können. Kurz nach der Eröffnung des ersten, nach Stalin benannten Kanals im August 1933 unternahmen 120 sowjetische Schriftsteller unter Führung von Maxim Gorki eine Spazierfahrt auf der neuen künstlichen Wasserstraße. In einem Band unter dem Titel «Der Weißmeer-Ostsee-Kanal namens Stalin» rühmten die Autoren die Organisation von «menschlichem Rohstoff» in Form von Zwangsarbeit und bezeichneten das System der Konzentrationslager, aus denen die Arbeitskräfte stammten, als «Leuchte des Fortschritts». Als der Moskwa-Wolga-Kanal, eines der größten Vorhaben des zweiten Fünfjahresplans, im Juli 1937 dem allgemeinen Fracht- und Personenverkehr übergeben wurde, überschlug sich die staatliche Propaganda abermals. Die Tausende von Menschen, die beim Bau ums Leben gekommen waren, blieben unerwähnt. Nach der Fertigstellung des Kanals wurden 55.000 Häftlinge als Stoßarbeiter aus dem Lager entlassen, andere mit Orden ausgezeichnet. Vielen der Techniker und Ingenieure, die das Projekt geleitet hatten, war ein anderes Schicksal beschieden: Sie wurden unter verschiedenartigen Anschuldigungen, darunter Sabotage und Agitation, verhaftet und erschossen.

Daß Produktionssteigerung nicht Produktivitätszuwachs bedeutete, war den meisten Betriebsleitern bewußt. Die «Stachanow-Bewegung» bedeutete nicht nur eine exzessive Selbstausbeutung der Stoßarbeiter, sie führte auch zur Störung von Produktionsabläufen, zur Überlastung von Maschinen und zu zahllosen Unfällen. Alles spricht dafür, daß sich mit weniger brutalen Methoden ein höheres Maß an nachhaltigem Wachstum hätte erreichen lassen. Mit rationalen Kriterien noch weniger faßbar war die Vernichtung eines Großteils des Offizierskorps der Roten Armee. Wäre es Stalin wirklich, wie manche seiner nachträglichen Verteidiger meinen, vor allem darum gegangen, die Sowjetunion gegen den drohenden Angriff des nationalsozialistischen Deutschland zu wappnen, hätte sich eine derartige Schwächung seiner bewaffneten Macht von selbst verboten. Doch das Bedürfnis, überall Feinde auszumachen, wo Mißstände eine Jagd auf Sündenböcke nahelegten, war stärker als jedes nüchterne Kalkül.

1936 gab eine Mißernte Anlaß, Saboteuren die Schuld an der anschließenden Versorgungskrise in die Schuhe zu schieben. Schwarzhandel und Menschenschlangen vor den Geschäften gehörten auch in der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre zum sowjetischen Alltag; die Wohnungsnot war weiterhin drückend. Ansonsten mochte, wer vom Terror verschont blieb, das Leben als relativ «normal» empfinden. Das Rationierungs- und Kartensystem war seit 1935 abgeschafft; die bäuerlichen Massenerhebungen gehörten der Vergangenheit an; an Arbeit herrschte kein Mangel. Zur «Normalität» gehörten der allgegenwärtige Kult um den großen Führer (woschd) Stalin, die pathetische Verherrlichung von Arbeitern und Bauern durch die Maler, Bildhauer und Schriftsteller des «sozialistischen Realismus», eine staatlich gelenkte Körperkulturbewegung, scheinbar unpolitische Unterhaltungsfilme wie «Fröhliche Jungs», «Wolga, Wolga» oder «Zirkus», Musik, Tanz und Sport im 1937 eröffneten Gorki-Kultur- und Erholungspark in Moskau, eine ebenso heroisch-monumentale wie kitschig-ornamentale Architektur, das 1935 ergangene Publikationsverbot für den Dichter Boris Pasternak und die Uraufführung der Fünften Symphonie von Dimitri Schostakowitsch am 21. November 1937 in der Leningrader Philharmonie.

Manches an der Sowjetunion der mittleren und späten dreißiger Jahre wirkte demgegenüber wie eine teilweise Restauration: Historienfilme wie «Peter der Erste» von Wladimir Petrow und Eisensteins «Alexander Newski», ein Ausdruck des neuen, den «proletarischen Internationalismus» ergänzenden und relativierenden «Sowjetpatriotismus», die Popularisierung von Klassikern der russischen Literatur, obenan Puschkin, die Wiedereinführung der in der Revolutionszeit abgeschafften Offiziersränge und die erneute Wertschätzung der Familie. Noch immer gab es, ausweislich der Volkszählung von 1937, in der Sowjetunion mehr Gläubige als Nichtgläubige (56,7 gegenüber 43,3 Prozent der über 16 Jahre alten Bevölkerung). Der Atheismus trat zwar weniger militant in Erscheinung als in den zwanziger Jahren, die Kirchenverfolgung aber hörte nicht auf. Nach älteren Schätzungen von Dissidenten wurden zwischen 1936 und 1938 800.000 Geistliche verhaftet und 670 Bischöfe ermordet. Nach neueren Angaben sollen allein 1937 150.000 Gläubige verhaftet und 80.000 ermordet worden sein. Von ehedem 80.000 orthodoxen Kirchen dienten nur noch 20.000 ihrem ursprünglichen Zweck; viele waren, wie Ende 1931 die Moskauer Christi-Erlöser-Kathedrale, weggesprengt oder auf andere Weise zerstört worden.

