4.
Zivilisationsbrüche:
Zweiter Weltkrieg und Holocaust
Krieg als Vernichtung: Die fünfte Teilung Polens
Nur eine Macht hatte 1939 zielstrebig auf die Entfesselung eines Krieges hingearbeitet, von dem sie wissen mußte, daß es nicht in ihrer Macht lag, ihn zu lokalisieren: das nationalsozialistische Deutschland. Ob Hitler Polen im Herbst jenes Jahres auch dann angegriffen hätte, wenn Stalin ihm nicht durch den Moskauer Vertrag vom 23. August 1939 zu Hilfe gekommen wäre, muß offen bleiben. Ein Kriegsverzicht des «Dritten Reiches» war 1939 freilich schon in Anbetracht seiner eigenen Hochrüstung und der fortschreitenden Aufrüstung der anderen Mächte kaum noch vorstellbar. Der deutsch-sowjetische Nichtangriffsvertrag, der in Wahrheit ein Angriffsvertrag war, verminderte die Risiken von Hitlers Va-banque-Spiel: Er machte die Sowjetunion zum Ko-Aggressor und auf absehbare Zeit von der Politik des Hauptaggressors abhängig.
Als Grund des Krieges gegen die östlichen Nachbarn nannte Hitler am 22. August vor der hohen Generalität auf dem Obersalzberg die «Vernichtung Polens. Ziel ist Beseitigung der lebendigen Kräfte, nicht die Erreichung einer bestimmten Linie». Einer anderen, in ihrem Quellenwert zeitweilig umstrittenen, aber durchaus glaubwürdigen Aufzeichnung zufolge fügte der «Führer» dieser Vorgabe noch die Bemerkung hinzu, er habe, «einstweilen nur im Osten», seine Totenkopfverbände bereitgestellt mit dem Befehl, «unbarmherzig und mitleidlos Mann, Weib und Kind polnischer Sprache in den Tod zu schicken. Nur so gewinnen wir den Lebensraum, den wir brauchen. Wer redet heute noch von der Vernichtung der Armenier?»
In der Armeeführung durfte Hitler bei seiner Wendung gegen Polen breiter Unterstützung gewiß sein. Während der Sudetenkrise im Sommer und Frühjahr des Vorjahres hatte es eine Militäropposition gegen Hitler gegeben, der auch der spätere Generalstabschef Halder zuzurechnen war. Als Hitler im Frühjahr 1939 die Weichen für den Angriff auf Polen stellte, war von einer Gegnerschaft im Heer nichts mehr zu spüren. Die Sudetengebiete hatten nie zum Reich von 1871 gehört, wohl aber große Teile Polens, das eben darum auch den deutschen Rechten als «Raub-» und «Saisonstaat» galt. Die Aufkündigung des deutsch-polnischen Nichtangriffspaktes am 28. April 1939 ließ Generalstabschef Halder «einen Stein vom Herzen» fallen. Innerhalb von zwei bis drei Wochen werde die Wehrmacht mit Polen fertig sein, verkündete Halder Ende April oder Anfang Mai in einer vertraulichen Rede. Nach dem polnischen «Cannae» könne man, wenn nötig, zum Schlag gegen die Westmächte ausholen.
Der Krieg gegen Polen war von Anfang an ein rassischer Vernichtungskrieg. Er war kein europäischer «Normalkrieg» mehr, sondern der erste völkische Krieg in Europa und damit ebenso wie die anschließende Besatzungsherrschaft ein Vorgriff auf das, was dem slawischen Osten noch bevorstand. Schon im Ersten Weltkrieg waren die slawischen Nationen, im Unterschied zu den germanischen und romanischen, von den deutschen Eliten nicht den hochstehenden Kulturnationen zugerechnet, sondern mit ethnischen Ressentiments und negativen Klischees wie «dreckig» und «zurückgeblieben» bedacht worden. In gesteigertem Maß galt dasselbe von den Juden, die etwa 10 Prozent der polnischen Bevölkerung stellten. Entsprechend radikal waren die Vorstellungen von dem, was in Polen zu geschehen hatte. «Die deutschen Pläne zur Eroberung von Lebensraum im Osten sahen bereits im Sommer 1939 die Ausrottung großer Teile der dort lebenden Bevölkerung und die Unterdrückung der Überlebenden vor», schreibt Jochen Böhler in seinem 2006 erschienenen Buch «Auftakt zum Vernichtungskrieg». «Über dieses Programm war die Wehrmacht bereits zu Kriegsbeginn informiert, und sie beteiligte sich aktiv an dessen Verwirklichung.»
Polen war durch den Nachrichtendienst seines Generalstabs über den deutschen Aufmarschplan informiert und hatte daher seit Mitte August schrittweise mobilgemacht und am 30. August die Gesamtmobilmachung angeordnet. Infolgedessen befanden sich die grenznahen Verbände, als der Krieg am frühen Morgen des 1. September mit Angriffen aus der Luft und den Schüssen des Schlachtschiffs «Schleswig-Holstein» auf die Westerplatte bei Danzig begann, in Alarmbereitschaft. Die polnische Luftwaffe wurde bereits in den ersten Stunden auf ihren Flugplätzen vernichtet; das Heer kämpfte zäh und verbissen, hatte aber angesichts der erdrückenden Überlegenheit der Wehrmacht keine wirkliche Chance. Bereits am 11. September konnte die dritte deutsche Armee den Bug östlich von Wyschkow überqueren.
Die deutschen Soldaten standen von den ersten Kriegstagen an unter dem Eindruck von Meldungen, die in der Wirklichkeit keine Stütze fanden, aber geglaubt wurden: Überall sei mit Angriffen polnischer Freischärler zu rechnen. Tatsache war aber lediglich, daß die ins Landesinnere zurückweichenden polnischen Truppen nicht die offene Schlacht suchten, sondern aus der Deckung von Wäldern, Hecken, Gehöften und Ortschaften agierten, was die Invasoren als Ausdruck slawischer Heimtücke empfanden. Sie reagierten damit, daß sie Dörfer und Kleinstädte in Brand steckten und polnische Soldaten nach ihrer Gefangennahme sowie Zivilisten, darunter auch Greise, Frauen und Kinder, erschossen. Die Gesamtzahl der polnischen Soldaten, die außerhalb der Kampfhandlungen getötet wurden, belief sich auf über 3000. Zwischen Anfang September und Ende Oktober gab es 714 Exekutionen, bei denen 16.000 Zivilisten zu Tode kamen. Juden wurden besonders häufig verdächtigt, für Angriffe aus dem Hinterhalt verantwortlich zu sein. Wieviele von ihnen getötet wurden, steht nicht fest. Zahlreich waren die Fälle, in denen deutsche Soldaten Juden auf offenem Marktplatz die Bärte abschnitten oder versengten und sie verprügelten. Plünderungen jüdischer Wohnungen gingen häufig mit Vergewaltigungen jüdischer Frauen einher.
Die Grenzen zwischen Wehrmacht und SS waren während des Polenfeldzugs nicht immer klar gezogen. Im August 1939 hatten die SS-Verfügungstruppen und SS-Totenkopfverbände den Status einer «stehenden bewaffneten Truppe» erhalten. Die 14. Armee bestand aus der SS-Standarte «Germania»; eine eigene Einheit bildete auch die SS-Totenkopfstandarte «Brandenburg», auf deren Konto das Niederbrennen mehrerer Synagogen ging. Im Rahmen der 8. Armee kämpfte die Leibstandarte «Adolf Hitler», als Untereinheiten der Panzerdivision Kempf beteiligten sich das SS-Artillerieregiment «Deutschland» und der SS-Aufklärungssturmbann an der Niederwerfung Polens. Angehörige der genannten Panzerdivision verübten am 6. September ein Pogrom in Groworowo bei Rózan: Die Juden des Ortes wurden in der Synagoge zusammengetrieben, wo bereits die Leichen getöteter Juden lagen; anschließend wurde das Gotteshaus in Brand gesetzt. Nur die Intervention eines Wehrmachtsoffiziers verhinderte im letzten Augenblick den beabsichtigten Massenmord.
Neben den 1,5 Millionen Soldaten von Wehrmacht und SS wurden schon im September fünf Einsatzgruppen des 1939 geschaffenen Reichssicherheitshauptamtes (RSHA) mit zunächst 2000 Mann in Polen tätig. Ihre Aufgabe war es laut Protokoll einer Besprechung der Amtschefs vom 7. September, «die führende Bevölkerungsschicht in Polen so gut wie möglich unschädlich zu machen» – oder, wie Reinhard Heydrich, der Chef des RSHA, es tags darauf formulierte: «Die kleinen Leute wollen wir schonen, der Adel, die Popen (sic!) und die Juden müssen wir umbringen.» Die Zahl der Juden, die im September und Anfang Oktober 1939 durch Einsatzgruppen getötet wurden, ist unbekannt. Von der «Sondereinsatzgruppe» unter Obergruppenführer Udo von Woyrsch weiß man, daß sie allein bei dem größten Massaker, das zwischen dem 16. und dem 19. September in Przemyol und Umgebung stattfand, 500 bis 600 Juden umgebracht hat. Insgesamt sollen bis Ende 1939 7000 Juden getötet worden sein. Flankiert wurden die Aktivitäten von Wehrmacht, SS und Einsatzgruppen durch Todesschwadronen des Volksdeutschen Selbstschutzes, die in den ersten Monaten der Besatzung 20.000 bis 30.000 polnische Staatsangehörige ermordeten.
Auf polnischer Seite gab es im September eine Reihe von Ausschreitungen gegen die deutsche Minderheit, denen etwa 2000 Menschen zum Opfer fielen, davon bis zu 300 am 3. September in Bromberg, wo auf beiden Seiten paramilitärische Verbände tätig wurden. Zu einer tiefen Zäsur für Polen wurde der 17. September: der Tag, an dem Staatspräsident Moocicki, der Oberbefehlshaber Rydz-Smigly und die Regierung Slawoj-Skladkowski auf rumänisches Territorium übertraten und die Rote Armee auf breiter Front die Grenze nach Ostpolen überschritt, um, wie es offiziell hieß, den Schutz der Ukrainer und Weißrussen zu übernehmen. Drei Tage später kapitulierten die Armeen «Posen» und «Pomerellen» an der Bzura, am 27. September fiel Warschau.
Am folgenden Tag unterzeichneten Ribbentrop und Molotow in Moskau einen deutsch-sowjetischen Grenz- und Freundschaftsvertrag. In einem Geheimen Zusatzprotokoll wurde die Demarkationslinie zwischen der deutschen und der sowjetischen Demarkationslinie von der Weichsel weiter ostwärts an den Bug verlegt und zum Ausgleich ganz Litauen bis auf einen südwestlichen Zipfel der sowjetischen Interessensphäre zugeschlagen. Deutschland besetzte damit 48 Prozent des polnischen Staatsgebietes mit 63 Prozent der Bevölkerung, die Sowjetunion 51 Prozent mit 37 Prozent der Bevölkerung. Das von der Roten Armee kontrollierte Ostpolen war der Teil des Landes, wo Polen und Juden gegenüber Ukrainern und Weißrussen in der Minderheit waren.
Die letzten polnischen Verbände kapitulierten am 5. Oktober. Die Verluste der polnischen Armee beliefen sich auf 66.300, die des deutschen Militärs auf 10.572, die der Roten Armee auf 737 Gefallene. Fast 700.000 polnische Soldaten befanden sich in deutscher, mehr als 200.000 in sowjetischer Kriegsgefangenschaft. Etwa 110.000 Offiziere und Soldaten konnten Polen über Litauen, Lettland, Ungarn und Rumänien verlassen. Als die Waffen schwiegen, gab es bereits eine polnische Exilregierung unter General Wladyslaw Sikorski. Sie hatte sich am 30. September in Paris gebildet, nachdem Präsident Moocicki zwei Tage zuvor im rumänischen Exil von seinem Amt zurückgetreten war. Ihren stärksten Rückhalt bildete die Exilarmee. Sie rekrutierte sich aus jenem Teil der Streitkräfte, der 1939 aus Polen zuerst nach Ungarn und Rumänien und von dort nach Frankreich und Großbritannien gelangt war, außerdem aus Exilpolen – zusammen etwa 84.000 Mann. Dazu kamen erfahrene Geheimdienstoffiziere, die den Alliierten während des Krieges wertvolle Dienste leisten sollten.
Die deutsche Bevölkerung hatte am 1. September keinerlei «Kriegsbegeisterung» gezeigt; der rasche Sieg wurde mit Erleichterung, ja vielfach enthusiastisch aufgenommen. Um das Schicksal des polnischen Volkes kümmerte sich die «Volksmeinung» im Reich nicht. Dem Triumph der deutschen Waffen folgte die (nach 1772, 1793, 1795 und 1815) fünfte Teilung Polens: Deutschland gliederte sich ein großes Territorium im Westen und Norden an; die Sowjetunion tat dasselbe im Osten. Der verbleibende Rest, das «Generalgouvernement», zu dem auch Warschau gehörte, bildete fortan eine Art «Nebenland» des Reiches.
Am 25. Oktober 1939 endete auf Weisung Hitlers die Militärverwaltung in Polen. Da die Voraussetzungen für den Aufbau einer staatlichen Zivilverwaltung noch gar nicht geschaffen waren, hinterließ die Entscheidung des «Führers» bis in das Frühjahr 1940 hinein, um den Historiker Martin Broszat zu zitieren, «ein vielfach gänzlich ungeklärtes Nebeneinander von staatlich-verwaltungsmäßigen, polizeilichen und Parteizuständigkeiten»; sie «eröffnete ein anarchisches Rechtsvakuum und bildete so die wohl keineswegs unbeabsichtigte Grundlage für wochenlang andauernde, mehr oder minder verfahrenslose ‹Großaktionen› gegen Polen und Juden.»
Als wichtigste Aufgabe künftiger deutscher Polenpolitik nannte Hitler am 6. Oktober vor dem Reichstag «eine Ordnung der ethnographischen Verhältnisse, d.h. eine Umsiedlung der Nationalitäten, so, daß sich am Abschluß der Entwicklung bessere Trennungslinien ergeben, als es heute der Fall ist». Die Durchführung dieses Programms oblag in erster Linie der Partei, der SS, dem SD und den Einsatzgruppen. Sie widmeten sich zunächst der massenhaften Exekution von Juden und Angehörigen der polnischen Intelligenz, darunter Professoren, Pfarrern, Lehrern, Rechtsanwälten, Ärzten und Gutsbesitzern, häufig in Form von Geiselerschießungen. Einen frühen Höhepunkt dieser Liquidierung bildete die «Außerordentliche Befriedungsaktion» vom Frühjahr 1940, in deren Verlauf mehrere tausend Intellektuelle, Künstler und Politiker, unter den letzteren der ehemalige Sejmmarschall Maciej Rataj, erschossen wurden. Um in den neuen Reichsteilen, dem Reichsgau Wartheland, dem Reichsgau Danzig-Westpreußen, dem neuen ostpreußischen Regierungsbezirk Zichenau, dem Ostpreußen angegliederten Gebiet um Suwalki und dem vergrößerten Oberschlesien, Volksdeutsche, vor allem Baltendeutsche aus Estland und Kurland sowie Wolhyniendeutsche aus der Ukraine und Bessarabiendeutsche aus Rumänien, ansiedeln zu können, wurden bis Ende 1939 etwa 88.000 Polen, Juden und Zigeuner ins Generalgouvernement deportiert. Auf dem Boden des Deutschen Reiches sollten nach dem Willen Hitlers künftig nur noch Deutsche leben. Mit der Verwirklichung dieser Absicht beauftragte er den Reichsführer SS, Heinrich Himmler, der am 7. Oktober 1939 zum Reichskommissar für die Festigung des deutschen Volkstums ernannt wurde.
Im Mai 1940 faßte Himmler die Folgerungen für die Polen im Generalgouvernement in einer von Hitler ausdrücklich genehmigten Denkschrift über die «Behandlung der Fremdvölkischen im Osten» zusammen. Über den Status eines Helotenvolkes sollten die Polen, soweit sie nicht «guten Blutes» und damit germanisierbar waren, nicht mehr hinausgelangen. Für die nichtdeutsche Bevölkerung des Ostens durfte es keine höhere Schule als die vierjährige Volksschule geben. «Das Ziel dieser Volksschule hat lediglich zu sein: Einfaches Rechnen bis höchstens 500, Schreiben des Namens, eine Lehre, daß es ein göttliches Gebot ist, den Deutschen gehorsam zu sein und ehrlich, fleißig und brav zu sein. Lesen halte ich nicht für erforderlich.» Eltern der Kinder «guten Blutes» sollten entweder nach Deutschland gehen und dort loyale Staatsbürger werden oder ihre Kinder hergeben. «Sie werden dann wahrscheinlich keine weiteren Kinder mehr zeugen, so daß die Gefahr, daß dieses Untermenschenvolk des Ostens durch solche Menschen guten Blutes eine für uns gefährliche, ja ebenbürtige Führerschicht erhält, erlischt.» Der großen Mehrheit der polnischen Bevölkerung, die sich nicht «eindeutschen» ließ, blieb nur eine Perspektive: Sie mußte «als führerloses Arbeitsvolk zur Verfügung stehen und Deutschland jährlich Wanderarbeiter und Arbeiter für besondere Arbeitsvorkommen (Straßen, Steinbrüche, Bauten) stellen.»
Die Praxis entsprach den Vorgaben. Wer als deutsch oder eindeutschungsfähig galt, wurde in eine der vier Gruppen der Deutschen Volksliste aufgenommen: Sie reichte von bekennenden Angehörigen der bisherigen deutschen Minderheit über Deutschstämmige, die sich nicht als Volksdeutsche betätigt hatten, und im Polentum aufgegangene, wieder eindeutschungsfähige Deutschstämmige bis hin zu wieder eindeutschungsfähigen volksdeutschen «Renegaten». Die überwiegende Mehrheit der Polen hatte keine Aussicht, ins Herrenvolk aufzusteigen. Die deutsche Herrschaft über Polen war die einer Kolonialmacht, die in den Unterworfenen rassisch minderwertige Wesen sah. Im Unterschied zur wilhelminischen Kolonialherrschaft in Übersee übten in Polen aber nicht Offiziere und Beamte, sondern irreguläre Sondergewalten die eigentliche Macht aus: die NSDAP, die in Hans Frank den Generalgouverneur mit Sitz im Krakauer Wawel stellte, und die SS, die Hitlers Volkstumspolitik exekutierte. Die Entmachtung der klassischen Bürokratie war gewollt. Das hergebrachte Denken in den Kategorien von Normen, Regeln und Kompetenzen, von dem die höhere Beamtenschaft geprägt war, sollte keine Chance haben, der Dynamik der rassischen Umwälzung Fesseln anzulegen.
In anderen Formen als die Unterjochung «ihres» Teiles von Polen durch die Deutschen vollzog sich die Sowjetisierung Ostpolens. Um ihrer Herrschaft den Anschein einer demokratischen Legitimation zu verschaffen, verfügte die Sowjetisierung im Oktober 1939 die «Wahl» von Volksversammlungen, die prompt um die Aufnahme des betreffenden Gebiets in die ukrainische beziehungsweise belorussische Sowjetrepublik baten. Es folgten die konsequente Entpolonisierung der annektierten Territorien, die Verstaatlichung der Industrie und, wenig später, die Kollektivierung der Landwirtschaft. Die gesellschaftlichen Veränderungen gingen einher mit Erschießungen, Verhaftungen, Aburteilungen und, beginnend im Februar 1940, mit Deportationen in den Osten und den Süden der Sowjetunion. Insgesamt wurden bis Juni 1941 zwischen 760.000 und 1,25 Millionen Menschen aus Ostpolen ausgesiedelt, wobei viele, vor allem Kleinkinder, während des Transports in eisiger Kälte umkamen. Unter den Deportierten überwogen zunächst Angehörige der Oberschicht, des bisherigen Staatsapparats und der Intelligenz. Im Juni 1940 stellten Juden, meist Flüchtlinge aus dem deutsch beherrschten Teil des Landes, im Juni 1941 ukrainische und weißrussische «Nationalisten» das Gros der Vertriebenen.
Von allen Gewalttaten des Sowjetregimes in Ostpolen aus den Jahren 1939 bis 1941 hat sich die Ermordung von Tausenden polnischer Offiziere im Frühjahr 1940 der kollektiven Erinnerung am stärksten eingeprägt. Am 5. März 1940 beschloß das Politbüro der KPdSU unter Vorsitz Stalins die Erschießung von 25.700 «Offizieren, Beamten, Gutsbesitzern, Polizisten, Gendarmen und Gefängniswärtern» aus Polen, die sich in sowjetischen Kriegsgefangenenlagern sowie in ukrainischen und weißrussischen Gefängnissen befanden. Insgesamt wurden 21.300 Personen exekutiert. Von den Offizieren fanden 4000 bei Charkow, 6300 in Mednoje bei Kalinin/Twer und 4000 in Katyn den Tod. Es gab weitere, nicht zu beziffernde Massenerschießungen von Polen, so in Bykownia bei Kiew, wo die Leichen der Polen neben Opfern des Großen Terrors von 1937/38 verscharrt wurden.
Die Leichen von Katyn wurden im Frühjahr 1943 von zurückweichenden deutschen Truppen entdeckt und der Weltöffentlichkeit als schlagendes Beispiel für den verbrecherischen Charakter des Bolschewismus präsentiert. Das geschah in dem gleichen Jahr, in dem die systematische Ermordung der europäischen Juden durch das nationalsozialistische Deutschland ihren furchtbaren Höhepunkt erreichte. Von diesem Völkermord sollte die Welt nichts erfahren – so wenig wie vom Ausmaß der Vernichtung der polnischen Oberschicht in dem Teil des Landes, der deutscher Herrschaft unterworfen war.[1]
Von der «drôle de guerre» zum Kampf um Norwegen
Die Westmächte Frankreich und Großbritannien leisteten Polen so gut wie keine militärische Hilfe. Paris hatte Warschau zwar versprochen, am 15. Tag nach Kriegsbeginn mit einer entlastenden Großoffensive zu beginnen, schickte dann aber lediglich einige Verbände in das Vorfeld des «Westwalls», dem seit 1938 errichteten deutschen Pendant zur Maginotlinie. Es gab einige Gefechte, die nach Angaben der Wehrmacht bis zum 19. Oktober 196 Tote auf deutscher Seite forderten. Die ersten beiden britischen Divisionen landeten erst Anfang Oktober in Frankreich, gefolgt von zwei weiteren Divisionen in der dritten Oktoberwoche.