Über die tatsächliche Verbreitung der Religiosität im eigenen Land erfuhr die sowjetische Öffentlichkeit nichts. Die Ergebnisse der Volkszählung von 1937 wurden nicht bekanntgegeben – vor allem deshalb nicht, weil sie Rückschlüsse auf die Verluste durch Kollektivierung, Hungersnöte, Exekutionen und Deportationen erlaubt hätten: 1934 war die Bevölkerungszahl der Sowjetunion offiziell mit 168 Millionen angegeben worden, 1937 belief sie sich nur noch auf 162 Millionen. Bei der Geheimhaltung und teilweisen Vernichtung der statistischen Daten aber blieb es nicht. Die verantwortlichen Statistiker des Zentralarchivs der Volkswirtschaft und die an der Volkszählung beteiligten Funktionäre bis hinunter zur Ortsebene wurden in großer Zahl als «trotzkistisch-bucharinistische Spione» und «Volksfeinde» vor Gericht gestellt, zum Tode verurteilt und erschossen.

Das Echo, das der stalinistische Terror in den westlichen Demokratien fand, war uneinheitlich. Die Schauprozesse wurden von konservativen, liberalen und sozialdemokratischen Zeitungen kritisch kommentiert; Berichte über Zwangsarbeit in sowjetischen Lagern führten in den USA zu Aufrufen, Waren aus der Sowjetunion zu boykottieren. Linke Intellektuelle zogen es aber auch Mitte der dreißiger Jahre zumeist vor, in der Sowjetunion ein Bollwerk des Fortschritts und des Antifaschismus zu sehen. Der französische Schriftsteller Romain Rolland erteilte mit seiner Moskaureise im Jahre 1935 nach dem Urteil François Furets «der Sowjetunion gewissermaßen den Segen des demokratischen Universalismus». Der Nobelpreisträger für Literatur und überzeugte Pazifist, dem Stalin die Ehre einer zweistündigen Unterredung gewährte, kehrte mit dem Eindruck nach Frankreich zurück, daß die Sowjetunion unter der Führung eines Aufklärers das Fanal der Französischen Revolution, die Erneuerung des Menschen, aufgegriffen habe. Ein anderer Sympathisant der Oktoberrevolution, Rollands Dichterkollege André Gide, der im Juni 1936 in Moskau eintraf, verließ hingegen das Reich Stalins einige Wochen später am 23. August, dem Tag der Urteilsverkündung im Prozeß gegen Sinowjew, Kamenew und andere angebliche Parteifeinde, zutiefst ernüchtert. In seinem Buch «Retour de l’U. R. S. S.», das im Oktober 1936 erschien, bezweifelte er, ob «in irgendeinem Land der Gegenwart, und wäre es Hitlers Deutschland, der Geist weniger frei, mehr gebeugt sei, mehr terrorisiert, in tiefere Abhängigkeit geraten».

Gides Buch löste bei den französischen Kommunisten einen Aufschrei der Empörung aus. Die intellektuellen Wortführer der Partei warfen dem berühmten Autor Leichtfertigkeit und Beeinflussung durch den Trotzkismus vor. Mit solchen Vorhaltungen mußte der Berichterstatter und Rechtsexperte der Ligue pour les droits de l’homme, Raymond Rosenmark, nicht rechnen. In einer Beurteilung des ersten der Moskauer Schauprozesse gegen Sinowjew, Kamenew und andere Altbolschewiken erklärte er es im Oktober 1936 für ausgeschlossen, daß die Schuldeingeständnisse der 16 Angeklagten durch Folter oder Androhung von Folter erpreßt sein könnten. Er hielt die Existenz eines nationalsozialistischen Komplotts für erwiesen und gelangte zu dem bemerkenswerten Schluß: «Wir würden die Französische Revolution verleugnen, die nach einem berühmten Wort (von Georges Clemenceau, H. A. W.) ein Block ist, wenn wir einem Volk das Recht absprächen, gegen die Hetze zum Bürgerkrieg und gegen Verschwörer, die mit dem Ausland paktieren, mit aller Härte vorzugehen.»

Ähnlich verständnisvoll äußerte sich der aus dem nationalsozialistischen Deutschland emigrierte, im französischen Sanary-sur-Mer lebende Schriftsteller Lion Feuchtwanger, der um die Jahreswende 1936/37 in die Sowjetunion reiste, wie Gide von Stalin zu einem mehrstündigen Gespräch empfangen wurde und über seine Eindrücke und Erkenntnisse ein Buch schrieb. Darin kritisierte er zwar den überbordenden Personenkult um Stalin und mancherlei Mißstände, konnte aber in dem Schauprozeß gegen den stellvertretenden Volkskommissar für die Schwerindustrie, Georgi Pjatakow, Karl Radek und andere angebliche Mitglieder eines sowjetfeindlichen trotzkistischen Zentrums nichts Erschreckendes erkennen: «Das Ganze glich weniger einem hochnotpeinlichen Prozeß als einer Diskussion, geführt im Konservationston, von gebildeten Männern, die sich bemühten, festzustellen, welches die Wahrheit war und woran es lag, daß geschehen war, was geschehen war. Ja, es machte den Eindruck, als hätten Angeklagte, Staatsanwälte und Richter das gleiche, ich möchte fast sagen, sportliche Interesse, die Geschehnisse lückenlos aufzuklären …» Da die Angeklagten, die fast alle zum Tode verurteilt wurden, gestanden, die ihnen zur Last gelegten Verbrechen bis hin zur Sabotage und zur Vorbereitung von Terrorakten begangen zu haben, sah der Prozeßbeobachter aus dem Westen keinen Grund, am Wahrheitsgehalt ihrer Selbstbeschuldigungen zu zweifeln.

Feuchtwangers Buch «Moskau 1937. Ein Reisebericht für meine Freunde» erschien im Sommer 1937 auf deutsch im Amsterdamer Verlag Querido, im September auf englisch im Verlag des Left Book Club von Victor Gollancz in London. Unter den linken Intellektuellen fanden wohlwollende Schilderungen sowjetischer Zustände wie die Feuchtwangers sehr viel mehr Anklang als kritische Einlassungen in der Art von Gide. Das war in London nicht anders als in Paris oder New York, wo Viking Press 1937 eine amerikanische Ausgabe von «Moskau 1937» herausbrachte. Verglichen mit den faschistischen Diktaturen in Rom und Berlin erschien die Sowjetunion auch in der Zeit des großen Terrors als das bei weitem kleinere Übel, wenn nicht als Hort der Hoffnung für alle, die Europa und die Welt vor dem Faschismus retten wollten.[7]

Weichenstellungen für den Krieg:
Das nationalsozialistische Deutschland 1934–1938

Am 13. Januar 1935 konnte das nationalsozialistische Deutschland einen Triumph feiern: An diesem Tag fand die vom Versailler Vertrag vorgesehene Volksabstimmung im Saargebiet statt. Sie erbrachte eine überwältigende Mehrheit von 90,8 Prozent für die Rückkehr ins Reich; 0,4 Prozent votierten für den Anschluß an Frankreich; 9,8 Prozent folgten den Parolen von SPD und KPD, die für den Status quo unter der Verwaltung des Völkerbunds geworben hatten, um wenigstens diesen Teil Deutschlands vor der Herrschaft des Nationalsozialismus zu bewahren. Das Regime konnte das Ergebnis auch als Beweis seines starken Rückhalts in der Arbeiterschaft interpretieren; die Arbeiterparteien hingegen mußten sich eingestehen, daß sie eine schwere Niederlage erlitten hatten.

Im «Altreich» stand um diese Zeit nur eine Minderheit dem Nationalsozialismus in strikter Opposition gegenüber. Noch kleiner war die Zahl derer, die Widerstand leisteten, indem sie illegale Aufrufe verbreiteten oder regimefeindliche Parolen an Häuserwände oder Brücken malten. Kommunistische Widerstandsgruppen, die sich auf diesem Gebiet besonders hervortaten, wurden als erste von der Geheimen Staatspolizei unterwandert – was mit dazu beitrug, daß andere oppositionelle Kräfte sich von ihnen fernhielten. Bis Ende 1934 wurden annähernd 2000 Kommunisten umgebracht. Die Zahl der verhafteten Kommunisten belief sich 1933/34 auf rund 60.000, 1935 nochmals auf 15.000.

Die Sozialdemokraten agierten meist vorsichtiger als die Kommunisten. Sie pflegten ihren Zusammenhalt, indem sie sich im Rahmen von Versammlungen der Konsumgenossenschaften oder, wie schon unter Bismarcks Sozialistengesetz, bei Beerdigungen von Genossen trafen. Die besonders Mutigen hielten die Verbindung zur «Sopade», dem Prager Exilvorstand, aufrecht und verteilten dessen Schriften, die sich regelmäßig hinter unpolitischen Tarntiteln, von klassischen Dramen oder von Kochbüchern etwa, verbargen.

1935 häuften sich die Verhaftungen «marxistischer» Gegner und die erfolgreichen Schläge gegen illegale Gruppen von Sozialdemokraten und Gewerkschaftern. Die Oppositionellen wurden in Massenprozessen abgeurteilt: einmal 400 Sozialdemokraten, ein andermal 628 Gewerkschafter, dann wieder, in Köln, 232 Sozialdemokraten. Als Gegner nahm das Regime nach wie vor auch das kirchlich gebundene Christentum wahr, sofern dieses sich seiner eigenen Gleichschaltung zu entziehen versuchte. 1936/37 wurden katholische Geistliche und Ordensangehörige mit einer Welle von Sittlichkeitsprozessen überzogen, die mit Pressekampagnen gegen die römische Kirche einhergingen. Um dieselbe Zeit erfolgten Anordnungen, die Kruzifixe aus den Schulen zu entfernen, was jedoch bei den Gläubigen auf so viel Widerspruch und Gegenwehr stieß, daß die Nationalsozialisten den Rückzug antraten und die entsprechenden Verordnungen wieder aufheben mußten.

Eine vergleichbare Art des Widerstands gab es auch unter den Protestanten der Bekennenden Kirche. Martin Niemöller, der Pfarrer der St. Annen-Gemeinde in Berlin-Dahlem, der von der Kanzel Hitler immer wieder vorwarf, er habe seine der evangelischen Kirche gegebenen Versprechungen gebrochen, wurde am 1. Juli 1937 von der Gestapo verhaftet. Das Urteil des Sondergerichts von Berlin vom 2. März 1938 – sieben Monate Festungshaft, die durch die Untersuchungshaft als verbüßt galten, sowie 2000 Reichsmark Geldstrafe – und erst recht die Urteilsbegründung kamen dann einem moralischen Freispruch gleich. Hitler aber fand sich mit der Entscheidung der Richter nicht ab. Niemöller wurde als «Häftling des Führers» direkt vom Gerichtsgebäude in Moabit in das Konzentrationslager Sachsenhausen bei Oranienburg verbracht. Im Juli 1941 folgte die Verlegung in das KZ Dachau, wo Niemöller bis zum Kriegsende gefangengehalten wurde.