Wirkungsvoller war die von Großbritannien sofort verhängte Seeblockade, die wie im Ersten Weltkrieg Deutschland vom Weltverkehr absperren sollte. Im Seekrieg verbuchten mal die Deutschen, mal die Briten Erfolge: Deutsche U-Boote zerstörten im September im Bristol-Kanal den Flugzeugträger «Courageous» und im Oktober in der Bucht von Scapa Flow das Schlachtschiff «Royal Oak». Britische Kriegsschiffe beschädigten im Dezember das deutsche Panzerschiff «Graf Spee» so stark, daß sich der Kommandant zur Selbstversenkung vor der La-Plata-Mündung gezwungen sah. Die wichtigste Geste der Solidarität gegenüber Polen bestand darin, daß die beiden westlichen Demokratien ein «Friedensangebot», das Hitler ihnen in seiner Reichstagsrede vom 6. Oktober unterbreitete, zurückwiesen. Insgesamt war der Krieg im Westen in den ersten sieben Monaten das, was man in der angelsächsischen Welt alsbald als «Scheinkrieg» (phoney war) und in Frankreich als «komischen Krieg» (drôle de guerre) bezeichnete.
Hitler war im Herbst 1939 durchaus daran gelegen, mit einer Offensive im Westen den Entscheidungskampf herbeizuführen, er gab diese Absicht aber wegen der Wetterverhältnisse schließlich auf und vertagte die entsprechenden Pläne ins Frühjahr 1940. Damit entzog er den konservativen Oppositionskreisen, denen sich zeitweilig auch wieder der wankelmütige Generalstabschef Halder zugesellt hatte, die Grundlage für ihr Vorhaben, Hitler zu stürzen. Zur Ausführung gelangte hingegen am Abend des 8. November im Münchner Bürgerbräukeller ein Anschlag des württembergischen Schreiners Georg Elser – allerdings zu einem Zeitpunkt, als der «Führer» den Ort seiner alljährlichen Rede anläßlich des Jahrestages des Putsches von 1923 bereits wieder verlassen hatte. Hitler verdächtigte sogleich den britischen Geheimdienst, der Urheber des Attentats zu sein. Doch Elser war ein Einzelgänger. Über die Umsturzabsichten der konservativen Verschwörer war London informiert, doch die Regierung Chamberlain dachte nicht daran, den preußischen Frondeuren eine Waffenruhe oder ein strategisches Stillhalten für den Fall in Aussicht zu stellen, daß es in Berlin zum Regimewechsel kam.
Politische und militärische Bewegung gab es hingegen im Osten. Die Sowjetunion zwang Ende September Estland, Anfang Oktober auch Lettland und Litauen zu Beistands- und Handelsabkommen, die ihr Militärstützpunkte einräumten. Litauen erhielt bei dieser Gelegenheit das Gebiet um Wilna, das kurz zuvor bei der fünften Teilung Polens der Sowjetunion zugefallen war. Nur Finnland weigerte sich, dem sowjetischen Druck nachzugeben. Am 10. Oktober begannen außerordentliche Einberufungen von Reservisten, was faktisch auf die Mobilmachung hinauslief. Am 13. November wurden die Verhandlungen zwischen der finnischen und der sowjetischen Regierung abgebrochen. Am 30. November begann mit einem Angriff der Roten Armee der Winterkrieg. Tags darauf setzte Moskau im Grenzort Terijoki eine «Volksregierung der demokratischen Republik Finnland» unter dem aus Finnland stammenden Altbolschewisten Otto Wilhelm Kuusinen ein, mit der sie am 2. Dezember einen Freundschafts- und Beistandsvertrag schloß. In Helsinki trat Risto Ryti von der Fortschrittspartei an die Spitze der Regierung; der Sozialdemokrat Väinö Tanner wurde Außenminister. Feldmarschall Mannerheim blieb Vorsitzender des Verteidigungsrates und übernahm den Oberbefehl der Streitkräfte.
In den demokratisch gebliebenen Ländern Europas genoß der finnische Kampf gegen die sowjetische Aggression große Sympathien. Ein schwedisches Solidaritätskomitee gab die Parole aus «Finnlands Sache ist die unsere». Von den etwa 8000 Schweden, die sich als Freiwillige für Finnland meldeten, kamen freilich nur zwei verstärkte Bataillone an der Front zum Einsatz. Die sozialdemokratische Regierung unter Peer Albin Hansson in Stockholm hielt indessen strikt an ihrer Neutralitätspolitik fest; Außenminister Rickard Sandler, ein Befürworter einer Intervention zugunsten Finnlands, mußte Mitte Dezember zurücktreten und Christian Günther Platz machen, der die außenpolitischen Ansichten des Ministerpräsidenten teilte. Symbolisch blieb die Unterstützung durch den Völkerbund, an den Helsinki sich Anfang Dezember mit der Bitte um Hilfe gewandt hatte: Am 14. Dezember wurde die Sowjetunion als Aggressor aus der Weltorganisation ausgeschlossen. Die skandinavischen und die baltischen Mitglieder des Völkerbundrates beteiligten sich an der Abstimmung, dem letzten Lebenszeichen des Völkerbundes, nicht.
Die Neutralität der skandinavischen Staaten erwies sich auch als das entscheidende Hindernis für Hilfsexpeditionen aus Frankreich und Großbritannien, die Paris und London Helsinki bei Beginn des Krieges versprochen hatten. In beiden Ländern war die öffentliche Meinung eindeutig profinnisch. Das eigentliche Motiv für die Hilfszusagen aber war, wie der finnische Historiker Seppo Hentilä feststellt, ein anderes. «Die Westmächte waren vor allem an den nordschwedischen Erzlagerstätten interessiert. Sie befürchteten, daß sich dort entweder Deutschland oder – nach der Eroberung Finnlands – die Sowjetunion festsetzen könnte. Die Verlängerung des Winterkrieges war deshalb für Frankreich und Großbritannien von Vorteil. Schwedens Lage war kompliziert, ihm drohte von drei Seiten eine Besetzung. Obwohl die Westmächte für Schweden eine erträglichere Alternative als Deutschland oder die Sowjetunion waren, widersetzte es sich während der gesamten Zeit dem Transit einer Hilfsexpedition.»
Die finnischen Streitkräfte lieferten der massiv überlegenen Roten Armee einen zähen und zunächst sehr wirksamen Widerstand. Es gelang ihnen, einen Durchbruch des Aggressors im Zentrum der Karelischen Landenge bei Summa abzuwehren; ein Versuch, die gegnerischen Kräfte dort einzukesseln, forderte aber so viele Menschenleben, daß er am 23. Dezember abgebrochen werden mußte. Auf der Karelischen Landenge erstarrten die Kämpfe danach zum Stellungskrieg. Nördlich des Ladogasees war die finnische Strategie hingegen erfolgreich: Im größten Kessel wurden zwei sowjetische Divisionen eingeschlossen. Anfang Januar 1940 vernichteten finnische Truppen die motorisierte 44. Division der Roten Armee und schlossen weitere ein.
Erst Anfang Februar konnten die Sowjetverbände unter Oberbefehl von Verteidigungskommissar Marschall Woroschilow auf der Karelischen Landenge größere Durchbrüche erzielen. Am 23. Februar ließ die Sowjetführung auf dem Weg über Stockholm die finnische Regierung über ihre Friedensbedingungen informieren. Finnland sollte die Halbinsel Hanko auf dreißig Jahre verpachten, die gesamte Karelische Landenge einschließlich der Stadt Wiborg sowie die West- und Nordseite des Ladogasees an die Sowjetunion abtreten. Die finnische Regierung wollte darauf nicht eingehen und bat abermals die Westmächte um Hilfe, die daraufhin versprachen, bis April eine Hilfsexpedition von über 10.000 Mann zu entsenden. Doch wiederum weigerte sich Stockholm, britischen und französischen Truppen den Durchmarsch zu gestatten. Da Feldmarschall Mannerheim eine Fortsetzung des Kampfes für unmöglich hielt, beschloß die Regierung am 29. Februar, Friedensverhandlungen aufzunehmen. Paris und London reagierten mit einem neuen Hilfsangebot, das auf finnischer Seite geprüft, aber als unzureichend bewertet wurde. Nach abermaligen Erfolgen der Roten Armee waren die Finnen schließlich bereit, zusätzlichen Annexionsforderungen in Kuusamo und Salla zuzustimmen. Am 13. März wurde in Moskau der Friedensvertrag geschlossen; am 14. März trat er in Kraft. Die finnischen Streitkräfte hatten etwa 24.000, die Rote Armee nach eigenen Angaben 49.000 Gefallene zu beklagen.
Die Gebietsverluste Finnlands wogen schwer, aber sein wichtigstes Kampfziel hatte das Land erreicht: die Behauptung seiner Selbstständigkeit. Diese Erfahrung schweißte die Finnen fester zusammen; im Ergebnis bewirkte sie so etwas wie eine Neubegründung der finnischen Nation. Doch nicht nur in Finnland hatte der Winterkrieg weitreichende Wirkungen. Für die Sowjetunion lautete die Lektion, daß das Ziel, Finnland zu erobern und in eine Sowjetrepublik zu verwandeln, ihre Kräfte einstweilen überstieg. Das Deutschland Adolf Hitlers folgerte aus den Ereignissen des Winters 1939/40, daß es für die Wehrmacht gegebenenfalls ein Leichtes sein müßte, die Rote Armee zu bezwingen.
In Frankreich löste das schließliche Nachgeben Finnlands eine schwere Regierungskrise aus. In einer Geheimsitzung beider Kammern der Nationalversammlung wurde der Regierung Daladier vorgehalten, daß sie Finnland nicht wirksam zu Hilfe gekommen sei. Bei einer Vertrauensabstimmung in der Deputiertenkammer votierten am 20. März 239 Abgeordnete für und einer gegen die Regierung; 300 Parlamentarier enthielten sich der Stimme. Daladier zog aus dieser politischen Niederlage die Konsequenz: Er trat nach fast zweijähriger Amtszeit zurück. Tags darauf, am 21. März, übernahm der bisherige Finanzminister Paul Reynaud, seit jeher ein scharfer Kritiker jedes «apaisement» gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland, das Amt des Ministerpräsidenten und zugleich das des Außenministers. Daladier blieb Verteidigungsminister und verhinderte als solcher, daß der Militärreformer Charles de Gaulle, der großen Anteil an Reynauds kämpferisch gehaltener Regierungserklärung hatte, zum Sekretär des Militärkabinetts benannt wurde. Bei der Abstimmung über die Vertrauensfrage in der Deputiertenkammer erhielt Reynaud am 22. März nur eine Stimme über der absoluten Mehrheit: 268 Ja-Stimmen standen 156 Nein-Stimmen und 111 Enthaltungen gegenüber. Das Votum war ein getreues Spiegelbild der inneren Zerrissenheit Frankreichs im Frühjahr 1940.
Auch in London zeitigte der Winterkrieg seine Wirkungen. Winston Churchill hatte als Erster Lord der Admiralität, das heißt als Marineminister, seit Kriegsbeginn darauf gedrängt, die Neutralität Norwegens zu ignorieren und seine Küstengewässer zu verminen – und das nicht nur, um einem deutschen Zugriff zuvorzukommen und das Reich durch Sperrung der Erzzufuhr aus Nordschweden nachhaltig zu schwächen, sondern um Norwegen, ja möglichst ganz Skandinavien in die britische Interessensphäre einzubeziehen. Die Verletzung des Völkerrechts schien Churchill um eines höheren Gutes willen gerechtfertigt: der Sicherheit der Freiheit der freien Völker, an ihrer Spitze des britischen. Der sowjetische Angriff auf Finnland Ende November 1939 bestärkte die Admiralität und den Marineminister in ihrer Überzeugung von der strategischen Bedeutung Skandinaviens. Zur Forderung nach der Verminung der norwegischen Küstengewässer trat nun verstärkt die nach der Besetzung von Bergen und vor allem von Narvik, wo schwedisches Erz auf deutsche Schiffe geladen wurde.
Seinen Regierungschef Neville Chamberlain hatte Churchill von der strategischen Notwendigkeit eines offensiven Vorgehens in der nördlichen Nordsee und im Europäischen Nordmeer überzeugt, als der neue französische Ministerpräsident Paul Reynaud am 28. März 1940 zum vierten Treffen des interalliierten Großen Kriegsrates nach London kam. Bei dieser Zusammenkunft verpflichteten sich beide Staaten, keinen Separatfrieden abzuschließen und nach dem Krieg weiter zur Sicherung des Friedens zusammenzuarbeiten. Das Hauptthema aber bildete die schwedische Erzzufuhr nach Deutschland. Auf Betreiben Reynauds wurde Schweden aufgefordert, diese Lieferungen einzustellen. Außerdem einigten sich die Verbündeten darauf, die norwegischen Küstengewässer zu verminen und ein Expeditionsheer nach Skandinavien zu schicken, das erst Narvik sowie Trondheim, Bergen und Stavanger, dann das schwedische Eisenerzgebiet mitsamt der Hafenstadt Luleå am Bottnischen Meerbusen besetzen sollte. Die Einzelheiten wurden bei einem Besuch Churchills in Paris am 5. April festgelegt.
Am frühen Morgen des 8. April, noch bevor die Regierung in Oslo informiert wurde, erfolgte die Verminung der norwegischen Küstengewässer. Am 10. April sollte ein britisch-französisches Expeditionskorps Narvik besetzen und bis zur schwedischen Grenze vorstoßen. Doch ehe der Plan in die Tat umgesetzt werden konnte, handelte Deutschland. Am 9. April besetzte die Wehrmacht Dänemark, das sich nach kurzem Widerstand in die vollendeten Tatsachen schickte, und begann mit der Besetzung Norwegens. Entsprechende Überlegungen hatte der Oberbefehlshaber der Kriegsmarine, Admiral Raeder, schon im Oktober 1939 angestellt. Am 14. Dezember empfing Hitler auf Wunsch Raeders Vidkun Quisling, den ehemaligen Kriegsminister und Führer der rechtsradikalen Partei Norwegens, des Nasjonal Samling, der ihn auf die Gefährdung der norwegischen Neutralität durch Großbritannien hinwies. Noch am gleichen Tag erging Hitlers Befehl zur Ausarbeitung einer Studie über eine Militäraktion in Skandinavien. Im Januar 1940 wurde daraus das Unternehmen «Weserübung». Am 2. April legte Hitler den genauen Zeitplan fest.
In Norwegen stieß die Okkupation auf sehr viel größeren Widerstand als in Dänemark. Die deutschen Truppen konnten am 9. April zwar die wichtigsten Hafenstädte des Landes besetzen, der Kreuzer «Blücher» aber, der den Besatzungsstab mitsamt den Beamten der Gestapo an Land bringen sollte, wurde vom norwegischen Militär im Oslofjord versenkt, was es der Königsfamilie, der Regierung und zahlreichen Beamten und Abgeordneten ermöglichte, die Hauptstadt zu verlassen, sich nach Elverum zu begeben und die Goldvorräte der Staatsbank in Sicherheit zu bringen. Eine deutsche Kapitulationsforderung lehnte König Haakon VII., gestützt auf das Votum der Regierung des sozialdemokratischen Ministerpräsidenten Johan Nygaardsvold, am 9. April mit einem einzigen Wort, «Nei», ab. Das Nein galt auch dem deutschen Ansinnen, eine von Quisling gebildete «Regierung» als legitim anzuerkennen. Die Regierung Nygaardsvold erhielt am gleichen Tag vom Storting außerordentliche Vollmachten zur Fortsetzung des Kampfes.
Die britisch-französisch-exilpolnischen Verbände, die zwischen dem 14. und 18. April an der norwegischen Küste landeten, mußten sich an den meisten Orten angesichts des deutschen Vormarsches wieder einschiffen. Nur bei Narvik kam es zu einer heftigen Schlacht. Am 28. Mai fiel die Stadt in die Hände der Alliierten; am 8. Juni mußten sie sie wieder räumen und ihre letzten Einheiten aus Norwegen abziehen. Tags zuvor hatten König und Regierung sich von Tromsö aus ins Exil nach England begeben. Die norwegischen Verbände, die der deutschen Kriegsmarine, vor allem im Oslofjord und im Norden des Landes, schwere Verluste zugefügt hatten, stellten am 10. Juni den Kampf ein.
Hitlers Gefolgsmann Vidkun Quisling, der sich am 9. April selbst zum «Staatsminister» ernannt hatte, wurde von den Besatzern an die Spitze eines «Verwaltungsrates» gestellt. Dieser verdankte seine Entstehung einer Initiative von Richtern des Obersten Gerichtshofes, konnte aber keine Legitimität gewinnen und wurde Ende September aufgelöst. Die tatsächlichen Regierungsgeschäfte führte als Reichskommissar für die besetzten norwegischen Gebiete seit dem 24. Mai 1940 der Essener Gauleiter der NSDAP, Josef Terboven. Dem Reichskommissar stand ein von ihm berufener zwölfköpfiger kommissarischer Staatsrat zur Seite. Die politischen Parteien, außer Quislings Nasional Samling, löste Terboven auf. Im Februar 1942 ernannte er Quisling, obwohl dieser in der Bevölkerung über so gut wie keinen Rückhalt verfügte, zum Ministerpräsidenten.
In Dänemark blieb hingegen der König, Christian X., auf dem Thron und die Regierung im Amt. Die oberste Gewalt lag in den Händen des von Hitler ernannten Reichsbevollmächtigten – eines Amtes, das zunächst, bis Oktober 1942, der Diplomat Cécil von Renthe-Fink, danach der SS-Gruppenführer Werner Best innehatte. Der sozialdemokratische Ministerpräsident Thorvald Stauning, der bis zu seinem Tod im Mai 1942 das Amt des Regierungschefs ausübte, erweiterte das Kabinett durch Einbeziehung liberaler und konservativer Politiker sowie parteiloser Beamter zu einer Regierung der nationalen Sammlung. Die Anpassung an das «Dritte Reich» drückte sich auch darin aus, daß Dänemark im November 1940 dem Antikominternpakt beitrat und Maßnahmen gegen die Kommunisten im eigenen Lande ergriff. Innenpolitisch konnte sich die dänische Regierung durch solche Zugeständnisse bis zum Sommer 1943 ein hohes Maß an Autonomie sichern – ein höheres Maß als irgendein anderes von deutschen Truppen besetztes Land.
Der Verlierer des Wettlaufs um die Kontrolle über Skandinavien war, vorläufig jedenfalls, Großbritannien. Obwohl die Hauptverantwortung, wie Ian Kershaw feststellt, bei Churchill lag, mußte Chamberlain den politischen Preis für das gescheiterte Unternehmen zahlen. «Die Messer waren gewetzt, um den Premierminister zu stürzen, der versucht hatte, Hitler zu beschwichtigen. Churchill, dessen Warnungen aus dem politischen Abseits jetzt als prophetisch erschienen, hatte an Statur gewonnen. Anfang Mai hatte ein großer Teil von Chamberlains eigener Partei das Vertrauen in ihn verloren und sah in ihm nicht mehr die Führungspersönlichkeit, die Großbritannien im Krieg brauchte. Die Oppositionsparteien lehnten eine Zusammenarbeit mit ihm in einem Kriegskabinett kategorisch ab.» Nach dem Verlust einer Vertrauensabstimmung im Unterhaus trat Neville Chamberlain am 10. Mai 1940 zurück.
Als wahrscheinlicher Nachfolger galt vielen zunächst Außenminister Halifax, der jedoch, um die Sache der Regierung im Unterhaus vertreten zu können, erst auf seinen Sitz im Oberhaus hätte verzichten und sich in einer Nachwahl in die Commons wählen lassen müssen. Da er überdies selbst an seiner Eignung zum Kriegspremier zweifelte, verzichtete er noch am gleichen Tag auf die Krönung seiner politischen Karriere.
Damit war der Weg frei für den damals fünfundsechzigjährigen Winston Churchill. Wegen seines zweimaligen Parteiwechsels – 1904 von den Konservativen zu den Liberalen und 1924 zurück zu den Tories – haftete ihm der Ruf launenhafter Unbeständigkeit an; als Schatzkanzler der Jahre 1924 bis 1928 war er ein Minister ohne Fortune gewesen; als imperialistischer «diehard», der sich jedem Schritt in Richtung der Unabhängigkeit Indiens verbissen widersetzte, hatte er die gemäßigten Konservativen, die Liberalen und die Labour Party gegen sich aufgebracht. Aber sein beharrlicher Kampf gegen die Appeasementpolitik, seine Dynamik und Energie, seine rhetorische und schriftstellerische Brillanz sicherten ihm auch den Respekt seiner zahlreichen Gegner. Als er der Labour Party am 10. Mai eine Regierungsbeteiligung anbot, um sein Kriegskabinett auf eine breite politische Basis zu stellen, willigte diese ein. Der bisherige Oppositionsführer Clement Attlee wurde als Lordsiegelbewahrer Churchills Stellvertreter, der Labour-Politiker Hugh Dalton übernahm das Ministerium für wirtschaftliche Kriegführung, sein Parteifreund Herbert Morrison (bis zum Oktober 1940) das Ministerium für Versorgung. Lord Halifax blieb (bis zum Dezember 1940) Außenminister. Sein Vorgänger in diesem Amt, Anthony Eden, wurde Kriegsminister, der Pressemagnat Lord Beaverbrook Minister für die Flugzeugproduktion. Die Koordination der Verteidigung übernahm Churchill selbst.
Als Churchill am Abend des 10. Mai 1940 von König Georg VI. zum Premierminister ernannt wurde, hatte die erwartete Westoffensive der Wehrmacht gerade eben begonnen. Der Zweite Weltkrieg trat in eine neue Phase. Hitler suchte die Entscheidung im Krieg gegen die westlichen Demokratien just in dem Augenblick, in dem ihm mit Churchill ein Widersacher erwuchs, der bis zum äußersten entschlossen war, ihm die Stirn zu bieten und sein Reich in die Knie zu zwingen. Er habe nichts zu bieten außer «Blut, Mühsal, Tränen und Schweiß» (blood, toil, tears and sweat), rief der neue Premierminister in seiner ersten Unterhausrede am 13. Mai den Abgeordneten und dem britischen Volk zu. Es gelte Krieg zu führen gegen die monströseste Tyrannei der Geschichte – Krieg zu Wasser, zu Lande und in der Luft und mit einem einzigen Ziel, dem Sieg um jeden Preis, ohne den es kein Überleben für das britische Empire und all das gebe, wofür es stehe. Die Herausforderung, vor die Großbritannien acht Monate nach der Entfesselung des Zweiten Weltkriegs gestellt war, hätte nicht dramatischer und nicht treffender beschrieben werden können.[2]
Frankreichs Zusammenbruch: Der Westfeldzug
Der deutsche Angriff im Westen begann am frühen Morgen des 10. Mai. Von der Nordseeküste bis nach Luxemburg stieß die Wehrmacht unter Mißachtung der Neutralität der Niederlande, Belgiens und Luxemburgs nach Westen vor. Als erste stellten die Niederlande ihren Widerstand ein. Noch während der Kapitulationsverhandlungen wurde Rotterdam bombardiert, wo etwa 900 Menschen umkamen. Am 13. Mai begaben sich die Königin Wilhelmina und die Regierung ins Exil nach London. Am 15. Mai wurde die militärische Kapitulation vollzogen. Drei Tage später übernahm der ehemalige Führer der österreichischen Nationalsozialisten, Arthur Seyß-Inquart, das Amt des Reichskommissars für die Niederlande und begann mit der Errichtung einer deutschen Zivilverwaltung.