Der evangelische Pfarrer war ein privilegierter Häftling – bis zu einem gewissen Grad geschützt durch seine Stellung in der Kirche und durch die weltweiten Proteste, die seine beiden Verhaftungen ausgelöst hatten. Das Gros der politischen KZ-Häftlinge lebte unter ungleich schwereren Bedingungen. Vor allem Kommunisten und Sozialdemokraten mußten in den Konzentrationslagern dafür büßen, daß sie sich vor oder nach 1933 als Gegner des Nationalsozialismus hervorgetan hatten. Demütigungen, Schläge, Folterungen und Erschießungen «auf der Flucht» gehörten zum Alltag. Der frühere sozialdemokratische Reichstagsabgeordnete Kurt Schumacher, ein einarmiger Kriegsinvalide, wurde in Dachau gezwungen, schwere Steine zu schleppen. Erst nach einem vierwöchigen Hungerstreik stellte die Lagerleitung den Versuch ein, Schumacher durch Arbeit zu vernichten. Entlassen wurde er erst im März 1943. Zwei seiner Fraktionskollegen, Julius Leber und Carlo Mierendorff, kamen früher, 1937 beziehungsweise 1938, frei. Ernst Heilmann, in der Weimarer Zeit Fraktionsvorsitzender der SPD im preußischen Landtag und Reichstagsabgeordneter, war als Jude besonders sadistischen Quälereien ausgesetzt. Anfang April 1940 wurde er auf Weisung Himmlers, der seit 1936 auch «Chef der Deutschen Polizei» war, im KZ Buchenwald ermordet. Ebenfalls in Buchenwald starb Ernst Thälmann, der im März 1933 verhaftete langjährige Vorsitzende der KPD: Er wurde am 18. August 1944 auf Befehl Hitlers erschossen.

Ende Juli 1933 hatte es in ganz Deutschland etwa 27.000 politische Häftlinge gegeben. Im Juni 1935 belief sich die Zahl der KZ-Häftlinge auf weniger als 4000, was sich als Zeichen einer Stabilisierung der nationalsozialistischen Herrschaft deuten ließ. 1937 bestanden im gesamten Reich noch vier Konzentrationslager: Dachau, Sachsenhausen, Buchenwald und Lichtenburg. Sie wurden von der SS verwaltet, die bei jedem der Lager einen «Totenkopfverband» mit 1000 bis 1500 Mann stationierte. Zu den «Politischen» waren seit 1934 weitere Kategorien von Häftlingen hinzugekommen: sogenannte «volksschädigende Elemente» wie «Asoziale», «Arbeitsscheue», Homosexuelle, Zeugen Jehovas, zeitweilig oder dauerhaft nach Deutschland zurückgekehrte Emigranten, Juden, die einer (oder mehrerer) dieser Gruppen zugezählt wurden. Im normalen Strafvollzug gab es für diese «Elemente» nach geltendem Recht keinen Platz, in der «Volksgemeinschaft» des Nationalsozialismus aber auch nicht. Die nationalsozialistische Antwort auf dieses Dilemma war die Einlieferung in ein KZ.

Der sozialdemokratische Jurist Ernst Fraenkel, dem 1938 die Emigration in die Vereinigten Staaten gelang, hat 1941 in seinem Buch «The Dual State» (Der Doppelstaat) die Unterscheidung zwischen dem fortexistierenden «Normalstaat» und dem ständig expandierenden «Maßnahmenstaat» eingeführt. Die Konzentrationslager waren der sinnfälligste Ausdruck des «Maßnahmenstaates». Zugleich wurden die Lager immer mehr zum Rückgrat des Wirtschaftsimperiums der SS. Die Häftlingsarbeit wurde so lukrativ, daß der Bedarf an neuen Häftlingen stieg. Aus den Steinbrüchen, in denen KZ-Häftlinge Zwangsarbeit verrichteten, stammte zu wesentlichen Teilen das Baumaterial für die unter der Regie von Hitlers Chefarchitekt Albert Speer errichteten nationalsozialistischen Monumentalbauten in Nürnberg, München und Berlin. Neue Lager entstanden aus Gründen der Zweckmäßigkeit von vornherein in der Nähe von Granitsteinbrüchen: so bei Flossenbürg in der Oberpfalz und, nach dem «Anschluß» Österreichs, in Mauthausen bei Linz. Wie im «Altreich» rekrutierten sich auch in dem zuletzt genannten Lager die Häftlinge aus so unterschiedlichen Gruppen wie Kriminellen, «Asozialen», Homosexuellen, Zigeunern, Juden sowie aus religiös und politisch motivierten Regimegegnern.

Zwischen Widerstand in der Absicht, Hitlers Regime zu Fall zu bringen, und der vorbehaltlosen Unterstützung des Nationalsozialismus gab es ein breites Spektrum an Haltungen. Häufig gingen Bewunderung für den «Führer» einher mit Verachtung für die «kleinen Hitlers» in der näheren Umgebung. Dieser Zwiespalt reichte bis weit in die NSDAP hinein, der anzugehören für viele eine Frage des beruflichen Fortkommens war. (Bei Kriegsende zählte die Partei 8,5 Millionen Mitglieder.) Viele «Volksgenossen» bejahten die Politik des «Dritten Reiches» im großen und ganzen, hatten aber Vorbehalte gegenüber Maßnahmen auf einzelnen Gebieten, etwa der Kirchen- und Schulpolitik. Bei manchen gingen die Vorbehalte so weit, daß sie, wo immer es möglich war, den Hitlergruß oder das Hissen der Hakenkreuzflagge vermieden, nationalsozialistischen Organisationen entweder gar nicht oder, wo es unvermeidlich erschien, nur «harmlosen» Gliederungen wie der NS-Volkswohlfahrt beitraten. Das war noch kein Widerstand, aber doch Distanz, Nichtmitmachen, teilweise Verweigerung. Im privaten Kreis, wo man sicher sein konnte, daß niemand etwas hörte, was er nicht hören sollte, konnten auch Zweifel und Kritik an Hitler geäußert werden. Für die große Mehrheit der Deutschen aber war «der Führer» sakrosankt: Hitlers Erfolge und seine Popularität glichen weithin aus, was es im Alltag des «Dritten Reiches» zu beanstanden gab.

Bei der großen Masse der Deutschen wurde Hitler um so beliebter, je länger die Friedensjahre seiner Herrschaft dauerten. Bei vielen «rechten» Intellektuellen sah es anders aus. Manche, die 1933 der «Machtergreifung» Beifall gezollt hatten, wandten sich in den folgenden Jahren, abgestoßen vom plebejischen Habitus der «Bewegung» und enttäuscht vom Mittelmaß ihrer «geistigen» Repräsentanten, von der offenen Unterstützung des Nationalsozialismus wieder ab. Das galt etwa für den Dichter Gottfried Benn, für den Soziologen Hans Freyer, der mit seiner «Revolution von rechts» 1931 eines der wenigen intellektuell bemerkenswerten Bücher jungkonservativer Provenienz vorgelegt hatte, den Philosophen Arnold Gehlen und, mit Einschränkungen, für Martin Heidegger, der sich seinerseits Angriffen radikaler Nationalsozialisten ausgesetzt sah, die ihn für weltanschaulich unzuverlässig erklärten.

Bei dem Staatsrechtler Carl Schmitt lag der Fall so, daß nicht er am Nationalsozialismus, sondern der Nationalsozialismus an ihm irre wurde. Im Oktober 1936 veranstaltete Schmitt als Leiter der Reichsgruppe Hochschullehrer im NS-Rechtswahrverbund eine Tagung über das Thema «Das Judentum in der Rechtswissenschaft». In seinem Schlußwort berief er sich auf Hitlers Wort «Indem ich mich des Juden erwehre, kämpfe ich für das Werk des Herrn». Schmitt verlangte bei jedem Zitat aus der Schrift eines Juden, wenn es denn überhaupt angeführt werden müsse, die jüdische Herkunft des Autors zu vermerken, und gab seiner Hoffnung Ausdruck, daß «schon von der bloßen Nennung des Wortes ‹jüdisch› … ein heilsamer Exorzismus ausgehen» werde.

Schmitts Rede war eine Mischung aus tiefsitzender Abneigung gegenüber dem Judentum und opportunistischem Kotau vor den Herrschenden. Doch er zog aus seinem Unterwerfungsakt keinen Nutzen. Anfang Dezember 1936 griff «Das Schwarze Korps», das Organ der SS, angeregt durch Kritik aus der deutschen Emigration, Schmitt wegen seiner früheren Verbindungen zu Juden, seiner Nähe zum politischen Katholizismus und seiner Gegnerschaft zum Nationalsozialismus in der Zeit vor 1933 scharf an. Schmitt verlor seine politischen Ämter, mit Ausnahme der Mitgliedschaft im Preußischen Staatsrat, die er Göring verdankte, behielt aber die Professur. Dem «Dritten Reich» war er weiterhin, bis in den Zweiten Weltkrieg hinein, durch seine Veröffentlichungen verbunden.

Die Intellektuellen, die 1933 Deutschland nicht verlassen, aber auch keine Wendung zum Nationalsozialismus vollzogen hatten, fanden sich in der «inneren Emigration» wieder. Zu ihnen gehörten einige der bekanntesten Schriftsteller, darunter Ernst Jünger, Ricarda Huch, Reinhold Schneider, Ernst Wiechert und Werner Bergengruen. Soweit sie sich nicht offen politisch äußerten, konnten sie auch publizieren. Selbst verfremdete Kritik am Nationalsozialismus passierte mitunter die Zensur: so Bergengruens «Der Großtyrann und das Gericht» von 1935 und Jüngers «Auf den Marmorklippen» von 1939. Die Literatur der inneren Emigration wurde gelesen, aber von der Parteipresse totgeschwiegen. Offiziell gaben andere Schriftsteller den Ton an: Hans Friedrich Blunck zum Beispiel, Autor norddeutscher Mythenprosa und zeitweiliger Präsident der Reichsschrifttumskammer, Hans Grimm, Verfasser des Kolonialromans «Volk ohne Raum», und Werner Beumelburg, Autor von Romanen, die das «Kriegserlebnis» der Jahre 1914 bis 1918 verklärten.

Die «innere Emigration» blieb ein Phänomen der mittleren und älteren Generation. Jüngere Intellektuelle neigten dazu, im Nationalsozialismus die Kraft einer umfassenden Erneuerung der Nation zu sehen – oder ihn dazu zu machen. In den Schaltstellen der SS, ihres Sicherheitsdienstes, des SD, und der Gestapo saßen Mitte der dreißiger Jahre junge Akademiker, die ihr Studium in der «Systemzeit», der Weimarer Republik, absolviert hatten – Männer wie der 1903 geborene Mainzer Beamtensohn und Jurist Werner Best, der der Geheimen Staatspolizei als Organisator, Personalchef, Justitiar und Ideologe diente.