Die Niederringung Belgiens dauerte etwas länger. Bis zum 16. Mai wurden die Festungen Lüttich, Namur und die Dyle-Stellung eingenommen, am 17. Mai Brüssel und tags darauf Antwerpen besetzt. Damit gelang es der Wehrmacht, die belgischen Truppen nördlich dieser Linie von britischen und französischen Verbänden abzuschneiden, die inzwischen von Frankreich aus in Belgien vorgerückt waren. Die belgische Regierung flüchtete zuerst nach Frankreich und dann nach England; König Leopold III. blieb im Lande, unterzeichnete am 28. Mai die Kapitulationsurkunde und kehrte danach, faktisch als Gefangener, in das Schloss Laeken zurück. General Alexander von Falkenhausen übernahm die Funktion des Militärbefehlshabers für Belgien, der Regierungspräsident Eggert Reeder die des Chefs der Militärverwaltung.
Luxemburg wurde, nachdem Großherzogin Charlotte und die Regierung sich ins Exil nach Großbritannien begeben hatten, faktisch annektiert und bildete fortan einen Teil des Gaus Mosel-Trier, der Anfang 1941 in Gau Moselland umbenannt wurde. Die Bevölkerung wurde einem rigorosen sprachlich-kulturellen Verdeutschungsprozeß unterworfen und, soweit männlich und in wehrpflichtigem Alter, zum Dienst in der Wehrmacht gezwungen. Etwa 100.000 französisch gesinnte Lothringer und Elsässer mußten das faktisch annektierte Gebiet verlassen: Sie wurden in das von Vichy regierte Frankreich ausgewiesen. Ein Generalstreik, mit dem sich die Luxemburger Ende August 1942 gegen die zuletzt genannte Maßnahme wehrten, bewirkte kein Einlenken der neuen Herren, sondern das Gegenteil: noch mehr Härte gegenüber den «Volksgenossen», die keine sein wollten.
Der Einmarsch in Frankreich erfolgte nicht dort, wo sich das Land in der Zwischenkriegszeit massiv befestigt hatte, an der Maginotlinie, sondern nördlich davon, über eine vom französischen Militär für unbezwingbar gehaltene natürliche Barriere, die Ardennen, hinweg. Sieben deutsche Panzerdivisionen der Heeresgruppe A unter General von Rundstedt konnten innerhalb von drei Tagen der neunten französischen Armee unter General Corap einen vernichtenden Schlag versetzen. Am 15. Mai fiel Sedan in deutsche Hände. Von diesem Brückenkopf aus stieß General Heinz Guderian mit seinen Panzertruppen auf eigene Faust unverzüglich in Richtung Küste vor. Der französische Oberbefehlshaber Gamelin teilte Ministerpräsident Reynaud daraufhin mit, daß das Militär die Sicherheit von Paris nicht mehr gewährleisten könne. Im nördlichen und östlichen Frankreich setzte eine Massenflucht der Zivilbevölkerung ein, was zur Verstopfung zahlreicher Straßen führte. Im Juni befanden sich in ganz Frankreich etwa 8 Millionen Menschen auf der Flucht.
Von Reynaud über den Ernst der Lage informiert, begab sich Premierminister Churchill am 16. Mai nach Paris, das sich dem Zustand der Panik näherte. Der erwartete Fall der Hauptstadt verzögerte sich aber, da die Deutschen zunächst zur Kanalküste vorrücken wollten. Am 19. Mai bildete Reynaud die Regierung um: Der Ministerpräsident übernahm selbst das Verteidigungsministerium. Der bisherige Innenminister Daladier wechselte ins Außenministerium, der energische Kolonialminister Georges Mandel ins Innenministerium. Stellvertretender Ministerpräsident wurde ein Held des Ersten Weltkriegs, der vierundachtzigjährige Marschall Philippe Pétain, der «Sieger von Verdun». General Gamelin, dem Reynaud die Hauptschuld an dem bisherigen militärischen Debakel gab, wurde als Oberkommandierender vom früheren Generalstabschef Weygand abgelöst. Weygand war ein Anhänger der äußersten Rechten und stand, wie Pétain, der parlamentarischen Demokratie der Dritten Republik innerlich ablehnend gegenüber.
Am gleichen Tag, an dem das große Revirement in Paris stattfand, dem 19. Mai, erreichten deutsche Panzerverbände unter General von Kleist Abbéville an der Sommemündung. Damit war der «Sichelschnitt» vollzogen: Die britisch-französischen Truppen, die sich nördlich der Sommelinie befanden, hatten keine Landverbindung mehr zum Rest der alliierten Streitkräfte. Fünf Tage später, am 24. Mai, als die Deutschen bereits 15 Kilometer vor Dünkirchen standen, wurde der Vormarsch jäh unterbrochen: Hitler entschied, in Übereinstimmung mit Rundstedt, aber im Widerspruch zur Meinung anderer Generäle, darunter Brauchitsch und Halder, die Panzertruppe zu schonen und die Einschließung von Dünkirchen von der Seeseite her der Luftwaffe Hermann Görings zu überlassen.
Die unverhoffte Pause im Panzerkrieg nutzte der britische General Lord Gort, um auf eigene Faust und entgegen allen den Franzosen gegebenen Versprechungen, aber mit nachträglicher Zustimmung von Kriegsminister Eden, das britische Expeditionskorps aus der britischen Front herauszulösen, nach Dünkirchen zurückzuziehen und dort einen Brückenkopf zu bilden. Am 27. Mai begann die Einschiffung nach Großbritannien. Die deutsche Luftwaffe störte die (von den Briten so genannte) «Aktion Dynamo» durch heftige Angriffe, konnte sie aber nicht verhindern und mußte selbst schwere Verluste hinnehmen, die ihr die Royal Air Force zufügte. Bis zum 4. Juni wurden 224.301 britische sowie 111.172 französische und belgische Soldaten über den Ärmelkanal evakuiert; ihre Waffen und ihr Kriegsmaterial mußten sie (anders als die in Frankreich gelandeten und von dort nach England gelangten kanadischen Truppen) auf dem Kontinent zurücklassen. Das «Wunder von Dünkirchen» bedeutete nicht mehr und nicht weniger als die vorläufige Rettung Großbritanniens: Ohne die Rückführung des Gros des Expeditionskorps hätte das Vereinigte Königreich den Krieg gegen Deutschland kaum fortsetzen können.
In der zweiten Maihälfte setzten sowohl die britische als auch die französische Regierung große Hoffnungen auf Roosevelt. Churchill bat den amerikanischen Präsidenten in Briefen vom 15. und 18. Mai eindringlich, Großbritannien zu unterstützen, weil dieses andernfalls nach einer Niederlage Frankreichs in größte Bedrängnis geraten würde. Roosevelt antwortete am 24. Mai freundlich, aber mit Rücksicht auf die starken isolationistischen Strömungen in den USA ausweichend. Alles, was er versprechen wollte, war ein Versuch, auf Mussolini einzuwirken, um Italien aus dem Krieg herauszuhalten.
Auf eine solche diplomatische Hilfeleistung des amerikanischen Präsidenten drängte auch Paul Reynaud, der am 26. Mai zu Verhandlungen mit der britischen Regierung in London eintraf. Ein entsprechendes britisch-französisches Ersuchen erhielt Roosevelt am 27. Mai. Er reagierte sofort und teilte dem italienischen Diktator mit, daß er bereit sei, die Rolle eines Mittelsmanns zu übernehmen und gegebenenfalls italienische Ansprüche im Mittelmeerraum an die Alliierten weiterzuleiten. Außerdem verbürgte er sich für die gleichberechtigte Teilnahme Italiens an einer Friedenskonferenz nach Ende des Krieges. Der Versuch schlug fehl: Am 28. Mai lehnte der «Duce» das Angebot ab.
Wäre es nach Reynaud und Lord Halifax gegangen, hätten sich Großbritannien und Frankreich auch direkt an Italien gewandt. Churchill aber entschied sich am 27. Mai nach einigem Schwanken endgültig gegen einen solchen Schritt. Die Zugeständnisse, die der französische Ministerpräsident befürwortete – neben einem großzügigen kolonialpolitischen Entgegenkommen in Afrika eine Neutralisierung des Suezkanals und Gibraltars sowie eine Entmilitarisierung Maltas – erschienen dem Premierminister unvereinbar mit den Lebensinteressen des britischen Empires. Der «Duce» als Vermittler gegenüber dem «Führer»: Was einigen britischen und französischen Politikern offenbar vorschwebte, lief aus Churchills Sicht auf eine Bitte um Waffenstillstand hinaus – ein Ansinnen, dem er sich verweigern mußte. Damit lag die Position Großbritanniens fest: Sie blieb unnachgiebig.
Als am 4. Juni die «Operation Dynamo» abgeschlossen wurde und Dünkirchen in deutsche Hände fiel, befanden sich bereits 1,2 Millionen Soldaten – Franzosen, Briten, Belgier und Niederländer – in deutscher Kriegsgefangenschaft. Am frühen Morgen des folgenden Tages begann die eigentliche Schlacht um Frankreich und damit die zweite Phase des deutschen Westfeldzugs. Mehr als 100 deutschen Divisionen standen weniger als 50 sofort einsatzfähige französische Divisionen gegenüber. Die Luftüberlegenheit Deutschlands war erdrückend, ebenso die der deutschen Panzertruppen. Zu großen Schlachten kam es nicht mehr. Die Wehrmacht drang hinter dem Rücken der Maginotlinie nach Süden vor; sie eroberte das Elsaß und die Normandie; am 9. Juni wurde Rouen eingenommen. Tags darauf erklärte Italien, um bei der zu erwartenden Beute nicht leer auszugehen, Frankreich und Großbritannien den Krieg. Militärischen Ruhm konnten die Italiener freilich nicht an ihre Fahnen heften: Auf eine operative Kriegführung war Italien nicht vorbereitet.
Am 5. Juni, dem letzten Tag der neuen deutschen Offensive, hatte Paul Reynaud seine Regierung nochmals umgebildet. An Stelle seines Widersachers Daladier übernahm der Ministerpräsident selbst das Außenministerium. In seiner Eigenschaft als Verteidigungsminister machte er einen Anwalt des unbedingten Durchhaltewillens, den nunmehrigen Brigadegeneral Charles de Gaulle, zum Unterstaatssekretär. De Gaulle wurde dadurch zum Widerpart Paul Baudouins, der als Unterstaatssekretär im Quai d’Orsay in der Gegenrichtung, im defätistischen Sinn, auf den Regierungschef einwirkte – wie sich zeigen sollte, mit mehr Erfolg als de Gaulle.
Am 10. Juni, dem Tag des italienischen Kriegseintritts, beschloß die Regierung Reynaud, Paris zu verlassen. In den folgenden drei Tagen fanden nochmals, in Gegenwart Churchills, zwei Treffen des Obersten Kriegsrats der Alliierten, zuerst in der Nähe von Orléans, dann bei Tours, statt. Die französische Bitte um einen Einsatz der Royal Air Force mußte der Premierminister ablehnen, da er die Flugzeuge zur Verteidigung seines Landes brauchte. Am 13. Juni ließen Reynaud und Churchill ein gemeinsames Hilfeersuchen an Präsident Roosevelt herausgehen. Tags darauf besetzten deutsche Truppen Paris, das unmittelbar davor zur «Offenen Stadt» erklärt worden war. Die Regierung Reynaud verlegte ihren Sitz nach Bordeaux – in dieselbe Stadt, in der schon eine andere französische Regierung im Zeichen der nahenden Niederlage im deutsch-französischen Krieg von 1870/71 ihren provisorischen Sitz aufgeschlagen hatte.
Der Fall von Paris wirkte in hohem Maß demoralisierend, und zwar nicht nur auf die Masse der Franzosen, sondern auch auf ihre politische und militärische Führung. Pétain und Weygand hatten schon in den Tagen zuvor weiteren Widerstand für unmöglich erklärt, wobei Weygand aber darauf bestand, daß nicht das Heer, sondern der Staat insgesamt kapitulieren müsse, womit der Oberkommandierende die Verantwortung der Politiker betonen wollte. Die Antwort Roosevelts, die am 16. Juni im Ministerrat erörtert wurde, trug nicht dazu bei, die Stimmung zu heben. Der Präsident versprach zwar Waffenlieferungen in steigendem Umfang, einen Kriegseintritt der USA aber konnte er nicht in Aussicht stellen.
Das Kabinett Reynaud sah sich nun vor der Alternative, entweder den Kampf von Nordafrika aus fortzusetzen oder die Deutschen zu bitten, Frankreich die Bedingungen eines Waffenstillstandes mitzuteilen. Ein britisches Angebot, eine «Union» zwischen beiden Staaten mit gemeinsamer Staatsangehörigkeit, einer gemeinsamen Regierung und einem gemeinsamen Heer zu bilden, stieß, obwohl der Ministerpräsident sich zu seinem Fürsprecher machte, auf ungläubiges Staunen und breite Ablehnung. Reynaud neigte zwar persönlich zum Weiterkämpfen an der Seite Großbritanniens, gewann aber den Eindruck, daß er nicht mehr die Mehrheit der Minister auf seiner Seite hatte, und erklärte auf Drängen des Präsidenten der Republik, Albert Lebrun, seinen Rücktritt. Zum Nachfolger ernannte Lebrun noch am 16. Juni den populärsten aller Franzosen, Marschall Pétain. Dieser bildete ein Kabinett, in dem die Defätisten das Sagen hatten: Weygand wurde Verteidigungsminister, Baudouin Außenminister, der ins Friedenslager übergewechselte Admiral François Darlan Marineminister. Der stellvertretende Ministerpräsident Camille Chautemps, der großen Anteil am Rücktritt Reynauds hatte, behielt diesen Posten.
Die Bitte des Ministerrates, Deutschland möge Frankreich seine Bedingungen für einen Waffenstillstand mitteilen, wurde gegen Mitternacht beschlossen und Hitler über den spanischen Botschafter in Frankreich zugeleitet. In einer Rundfunkansprache erklärte Pétain am folgenden Tag seinen Landsleuten, daß Frankreich den Kampf einstellen müsse. Die Rede wirkte wie eine Anweisung, den Deutschen ab sofort keinen Widerstand mehr zu leisten. Die meisten Truppeneinheiten legten daraufhin ihre Waffen nieder. Die Wehrmacht konnte Städte wie Cherbourg, St. Étienne und Lyon kampflos einnehmen; die Panzertruppe des Generals Guderian stieß, von Verdun kommend, bis zur schweizerischen Grenze vor. Am 18. Juni traf sich Hitler mit Mussolini in München, um die Waffenstillstandsbedingungen für Frankreich mit ihm abzustimmen. Die weit ausgreifenden Forderungen des «Duce» nach Nizza, Korsika, großen Teilen Nordafrikas, darunter Tunesien und Französisch-Somaliland, außerdem nach der Übergabe der französischen Flotte und Luftwaffe an Italien, wies Hitler zurück: Ihm lag daran, eine Fortsetzung des Krieges durch die französische Flotte und in den Kolonien zu verhindern und aus dem Frankreich Pétains einen loyalen Satellitenstaat zu machen.
Der greise Marschall hatte, als er Deutschland um Verhandlungen über einen Waffenstillstand bat und bewußt darauf verzichtete, die Annahme der deutschen Bedingungen, entsprechend dem Beschluß des Obersten Kriegsrates der Alliierten vom 28. März 1940, von einer Zustimmung Großbritanniens abhängig zu machen, vermutlich die Mehrheit der Franzosen hinter sich. Die Niederlage war eine Tatsache, und sie hatte eine lange Vorgeschichte, die sich kurzfristig nicht mehr korrigieren ließ. Frankreich hatte sich auf den Schutz verlassen, den ihm die Befestigungen der Maginotlinie zu gewähren schienen; es hatte, entgegen den beharrlichen Mahnungen Charles de Gaulles, keine schlagkräftige, zur offensiven Kriegführung fähige Panzertruppe aufgebaut und seine Luftwaffe vernachlässigt; es hatte sich allzulange, auf der Linken wie auf der Rechten, in Friedensillusionen gewiegt; es war gesellschaftlich und politisch tief gespalten.
Zwar war es nur eine kleine Minderheit, die zur Zeit der Volksfront der rechtsextremen Parole «Lieber Hitler als Blum» applaudiert hatte, aber der Geist der defätistischen Anpassung an das «Dritte Reich» blieb auch unter Daladier und Reynaud lebendig. Der neosozialistische Bürgermeister von Bordeaux, Adrien Marquet, der am 29. Juni das Amt des Innenministers in der Regierung Pétain übernahm, und zwei Führer rechtsradikaler Parteien, der Exsozialist Marcel Déat und der Exkommunist Jacques Doriot, waren einige seiner prominentesten Vertreter. Keiner der offen defätistischen Politiker aber war in seinem politischen Opportunismus so konsequent und so bedenkenlos wie der frühere Ministerpräsident Pierre Laval. Am 2. September 1939 hatte er im Senat vergeblich versucht, das Wort gegen die Kriegserklärung an Deutschland zu ergreifen. Im Sommer 1940 trat er als unbedingter Gefolgsmann von Marschall Pétain hervor. Am 22. Juni wurde er zum Stellvertretenden Ministerpräsidenten ernannt.
Für ganz Frankreich aber sprach der allseits verehrte Marschall am 17. Juni 1940 nicht. Eine Antwort gab ihm am 18. Juni General Charles de Gaulle, der sich als Unterstaatssekretär des Verteidigungsministeriums vier Tage zuvor im Auftrag der Regierung Reynaud nach London begeben hatte, um an der Koordinierung der alliierten Kriegsanstrengungen mitzuwirken. Über den britischen Rundfunk forderte de Gaulle alle französischen Offiziere, Soldaten, Ingenieure und Facharbeiter der Rüstungsindustrie, die sich in Großbritannien befanden oder noch dorthin kommen sollten, auf, sich mit ihm in Verbindung zu setzen. Die Niederlage, sagte er, sei nicht endgültig, denn nichts sei verloren für Frankreich. Es habe ein großes Reich, das britische, hinter sich und könne von den ungeheuren industriellen Ressourcen der Vereinigten Staaten Gebrauch machen. «Dieser Krieg wird nicht durch die Schlacht um Frankreich entschieden. Dieser Krieg ist ein Weltkrieg … Was immer auch kommen möge, die Flamme des französischen Widerstandes darf und wird nicht erlöschen.» (Quoi qu’il arrive, la flamme de la résistance française ne doit pas s’étendre et ne s’étendra pas.) Der später am meisten zitierte Satz «Frankreich hat eine Schlacht verloren, aber Frankreich hat nicht den Krieg verloren» wurde der gedruckten Fassung der Rede erst nachträglich beigefügt.
Die Wirkung der Ansprache war gewaltig: Sie sollte zum Gründungsmanifest des französischen Widerstands gegen die deutsche Besatzung werden. Zehn Tage nach seiner Rede gründete de Gaulle in London das Komitee «France libre», das Leitungszentrum der Résistance. Die britische Regierung erkannte den General am 28. Juni als Führer des freien Frankreich an; in den französischen Kolonien stellten sich mehrere Generäle und Gouverneure, unter den letzteren die von Tschad, Kamerun, Französisch-Äquatorialafrika und Französisch-Kongo, auf seine Seite. In Frankreich selbst versuchte die Regierung Pétain, gestützt auf die im Herbst 1939 eingeführten scharfen Zensurbestimmungen, die Verbreitung der Appelle de Gaulles zu unterbinden; den Widerhall völlig zu unterdrücken gelang ihr nicht. Dem rebellierenden General wurde die französische Staatsbürgerschaft aberkannt; ein Kriegsgericht verurteilte ihn erst, am 4. Juli 1940, zu einer Gefängnisstrafe, dann, am 2. August, zum Tode. Franzosen, die de Gaulle zustimmten, waren dadurch nicht zu beeindrucken.
Am 21. Juni wurde die französische Waffenstillstandsdelegation unter General Huntziger bei Compiègne in ebenjenen Eisenbahnwaggon geleitet, in dem am 11. November 1918 Marschall Foch den deutschen Unterhändlern die alliierten Waffenstillstandsbedingungen ausgehändigt hatte. In Anwesenheit Hitlers und der hohen Generalität teilte Generalfeldmarschall Keitel, der Chef des Oberkommandos der Wehrmacht, den Franzosen die deutschen Bedingungen mit. Der größere nördliche Teil Frankreichs mit Paris bis hin zur Loire und die gesamte Atlantikküste wurden von deutschen Truppen besetzt; einen Gebietsgürtel entlang der Grenze zu Belgien, bestehend aus den Departements Nord und Pas-de-Calais, verwaltete der deutsche Militärbefehlshaber in Brüssel. Der Besatzungsmacht standen alle hoheitlichen Befugnisse zu; nur die lokale Verwaltung sollte unter ihrer Aufsicht in französischer Hand bleiben; sie war zur «collaboration» mit der Besatzungsmacht verpflichtet.
Die französische Armee wurde zahlenmäßig beschränkt, im Mutterland, wie 1919 im Vertrag von Versailles das deutsche Heer, auf 100.000 Mann, in Algerien und den Kolonien auf insgesamt 279.000 Mann. Artillerie, Panzer, Flugzeuge und schweres Kriegsgerät waren an Deutschland zu übergeben. Die Flotte sollte, um sie nicht in britische Hände fallen zu lassen, in französischen Häfen unter deutscher Aufsicht entwaffnet werden. Das galt nicht für die Schiffe, die zur Verteidigung der Überseegebiete erforderlich waren. Das Reich versprach, sich die französische Flotte weder während des Krieges noch danach anzueignen, und erfüllte damit eine Bedingung von Weygand und Darlan. Frankreich verpflichtete sich seinerseits, alle Franzosen daran zu hindern, den Kampf gegen Deutschland wieder aufzunehmen, also sich General de Gaulle anzuschließen. Es hatte die deutschen Kriegsgefangenen freizulassen, mußte es aber hinnehmen, daß 1,95 Millionen Franzosen in deutscher Kriegsgefangenschaft verblieben. Deutsche Staatsangehörige, gemeint waren Emigranten, mußten auf Verlangen an das Reich ausgeliefert werden. Deutschland standen die Erstattung der Besatzungskosten (zunächst 400 Millionen Franc gleich 20 Millionen Reichsmark pro Tag) und ein weitgehender Zugriff auf die wirtschaftlichen Ressourcen Frankreichs zu.