Das «Kriegserlebnis» der jungen nationalsozialistischen Technokraten waren die bürgerkriegsähnlichen Auseinandersetzungen in Deutschland zwischen 1919 und 1920 und von 1930 bis 1933, vor allem aber die Kämpfe um Oberschlesien und während der Ruhrbesetzung von 1923. Die jungen nationalsozialistischen Intellektuellen waren geprägt vom völkischen Nationalismus und entschlossen, mit den Mitteln des totalen Staates eine rassisch homogene Volksgemeinschaft aufzubauen. Die Ausschaltung von «Bolschewisten», «Marxisten» und anderen Staatsfeinden war ihr Verantwortungsbereich, und sie waren auf diesem Gebiet seit 1933 ein gutes Stück vorangekommen. Die Ausschaltung der Juden aber war eine noch weithin ungelöste Aufgabe. Die jungen Akademiker in SS, SD und Gestapo, die der Historiker Michael Wildt als «Generation des Unbedingten» charakterisiert hat, wußten das, und sie arbeiteten an einer Lösung.

Theoretisch hätte eine forcierte Auswanderung aus Deutschland eine «Lösung der Judenfrage» im nationalsozialistischen Sinn sein können. Ein Versuch in dieser Richtung wurde tatsächlich schon 1933 unternommen. Im August jenes Jahres schloß das Reichwirtschaftsministerium mit zionistischen Vertretern aus Deutschland und Palästina das «Haavarah-Abkommen», das es jüdischen Emigranten erleichterte, einen Teil ihres Vermögens indirekt nach Palästina zu transferieren (einen anderen Teil eignete sich das Deutsche Reich an, das überdies mehr Waren als bisher in Palästina absetzen konnte). Für die meisten der 60.000 Juden, die zwischen 1933 und 1939 nach Palästina auswanderten, bedeutete das Abkommen eine gewisse materielle Hilfe. Von dieser Möglichkeit Gebrauch zu machen erforderte jedoch erhebliche Geldmittel, über die nur ein Teil der deutschen Juden verfügte. Und auch von den vermögenden Juden hielt einstweilen nur eine Minderheit die Lage in Deutschland für so bedrohlich, daß sich ihr der Gedanke an Emigration aufdrängte. In den Jahren 1933 bis 1937 verließen etwa 129.000 von insgesamt 525.000 Juden Deutschland, die meisten davon in Richtung Westeuropa.

Im Frühjahr 1935 verstärkte sich wieder der antisemitische Druck von «unten», wobei vor allem nationalsozialistische Mittelständler in Erscheinung traten, die sich durch spontane Aktionen wie Überfälle auf jüdische Läden unliebsamer Konkurrenten zu entledigen versuchten. Die wirtschaftlichen Schäden waren beträchtlich, und das negative Echo im Ausland war so massiv, daß sich das Regime, auf Betreiben vor allem des «bürgerlichen» Hjalmar Schacht, der seit dem August 1934 zusätzlich zum Amt des Reichsbankpräsidenten auch das des Reichswirtschaftsministers bekleidete, im August 1935 zu einer legalistischen Kanalisierung des Protests entschloß.

Das Ergebnis waren die «Nürnberger Gesetze», die der Reichstag am 15. September 1935, während des Reichsparteitags der NSDAP und an dessen Tagungsort, verabschiedete. Das Reichsflaggengesetz beseitigte das im März 1933 eingeführte Nebeneinander der Hakenkreuzfahne und der schwarz-weiß-roten Flagge des Kaiserreichs zugunsten des nationalsozialistischen Symbols, das nun zur alleinigen Nationalfahne erklärt wurde. Das Gesetz zum Schutz des deutschen Blutes und der deutschen Ehre verbot Eheschließungen zwischen Juden und Staatsangehörigen deutschen oder «artverwandten» Blutes; es untersagte überdies Juden, «arische» Hausangestellte weiblichen Geschlechts unter 45 Jahren zu beschäftigen und die Hakenkreuzfahne zu hissen. Das Reichsbürgergesetz definierte den Begriff des «Staatsangehörigen» und schuf für die «arischen» Deutschen die Rechtsfigur des Reichsbürgers. Nur Reichsbürger hatten die vollen politischen Rechte wie das Wahlrecht; die bloßen Staatsangehörigen wurden auf den Status von geduldeten Gästen herabgedrückt.

Hitler wählte von den vier Entwürfen des Staatsbürgergesetzes, die ihm vorgelegt wurden, den «mildesten» aus, strich aber die einschränkende Bestimmung, wonach das Gesetz nur für «Volljuden» galt. Die Folge war, daß auf dem Verordnungsweg festgelegt werden mußte, wer «Volljude», wer «Mischling ersten und zweiten Grades», wer «Geltungsjude», wer «Deutschblütiger» war – und welche Konsequenzen sich für die nicht rein «Deutschblütigen» ergaben. Die Rolle des obersten Schiedsrichters in Zweifelsfällen behielt sich Hitler selbst vor.

Die «Nürnberger Gesetze» hoben die Judenemanzipation auf und reduzierten das Deutschsein auf eine Frage der Biologie. Die Kampfansage an die Kultur war offenkundig und traf in Deutschland doch nicht selten auf Zustimmung. Die Beschränkung des jüdischen Einflusses auf dem Gesetzesweg wurde eher akzeptiert als wilde Aktionen gegen die Juden. In einem amtlichen Bericht aus Berlin hieß es, nach Jahren des Kampfes zwischen Deutschtum und Judentum seien nun «endlich klare Verhältnisse geschaffen», was «überall große Befriedigung und Begeisterung im Volke» ausgelöst habe. In Koblenz gab es «Genugtuung», weil das Blutschutzgesetz «mehr als die unerfreulichen Einzelaktionen die erwünschte Isolierung des Judentums herbeiführen» werde. Die Vertrauensleute der Sozialdemokratie sprachen hingegen von Ablehnung der Judengesetze in Arbeiterschaft und Bürgertum, ja «bis weit in nationalsozialistische Kreise hinein». Mindestens ebenso häufig wie die Entrechtung der Juden wurde freilich dieser Quelle zufolge die Verdrängung der kaiserlichen Flagge durch das Hakenkreuz kritisiert – also dasjenige der «Nürnberger Gesetze», das auch nach Meinung der offiziellen Berichterstatter eher unpopulär war.

Äußerlich trat nach den «Nürnberger Gesetzen» eine gewisse Beruhigung ein. 1936 war das Jahr der Olympischen Spiele in Garmisch-Partenkirchen und Berlin, und aus diesem Anlaß wollte die nationalsozialistische Führung der Welt ein freundliches Bild von Deutschland vermitteln. Als am 5. Februar der jüdische Medizinstudent David Frankfurter den Landesgruppenleiter der Auslandsorganisation der NSDAP in der Schweiz, Wilhelm Gustloff, erschoß, unterband das Regime alle antisemitischen Kundgebungen und Aktionen: Am Tag darauf begannen die Olympischen Winterspiele in Garmisch-Partenkirchen.

Zwei Monate nach der Saarabstimmung tat Hitler einen Schritt, der zu den wichtigsten Stationen auf dem Weg in den Zweiten Weltkrieg gehört: Am 16. März 1935 ordnete er die Wiedereinführung der allgemeinen Wehrpflicht an. Der «Führer und Reichskanzler» brach damit offen den Vertrag von Versailles, der Deutschland auf ein Berufsheer von 100.000 Mann festgelegt hatte. Die neue Wehrmacht sollte eine Friedensstärke von 36 Divisionen und 550.000 Mann besitzen.

Die europäischen Siegermächte, darunter zunächst auch Italien, begnügten sich mit papiernen Protesten; Großbritannien hatte nicht einmal Bedenken, nur drei Monate später, am 18. Juni 1935, ein Flottenabkommen mit Deutschland abzuschließen, in dem es sich mit einer Stärke der deutschen Kriegsmarine in einem Verhältnis von 35 zu 100 der britischen einverstanden erklärte. Hitler fühlte sich daher ermutigt, im folgenden Jahr zum nächsten, diesmal endgültigen Schlag gegen das System von Versailles und Locarno auszuholen: Am 7. März 1936 kündigte er die Locarnoverträge faktisch auf und ließ, um die militärische Souveränität des Reiches wiederherzustellen, die entmilitarisierte Zone des Rheinlands besetzen. Wäre Frankreich den einmarschierenden deutschen Truppen mit Waffengewalt entgegengetreten, hätte sich die Wehrmacht weisungsgemäß zurückziehen müssen – eine unvorstellbare Blamage für Hitler. Doch Frankreich war nicht kriegsbereit, und Großbritannien noch viel weniger. Zudem hatte Paris sich kurz zuvor nach dem Beginn des Krieges in Abessinien harten Sanktionen gegenüber Italien verweigert und damit die Glaubwürdigkeit des Westens insgesamt erschüttert. Daß die Weltöffentlichkeit sich Anfang 1936 nicht mit Deutschland, sondern mit Italien beschäftigte, kam Hitler überaus gelegen. Es war eine Chance, die er nicht ungenutzt vorübergehen lassen wollte.

Flankiert wurde die Rheinlandbesetzung durch einen propagandistischen Vorstoß Hitlers: In einer Rundfunkrede und in einem Memorandum schlug er den Signatarmächten der Locarnoverträge eine umfassende vertragliche Neuregelung vor. Mit Frankreich und Belgien wollte er Nichtangriffspakte schließen, die auf die Dauer von 25 Jahren gelten und von Großbritannien und Italien garantiert werden sollten. England versuchte er mit einem Luftpakt zu ködern, und falls der Westen auf sein Angebot einging, stellte er sogar eine Rückkehr in den Völkerbund in Aussicht. Die Rheinlandkrise endete so, wie Hitler es erhofft hatte: Der Völkerbund beließ es bei einer Verurteilung Deutschlands wegen Verletzung des Versailler Vertrags, verhängte aber keine Sanktionen. Frankreich, Belgien und Großbritannien garantierten sich wechselseitig ihre Territorien für den Fall, daß eines der Länder von Deutschland angegriffen werden sollte.

In Deutschland ließ der Erfolg des Überraschungsschlags die Popularität des «Führers» gewaltig ansteigen. Diesem bot der Prestigegewinn eine willkommene Gelegenheit, sich seine Macht plebiszitär bestätigen zu lassen: Bei den kurzfristig anberaumten Reichstagswahlen vom 29. März 1936, an denen die Juden nicht mehr teilnehmen durften und örtliche Wahlvorstände die Ergebnisse im Bedarfsfall kräftig nach oben korrigierten, stimmten 98,8 Prozent für die «Liste des Führers». Hitler schien nun selbst von seiner eigenen Unfehlbarkeit überzeugt, ja, wie der britische Historiker Ian Kershaw bemerkt, «ein Gläubiger seines Mythos» geworden zu sein. Wenn er in der bisher gefährlichsten außenpolitischen Krise des «Dritten Reiches», der Rheinlandbesetzung, mit seiner Politik der vollendeten Tatsachen Erfolg gehabt und aller Welt gezeigt hatte, daß die westlichen Demokratien und der Völkerbund zu entschlossenem Handeln nicht fähig waren – was konnte ihm da noch künftig mißlingen? Auf dem «Parteitag der Ehre» sprach er im September 1936 in der Pose des nationalen Erlösers von der mystischen Einheit zwischen sich und dem Volk: «Das ist das Wunder unserer Zeit, daß ihr mich gefunden habt (brausende Heilrufe!), daß ihr mich gefunden habt unter so vielen Millionen! Und daß ich euch gefunden habe, das ist Deutschlands Glück!»