Vom Elsaß und dem Teil Lothringens, der von 1871 bis 1918 zum Deutschen Reich gehört hatte, war in den Waffenstillstandsvereinbarungen nicht ausdrücklich die Rede. Die fraglichen Gebiete, die Departements Moselle, Haut-Rhin und Bas-Rhin, wurden de facto, wenn auch (noch) nicht de jure, Deutschland angegliedert. Das Elsaß bildete fortan einen Teil des Gaus Baden, der künftig «Gau Oberrhein» heißen sollte, während Lothringen dem in «Gau Westmark» umbenannten Gau Saarpfalz angeschlossen wurde. Beide Gebiete unterstanden der Zivilverwaltung der beiden Gauleiter. An die Stelle französischer Ortsnamen traten wieder deutsche. Der Gebrauch der französischen Sprache wurde bekämpft und die wehrpflichtige männliche Bevölkerung zum Dienst in der Wehrmacht gezwungen.
Am 22. Juni unterzeichnete die französische Delegation, nachdem die deutsche Seite fast alle ihre Gegenvorstellungen zurückgewiesen und Frankreich zuletzt ein Ultimatum gestellt hatte, das Waffenstillstandsabkommen. Sein Inkrafttreten war an den Abschluß einer entsprechenden Vereinbarung mit Italien gebunden. Italien hatte, obwohl es am 20. Juni von Pétain um einen Waffenstillstand gebeten worden war, am folgenden Tag mit einer Offensive in den Alpen begonnen, die jedoch nur geringfügige Geländegewinne erbrachte. Bei den Verhandlungen mit der französischen Delegation in Rom verlangten die Vertreter des «Duce» die Abtretung der neu eroberten Gebiete, die Auslieferung des Kriegsmaterials der französischen Alpenarmee, die Demilitarisierung der französisch-italienischen Grenze in Europa und Afrika sowie eine Reihe von Kriegshäfen und die Benutzung bestimmter französischer Häfen und Eisenbahnen in Afrika für militärische Zwecke. Am 24. Juni wurde das Abkommen unterzeichnet. Am 25. Juni um 1 Uhr 35 trat die Waffenruhe in Kraft. Frankreich hatte am Ende des Westfeldzugs 85.000 Gefallene und 15.000 vermißte Soldaten zu beklagen, Deutschland 27.000 Tote und 18.000 Vermißte.
Der britische Protest gegen den Bruch der Vereinbarung vom 28. März 1940, die es beiden Mächten zur Pflicht machte, keinen Separatfrieden abzuschließen, ließ nicht lange auf sich warten. Der Anerkennung de Gaulles als Chef des Freien Frankreich am 28. Juni folgte am 3. Juli die Vernichtung des vor Oran, im Kriegshafen von Mers el-Kébir, liegenden französischen Flottengeschwaders durch das britische Gibraltar-Geschwader. Etwa 1300 französische Offiziere und Matrosen kamen dabei ums Leben. Churchill wollte durch den Angriff verhindern, daß die Schiffe in deutsche Hände fielen, und gleichzeitig den USA seine Entschlossenheit demonstrieren, den Kampf gegen Deutschland auch ohne kontinentalen Alliierten fortzuführen. Die Regierung Pétain beantwortete die beispiellose Herausforderung am 5. Juli mit dem Abbruch der diplomatischen Beziehungen zu Großbritannien und einem Bombenabwurf über Gibraltar. Deutschland verzichtete daraufhin auf die Entwaffnung der französischen Flotte.
Sitz der Regierung Pétain war seit dem 1. Juli der Kurort Vichy am nördlichen Rand des Zentralmassivs. Anders als Paris und Bordeaux lag Vichy im unbesetzten Teil Frankreichs. Dort ließ sich Marschall Pétain am 10. Juli von der Nationalversammlung, das heißt in einer gemeinsamen Sitzung von Senat und Deputiertenkammer, auf Bestreben des neuen Stellvertretenden Ministerpräsidenten Pierre Laval die Vollmacht zu einer von ihm, Pétain, vorzulegenden Verfassung geben. Das Gesetz fand die Zustimmung von 569 Abgeordneten aus allen Fraktionen; 80 Parlamentarier, darunter 37 Sozialisten mit Léon Blum an der Spitze, stimmten dagegen. Die einzigen Vorgaben des Auftrags bestanden darin, daß die künftige Verfassung die Rechte der Arbeit, der Familie und des Vaterlandes garantieren mußte und vom Volk zu ratifizieren sowie von den gesetzgebenden Körperschaften zu vollziehen war.
Auf dieser Grundlage erließ Pétain bis Ende Juli fünf Verfassungsdekrete, durch die die Verfassungsgesetze von 1875 weitgehend außer Kraft gesetzt wurden. An die Spitze des Staates trat durch das Dekret vom 11. Juli Philippe Pétain, Marschall von Frankreich, als «Chef d’État». Er erhielt umfassende diktatorische Vollmachten, darunter, bis zur Konstituierung neuer Kammern, die gesamte gesetzgebende Gewalt. Er war Oberbefehlshaber der Streitkräfte; die von ihm ernannten Minister waren ausschließlich ihm verantwortlich; er verhandelte und ratifizierte völkerrechtliche Verträge. An die Zustimmung des Parlaments war er lediglich bei Kriegserklärungen gebunden. Der Senat und die Deputiertenkammer, die aus den Wahlen von 1936 hervorgegangen waren, wurden bis auf weiteres vertagt.
Damit war die Dritte Republik liquidiert, der «État français» als autoritäre Präsidialdiktatur etabliert und jene «nationale Revolution» (révolution nationale) eingeleitet, die die Propagandisten Vichys fortan beschworen. Laval und andere Gegner der parlamentarischen Demokratie hatten ein wichtiges Etappenziel erreicht: Frankreich verfügte nun über das Gerüst einer Ordnung, die es ihm auf längere Sicht gestatten sollte, die Bedingungen des Waffenstillstandes zu mildern, sich aus dem Krieg herauszuhalten, in einem Friedensvertrag seine Souveränität wiederherzustellen und einen angemessenen Platz in Hitlers neuem Europa einzunehmen.
Die rasche Niederwerfung Frankreichs war nicht, wie es in Deutschland sogleich hieß, der Beweis einer genialen Strategie des «Führers», der Idee eines «Blitzkrieges». Als solcher war der Westfeldzug nicht geplant worden. Vielmehr haben ihn erst zwei Faktoren dazu gemacht: auf der einen Seite das Versagen der französischen und britischen Militärs, auf der anderen der improvisierte Durchbruch der deutschen Panzertruppen unter Guderian von Sedan zur Küste Mitte Mai 1940. «Das sogenannte ‹Blitzkriegdenken› entwickelte sich erst nach dem Westfeldzug», urteilt der Militärhistoriker Karl-Heinz Frieser. Der «Blitzkrieg» war demnach «nicht Ursache, sondern Folge des Sieges. Was im Mai 1940 zu aller Überraschung gelungen war, sollte von nun an als ‹Geheimnis des Sieges› zur Verwirklichung von Hitlers Eroberungswillen dienen.» Erst aus dieser Einschätzung heraus konnte jener «Wahn von ‹Weltblitzkrieg›» entstehen, der weltgeschichtliche Folgen nach sich zog. In Fischers pointierten Worten: «Der Westfeldzug war ein nicht geplanter, aber erfolgreicher ‹Blitzkrieg›, der Ostfeldzug 1941 hingegen ein geplanter, aber erfolgloser ‹Blitzkrieg›.»
Obwohl Hitler den schnellen Triumph im Westen nicht herbeigeführt, sondern durch sein Zögern vor Dünkirchen eher gefährdet hatte, ließ der Sieg über Frankreich seine Popularität in Deutschland ins Unermeßliche steigen. Zwei Jahrzehnte nach dem Inkrafttreten des Vertrags von Versailles schien das Deutsche Reich den Ersten Weltkrieg doch noch gewonnen zu haben. «Die übermenschliche Größe des Führers und seines Werkes erkennen heute alle gutgestimmten Volksgenossen restlos, freudig und dankbar an», berichtete am 9. Juli der Regierungspräsident von Schwaben. Der Kreisleiter der NSDAP von Augsburg-Stadt befand tags darauf: «Man kann ruhig sagen, die ganze Nation ist nun von einem so gläubigen Vertrauen zum Führer erfüllt, wie dies vielleicht in diesem Ausmaß noch nie der Fall war.» Das akademische Deutschland war nicht weniger begeistert als die vielen namenlosen «Volksgenossen». Der liberalkonservative Historiker Friedrich Meinecke, der Hitler und dem Nationalsozialismus mit starken Vorbehalten gegenüberstand, räumte in einem Brief an einen anderen deutschen Historiker, Siegfried A. Kaehler, am 4. Juli 1940 ein: «Freude, Begeisterung und Stolz auf dieses Heer müssen zunächst auch für mich dominieren. Und Straßburgs Wiedergewinnung! Wie sollte einem da das Herz nicht schlagen. Es war doch eine erstaunliche, und wohl die größte positive Leistung des 3. Reiches, in vier Jahren ein solches Millionenheer neu aufzubauen und zu solchen Leistungen zu befähigen.»
Das nationalsozialistische Regime durfte auch auf die Zustimmung vieler, ja der meisten deutschen Historiker rechnen, als es im Frühjahr 1940 mit einer Kampagne begann, deren Ziel es war, europäische Unterstützung für die Führungsrolle des Reiches (und mitunter auch diejenige Italiens) zu gewinnen. In der von Goebbels herausgegebenen Wochenzeitung «Das Reich», die seit Ende 1940 erschien, verkündete der Historiker Peter Richard Rohden am 21. Juli 1940 eine besondere Mission Deutschlands und Italiens: «Träger eines echten imperialen Ordnungsgedankens, der nicht auf Unterdrückung und Ausnutzung, sondern auf Gerechtigkeit und Frieden abzielt, sind im germanisch-romanischen Raum nur Italien und Deutschland – Italien als Erbe der ‹Pax Romana›, Deutschland als Erbe des ‹Sacrum Imperium› …»
Im Jahr darauf veröffentlichte Karl Richard Ganzer, der wenig später die kommissarische Leitung des Reichsinstituts für die Geschichte des neuen Deutschlands übernahm, seine Schrift «Das Reich als europäische Ordnungsmacht». Die wesentliche Botschaft war in einem hervorgehobenen Satz enthalten: «Der deutsche Kern organisiert kraft seiner höheren politischen Potenz um sich als bestimmende Mitte eine Gruppe andersgearteter Räume, die völkisch eigenständig sein können, zu einer politischen Gemeinschaft; in ihr sind die deutsche Führung und die andersvölkische Eigenständigkeit in organischer Stufung ausgewogen.»
Für Hitler war freilich «andersvölkische Eigenständigkeit» auch im Westen Europas nichts, was sein Handeln leitete. Schon vor dem Krieg, im Mai 1937, hatte er von der «zukünftigen Liquidation des Westfälischen Friedens» geträumt. Am 7. November 1939 notierte Goebbels nach einem Gespräch mit Hitler: «Der Schlag gegen die Westmächte wird nicht lange mehr auf sich warten lassen. Vielleicht gelingt es dem Führer eher, als wir alle denken, den Westfälischen Frieden zu annullieren. Damit wäre dann sein geschichtliches Leben gekrönt.» Zehn Tage später kam Hitler auf dieses Thema zurück. «Der Führer spricht über unsere Kriegsziele», hielt Goebbels am 17. November fest. «Wenn man schon einmal anfängt, dann muß man auch die fälligen Fragen lösen. Er denkt an eine restlose Liquidation des Westfälischen Friedens, der in Münster geschlossen worden ist und den er in Münster beseitigen will. Das wäre unser großes Ziel. Wenn das gelungen ist, dann können wir beruhigt die Augen schließen.»
Den Frieden von Münster und Osnabrück rückgängig zu machen: Das war die Umschreibung des Wunsches, die europäische Landkarte völlig neu zu zeichnen und dem Reich zur dauerhaften Vorherrschaft über den Kontinent zu verhelfen. Die Wiederherstellung der Westgrenze des Heiligen Römischen Reiches, wie sie vor dem Dreißigjährigen Krieg verlaufen war, wäre in diesem Zusammenhang wohl nur eine Mindestbedingung gewesen. Bei einer Gebietsforderung ging Hitler schon im Herbst 1939 sehr viel weiter. Als er sich am 3. November, nach Goebbels’ Zeugnis, anschickte, französische Provinzen aufzuteilen, nahm er Burgund für die Aussiedlung der Südtiroler in Aussicht, die sich auf Grund einer deutsch-italienischen Übereinkunft vom 23. Juni 1939 bis Ende des Jahres entscheiden mußten, ob sie nach Deutschland auswandern oder als italienische Staatsbürger ohne Sonderrechte in Italien verbleiben wollten.
Nach dem Sieg über Frankreich tat das Regime erste Schritte, um den Gedanken in die Tat umzusetzen. Am 10. Juli 1940 brach Heinrich Himmler zu einer Besichtigungsfahrt nach Burgund auf. Es galt die Frage zu prüfen, wie das Gebiet durch Ansiedlung deutscher Bauernfamilien germanisiert werden konnte. Ende Dezember 1940 lag ein Gutachten vor, das den Siedlerbedarf für neun französische Departements auf eine Million Menschen bezifferte.
Die Eindeutschung Burgunds war Teil jener «großgermanischen Politik», die Hitler im Frühjahr 1940 proklamierte. Am 9. April, dem Tag des deutschen Überfalls auf Dänemark und Norwegen, erklärte er vor seinen engsten Mitarbeitern: «So wie im Jahre 1866 (nach dem preußischen Sieg über Österreich, H. A. W.) das Reich Bismarcks entstand, so wird am heutigen Tag das Großgermanische Reich entstehen.» Vor dem Krieg hatte Hitler bei «Germanisierung» an die Eroberung von Lebensraum im Osten, in den Weiten Rußlands, gedacht. Doch von Rußland sprach er seit dem deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt vom 23. August 1939 nicht mehr, wenn er das Reich der Zukunft entwarf. Im «Großgermanischen Reich» sollten sich unter deutscher Führung germanische Völker wie Dänen, Norwegen, Niederländer und Flamen zu einem Gebilde zusammenschließen, das sich durch rassische Reinheit auszeichnete, aber kein Nationalstaat mehr gewesen wäre.
Hitler erweckte damit die alte, vornationale Idee des «Germania magna» wieder zum Leben, die schon von deutschen Humanisten um 1500 und zu Beginn des 19. Jahrhunderts von Ernst Moritz Arndt beschworen worden war, die unter den Bedingungen des Jahre 1940 jedoch wie ein «postnationales» Projekt wirkte. Neben dem «Großgermanischen Reich» hätten sich nur Italien und, wenn es denn zur Verständigung mit Deutschland bereit war, Großbritannien als europäische Mächte von Rang behaupten können. So etwa sah Hitlers Vision einer Neuordnung Europas westlich der russischen Grenze zum Zeitpunkt seiner bislang größten kriegerischen Triumphe aus.[3]
Tokio, Washington, Berlin:
Der weltpolitische Szenenwechsel 1940/41
Deutschlands Triumph im Westfeldzug hatte auch Auswirkungen im Fernen Osten. Japan war bei der Entfesselung des europäischen Krieges im September 1939 neutral geblieben, änderte seine Politik aber unter dem Eindruck der Niederlagen erst der Niederlande, dann Frankreichs: Die Chance, Niederländisch-Indien und Französisch-Indochina zu erobern, schien plötzlich in greifbare Nähe gerückt, in naher Zukunft vielleicht auch die Inbesitznahme von Britisch-Malaysia und Singapur. Im Jahr 1940 erzwang die Armee den Rücktritt der Regierung von Admiral Yonai, der als allzu vorsichtig galt, und die Rückkehr des Premierministers von 1937/38, Fürst Konoe, an die Macht. Neben Konoe waren auch Heeresminister Tojo und Außenminister Matsuoka politische Favoriten des Heeres.
Unter der neuen Regierung näherte sich Japan wieder Deutschland an, das Tokio durch den Abschluß des Nichtangriffspaktes mit der Sowjetunion nachhaltig verprellt hatte. Unter dem propagandistischen Begriff der «Großasiatischen Wohlstandssphäre» strebte Japan nunmehr die Herrschaft über ganz Ost- und Südostasien an. Auf eine Expansion in südlicher Richtung hatte seit langem die Flotte gedrängt. Im Sommer 1940 schwenkte auch das Heer, das seine Ambitionen traditionell eher auf Rußland ausgerichtet hatte, auf diese Linie ein: «Nordverteidigung» und «Südvormarsch» lautete fortan die Devise.
Hitler verhielt sich gegenüber den Signalen aus Tokio zunächst reserviert. Erst nachdem er im August 1940 zu der Einsicht gelangt war, daß ein schneller Sieg über Großbritannien dank massiver amerikanischer Hilfestellung nicht zu erwarten war, stimmte er deutsch-japanischen Sondierungen zu. Sein Ziel war eine Militärallianz gegen die Vereinigten Staaten als Preis für die deutsche Bereitschaft, Ost- und Südostasien als Interessensphäre Japans anzuerkennen. Die japanische Marine zögerte, darauf einzugehen, da sie sich für einen Krieg mit den USA noch nicht hinreichend gewappnet fühlte, beugte sich dann aber dem Heer, das einen Vertragsabschluß mit den Achsenmächten Deutschland und Italien forderte. Am 27. September 1940 unterzeichnete Außenminister Matsuoka in Berlin den Dreimächtepakt, ein auf den Fall eines amerikanischen Angriffs ausgerichtetes und auf zehn Jahre befristetes Verteidigungsbündnis auf Gegenseitigkeit. Deutschland versprach Japan Unterstützung beim Bemühen um einen Ausgleich mit der Sowjetunion und war sogar bereit, Moskau für den Fall eines Beitritts zum Dreimächtepakt Iran und Indien als Interessensphäre zu überlassen.
Die neuerliche Annäherung an die Achsenmächte ging mit einer innenpolitischen Neuausrichtung Japans einher. Kurz nach dem Abschluß des Dreimächtepaktes wurden die politischen Parteien aufgelöst und wenig später, am 12. Oktober 1940, die Gesellschaft zur Unterstützung der Kaiserlichen Herrschaft (Taisei yokusankei) gegründet. Sie sollte sowohl die Funktionen einer Einheitspartei erfüllen als auch die Dachorganisation sämtlicher Berufs- und Kulturvereinigungen bilden; ihr Vorsitzender war der jeweilige Premierminister. Eine schlagkräftige, der NSDAP oder dem Partito Nazionale Fascista vergleichbare Organisation wurde aus der neuen Gesellschaft jedoch nicht; dazu gingen die Meinungen der politischen und militärischen Führung über ihren Zweck zu weit auseinander. Die Zusammensetzung des Parlaments blieb, wie sie war; der autoritäre Charakter des Regimes verschärfte sich, eine totalitäre Diktatur nach deutschem oder italienischem Vorbild aber wurde das Kaiserreich im Fernen Osten nicht.
Ob Tokio mit dem Dreimächtepakt seinen potentiell gefährlichsten Gegner, die USA, würde beeindrucken können, war höchst fraglich. Einen Tag vor Abschluß des Vertrags, am 26. Februar 1940, hatten die Vereinigten Staaten ein totales Embargo für Stahl und Schrott verhängt, das Japan empfindlichen Schaden zufügte. Es war die Antwort auf einen von Berlin und, wenn auch unfreiwillig, von Vichy gebilligten aggressiven Schritt des Kaiserreiches: die Besetzung von Französisch-Indochina, die es Japan erlaubte, das China Tschiang Kai-scheks von wichtigen Versorgungslinien abzuschneiden. Ungeachtet des neuen «Dreiecks Berlin-Rom-Tokio» wurde das amerikanische Embargo in der Folgezeit konsequent durchgehalten und die Hilfe aus den USA für China verstärkt.
Auch die Sowjetunion reagierte auf den Berliner Vertragsabschluß nicht so, wie Tokio es erwartet hatte: Sie traf keinerlei Anstalten, dem Abkommen beizutreten. Alles, was Außenminister Matsuoka im April 1941 in Moskau, der letzten Station einer ausgedehnten Europareise, erreichen konnte, war ein Neutralitätsvertrag, nicht der erstrebte Nichtangriffspakt. Daß Deutschland inzwischen seine Haltung gegenüber der Sowjetunion radikal geändert hatte, blieb der japanischen Regierung verborgen. Gleichzeitig erhöhten die USA den Druck auf Japan, und das nicht ohne Erfolg. Während sich der scharf antiamerikanische Außenminister in Europa aufhielt, nahm das Kabinett Konoe hinter seinem Rücken Sondierungsgespräche mit Washington auf, in denen die Möglichkeiten eines Ausgleichs zwischen beiden Mächten ausgelotet wurden.[4]
Die USA hatten zu Beginn des europäischen Krieges ihre Neutralität erklärt, aber schon am 4. November 1939 dieses Prinzip zugunsten der Alliierten relativiert: Ein neues Neutralitätsgesetz erlaubte es kriegführenden Staaten, unter Ausweitung der «cash-and-carry»-Klausel von 1937 Güter aller Art, also auch Waffen und Munition, in den Vereinigten Staaten zu kaufen und auf eigenen Schiffen abzutransportieren.
Am 16. Mai 1940, sechs Tage nach Beginn des deutschen Westfeldzugs, ersuchte Präsident Roosevelt den Kongreß um die außerordentliche Bewilligung von Mitteln in Höhe von mehr als 1 Milliarde Dollar für die Mechanisierung und Motorisierung der Armee sowie für die Serienproduktion von 50.000 Flugzeugen. Er erhielt dafür die Zustimmung von Senat und Repräsentantenhaus. Gleichzeitig erhöhte der Kongreß die Obergrenze der Nationalschuld auf 49 Milliarden Dollar. Drei Monate später, am 19. Juli 1940, unterzeichnete Roosevelt den Two Ocean Navy Expansion Act, der den Bau einer im Atlantik und im Pazifik einsetzbaren Großflotte bis 1945 vorsah.
Um diese Zeit war die amerikanische Öffentlichkeit in der Frage, wie die USA auf die aggressive Politik der totalitären beziehungsweise autoritären Regime in Berlin, Rom und Tokio reagieren sollten, noch tief gespalten. Im Mai 1940 gründeten überzeugte Internationalisten um den Publizisten William Allen White unter dem Eindruck des deutschen Westfeldzuges das Committee to Defend America by Aiding the Allies, das genau das wollte, was der Name besagte: eine massive Unterstützung der europäischen Demokratien, obenan Großbritannien, um einen Kriegseintritt Amerikas überflüssig zu machen. Zu den Unterstützern gehörten vor allem Intellektuelle der Ostküste, darunter «Yankees», die sich England verbunden fühlten, und Amerikaner jüdischer Herkunft.
Sehr viel mehr Aufsehen erregte im Juli eine isolationistische Gegengründung, das von dem Industriellen Robert Wood ins Leben gerufene America First Committee. Zu seinem Starredner avancierte bald Charles A. Lindbergh, der weltberühmte erste Überflieger des Atlantiks. Die Förderer und Anhänger waren häufig Geschäftsleute des Mittleren Westens, namentlich aus Chicago und Umgebung, Amerikaner mit irischen und deutschen Wurzeln, die meisten von ihnen Anhänger der Republikaner. Allerdings gab es auch in der «Grand Old Party» entschiedene Internationalisten, ja Interventionisten. Zwei von ihnen nahm Roosevelt im Juni 1940 demonstrativ in sein Kabinett auf: den Kriegsminister der Präsidenten Taft und Hoover, Henry L. Stimson, der erneut in dieses Amt berufen wurde, und William Franklin Knox als Marineminister.
In der amerikanischen Bevölkerung wuchs im Sommer 1940 die Einsicht um die Gefahren, die dem Land von außen drohten. Im Mai lehnten noch 40 Prozent repräsentativ Befragte Amerikaner eine Kriegsteilnahme ihres Landes unter allen Umständen ab; im Juli glaubten laut einer Umfrage bereits zwei Drittel (66 Prozent) aller Befragten, daß Deutschland eine direkte Gefahr für Amerika bilde. Im gleichen Monat wurde die Administration auf der panamerikanischen Außenministerkonferenz in Havanna mit der Tatsache konfrontiert, daß Hitlers Einschüchterungspolitik auch in Lateinamerika Wirkungen zeitigte: Aus Rücksicht auf den Handelspartner Deutschland weigerten sich unter anderem Argentinien, Brasilien und Chile, ihre Minister nach Kuba zu schicken. Dem State Departement gelang es dennoch, bis Ende des Jahres Verteidigungsabkommen mit allen lateinamerikanischen Republiken außer Argentinien zu schließen.
Im September 1940 ging Roosevelt, unterstützt durch eine großangelegte, vom Weltkriegshelden General Pershing gesteuerte Kampagne des Komitees zur Verteidigung Amerikas, einen entscheidenden Schritt über seine bisherigen Hilfszusagen an Großbritannien hinaus: Unter Umgehung der «cash-and-carry»-Klausel überließ er dem Vereinigten Königreich auf Churchills dringliche Bitte 50 ältere Zerstörer, meist aus dem Ersten Weltkrieg, und ließ eine größere Zahl von Flugzeugen an die Fabriken zurückgehen, damit die Briten sie dort kaufen konnten. Die Gegenleistung Londons bestand darin, daß die USA die Erlaubnis erhielten, künftig militärische Stützpunkte auf Neufundland, den Bermuda-Inseln und auf britischen Inseln in der Karibik zu errichten. Der «Deal» war ein früher Ausdruck dessen, was als «special relationship» zwischen den Vereinigten Staaten und Großbritannien in die Geschichte einging. Für die Briten kaum minder wichtig als Schiffe und Flugzeuge war ein Gesetz, das am 16. September in Kraft trat: Der Selective Service Act ordnete die Registrierung aller Männer im Alter von 21 bis 35 Jahren an und ermöglichte damit, erstmals in der amerikanischen Geschichte, die Einberufung von Rekruten in Friedenszeiten.
Im November 1940 standen Präsidentenwahlen an. Bis in den Sommer hinein war unsicher, ob Franklin Delano Roosevelt sich nochmals als Kandidat der Demokraten aufstellen lassen würde. Eine dritte Amtsperiode war durch die Verfassung zwar nicht ausgeschlossen, es war aber ein ungeschriebenes Gesetz, daß ein Amtsinhaber, der einmal wiedergewählt worden war, nicht nochmals antrat. Roosevelts persönliche Entscheidung, im Hinblick auf die bis zum äußersten angespannte Weltlage als erster Präsident mit der Tradition zu brechen und sich erneut um das höchste Amt zu bewerben, fiel wohl Ende Mai 1940. Doch erst unmittelbar vor der demokratischen Convention in Chicago im Juli gab «FDR» zu verstehen, daß er sich einem Ruf der Delegierten nicht verweigern würde. Die Nominierung erfolgte dann, wie zu erwarten, mit überwältigender Mehrheit. Auch seinen Kandidaten für das Amt des Vizepräsidenten, Landwirtschaftsminister Henry Wallace, einen erklärten Internationalisten, konnte Roosevelt durchsetzen. Bei den Republikanern ging ein «dark horse», der weithin unbekannte New Yorker Industriemanager und ehemalige Demokrat Wendell Willkie, aus den Nominierungskämpfen als Sieger hervor: ein liberaler Internationalist («One World» war einer seiner Slogans), der dank glänzender Rhetorik und maßvoller Positionen die Unterstützung großer angesehener Zeitungen wie der «New York Times» und des «Cleveland Plain Dealer» genoß und gute Aussichten hatte, auch Wähler der Mitte für sich zu gewinnen.
Im Wahlkampf beteuerten beide Kandidaten, daß sie Amerika aus einem Krieg heraushalten würden. Willkie ging zuletzt so weit, Roosevelts Friedenswillen in Frage zu stellen, worauf der Präsident den amerikanischen Vätern und Müttern versprach, ihre Söhne würden nicht in irgendwelche fremden Kriege geschickt werden, ja am 2. November, drei Tage vor der Wahl, versicherte: «Ihr Präsident sagt, daß dieses Land nicht in den Krieg ziehen wird.» Was Roosevelt gegenüber seinem Herausforderer half, war nicht nur seine politische Erfahrung, sondern auch der unverkennbare wirtschaftliche Aufschwung, der in erster Linie der forcierten Aufrüstung und den kriegsbedingten Exporten an Großbritannien zu verdanken war. Was der «New Deal» bis 1938 nicht zuwege gebracht hatte, bewirkte der Krieg, schon bevor die USA offiziell in ihn eintraten: Eine neue Hochkonjunktur zeichnete sich ab.
Roosevelt gewann die Wahl zwar nicht so überlegen wie 1932 und 1936, aber doch mit deutlichem Abstand vor Willkie: 27 gegenüber 22 Millionen Stimmen. Im Gremium der Wahlmänner und Wahlfrauen entfielen 449 Stimmen auf den Amtsinhaber und 82 auf den republikanischen Bewerber. Am besten schnitt der Präsident bei Wählern aus der Arbeiterschaft und der unteren Mittelschicht ab, außerdem bei Wählern jüdischer und polnischer Herkunft sowie bei Amerikanern schwarzer Hautfarbe. Vom Wahlausgang enttäuscht waren vor allem die Isolationisten: Sie hatten nur die Wahl zwischen zwei Internationalisten gehabt. Am 19. Januar 1941 äußerte einer der einflußreichsten Sprecher des isolationistischen Amerika, der republikanische Senator Gerald P. Nye aus North Dakota, auf einer Veranstaltung des America First Committee in Kansas City, er würde sich nicht wundern, wenn die Geschichte den Nachweis erbringen sollte, daß seit der republikanischen Convention in Philadelphia «eine Verschwörung stattfand mit dem Ziel, dem amerikanischen Volk die Chance zu verwehren, seinen Willen zum Ausdruck zu bringen».
Eine der ersten außenpolitischen Entscheidungen, die Roosevelt nach der Wahl traf, war die, dem nahezu bankrotten Großbritannien Waffen und Kriegsmaterial zu liefern, für die es nicht bezahlen mußte. In einer Pressekonferenz vom 17. Dezember 1940 erläuterte der Präsident sein Vorhaben mit einem anschaulichen Vergleich: «Wenn es bei meinem Nachbarn brennt, dann werde ich ihm selbstverständlich meinen Gartenschlauch leihen und nicht zu ihm sagen: ‹Herr Nachbar, der Schlauch hat 15 Dollar gekostet, sie müssen mir jetzt die 15 Dollar zahlen. Ich will nicht die 15 Dollar – ich will meinen Gartenschlauch zurück, wenn Sie das Feuer gelöscht haben.›» Zwölf Tage später begründete Roosevelt in einer vielbeachteten, vom Rundfunk ausgestrahlten «Kaminplauderei» (fireside chat) das Prinzip des beabsichtigten «lend-lease» damit, daß Amerika das «Arsenal der Demokratie» sein müsse. Am 11. März 1941 verabschiedete der Kongreß das Verleih- und Pachtgesetz (Lend-Lease Act), das die Empfänger lediglich verpflichtete, amerikanische Schiffe, Panzer, Flugzeuge, die ihnen «geliehen» wurden, nach dem Krieg den USA zurückzugeben. Von «Neutralität» der Vereinigten Staaten konnte spätestens jetzt nicht mehr die Rede sein. Wirtschaftlich gesehen, befand sich Amerika bereits im Frühjahr 1940 im Krieg mit den Achsenmächten, und wirtschaftlicher Natur war ein wesentliches Motiv der amerikanischen Politik: das Interesse an der langfristigen Sicherung Europas als Absatzmarkt der amerikanischen Industrie und als Anlageplatz für amerikanisches Kapital.
Die grundsätzliche Begründung der neuen, offen interventionistischen Politik der USA lieferte der Präsident in seiner «State of the Union»-Rede vor dem Kongreß am 6. Januar 1941. Infolge der Offensive der «Aggressornationen» sei die Zukunft aller amerikanischen Republiken in ernsthafter Gefahr, erklärte Roosevelt. Er versprach allen Demokratien wirtschaftliche und militärische Hilfe bei der Verteidigung der Freiheit. Die Welt, die Amerika sicher machen wollte, müsse auf vier Freiheiten gegründet sein: die Freiheit der Rede und der Meinungsäußerung, die Freiheit eines jeden Menschen, Gott auf seine Weise zu verehren, die Freiheit von Not (freedom from want) und die Freiheit von Furcht (freedom from fear). «Das ist nicht die Vision eines entfernten Jahrtausends. Es ist die feste Grundlage für eine Welt, die in unserer Zeit und in unserer Generation erreichbar ist. Diese Welt ist die eigentliche Antithese zur sogenannten neuen Ordnung der Tyrannei, die die Diktatoren mit Bombengewalt zu schaffen suchen … Freiheit bedeutet die Geltung der Menschenrechte überall … Für dieses Vorhaben kann es kein anderes Ziel geben als den Sieg.»
Gegenüber Japan stellte Außenminister Cordell Hull im April 1941 «vier Prinzipien» auf, die das Kaiserreich erfüllen müsse, bevor die USA in die von der Regierung Konoe gewünschten Verhandlungen eintreten könnten: Japan müsse die Souveränität und die territoriale Integrität aller Staaten wahren, dürfe sich nicht in die Angelegenheiten anderer Staaten einmischen, müsse die Gleichheit aller Nationen, besonders hinsichtlich ihrer Handelschancen, anerkennen und keine gewaltsame Veränderung des Status quo im Pazifik vornehmen. Im Juni 1941 folgte, wenn auch verklausuliert, die weitere Forderung, den Dreimächtepakt als tot zu betrachten. Es verstand sich von selbst, daß Japan zu einer derart radikalen Abkehr von seiner Expansionspolitik nicht bereit war. Die Möglichkeit eines Krieges an zwei Fronten, einer europäischen und einer pazifischen, war für die Vereinigten Staaten im ersten Halbjahr 1941 deutlich näher gerückt.[5]
Die Macht, die Roosevelt mit allen Mitteln «short of war», also unterhalb der Schwelle des offenen Krieges, zu stützen entschlossen war, fühlte sich durch die amerikanische Hilfe in ihrem Durchhaltewillen gestärkt. Solange Churchill an der Spitze der britischen Regierung stand, durfte Hitler nicht mit dem rechnen, worauf er nach dem Sieg im «Blitzkrieg» gegen Frankreich einen Augenblick lang gehofft hatte: die Bereitschaft Londons, in Friedensverhandlungen einzutreten.
Am 19. Juli 1940, knapp zwei Wochen nachdem er aus seinem zeitweiligen Führerhauptquartier bei Freudenstadt im nördlichen Schwarzwald triumphal nach Berlin zurückgekehrt war, ließ Hitler in einer Rede vor dem Reichstag Großbritannien «noch einmal einen Appell an die Vernunft» zukommen. Es sei nie seine Absicht gewesen, das britische Weltreich zu vernichten oder auch nur zu schädigen, aber er sei sich darüber im klaren, daß die Fortführung dieses Kampfes nur mit der vollständigen Zertrümmerung des einen der beiden Kämpfenden enden werde. «Herr Churchill sollte mir dieses Mal vielleicht ausnahmsweise glauben, wenn ich als Prophet jetzt folgendes ausspreche: Es wird dadurch ein großes Weltreich zerstört werden … Mister Churchill mag glauben, daß dies Deutschland ist. Ich weiß, es wird England sein.» Hitler spielte damit auf eine von Herodot überlieferte Weissagung des Orakels von Delphi an, wonach der Lyderkönig Krösus, wenn er gegen die Perser zu Felde ziehen sollte, ein großes Reich zerstören werde. Der Krieg endete damit, daß Krösus im Jahr 546 vor Christus vom Perserkönig Kyros II. besiegt wurde und sein Reich verlor.
Tatsächlich glaubte Hitler zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr an einen friedlichen Ausgleich mit Großbritannien. Am 16. Juli 1940, drei Tage vor seiner Reichstagsrede, hatte er die Weisung für eine Landungsoperation gegen England, die «Operation Seelöwe», ausgegeben. Vorausgehen sollte dem Großeinsatz der Flotte eine möglichst vollständige Ausschaltung der Royal Air Force. Vier Wochen später, am 13. August, begann der verschärfte Luftkrieg gegen Großbritannien, die «Battle of Britain», mit Angriffen auf Radarstationen, Flugplätze, Flugzeugfabriken, Häfen und Eisenbahngleise im Süden Englands. Nach ersten britischen Bombenangriffen auf Berlin weitete die Luftwaffe seit Anfang September ihre Angriffe systematisch auf London und andere britische Großstädte aus. Manche deutschen Piloten bombardierten auch gezielt Gruppen von Zivilisten. Ihren Höhepunkt erreichte die «Battle of Britain» am 15. September: 56 deutsche und 26 britische Flugzeuge wurden abgeschossen. Insgesamt kamen während der Luftschlacht um England bis Juni 1941 43.000 Zivilisten ums Leben, darunter rund 600 Einwohner von Coventry, die bei einem deutschen Terrorangriff in der Nacht vom 14. zum 15. November 1940 getötet wurden.
Für Görings Luftwaffe wurde ihr bislang größter Einsatz zu einem Debakel. Die geplante Vernichtung der Radarstationen und der Luftabwehr mißlang, womit eine wichtige Voraussetzung für ein erfolgreiches deutsches Landungsunternehmen fehlte. Länger als eine halbe Stunde konnten auch die modernsten der deutschen Flugzeuge, wenn das Benzin für die Rückkehr reichen sollte, nicht über britischem Boden kämpfen. Die Piloten der Royal Air Force, des Commonwealth und der polnischen Exilstreitkräfte hatten dieses Problem nicht; sie hatten zudem einen wichtigen Verbündeten: das schlechte Wetter. Der Faktor Wetter durchkreuzte denn auch die weitere deutsche Planung. Die beginnenden Herbststürme zwangen Hitler am 17. September, die «Operation Seelöwe», die vier Tage später hatte beginnen sollen, auf unbestimmte Zeit zu vertagen.
Bereits vor Beginn der Luftschlacht hatte Hitler Zweifel durchblicken lassen, ob ein Sieg über Großbritannien wirklich in greifbarer Nähe lag. Am 21. Juli faßte er vor den Oberbefehlshabern der drei Wehrmachtsteile erstmals seit Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes eine baldige Wendung gegen die Sowjetunion ins Auge und begründete das damit, daß England seine Hoffnungen immer noch auf Amerika und Rußland setze. Zehn Tage später, am 31. Juli, äußerte sich Hitler in einer Führerbesprechung auf dem Obersalzberg schon sehr viel präziser: Englands Hoffnung seien Rußland und Amerika; wenn die Hoffnung auf Rußland entfalle, dann falle auch Amerika weg, denn ein Wegfall Rußlands, des ostasiatischen Degens Englands und Amerikas gegen Japan, werde eine Ausbreitung Japans in Ostasien in ungeheurem Maß zur Folge haben. «Ist aber Rußland zerschlagen, dann ist Englands letzte Hoffnung getilgt. Der Herr Europas und des Balkans ist dann Deutschland. Entschluß: Im Zuge dieser Auseinandersetzung muß Rußland erledigt werden. Frühjahr 1941 … Fünf Monate Zeit zur Durchführung.» Ein anderer Krieg als ein «Blitzkrieg» war für Hitler seit dem Sommer 1940 offensichtlich nicht mehr vorstellbar.
Großbritanniens, von den Vereinigten Staaten wirksam unterstützer, Widerstand hatte, dem Urteil des Historikers Andreas Hillgruber zufolge, eine «Umkehrung der bisherigen Vorstellungen Hitlers» bewirkt. «Ziel der Niederwerfung Frankreichs und des erhofften ‹Ausgleichs› mit Großbritannien war es ja gewesen, ihm die Rückenfreiheit, die sichere strategische Basis zu verschaffen, aus der heraus er zu einem geeignet erscheinenden Zeitpunkt nach Osten vorstoßen konnte. Nun wurde sein bisheriges Hauptziel, die Eroberung des Ostraumes, zugleich zum Mittel, mit den angelsächsischen Seemächten fertig zu werden, die nicht bereit waren, sich mit seiner Herrschaft über die mittleren und westlichen Teile Kontinentaleuropas abzufinden, sondern sie ihm streitig machten.» Bis zu diesem Punkt waren Hitlers Überlegungen Ende Juli 1940 gediehen. Unwiderruflich aber war, wie sich bald zeigen sollte, seine Zeitplanung damit noch nicht.
Die Sowjetunion hatte die Zeit, in der Deutschland den Westfeldzug zu einem triumphalen Abschluß brachte, in ihrem Sinn zu nutzen verstanden. Am 15. Juni besetzte die Rote Armee nach einem Ultimatum Litauen einschließlich jenes südwestlichen Zipfels, der am 28. September 1939 dem deutschen Interessengebiet zugeschlagen worden war. Zwei Tage später, am 17. Juni, folgte die Besetzung von Lettland und Estland, die am 6. August ebenso wie Litauen zu Sowjetrepubliken und damit zu einem Teil der Sowjetunion erklärt wurden. Bis zum Juni 1941 ließ die Sowjetunion fast 170.000 wirkliche oder vermeintliche Antikommunisten aus dem Baltikum ins Landesinnere der Sowjetunion, meist nach Sibirien, deportieren: 34.250 Personen aus Lettland, 60.000 aus Estland und 75.000 aus Litauen. Stalins nächster Schlag traf Rumänien. Es wurde am 26. Juni ultimativ aufgefordert, Bessarabien und die Nordbukowina an die Sowjetunion abzutreten. Zwei Tage später begann die Besetzung dieser Gebiete durch die Rote Armee.
Was Bessarabien betraf, hielt sich die Aktion im Rahmen der Aufteilung Südost- und Ostmitteleuropas in Interessensphären, wie sie am 23. August 1939 im deutsch-sowjetischen Nichtangriffspakt festgelegt worden war. Daß König Carol II. von Rumänien am 2. Juli Deutschland um eine Garantie seiner Grenzen und die Entsendung einer Militärmission bat, kam Hitler gelegen. Im Zweiten Wiener Schiedsspruch zwangen Deutschland und Italien am 30. August Rumänien zunächst, Nordsiebenbürgen und das Szeklerland an Ungarn abzutreten. Am 4. September ernannte Carol II. den deutschfreundlichen General Ion Antonescu zum Ministerpräsidenten und zum Staatsführer Rumäniens, am 6. September dankte er, von Antonescu gezwungen, zugunsten seines Sohnes Michael ab. Am folgenden Tag mußte Rumänien noch die südliche Dobrudscha Bulgarien überlassen. Die verbleibenden Grenzen wurden von den Achsenmächten anerkannt, ohne daß das Reich die an Rumänien vital interessierte Sowjetunion zuvor konsultiert hätte. Am 2. September beschloß Hitler, der Bitte des früheren Königs entsprechend, eine Militärmission nach Rumänien zu entsenden. Deutschland war einem strategischen Ziel, der Verfügung über die rumänischen Erdölquellen, ein gutes Stück näher gekommen.
Die deutsche Rumänienpolitik war eine Herausforderung der Sowjetunion, bedeutete aber nicht den Bruch zwischen Berlin und Moskau. Die Erdöl-, Erdmetall- und Getreidelieferungen aus der Sowjetunion, Teil des am 11. Februar 1940 abgeschlossenen deutschsowjetischen Wirtschaftsabkommens beziehungsweise des vorausgegangenen Handelsabkommens vom 19. August 1939, gingen unvermindert weiter, und sie glichen in erheblichem Umfang die Folgen der britischen Seeblockade aus. Mitte September 1940 schwenkte Hitler sogar zeitweilig auf eine von Ribbentrop verfochtene Alternative zum Krieg gegen die Sowjetunion um: die Idee eines antibritischen «Kontinentalblocks» von «Yokohama bis Spanien», dem sich auch die Sowjetunion anschließen sollte. Am 4. Oktober traf sich Hitler mit Mussolini am Brenner, um mit ihm einen Interessenausgleich mit dem Spanien Francos und Vichy-Frankreich zu erörtern, die nach den Berliner Vorstellungen beide in den Kontinentalblock mit einbezogen werden sollten.
Knapp drei Wochen später, am 23. Oktober, fand im Bahnhof von Hendaye an der französisch-spanischen Grenze eine Unterredung zwischen Hitler und Franco statt. Sie verlief für beide Seiten enttäuschend. Daß der «Führer» bereit war, einer Eroberung Gibraltars durch Spanien zuzustimmen, konnte den «Generalissimus» nicht aus der Reserve locken. Dem von Hitler gewünschten Kriegseintritt Spaniens stand vor allem die Madrider Forderung nach Gebietsabtretungen in Nordafrika entgegen, auf die Hitler in Hendaye noch nicht eingehen wollte. Als Deutschland sich im November bereit zeigte, dieses Verlangen zu erfüllen, war die Wirtschaftslage Spaniens so katastrophal, daß die uneinige politische Führung sich nicht zu einer Kriegsbeteiligung entschließen konnte. In der Folge erklärte Franco Spanien je nach Kriegslage einmal für nichtkriegführend, ein andermal für neutral. Im Dezember 1940 beschloß Spanien die Bildung einer Freiwilligentruppe, vornehmlich aus Falangisten, die «Blaue Division», die später auf deutscher Seite an der Ostfront eingesetzt wurde – bis Franco im Dezember 1943 den Rückzug anordnete.