Zur Beliebtheit Hitlers trug wesentlich auch der starke Rückgang der Arbeitslosigkeit bei: Zwischen 1935 und 1936 fiel die Zahl der Erwerbslosen von 2,1 auf 1,6 Millionen, was einer Minderung von 11,6 auf 8,3 Prozent entsprach. (In den USA lag die Arbeitslosigkeit 1936 noch bei 16,9 Prozent.) Als der britische Ökonom John Maynard Keynes 1936 seine «Allgemeine Theorie der Beschäftigung, des Zinses und des Geldes» vorlegte, meinte er im Vorwort der noch im gleichen Jahr erschienenen deutschen Ausgabe des Buches, daß seine allgemeine Theorie der Produktion als Ganzes viel leichter an «die Verhältnisse eines totalen Staates» angepaßt werden könne als die klassische Theorie, die auf den freien Wettbewerb abstelle. In der Tat war der Staat im nationalsozialistischen Deutschland während der Weltwirtschaftskrise in viel höherem Maß als Investor aufgetreten als in irgendeinem anderen kapitalistischen Land, hatte also jene «ziemlich umfassende Verstaatlichung der Investition» betrieben, die Keynes als Mittel zur Belebung der Konjunktur empfahl.

Doch fast die Hälfte (47 Prozent) des volkswirtschaftlichen Wachstums der Jahre 1936 bis 1938 war direkt auf die Anhebung der öffentlichen Militärausgaben zurückzuführen. Nimmt man die Investitionen hinzu, die stark durch die Prioritäten der Autarkie- und Rüstungsmaßnahmen bestimmt waren, so kommt man nach der Analyse von Adam Tooze auf einen Zweidrittelanteil (67 Prozent) von unmittelbar und mittelbar militärischen Staatsinvestitionen. Der private Konsum war zwischen 1935 und 1938 nur für 25 Prozent des Wachstums verantwortlich, obwohl er noch 1935 für 70 Prozent aller volkswirtschaftlichen Aktivitäten gesorgt hatte. Von allen Waren und Dienstleistungen, die der Staat abnahm, entfielen 1935 70 und drei Jahre später 80 Prozent auf die Wehrmacht. Keynes, der in seiner antizyklischen Konjunkturpolitik ein Stück Friedenspolitik sah, begründete diese optimistische Annahme damit, daß kriegerische Expansion nicht mehr erforderlich sein würde, wenn Vollbeschäftigung durch «Inlandspolitik» zu erreichen sei. Die Wirtschaftspolitik des nationalsozialistischen Deutschland «keynesianisch» zu nennen, wie das immer wieder geschieht, heißt daher die politische Botschaft von Keynes zu ignorieren.

Zum Zeitpunkt des «Parteitags der Ehre» hatte Hitler seinen geheimen Zeitplan für die Vorbereitung des Krieges bereits ausgearbeitet. Seine im August 1936 verfaßte Denkschrift zum Vierjahresplan ging von denselben geostrategischen Maximen aus, die er schon in «Mein Kampf» dargelegt hatte: «Seit dem Ausbruch der Französischen Revolution treibt die Welt in immer schärferem Tempo in eine neue Auseinandersetzung, deren extremste Lösung Bolschewismus heißt, deren Inhalte und Ziel aber nur die Beseitigung und Ersetzung der bislang führenden Gesellschaftsschichten der Menschheit durch das international verbreitete Judentum ist. Kein Staat wird sich dieser geschichtlichen Auseinandersetzung entziehen oder auch nur fernhalten können. Seit sich der Marxismus durch seinen Sieg in Rußland eines der größten Reiche der Welt als Ausgangsbasis für seine weiteren Operationen geschaffen hat, ist diese Frage zu einer bedrohlichen geworden. Einer in sich selbst weltanschaulich zerrissenen demokratischen Welt tritt ein geschlossener autoritärer weltanschaulich fundierter Angriffswille entgegen. Die militärischen Machtmittel dieses Angriffswillens steigern sich dabei von Jahr zu Jahr.»

Deutschland war wie immer der «Brennpunkt der abendländischen Welt gegenüber den bolschewistischen Angriffen». Ein «Sieg des Bolschewismus über Deutschland würde nicht zu einem Versailler Vertrag führen, sondern zu einer endgültigen Vernichtung, ja Ausrottung des deutschen Volkes … Gegenüber der Notwendigkeit der Abwehr dieser Gefahr haben alle anderen Erwägungen als gänzlich belanglos in den Hintergrund zu treten … Das Ausmaß und das Tempo der militärischen Auswertung unserer Kräfte können nicht groß und nicht schnell genug gewählt werden! … Wenn es uns nicht gelingt, in kürzester Frist die deutsche Wehrmacht in der Ausbildung, in der Aufstellung der Formationen, in der Ausrüstung und vor allem auch in der geistigen Erziehung zur ersten Armee der Welt zu entwickeln, wird Deutschland verloren sein!»