Wenig konkrete Ergebnisse hatte auch Hitlers Begegnung mit Pétain in Montoire-sur-le-Loir in der Umgebung von Tours, wo sich der «Führer» zwei Tage zuvor schon mit dem stellvertretenden Ministerpräsidenten Laval getroffen hatte. Der Marschall erreichte zwar, daß Frankreich zur Schutzmacht seiner eigenen Kriegsgefangenen in Deutschland wurde, erhielt aber keine Zusicherung für baldige Verhandlungen über einen Friedensvertrag. Umgekehrt weigerte sich Pétain, sein Land am Krieg gegen Großbritannien zu beteiligen. Die Politik der «collaboration», zu der sich der Chef d’État erstmals am 30. Oktober öffentlich bekannte, geriet kurz darauf in eine Krise, als Pétain, ohne die Deutschen vorher zu fragen, am 13. Dezember 1940 den bisherigen Hauptvertreter der «collaboration», Pierre Laval, entließ und den früheren, als anglophil geltenden Ministerpräsidenten Pierre-Étienne Flandin zum Außenminister ernannte. Doch schon im Februar 1941 schied Flandin unter deutschem Druck aus der Regierung aus. Sein Nachfolger, Admiral François Darlan, der zusammen mit dem stellvertretenden Vorsitz im Ministerrat die Ämter des Außen-, Innen-, Informations- und Marineministers übernahm, setzte alles daran, die Beziehungen zum Deutschen Reich noch fester zu gestalten und Frankreich zu einem aktiven Mitglied eines künftigen «Kontinentalblocks» zu machen.
Das wichtigste, weil folgenreichste Ereignis des Oktober 1940 waren aber nicht Hitlers Gespräche in Hendaye und Montoire, sondern der Beginn des italienischen Angriffs auf Griechenland am frühen Morgen des 28. Oktober, dem 18. Jahrestag des «Marsches auf Rom». Die treibende Kraft hinter diesem Coup war Außenminister Ciano, der es an der Zeit fand, daß sein Land endlich aus dem Schatten des immer weiter expandierenden Deutschen Reiches heraustrat. Mussolini hatte aus Verärgerung über die Alleingänge seines deutschen Verbündeten die Aktion nicht mit Hitler abgestimmt, der, als er am gleichen Tag zu Verhandlungen mit dem «Duce» im Palazzo Vecchio in Florenz zusammentraf, an der vollendeten Tatsache nichts mehr ändern konnte. Für die italienischen Truppen wurde das Unternehmen zu einem Debakel. Griechische Verbände eroberten bei einer Gegenoffensive Anfang November ungefähr ein Drittel des im April 1939 von Italien besetzten Albanien. Britische Truppen besetzten am 29. Oktober Kreta und Anfang November Athen. Hitler fürchtete Angriffe der Royal Air Force auf das rumänische Erdölgebiet um Ploievti und bereitete seit dem Spätjahr 1940 einen deutschen Entlastungsangriff auf Griechenland vor.
Gefährlich für die Achsenmächte waren die Folgen des griechischen Abenteuers auf das Kriegsgeschehen in Afrika. Mitte September 1940 hatte Italien von Libyen aus eine Offensive gegen Ägypten begonnen, die jedoch kurz hinter der Grenze steckenblieb. Im Dezember begann die britische Nilarmee mit einer Gegenoffensive, die zu einem großen Erfolg wurde: Die italienischen Streitkräfte wurden aus Ägypten herausgeworfen und 38.000 Mann gefangengenommen. Eine weitere britische Offensive begann in der zweiten Januarhälfte in Eritrea. Am 21. Januar 1941 eroberten die Briten Tobruk im Osten von Italienisch-Libyen, Anfang Februar Bengasi, die Hauptstadt der Cyrenaika; die Zahl der Gefangenen stieg auf 140.000. Kurz darauf folgte von Kenia aus eine britische Offensive gegen Italienisch-Somaliland, in deren Verlauf Mogadischu eingenommen wurde. Hätte Italien seine Truppen auf die afrikanischen Kriegsschauplätze und namentlich auf das strategisch wichtige Ägypten konzentriert, statt einen großen Teil seines Militärs nach Griechenland zu schicken, wäre es kaum zu derart raschen Erfolgen der Briten in Nordafrika gekommen.
Hitler blieb nichts anderes übrig, als Mussolini im Januar 1941 bei einer Unterredung auf dem Berghof bei Berchtesgaden zum Abbruch seines «Parallelkrieges» und zur Unterordnung unter die deutsche Strategie zu zwingen. Im Februar trafen erste Verbände des neuen Deutschen Afrikakorps unter General Rommel in Tripolis ein, wo sie wenig später zu einer Gegenoffensive antraten. Im März fiel fast die ganze Cyrenaika in deutsche Hand; die Festung Tobruk wurde eingeschlossen. In Griechenland dagegen drangen die Briten vor: Bis Ende April hatten sie dort bereits 58.000 Mann an Land gebracht.
Noch nicht zu überblicken waren im Herbst 1940 die Auswirkungen, die der italienische Feldzug im Süden der Balkanhalbinsel auf Hitlers strategische Planungen in Sachen Sowjetunion haben konnte. Das Vorhaben Ribbentrops, den Dreimächtepakt zum Kern eines großen «Kontinentalblocks» zu machen, war zwar nicht völlig erfolglos: Im November 1940 traten Ungarn, Rumänien und die Slowakei, im März 1941 Bulgarien und Jugoslawien der Allianz Berlin-Rom-Tokio bei. Die Sowjetunion aber traf keine Anstalten, sich der antibritischen Mächtegruppierung anzuschließen. Eine Aufforderung Churchills, mit Deutschland zu brechen, hatte Stalin am 1. August zurückgewiesen. Aber sein Land zum Partner eines von Deutschland geführten europäischen Bündnisses zu machen kam für ihn ebensowenig in Frage.
Am 12. November traf Außenminister Molotow zu zweitägigen Gesprächen mit Hitler und Ribbentrop in Berlin ein. Die Verhandlungen, die wegen eines britischen Luftangriffs auf die Reichshauptstadt teilweise in einem Regierungsbunker geführt werden mußten, verliefen zäh und erbrachten kein greifbares Ergebnis. Hitler versuchte die Sowjetunion im Austausch gegen die Anerkennung des deutschen Herrschaftsbereichs in Europa und deutscher Ansprüche auf ein afrikanisches Kolonialreich zu einer Expansion in Richtung Indischer Ozean, also auf Kosten des britischen Empire, zu bewegen. Molotow hingegen richtete sein Augenmerk auf Finnland und Südosteuropa: Das Reich solle seine im September mit Helsinki vereinbarte Nutzung von finnischem Territorium für den Truppentransfer nach Norwegen beenden, seine um dieselbe Zeit nach Finnland entsandte Militärmission zurückziehen und das Recht der Sowjetunion auf eine Annexion Finnlands anerkennen, es solle weiter im Gegenzug zur deutschen Garantieerklärung für Rumänien einer sowjetischen Garantie für Bulgarien zustimmen sowie der Sowjetunion ein Recht auf freie Benutzung der Ostseezugänge und die Errichtung von Stützpunkten am Bosporus und den Dardanellen zusichern. Außerdem gab Molotow das sowjetische Interesse am künftigen Schicksal Polens, Ungarns, Jugoslawiens und Griechenlands zu Protokoll.
Ein eindeutiges «Nein» zum «Kontinentalblock» waren die Ausführungen des sowjetischen Außenministers nicht. Am 26. November erklärte Molotow sogar schriftlich seine Bereitschaft, den Dreierpakt zum Viererpakt auszuweiten, sofern die Regierungen in Berlin, Rom und Tokio auf die nochmals detailliert dargelegten und erweiterten Moskauer Bedingungen eingingen. Hitler aber dachte gar nicht daran, der Sowjetunion entgegenzukommen. Für ihn war seit den Berliner Verhandlungen vom 12. und 13. November klar, daß eine Verständigung mit Stalin ausgeschlossen, ein Krieg also unvermeidbar war. Eine Antwort auf Molotows Brief, den der «Führer» als Erpressungsversuch bewertete, gab es nicht. Am 18. Dezember erging Hitlers Weisung für den «Fall Barbarossa»: «Die deutsche Wehrmacht muß darauf vorbereitet sein, auch vor Beendigung des Krieges gegen England Sowjetrußland in einem schnellen Feldzug niederzuwerfen.» Die Vorbereitungen hatten sofort zu beginnen und mußten bis spätestens zum 15. Mai 1941 abgeschlossen sein.
Hitlers Zeitplan für den Krieg gegen die Sowjetunion hätte leicht durch zwei Ereignisse auf dem Balkan durchkreuzt werden können: die drohende Niederlage Italiens in Griechenland und der Staatsstreich in Jugoslawien am 27. März 1941. Der Belgrader Coup ging von dem Befehlshaber der Luftstreitkräfte, General Dušan Simovic, und dem Luftwaffengeneral Borivoje Markovic aus. Beide waren Gegner des Beitritts ihres Landes zum Dreimächtepakt – einer umstrittenen Entscheidung, die Ministerpräsident Dragiša Cvetkovic am 25. März, zwei Tage vor dem Umsturz, durch seine Unterschrift besiegelt hatte. Die Putschisten erklärten den siebenjährigen König Peter II. für volljährig und zum Staatsoberhaupt; dieser ernannte seinerseits Simovic zum neuen Regierungschef. Prinzregent Paul begab sich nach Griechenland; in Belgrad kam es zu gewaltsamen Demonstrationen gegen die Achsenmächte.
Obwohl die neue Regierung das Abkommen vom 25. März nicht formell aufkündigte und Deutschland ihrer besten Absichten versicherte, wertete Hitler den Staatsstreich als eine gegen das Reich gerichtete Aktion, was insofern zutraf, als der britische Geheimdienst bei dem Putsch seine Hand im Spiel gehabt hatte. Noch am 27. März gab der «Führer» die Anweisung für einen Angriff auf Jugoslawien. Er bewog die bulgarische und die ungarische Führung zu einem gemeinsamen Vorgehen mit dem Ziel der Zerschlagung Jugoslawiens. Der ungarische Ministerpräsident Graf Pál Teleki, der um gute Beziehungen sowohl zu Berlin als auch zu London bemüht war und im Dezember 1940 einen Freundschaftsvertrag mit Belgrad abgeschlossen hatte, verweigerte sich dem Vertragsbruch, konnte sich aber gegenüber Reichsverweser Horthy und der Armeeführung nicht durchsetzen. Am 7. April nahm er sich das Leben.
Am 6. April, einem Tag nachdem die neue jugoslawische Regierung einen Freundschafts- und Nichtangriffspakt mit der Sowjetunion abgeschlossen hatte, begann, ohne vorherige Kriegserklärungen, der deutsche Balkanfeldzug mit Angriffen auf Jugoslawien und Griechenland. Belgrad erlebte ein schweres Bombardement aus der Luft; die deutschen Panzerverbände, die aus Österreich und Bulgarien ins Landesinnere vordrangen, stießen nur auf geringen Widerstand. Am 12. April nahmen die deutschen Truppen Belgrad ein; am 17. April kapitulierte das jugoslawische Oberkommando. König Peter und die Regierung konnten mit britischen Flugzeugen nach Athen fliehen und wenig später in London eine Exilregierung bilden.
An der Besetzung Jugoslawiens beteiligten sich auch Truppen aus Ungarn, Bulgarien, Italien und dem italienischen Satellitenstaat Albanien. Am 8. Juli erklärten Deutschland und Italien das Ende des Königreichs Jugoslawien. Deutschland annektierte einen großen Teil Sloweniens mit der Untersteiermark und Teilen von Krain, Italien den Rest Sloweniens mitsamt der Hauptstadt Ljubljana (Laibach) sowie den größten Teil von Dalmatien und die meisten Adriainseln. Ungarn gliederte sich die früheren ungarischen Teile Serbiens, Bulgarien den größten Teil von Mazedonien an. Das von Italien abhängige Albanien verleibte sich das Kosovo und angrenzende Teile von Mazedonien ein.
Im teils deutsch, teils italienisch besetzten Kroatien, dem ganz Bosnien und die Herzegowina zugeschlagen wurden, trat der aus dem italienischen Exil zurückgekehrte Führer der klerikal-faschistischen Ustascha-Bewegung, Ante Pavelić, ein Hauptverantwortlicher der Ermordung König Alexanders I. in Marseille im Oktober 1934, als «Poglavnik» («Führer») an die Spitze eines nominell unabhängigen Staates, wobei er nur von einer kleinen Minderheit seiner Landsleute unterstützt wurde und auch diesen Rückhalt durch ausgedehnte Korruption, Willkürentscheidungen und exzessiven Terror bald wieder verlor. Montenegro wurde zum italienischen Protektorat erklärt. In Serbien übte eine deutsche Militärverwaltung mit Hilfe einer von ihr eingesetzten serbischen Landesverwaltung unter dem ehemaligen Verteidigungsminister General Milan Nedic die Macht aus. Hinter den konservativ-klerikalen Nedic stellten sich über 500 Honoratioren, darunter orthodoxe Bischöfe, Professoren der Belgrader Universität, Industrielle und frühere Minister. In Frage gestellt wurde die Autorität seiner Regierung durch die nationalistischen Kräfte um Oberst Draza Mihajlovic, die Tschetniks (Cetnici), und seit Juli 1941 auch durch die rasch erstarkende Partisanenbewegung um Josip Broz Tito, den Generalsekretär der Kommunistischen Partei Jugoslawiens.
Auch in Griechenland drangen am 6. April 1941 deutsche Truppen von Bulgarien aus rasch ins Landesinnere vor. Am 9. April fiel Saloniki, am 21. April kapitulierte die Epirusarmee; sechs Tage später wurde Athen besetzt. Die Briten räumten das Festland und zogen sich nach Kreta zurück, das nach zwölf Tage währenden verlustreichen Kämpfen am 1. Juni von deutschen Fallschirmjägertruppen erobert wurde. In Athen hatte sich mittlerweile unter Aufsicht der Besatzungsmacht eine griechische Regierung unter General Georgios Tsolakoglou gebildet. Ende Mai begaben sich König Georg II., die Regierung und Teile des Militärs ins Exil nach Ägypten. Da Hitler die deutschen Truppen für den Ostfeldzug benötigte, überließ er den Hauptteil des Landes den Italienern als Besatzungsgebiet; Wehrmachtsverbände verblieben unter anderem in Athen, Saloniki und auf Kreta. In Ostmazedonien und Westthrakien rückten bulgarische Truppen ein.
Während die Wehrmacht auf dem Balkan militärische Triumphe feierte, stagnierte im Westen der Kampf gegen Großbritannien. Am 10. und 11. Mai 1941 fand der letzte große Luftangriff auf London statt, bei dem über 1200 Menschen ums Leben kamen. Ende Mai wurde im Atlantik das deutsche Schlachtschiff «Bismarck», das drei Tage zuvor den größten britischen Schlachtkreuzer, die «Hood», zerstört hatte, von den Briten versenkt, womit der deutsche Überwasserkrieg im Atlantik fast schon beendet war. Der U-Boot-Krieg ging weiter, aber trotz schwerer britischer Verluste brachte er nicht die von der Seekriegsleitung erhoffte Wende. In Nordafrika gab es zwischen Mitte Juni und Mitte November 1941 keine größeren Kämpfe. In Ostafrika dagegen fügten die Briten den Italienern schwere Niederlagen zu: Im April nahmen sie Addis Abeba ein; im Mai kapitulierte das Gros der in Äthiopien eingesetzten italienischen Streitkräfte am Amba Alagi. Im Irak gelang es den Briten, die im April durch einen Putsch an die Macht gelangte achsenfreundliche Regierung Raschid al-Gailani zu Fall zu bringen: Am 30. Mai eroberten Verbände des Vereinigten Königreichs Bagdad, woraufhin sich die antibritischen Machthaber ins Exil begaben.
Rund eine Woche später rückten britische und gaullistische Truppen von Palästina und vom Irak aus in Syrien ein. Im Juli mußten die dort stationierten Truppen der Vichy-Regierung unter General Dentz ihren Widerstand aufgeben und einen Waffenstillstand schließen. Im Nahen Osten hatte sich damit Großbritannien auf breiter Front durchgesetzt. Ein bescheidener Trost für Hitler lag darin, daß die Türkei, die im Frühjahr 1939 unter dem Eindruck des italienischen Einmarsches in Albanien wechselseitige Beistandserklärungen mit Großbritannien und Frankreich ausgetauscht und sich im März 1941 mit der Sowjetunion auf gegenseitige Neutralität im Kriegsfalle verständigt hatte, am 18. Juni 1941 einen Freundschaftsvertrag mit Deutschland schloß. Einen Widerspruch zwischen diesen Abmachungen gab es aus der Sicht von Präsident Ismet Inönü, dem Nachfolger des im November 1938 verstorbenen Staatsgründers Atatürk, nicht: Die Vereinbarungen unterstrichen nach seiner Überzeugung lediglich die Entschlossenheit der Türkei, unter allen Umständen ihre Neutralität zu wahren.
Für seinen Vertragspartner Hitler bedeuteten die rasch erzwungenen Siege in den beiden «Blitzkriegen» auf dem Balkan, daß er seinen Terminplan für den «Fall Barbarossa», den Angriff auf die Sowjetunion, nicht ändern mußte. Bereits Mitte Mai 1941, dem von Hitler vorgegebenen frühesten Zeitpunkt, loszuschlagen erwies sich jedoch als unmöglich: Das verspätet einsetzende Frühjahrtauwetter, das Hochwasser der großen russischen Flüsse und interne organisatorische Probleme beim Heer führten schließlich zur Festlegung des Angriffstermins auf den 22. Juni 1941. Das Datum hätte den geschichtsbewußten «Führer» freilich stutzig machen müssen: An einem 22. Juni, dem des Jahres 1812, hatte ein anderer Eroberer, Napoleon I., seinen Krieg gegen Rußland begonnen – einen Krieg, der für ihn in einer militärischen Katastrophe endete.
Knapp 16 Wochen vor dem tatsächlichen Kriegsbeginn, am 3. März 1941, wies Hitler dem Reichsführer SS Heinrich Himmler im künftigen Operationsgebiet des Heeres «zur Vorbereitung der politischen Verwaltung Sonderaufgaben» zu, «die sich aus dem endgültig auszutragenden Kampf zweier entgegengesetzter politische Systeme ergeben». Vor etwa 200 hohen Offizieren erklärte Hitler kurz darauf, am 30. März, den Aufzeichnungen von Generalstabschef Halder zufolge, der Bolschewismus sei «asoziales Verbrechertum» und der Kommunismus eine «ungeheure Gefahr»: «Wir müssen von dem Standpunkt des soldatischen Kameradentums abrücken. Der Kommunismus ist vorher kein Kamerad und nachher kein Kamerad. Es handelt sich um einen Vernichtungskrieg … Kampf gegen Rußland: Vernichtung der bolschewistischen Kommissare und der kommunistischen Intelligenz. Der Kampf muß geführt werden gegen das Gift der Zersetzung. Das ist keine Frage der Kriegsgerichte … Der Kampf wird sich sehr unterscheiden vom Kampf im Westen. Im Osten ist Härte milde für die Zukunft.» Am folgenden Tag, dem 31. März 1941, erhielt der berüchtigte «Kommissarbefehl» seine erste, am 12. Mai seine endgültige Fassung. Der Kernsatz lautete: «Politische Hoheitsträger und Leiter (Kommissare) sind zu beseitigen.»
Hitlers Sprache war im Frühjahr 1941 wieder die der «Kampfzeit» vor 1933. Der Krieg gegen die Sowjetunion war für ihn von Anfang an ein Weltanschauungs- und Bürgerkrieg, bei dem es um alles oder nichts ging. Die Zeit, in der er nur die demokratische oder plutokratische Ausprägung des «internationalen Judentums» hatte bekämpfen können, lief ab. Mit Beginn des Krieges gegen die Sowjetunion rückte wieder der Kampf gegen den «jüdischen Bolschewismus» in den Vordergrund – ein Kampf, den er seit Abschluß des deutsch-sowjetischen Nichtangriffspaktes ebenso «verdrängt» zu haben schien wie sein Credo, daß der deutsche «Lebensraum» im Osten nur durch die Vernichtung der Sowjetunion gewonnen werden konnte. Von den meisten Offizieren, die er am 30. März 1941 auf die neue Lage und die ihr angemessenen Methoden einstimmte, durfte er sich verstanden fühlen. Widerspruch wurde jedenfalls nicht laut. Und obwohl Hitler, nach Halders Bericht, die Juden nicht ausdrücklich angegriffen hatte, dürften die Anwesenden gewußt haben, wer und was gemeint war.
General Erich Hoepner – ein Offizier, der zum militärischen Widerstand gegen Hitler gehörte und im Januar 1942 wegen Nichtbeachtung eines Durchhaltebefehls aus der Wehrmacht ausgestoßen wurde – zog jedenfalls die vom «Führer» gewünschten Folgerungen. «Der Krieg gegen Rußland ist die zwangsläufige Folge des uns aufgedrungenen Kampfes um das Dasein und insbesondere um die wirtschaftliche Selbstständigkeit Großdeutschlands und des von ihm beherrschten europäischen Raumes», heißt es in Hoepners Aufmarschbefehl vom 2. Mai 1942. «Es ist der alte Kampf der Germanen gegen das Slawentum, die Verteidigung europäischer Kultur gegen moskowitisch-asiatische Überschwemmung, die Abwehr des jüdischen Bolschewismus. Dieser Kampf muß die Zertrümmerung des heutigen Rußland zum Ziele haben und deshalb mit unerhörter Härte geführt werden. Jede Kampfhandlung muß in Anlage und Durchführung von dem eisernen Willen zur erbarmungslosen, völligen Vernichtung des Feindes geleistet sein. Insbesondere gibt es keine Schonung für die Träger des heutigen russisch-bolschewistischen Systems.» Es war nicht nur Hitlers Krieg, der am 22. Juni 1941 um 4 Uhr morgens mit dem deutschen Einmarsch in die Sowjetunion begann. Es war auch der Krieg der Wehrmacht, die sich den Weisungen des «Führers» ohne Widerrede unterwarf.[6]
Von «Barbarossa» bis Pearl
Harbor:
Die Globalisierung des Krieges
Sowenig wie Hitler hatte Stalin je geglaubt, daß der deutsch-sowjetische Nichtangriffspakt mehr bedeutete als eine Atempause im Ringen zwischen beiden Mächten. Die Auseinandersetzung mit dem ideologischen Antipoden in Berlin würde kommen, weil dieser dem Programm von «Mein Kampf», der Eroberung von Lebensraum im Osten und der Vernichtung des «jüdischen Bolschewismus», nie abgeschworen hatte: Daran gab es für den sowjetischen Diktator keinen Zweifel. Auf der anderen Seite war Stalin davon überzeugt, daß Hitler die Sowjetunion nicht angreifen würde, bevor er den Sieg über Großbritannien errungen hatte. In der Zwischenzeit galt es, die Rüstung des eigenen Landes forciert voranzutreiben und alles zu unterlassen, was dem Deutschen Reich als Vorwand für ein vorzeitiges Losschlagen hätte dienen können. Deswegen hielt sich die Sowjetunion, anders als ihr Vertragspartner, strikt an die wirtschaftlichen Verpflichtungen, die sie 1939/40 gegenüber Deutschland eingegangen war: Zwischen Januar und Juni 1941 lieferte Moskau dem Reich 1,5 Millionen Tonnen Getreide, 100.000 Tonnen Baumwolle, 2 Millionen Tonnen Erdölprodukte, 1,5 Millionen Tonnen Holz, 140.000 Tonnen Mangan und 20.000 Tonnen Chrom.
Was die Rüstung betraf, so verfügte die Sowjetunion 1941 über mehr Flugzeuge, mehr Panzer und sehr viel mehr Artilleriegeschütze als das Deutsche Reich. Bei den letzteren belief sich das Verhältnis auf 42.300 zu 7000. Die Rote Armee unterhielt Truppen mit 2,5 Millionen Mann im Westen der Sowjetunion und 2,2 Millionen im Fernen Osten. Der Wehrmacht standen 152 Divisionen mit 3 Millionen Mann, insgesamt etwa drei Viertel des Feldheeres, zur Verfügung.
Was immer im Sommer 1941 als sowjetische Vorteile erscheinen mochten, ihnen standen gravierende Mängel in der technischen Ausrüstung und operativen Ausbildung der Truppen, vor allem aber die fatalen Folgen der großen Säuberung in der Roten Armee gegenüber. Stalin hatte sie faktisch enthauptet, als er 1937/38 über 34.000 Offiziere aus ihren Funktionen entfernen ließ. 22.000 von ihnen wurden ermordet, darunter 80 von 101 Mitgliedern der obersten Militärführung. Von den überlebenden unter den verhafteten Offizieren nahmen die sowjetischen Streitkräfte 1940 rund 10.000 wieder in ihre Reihen auf. Aber kriegsbereit fühlte sich die Rote Armee 1941 noch längst nicht. Erst Ende 1942 würde sie ihre volle Kampfkraft erlangen: So plante sie selbst, und so kalkulierte auch Stalin.
Strategisch hatte sich die Sowjetunion seit den Tagen Tuchatschewskis darauf festgelegt, von der Verteidigung sofort zum Angriff überzugehen. Der Offensivstrategie lag die Annahme zugrunde, daß ein Krieg mit einer Kriegserklärung und einer Generalmobilmachung beginnen werde. An dieser Einschätzung änderte sich nichts Wesentliches, als Verteidigungskommissar Woroschilow im Mai 1940 auf Grund des Fehlschlags des sowjetisch-finnischen Winterkrieges entlassen und durch Marschall Timoschenko ersetzt wurde. Einen deutschen Angriff erwartete man am ehesten südlich von Brest-Litowsk und vom Balkan aus in Richtung Ukraine.
An Warnungen vor einem bevorstehenden deutschen Überfall fehlte es in den ersten fünf Monaten des Jahres 1941 durchaus nicht. Am 21. April ließ Churchill Stalin durch den Botschafter des Vereinigten Königreiches in Moskau, Sir Stafford Cripps, einen unabhängigen Linkssozialisten, auf entsprechende Erkenntnisse des britischen Geheimdienstes hinweisen, aber der sowjetische Führer witterte darin lediglich eine Falle – einen Versuch Londons, die Sowjetunion in einen Krieg mit Deutschland hineinzutreiben. Gleichlautende Meinungen der eigenen Geheimdienste fanden bei Stalin auch keinen Glauben – auch nicht, als zuverlässige deutsche Informanten wie Harro Schulze-Boysen und Arvid Harnack, zwei Mitglieder der legendären «Roten Kapelle», und der Meisterspion Richard Sorge aus Tokio von Hitlers Angriffsplänen berichteten.
Am 5. Mai tat Stalin einen Schritt, den er als Machtdemonstration zwecks Hebung der allgemeinen Moral verstanden wissen wollte: Er übernahm an Molotows Stelle den Vorsitz im Rat der Volkskommissare, womit Partei und Regierung dieselbe Spitze hatten. Am gleichen Tag hielt er vor den Absolventen der Militärakademie, der Armeeführung und den wichtigsten Mitgliedern der Regierung eine Geheimrede, in der er die Rote Armee als eine mit modernen Waffen ausgerüstete Angriffsarmee bezeichnete. Aber einen Präventivkrieg gegen Deutschland in Erwägung zu ziehen, zu dem ihm Timoschenko und Generalstabschef Schukow kurz darauf in einem revidierten Operationsplan (wenn auch wohl erst für einen späteren Zeitpunkt) rieten, weigerte er sich nach wie vor. Sein Argwohn gegenüber dem demokratischen Großbritannien war weiterhin nicht geringer als der gegenüber dem nationalsozialistischen Deutschland: Als am 10. Mai Hitlers Stellvertreter Rudolf Heß auf eigene Faust nach Großbritannien flog, wo er nach einem Fallschirmabsprung sogleich festgenommen wurde, sah der Sowjetführer in der Aktion zunächst einen Versuch Hitlers, sich mit Großbritannien über eine Beendigung des Krieges im Westen zu verständigen, um danach die Sowjetunion mit Krieg überziehen zu können. Doch weder in Berlin noch in London gab es irgendeinen Rückhalt für den dilettantischen Vorstoß des «Stellvertreters des Führers».
Seit Anfang Juni mehrten sich die nachrichtendienstlichen Erkenntnisse über einen unmittelbar bevorstehenden deutschen Angriff. Stalin kam nicht umhin, Truppenverstärkungen an die Westgrenze sowie der räumlichen Vorverlegung von Kommandostellen zuzustimmen. Am 19. Juni begann die Rote Armee, Flugplätze zu tarnen und Flugzeuge auf grenznahe Flugplätze zu verteilen. Alles, was die deutsche Seite hätte provozieren können, hatte jedoch zu unterbleiben. Diese Direktive galt auch dann noch, als sich seit Mitte Juni in Moskau die Hinweise auf das genaue Angriffsdatum, den 22. Juni, häuften. Der Volkskommissar für die innere Sicherheit, Lawrenti Berijà, forderte am 21. Juni in einem Brief an Stalin die Abberufung des sowjetischen Botschafters in Berlin, Wladimir Dekanosow, weil dieser Moskau mit Desinformationen versorge und soeben einen deutschen Überfall für den morgigen Tag angekündigt habe. Doch Berijà war entschlossen, sich nicht beirren zu lassen. Er vertraute wie alle anderen Sowjetführer dem überlegenen Urteil Stalins, und der war weiterhin davon überzeugt, daß Hitler sich nicht auf das Abenteuer eines Zweifrontenkrieges einlassen würde.
Nachdem das, was nicht sein durfte, doch geschehen war, erging am frühen Vormittag des 22. Juni 1941 der Aufruf an die Rote Armee, sich dem Feind, wo immer er die sowjetische Grenze verletzt habe, entgegenzuwerfen und ihn zu vernichten. Die Wehrmacht aber schien unaufhaltsam zu sein: Am 28. Juni fiel Minsk in deutsche Hände; nach einer Woche waren die deutschen Truppen schon 500 Kilometer weit auf sowjetischem Gebiet vorgedrungen. Am 29. Juni erklärte das Zentralkomitee der KPdSU den Kampf gegen die faschistischen Aggressoren zum «Großen Vaterländischen Krieg der Sowjetunion». Stalin, seit dem 1. Juli auch Vorsitzender des Verteidigungskomitees der Sowjetunion, rief am 3. Juli die Bevölkerung zum Partisanenkampf hinter der Front auf. Es war derselbe Tag, an dem der deutsche Generalstabschef Halder die Prognose wagte, der Krieg gegen Rußland könne schon innerhalb von zwei Wochen gewonnen werden.[7]
Den Deutschen versuchte Hitler am 22. Juni 1941 in einer Rundfunkrede den Angriff auf die Sowjetunion als Notwehrreaktion darzustellen. Zu den erpresserischen und aggressiven Akten der Sowjetunion, die ihn zu diesem Schritt gezwungen hätten, rechnete Hitler nicht nur den Belgrader Staatsstreich vom 27. März, sondern auch den rasch niedergeschlagenen Umsturzversuch der faschistischen (bis dahin von Deutschland geförderten) «Eisernen Garde» gegen den «Conducator» von Rumänien, General Antonescu, Ende Januar 1941. Als Hauptgrund seines Vorgehens nannte der «Führer» die angeblich «inzwischen eingetretene Koalition zwischen England und Sowjetrußland». Nach dauernden Grenzverletzungen durch die Sowjetunion sei «nunmehr die Stunde gekommen, in der es notwendig wird, diesem Komplott der jüdisch-angelsächsischen Kriegsanstifter und der ebenso jüdischen Machthaber der bolschewistischen Moskauer Zentrale entgegenzutreten».
Soweit sie keine eingefleischten Nationalisten waren, reagierten die meisten Deutschen zunächst bestürzt auf die neue Entwicklung, ließen sich dann aber bald von den militärischen Erfolgen der Wehrmacht beeindrucken. Unter den ersten, die dem Überfall auf die Sowjetunion Beifall spendeten, waren evangelische und katholische Kirchenmänner. Der Geistliche Vertrauensrat der Deutschen Evangelischen Kirche, an seiner Spitze der hannoversche Landesbischof August Marahrens, dankte am 30. Juni Hitler dafür, daß er «unser Volk und die Völker Europas zum entscheidenden Waffengang gegen den Todfeind aller Ordnung und aller abendländisch-christlichen Kultur» aufgerufen habe. Die katholischen Bischöfe forderten die Gläubigen lediglich zu «treuer Pflichterfüllung, tapferem Ausharren, opferwilligem Arbeiten und Kämpfen im Dienste unseres Volkes» auf. Manche Kirchenfürsten gingen in den folgenden Monaten aber weiter. So begrüßte der Bischof von Eichstätt, Michael Rackl, den Rußlandfeldzug als einen «Kreuzzug, einen heiligen Krieg für Heimat und Volk, für Glauben und Kirche, für Christus und sein hochheiliges Kreuz».
Ein Bekenntnis zum gerechten Krieg wider den gottlosen Bolschewismus legte auch Clemens August Graf von Galen, der Bischof von Münster, ab. In einem Hirtenbrief vom 14. September 1941 nannte er es eine «Befreiung von einer ernsten Sorge und eine Lösung von schwerem Druck, daß der Führer und Reichskanzler» den «Russenpakt» für erloschen erklärt habe, und zitierte zustimmend Hitlers Wort von der «jüdisch-bolschewistischen Machthaberschaft in Moskau». Im gleichen Hirtenbrief übte der Bischof aber auch, und das nicht das erste Mal, scharfe Kritik am Nationalsozialismus. «Grauenhaft» nannte Galen die «Befolgung jener Lehre, die da behauptet, es sei erlaubt, ‹unproduktiven Menschen›, armen, schuldlosen Geisteskranken vorsätzlich das Leben zu nehmen; einer Lehre, die grundsätzlich die gewaltsame Tötung aller als ‹unproduktiv› erklärten Menschen, der unheilbar Kranken, der Invaliden der Arbeit und des Krieges, der Altersschwachen Tür und Tor öffnet!»
Galen verdankte es seinem persönlichen Ansehen und der großen Erregung, die seine öffentlichen Proteste gegen die «Euthanasieaktion» auslösten, daß das Regime ihn nicht sofort verhaften und in ein Konzentrationslager einliefern ließ. Hitlers Erlaß mit dem offiziellen Datum des 1. September 1939 hatte bis Sommer 1941 über 70.000 Menschenleben gefordert. Die Mittel der Tötung waren zunächst Injektionen, dann, seit Januar 1940, Vergasungen mit Hilfe von Kohlenmonoxid. Am 24. August 1941 wurde die Aktion unterbrochen; die Unruhe in der Bevölkerung hatte ein Ausmaß erreicht, das Hitler für politisch gefährlich hielt. Die Unterbrechung bedeutete aber nicht den Abbruch der «Vernichtung lebensunwerten Lebens». Hitlers Weisung galt nur für die inzwischen bekannten Mordzentren im «Altreich» in Grafeneck in Württemberg, Hadamar bei Limburg und Brandenburg an der Havel. In dezentralisierter Form und mit anderen Mitteln, darunter bewußtem Verhungernlassen (wie es schon im Ersten Weltkrieg praktiziert worden war), massenhaften Erschießungen durch die SS im neuen Reichsgau Danzig-Westpreußen und der Tötung durch Dynamit, gingen die Morde weiter. Eine Gruppe von Patienten wurde ausnahmslos, ohne die sonst übliche Prüfung des Einzelfalls, getötet: jüdische Geisteskranke.
Den Krieg im Osten führte Deutschland währenddessen nicht mehr allein, sondern mit der Unterstützung anderer europäischer Staaten. Noch am 22. Juni schlossen sich Rumänien und Italien dem Krieg an (jenes mit dem Hauptteil seiner Streitkräfte, dieses nur mit einem Expeditionskorps), am 23. Juni die Slowakei. Finnland legte, als es am 25. Juni den gleichen Schritt tat, Wert darauf, daß es sich nicht als Bundesgenosse, sondern als «Mitkriegführender» an die Seite des Deutschen Reiches stellte. Aus finnischer Sicht war es lediglich ein «Fortsetzungskrieg» in eigener Sache, in den das Land eintrat – ein Kampf um die Rückeroberung der Gebiete, die Finnland nach dem Winterkrieg im Moskauer Frieden vom 12. März 1940 an die Sowjetunion hatte abtreten müssen. Einen Tag nach Finnland, am 27. Juni, erklärte Ungarn der Sowjetunion den Krieg. Zur Begründung führte Budapest angebliche sowjetische Luftangriffe an. Drei ungarische Divisionen beteiligten sich an der Besetzung der Ukraine, doch blieb das militärische Engagement Ungarns bis zum Frühjahr 1942 eher symbolisch.
Schon bevor der Krieg gegen die Sowjetunion tatsächlich begann, hatte sich die deutsche Führung darauf festgelegt, daß die Wehrmacht vom dritten Kriegsjahr, also von 1942, ab ihren Ernährungsbedarf in Rußland befriedigen sollte. Dabei wurden dem Protokoll einer Staatssekretärsbesprechung vom 2. Mai 1941 zufolge bis zu 40 Millionen Hungertote auf dem Territorium der Sowjetunion in Kauf genommen. Die zusammenfassenden Direktiven für die Germanisierung des neuen Lebensraumes im Osten brachte der «Generalplan Ost», dessen erste Fassung Himmler am 15. Juli 1941 vorlegte. Der unter Beteiligung von Agrarwissenschaftlern der Berliner Friedrich-Wilhelms-Universität erstellte Plan sah vor, daß innerhalb von dreißig Jahren Ostpolen, das Baltikum, Weißrußland und Teile der Ukraine von Deutschen zu besiedeln waren, was voraussetzte, daß 31 Millionen einheimische Bewohner nach Westsibirien ausgesiedelt wurden, während 14 Millionen «Gutrassige» an ihren Wohnsitzen verbleiben konnten. In das gigantische Vertreibungsprojekt einbezogen waren neben Russen, Weißrussen und Ukrainern auch Polen und Tschechen. Bei den Polen lag die Vertreibungsquote mit 80 bis 85 Prozent am höchsten, gefolgt von den Weißrussen («Weißruthenen») mit 75 und den Ukrainern mit 65 Prozent.
Tags darauf, am 16. Juli 1941, erläuterte Hitler in Gegenwart unter anderem von Hermann Göring und Alfred Rosenberg, dem am folgenden Tag ernannten Reichsminister für die besetzten Gebiete, seine Pläne der künftigen Besatzungspolitik im Osten. Der europäische Teil der Sowjetunion sollte in vier Reichskommissariate, nämlich Ukraine, Ostland mit dem Baltikum und Weißrußland, Moskowien und Kaukasien, aufgeteilt werden. Diesen «riesenhaften Kuchen» galt es «handgerecht zu zerlegen, damit wir ihn erstens beherrschen, zweitens verwalten und drittens ausbeuten können». Daß diese Regelung auf Dauer angelegt war, galt es der übrigen Welt gegenüber zu verschleiern. «Alle notwendigen Maßnahmen – Erschießen, Aussiedeln etc. tun wir trotzdem und können wir trotzdem tun … Die Bildung einer militärischen Macht westlich des Ural darf nie wieder in Frage kommen und wenn wir hundert Jahre darüber Krieg führen müßten … Eiserner Grundsatz muß sein und bleiben: Nie darf erlaubt werden, daß ein anderer Waffen trägt als der Deutsche … Immer muß der Soldat das Regime sicherstellen.» Ein Vierteljahr später, am 17. Oktober 1941, faßte Hitler im Führerhauptquartier seine Zielsetzung für den Ostraum in dem Satz zusammen: «Es gibt nur eine Aufgabe: eine Germanisierung durch Hereinnahme der Deutschen vorzunehmen und die Ureinwohner als Indianer zu betrachten.»
Geplant war der Ostfeldzug von Hitler und der Heeresführung als «Blitzkrieg». Doch nicht überall an der Ostfront entwickelte sich die militärische Lage im Sommer 1941 so, wie es die Optimisten unter den Generälen erwartet hatten. Im Baltikum und in der Ukraine setzten die deutschen Truppen ihren Vormarsch fort, in der Mitte aber kam der Vorstoß nach dem Fall von Smolensk Anfang August zum Stehen. Den vom Militär gewünschten raschen Vorstoß nach Moskau verhinderte Hitler, weil ihm, nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, die Eroberung von Kiew und dem Donezbecken jetzt vordringlicher erschienen als die Einnahme der Hauptstadt. Ende August profitierte die Sowjetunion erstmals von dem Abkommen über gegenseitige Hilfeleistungen (und gegen einen Separatfrieden), das sie am 12. Juli mit dem Vereinigten Königreich geschlossen hatte: Sowjetische und britische Truppen marschierten in den neutralen Iran ein, schlugen dessen Streitkräfte und zwangen wenig später den achsenfreundlichen Rheza Schah Pahlavi, abzudanken. Das besiegte Land wurde in eine nördliche, sowjetische, eine südliche, britische Zone sowie ein neutrales Gebiet in der Mitte des Reiches aufgeteilt. Über den Iran lieferten fortan Großbritannien und später auch die USA Kriegsmaterial in die Sowjetunion.
Im Norden der Ostfront gelang der Wehrmacht Anfang September im Zusammenwirken mit finnischen Verbänden die fast völlige Einschließung Leningrads, das nach Hitlers Willen durch systematische Aushungerung zu Fall gebracht werden sollte; nur über den Ladogasee konnte die sowjetische Seite eine minimale Versorgung der Millionenstadt sicherstellen. Am 17. September wurde Kiew erobert, wobei 665.000 Rotarmisten in deutsche Kriegsgefangenschaft gerieten. Anfang Oktober begann die Heeresgruppe Mitte zwischen Smolensk und Orel mit einem Vorstoß in Richtung Moskau, wo Stalin am 19. Oktober, nachdem der Regierungsapparat und das Diplomatische Corps die Hauptstadt bereits verlassen hatten, den Belagerungszustand proklamierte.
Am 21. November ging im äußersten Südosten der Front das kurz zuvor eroberte Rostow wieder verloren. Moskau, das fast schon in Sichtweite der deutschen Truppen lag, wurde erst durch eine Schlammperiode, dann durch den früh und hart einsetzenden russischen Winter gerettet. Auch Leningrad blieb unbezwungen. Für einen Winterkrieg war die weithin erschöpfte Wehrmacht in keiner Weise ausgerüstet. Trotz 3,3 Millionen sowjetischer Kriegsgefangener war ein Zusammenbruch der Sowjetunion nicht in Sicht. Anfang Dezember begann die Rote Armee an vielen Frontabschnitten mit einer Gegenoffensive. Das strategische Kalkül des Unternehmens «Barbarossa», die Niederwerfung der Sowjetunion in einem Blitzkrieg, war gescheitert. Mehrere Generäle wurden abgelöst; der Oberbefehlshaber des Heeres, Walther von Brauchitsch, nahm seinen Abschied. Am 19. Dezember 1941 übernahm Hitler selbst den Oberbefehl über das Heer.[8]
Mit dem fernöstlichen Partner des Dreimächtepaktes hatte Hitler das «Unternehmen Barbarossa», den Überfall auf die Sowjetunion, nicht abgestimmt. Der Hoffnung Tokios, durch eine Koalition mit Berlin, Rom und Moskau die angelsächsischen Mächte von einer Wendung gegen die japanische Expansion im pazifischen Raum abzuhalten, war damit der Boden entzogen. Als Außenminister Matsuoka, der im April 1941 den Neutralitätsvertrag mit Moskau unterzeichnet hatte, seine Regierung darauf einschwören wollte, sich dem Krieg gegen die Sowjetunion anzuschließen, stieß er auf heftige Opposition bei der Marine, aber auch beim Heer. Beide verwarfen, fürs erste jedenfalls, die «Nordoption» und beharrten auf dem Vorrang der «Südoption». Am 15. Juli wurde Matsuoka im Zuge einer Umbildung des Kabinetts Konoe, zum Rücktritt gezwungen. Neuer Außenminister wurde Admiral Teijiro Toyoda. Eine seiner Aufgaben sollte es sein, die Chancen für einen Friedensausgleich mit den USA auszuloten.
Die praktische Politik Tokios widersprach jedoch dieser Absicht. Am 24. Juli marschierten japanische Truppen, insgesamt 40.000 Mann, trotz amerikanischer Warnungen, aber mit der erpreßten Duldung Vichys, in den Süden von Französisch-Indochina ein, um die «Birmastraße», den wichtigsten Nachschubweg der Regierung Tschiang Kai-schek, abzuschneiden und einen freien Zugang zu den Erdölquellen von Niederländisch-Indien zu erlangen. Die USA reagierten darauf am 26. Juli mit der Einfrierung sämtlicher japanischer Bankguthaben und der Erweiterung des bestehenden Wirtschaftsembargos auf Rohöl. Drei Tage später schlossen sich Großbritannien, Kanada, Neuseeland und Niederländisch-Indien, das letztere vertreten durch die niederländische Exilregierung in London, dem amerikanischen Vorgehen an. Da die japanischen Erdölvorräte nur für höchstens drei Jahre reichten, wurde der Griff nach den Ressourcen von Niederländisch-Indien nun zum wirtschaftlichen Imperativ. Am 3. September beschloß eine von Regierung und Militär beschickte Verbindungskonferenz, den Krieg gegen die USA, Großbritannien und die Niederlande vorzubereiten, gleichzeitig aber die informellen Ausgleichsgespräche mit den Ver einigten Staaten mit der Maßgabe fortzusetzen, daß spätestens am 10. Oktober ein Ergebnis vorliegen mußte. Fünf Tage später, am 15. Oktober, wollten Heer und Marine kriegsbereit sein. Eine Kaiserliche Konferenz bestätigte am 6. September in Gegenwart des zaudernden, eher kriegsunwilligen Kaisers Hirohito die drei Tage zuvor verabschiedeten «Grundsätze für die Ausführung der Kaiserlichen Politik».
Zeitweilig schien es, als ob eine Beilegung des Konflikts mit den USA doch noch möglich sei. Roosevelt war nicht abgeneigt, in ein von Konoe vorgeschlagenes Treffen einzuwilligen. Aber der Präsident beharrte auf den harten Bedingungen, die Außenminister Hull im April 1941 in seinen «Vier Punkten» vorgelegt hatte, darunter ein Rückzug der japanischen Truppen aus China, sowie auf vorbereitenden Gesprächen. Am 13. September beschloß eine Verbindungskonferenz in Tokio «Grundbedingungen für einen Frieden zwischen Japan und China». Demnach sollte das eigene Militär erst dann aus China abgezogen werden, wenn sich die Regierung Tschiang Kai-schek in Tschungking und die japanische Marionettenregierung unter Wang Jingwei in Nanking zusammengeschlossen hätten – was nach Lage der Dinge völlig undenkbar war. Außerdem sollte China den japanischen Satellitenstaat Mandschukuo anerkennen. Das amerikanische Nein zu diesem Ansinnen teilte Außenminister Hull dem japanischen Botschafter Nomura am 2. Oktober mit.
Konoe war zwar persönlich bereit, den «Chinazwischenfall» (wie man den 1937 begonnenen Krieg in Tokio verharmlosend nannte) möglichst rasch aus der Welt zu schaffen und damit den Amerikanern weit entgegenzukommen, fand dafür aber im Kabinett keine Mehrheit. Als sein schärfster Widersacher trat General Tojo Hideki, der Heeresminister, auf, der ein Zurückweichen vor Amerika für unvereinbar mit der Ehre Japans hielt. Am 16. Oktober schickte sich der Premierminister in das Unvermeidliche und bat den Kaiser um seine Entlassung. Dabei betonte Konoe, wie schon gegenüber Tojo, daß er einen großen Krieg nur befürworten könne, wenn zuvor der Konflikt mir China beigelegt sei. Am 18. Oktober trat Tojo seine Nachfolge an. Zusätzlich zum Amt des Heeresministers, das er beibehielt, übernahm der neue Regierungschef auch die Leitung des Innenministeriums. Den Beschluß der Kaiserlichen Konferenz vom 6. September hob Hirohito auf und ersuchte die Regierung, die geheimen Verhandlungen mit den USA fortzusetzen. Sie zu führen oblag Außenminister Togo Shigenori, der zuvor Botschafter in Berlin und Moskau gewesen war.
Am 1. November fielen auf einer Verbindungskonferenz zwischen Regierung und Militär die Würfel. Nach siebenstündiger Debatte setzten sich die «Falken» durch, die den Krieg besser jetzt als später führen wollten, weil andernfalls Amerika militärisch noch stärker werden würde. Am frühen Morgen des 2. November gegen 1 Uhr 30 beschlossen die Versammelten, mit einem Krieg gegen die USA, Großbritannien und die Niederlande Anfang Dezember zu beginnen, falls es nicht doch noch bis zum 1. Dezember 0 Uhr zu einem erfolgreichen Abschluß der Verhandlungen mit Washington kommen sollte. Am 5. November bestätigte eine Kaiserliche Konferenz diese Entscheidung. Den Ausschlag gab die Überzeugung, daß das Kaiserreich nur durch einen Befreiungsschlag verhindern konnte, daß es zwei Jahre später kein Erdöl mehr für militärische Zwecke gab. Die japanische Führung glaubte im November 1941 in der Tat, mit dem Rücken zur Wand zu stehen. Aber es war ihre eigene Politik, durch die sie in die Sackgasse geraten war – die Politik, die Tokio mit dem Einmarsch in die Mandschurei im September 1931 begonnen und mit dem Krieg gegen China im Juli 1937 fortgesetzt hatte.[9]
Als Hitler die Sowjetunion angriff, zögerte der eingefleischte Antikommunist Winston Churchill keinen Augenblick, die Sowjetunion als Schicksalsgenossen und Kampfgefährten zu begrüßen. Noch am Abend des 22. Juni 1941 erklärte der Premierminister in einer Rundfunkrede, die auch von Millionen Amerikanern gehört wurde, die Gefährdung Rußlands sei «unsere eigene Gefährdung und die Gefährdung der Vereinigten Staaten, und der Kampf der Russen für Heim und Herd ist der Kampf aller freien Menschen und aller freien Völker in allen Teilen der Welt».
Zwei Tage nach Churchills Rede nannte Präsident Roosevelt es in einer Pressekonferenz «selbstverständlich», daß die USA Rußland alle Hilfe leisten würde, die ihnen möglich sei. In einer weiteren Erklärung vom 26. Juni machte Roosevelt deutlich, daß er sich nicht zu Ungunsten der Sowjetunion auf das Neutralitätsgesetz berufen werde. Über drei Dinge war sich der Präsident spätestens seit dem deutschen Sieg über Frankreich im Juni 1940 im Klaren: Erstens würden die USA besser früher als später in den Krieg, den er seit März 1941 den «Zweiten Weltkrieg» nannte, eintreten müssen; zweitens ging die größte Bedrohung für sein Land von dem aggressivsten der Diktatoren, von Adolf Hitler, aus; drittens war es nach wie vor so gut wie aussichtslos, im Kongreß Mehrheiten für eine Kriegserklärung zu erhalten.
Weil er dies wußte, schuf der Präsident, wo immer das möglich war, vollendete Tatsachen. Schon im Mai 1941 hatte er den nationalen Notstand ausgerufen: ein Akt, mit dem sich außerordentliche Maßnahmen begründen ließen. Anfang Juli schickte Roosevelt mit Zustimmung der Regierung in Reykjavik eine 4400 Mann starke Truppe von Marineinfanteristen nach Island. Sie sollten dort britische und kanadische Truppen ablösen, die die Insel im Nordatlantik im Mai 1940 besetzt hatten, aber nach Churchills Meinung auf den Kriegsschauplätzen in Europa und Nordafrika benötigt wurden. Island hatte für den Seekrieg überragende strategische Bedeutung und durfte darum keinesfalls in deutsche Hände fallen: Darin wußte sich der Präsident mit den führenden Militärs einig.
Im Unterschied zur Besetzung Islands bedurfte die von Roosevelt angestrebte Novellierung des Selective Service Act vom September 1940 der Zustimmung des Kongresses. Ziel der Vorlage war es, die Dienstzeit der Wehrpflichtigen für die Dauer des nationalen Notstandes zu verlängern, ihren Einsatz auch außerhalb der westlichen Hemisphäre zu ermöglichen und die Obergrenze von 900.000 Mann für die Armee aufzuheben. Im Senat erhielt der Entwurf Anfang August nach leidenschaftlichen Debatten eine deutliche Mehrheit von 45 zu 30 Stimmen. Im Repräsentantenhaus fiel die Abstimmung denkbar knapp aus: 203 Ja-Stimmen standen 202 Nein-Stimmen gegenüber. Wäre es nach den Isolationisten gegangen, hätten die USA im Augenblick ihrer bisher ernstesten äußeren Bedrohung ihre militärische Abwehrkraft weitgehend eingebüßt.
Noch bevor Roosevelt die Kraftprobe im Kongreß gewann, hatte sich sein engster Berater Harry Hopkins, der auch Leiter des Leih- und Pachtprogramms war, Ende Juli mit der Unterstützung des Präsidenten und des State Departement von Großbritannien aus über die Polarroute nach Moskau begeben, um sich bei Stalin über dessen Vorstellungen von amerikanischer Hilfe zu erkundigen. Für den sowjetischen Partei- und Regierungschef waren Luftabwehrkanonen, Maschinengewehre und Gewehre das, was die Sowjetunion am dringendsten benötigte. Darüber hinaus griff Stalin Hopkins’ Vorschlag einer amerikanisch-britisch-sowjetischen Konferenz in Moskau auf. An Roosevelt erging der Appell, möglichst bald in den Krieg einzutreten. Ohne amerikanische Hilfe würden die Sowjetunion und Großbritannien die deutsche Militärmacht kaum vernichten können. Daß Roosevelt das genauso sah, konnte Stalin einer Botschaft des Präsidenten entnehmen, die Hopkins ihm überbrachte.
Seinen Präsidenten sah Hopkins erst am 9. August wieder, als er, zusammen mit Churchill, auf der «Prince of Wales» in der Placentia Bay vor der Küste Neufundlands eintraf, wohin Roosevelt an Bord des Kreuzers «Augusta» gekommen war, um sich erstmals persönlich mit dem britischen Premierminister über die internationale Lage, das weitere Vorgehen der beiden angelsächsischen Mächte im Kampf mit den Aggressoren in Berlin, Rom und Tokio und die Umrisse der Nachkriegsordnung zu beraten. Die Unterstützung der Sowjetunion war eines der zu erörternden Themen, ebenso der militärische Schutz von britischen Schiffen im Atlantik und, mit am vordringlichsten, die Bedrohung durch Japan im Pazifik. Das für Churchill wichtigste Ergebnis war die (wenn auch erst verspätet eingelöste) Zusage Roosevelts, nicht nur amerikanischen und isländischen, sondern auch anderen Schiffen bis Island militärischen Geleitschutz zu gewähren. Den vom Premierminister gewünschten Kriegseintritt der USA konnte Roosevelt dagegen nicht versprechen. Churchill mußte sich mit der Ankündigung des Präsidenten begnügen, er werde nach einem «Zwischenfall» Ausschau halten, der die Eröffnung von Feindseligkeiten rechtfertigen könnte, und einstweilen Krieg führen, ohne ihn zu erklären.
Für die Welt – und nicht zuletzt die amerikanische Öffentlichkeit – bestimmt war die Atlantikcharta, auf die Roosevelt und Churchill sich am 12. August verständigten und die sie zwei Tage später bekanntgaben. Die beiden Unterzeichner versicherten darin, daß sie keine territoriale oder sonstige Vergrößerung ihrer Länder und auch sonst keine Gebietsveränderungen erstrebten, die nicht dem frei geäußerten Willen der betroffenen Völker entsprächen. Sie drückten ihre Achtung vor dem Recht aller Völker aus, sich die Regierungsform, unter der sie leben wollten, selbst auszusuchen, und bekundeten ihren Willen zur Wiederherstellung der souveränen Rechte und der Selbstregierung aller, denen diese Rechte gewaltsam genommen worden waren. Sie unterstrichen, bei voller Achtung ihrer bestehenden Verpflichtungen (with due respect to their existing obligations), ihre Entschlossenheit, sich für einen gleichberechtigten Zugang aller Völker zum Handel und den Ressourcen der Welt einzusetzen, und bekannten sich zur wirtschaftlichen und sozialpolitischen Zusammenarbeit aller Völker. Nach der endgültigen Zerstörung der nationalsozialistischen Tyrannei sollte ein Frieden geschlossen werden, der allen Völkern die Möglichkeit bot, in äußerer Sicherheit ein Leben frei von Furcht und Not zu führen, und den Grundsatz der Freiheit der Meere achte. Schließlich sollten die Nationen künftig gänzlich auf die Anwendung von Gewalt verzichten, weshalb Völker, die andere bedrohten, zu entwaffnen waren, und alle praktischen Maßnahmen gefördert werden sollten, die es den friedlichen Nationen ermöglichten, ihre drückenden Rüstungslasten loszuwerden.
Im Ton und im Inhalt erinnerte die Atlantikcharta stark an Wilsons Vierzehn Punkte vom Januar 1918. Wie diese wollte das Manifest vom 14. August 1941 als Entwurf einer künftigen, besseren Weltordnung verstanden werden. Der Text war freilich auch ein Balanceakt. Widersprüche zwischen Prinzip und Praxis durften nicht allzu deutlich hervortreten. Da Unabhängigkeitskämpfer in Indien, Birma und Ceylon sich sogleich auf das von der Charta betonte Recht der nationalen Souveränität und der Selbstregierung beriefen, hielt Churchill es für notwendig, im Unterhaus zu erklären, daß sich die «souveränen Rechte» auf die unterworfenen Nationen Europas bezögen – ein Problem, das zu trennen sei von der Entwicklung von Organen der Selbstregierung im britischen Empire. Dem Willen Großbritanniens, an der zollpolitischen Privilegierung («Imperial Preference») von Mitgliedern des Commonwealth festzuhalten, trug der salvatorische Hinweis auf bestehende Verpflichtungen Rechnung.
Dem bei den Treffen vor der Küste Neufundlands abwesenden Dritten im Bunde, dem sowjetischen Ministerpräsidenten Stalin, schickten Roosevelt und Churchill am 12. August eine herzlich gehaltene Grußbotschaft. Was immer beide von der Friedensliebe des Diktators in Moskau halten mochten, für den Augenblick mußte es dem Präsidenten und dem Premierminister vor allem darum gehen, an den Idealismus der Amerikaner zu appellieren und die Isolationisten moralisch in die Defensive zu drängen. Auf längere Sicht aber war die Atlantikcharta nicht mehr und nicht weniger als eine knappe Neufassung des normativen Projekts des Westens – eines Projekts, an dem sich die Nationen des Westens, an ihrer Spitze die Vereinigten Staaten und das Vereinigte Königreich, messen lassen mußten, wenn sie in der Nachkriegswelt glaubwürdig bleiben wollten. Auf dem Papier bekannten sich bis 1945 noch 43 weitere Staaten, die Deutschland den Krieg erklärt hatten, darunter die Sowjetunion und China, zu den Grundsätzen vom August 1941. Es war Roosevelt, der diesen Staaten am 1. Januar 1942, anläßlich der amerikanisch-britischen «Arcadia»-Konferenz in Washington, den zukunftsweisenden Namen gab: die «Vereinten Nationen».
An Zwischenfällen, die geeignet waren, das deutsch-amerikanische Verhältnis weiter zu verschlechtern, war im Herbst 1941 kein Mangel. Am 5. September erklärte Präsident Roosevelt, tags zuvor sei ein amerikanischer Zerstörer, die «Greer», von einem deutschen U-Boot angegriffen worden. Tatsächlich war die «U 652» südlich von Island von der «Greer», unterstützt von britischen Flugzeugen und einem britischen Zerstörer, mehrere Stunden lang verfolgt worden, ehe sie Torpedos auf das amerikanische Schiff abschoß, die dieses aber nicht trafen. Nichtsdestoweniger nahm Roosevelt den Vorfall zum Anlaß für seinen «Shoot-on-sight»-Befehl vom 11. September: Fortan mußte die Flotte auf U-Boote der Achsenmächte schießen, sobald sie ihrer in Gewässern ansichtig wurde, die für die Verteidigung der USA wichtig waren.
Ernster verlief am 16. Oktober ein anderer Zwischenfall: In Gewässern nahe Island wurde ein amerikanischer Zerstörer, die «Kearney», von einem deutschen U-Boot angegriffen, wobei 11 Matrosen umkamen. Tags darauf stimmte das Repräsentantenhaus der von der Regierung beantragten Bewaffnung amerikanischer Frachter zu, deren Ziel Großbritannien war, und schwächte damit das Neutralitätsgesetz vom November 1939 ab. Eine weitere Änderung des Gesetzes, die den Ausschluß amerikanischer Schiffe aus deklarierten Kampfzonen aufhob, wurde Anfang November mit knappen Mehrheiten verabschiedet. Vorausgegangen war am 31. Oktober der bisher schwerste deutschamerikanische Zusammenstoß: die Versenkung des Zerstörers «Reuben James», 600 Seemeilen westlich von Irland, durch Torpedos eines deutschen U-Bootes. 115 Mann kamen dabei ums Leben.
Die Presse und die öffentliche Meinung der USA waren mittlerweile deutlich weniger isolationistisch gestimmt als zu Kriegsbeginn. 50 Prozent der Befragten hielten einer Meinungsumfrage von Anfang Oktober zufolge die Niederwerfung des nationalsozialistischen Deutschland für wichtiger als die amerikanische Neutralität. Wachsende Sympathie gab es auch, ungeachtet einer starken antikommunistischen Stimmung, für eine Unterstützung der Sowjetunion durch Lieferungen im Rahmen des Lend-Lease Act vom März 1941, zumal viele Amerikaner glaubten, daß auf diese Weise ein Kriegseintritt ihres Landes vermieden oder zumindest hinausgeschoben werden könne. Als Bedrohung galt in erster Linie das Deutschland Adolf Hitlers, nicht das japanische Kaiserreich. Nachdem es amerikanischen Experten gelungen war, den verschlüsselten Funkverkehr zwischen Tokio und der japanischen Botschaft in Washington zu dechiffrieren («Magic» war der Name der entsprechenden Maschine), glaubten sich die amerikanischen Militärs vor japanischen Überraschungsangriffen einigermaßen sicher.
Am 26. November teilte Außenminister Cordell Hull dem japanischen Botschafter Nomura die amerikanischen Bedingungen für eine friedliche Beilegung des Konflikts zwischen beiden Ländern mit. Im Mittelpunkt standen der Rückzug der japanischen Truppen aus China und Indochina, der Verzicht auf alle exterritorialen Rechte Japans in China, die Anerkennung der Regierung Tschiang Kai-schek als einziger legitimer Vertretung Chinas und die Außerkraftsetzung des Dreimächtepakts. Tokio sah in diesem Katalog nicht nur eine Zurückweisung seiner eigenen Vorschläge für einen «modus vivendi», sondern ein amerikanisches Ultimatum. Am 1. Dezember beschloß eine Kaiserliche Konferenz, daß die Antwort darauf nur der Krieg sein konnte.
Mit einem japanischen Angriff rechnete um diese Zeit auch Washington. Allerdings vermuteten die amerikanischen Militärs, daß dessen Ziel eher Malaya, Thailand oder die Philippinen, die letzteren seit 1935 ein «Commonwealth» mit innenpolitischer Autonomie, aber unter amerikanische Kontrolle von Verteidigung und Außenpolitik, sein würden als das Territorium der USA. Hinweise, daß ein Angriff auf den Kriegshafen von Pearl Harbor auf Hawaii bevorstand, wo ein Großteil der pazifischen Flotte vor Anker lag, gab es durchaus, unter anderem aus der amerikanischen Botschaft in Peru. Sie gingen aber in der Flut der eingegangenen Meldungen unter oder wurden nicht ernst genommen. Tatsächlich stand Pearl Harbor seit geraumer Zeit auf dem ersten Platz der japanischen Zielplanung. Am 26. November lief von den Kurilen aus eine Expeditionsflotte mit Kurs auf Hawaii aus. Zu ihr gehörten auch sechs Flugzeugträger.
Am 7. Dezember 1941 und 7.55 Uhr Ortszeit, 14 Uhr 25 Washingtoner Zeit, griffen die ersten japanischen Bomber Pearl Harbor an; eine Stunde später folgte eine zweite Angriffswelle. Dabei wurden drei Kreuzer, acht Schlachtschiffe und vier weitere Schiffe versenkt oder schwer beschädigt. 188 Flugzeuge wurden zerstört, 159 waren nicht mehr einsatzfähig. Über 2400 Angehörige der amerikanischen Streitkräfte kamen ums Leben, fast 1200 wurden verwundet. Flugzeugträger wurden nicht getroffen, weil sie sich auf See befanden. Verschont blieben auch die Bunker der amerikanischen U-Boote. Um dieselbe Zeit begannen japanische Angriffe auf die malaiische Halbinsel, auf Singapur und bald darauf auf die Philippinen und Hongkong. Am 10. Dezember wurde die amerikanische Insel Guam erobert.
Pearl Harbor war der «Zwischenfall», der den Kriegseintritt der USA zur Folge hatte – auch wenn der Präsident einen solchen Vorfall eher im Atlantik als im Pazifik erwartet hatte. Daß Roosevelt über Zeit und Ort des japanischen Angriffs informiert gewesen sei, aber bewußt nichts gegen den Schlag unternommen habe, um den Krieg zur vollendeten Tatsache zu machen, gehört in den Bereich der Verschwörungslegenden. Die für die militärische Sicherheit zuständigen Organe hatten kläglich versagt, aber nachdem der japanische Überfall stattgefunden hatte, ging der Präsident kein Risiko mehr ein, als er am 8. Dezember den Kongreß um die Zustimmung zur Kriegserklärung an Japan bat. Der Senat billigte den Antrag einstimmig, das Repräsentantenhaus mit nur einer Gegenstimme.
Ein Krieg mit Deutschland folgte daraus keineswegs zwangsläufig. Aber Hitler wollte den Krieg mit den USA, weil er nur so Japan fest an sich binden, den angelsächsischen mit dem asiatischen Krieg verschmelzen und so aus zwei getrennten Kriegen einen Weltkrieg machen konnte. Am 11. Dezember informierte er den Großdeutschen Reichstag über das soeben zwischen Deutschland, Italien und Japan geschlossene Abkommen, wonach die drei Mächte den «ihnen von den Vereinigten Staaten von Amerika und England aufgezwungenen Krieg» mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bis zum siegreichen Ende führen wollten und sich verpflichteten, weder mit den USA noch mit Großbritannien ohne volles gegenseitiges Einvernehmen einen Waffenstillstand oder Frieden zu schließen.
Doch möglicherweise waren es nicht nur militärstrategische Gründe, die Hitler zur Kriegserklärung an Amerika und damit zur Globalisierung des Krieges veranlaßten. Seit dem 1. September hatte er immer wieder mit der Vernichtung der jüdischen Rasse in Europa für den Fall gedroht, daß es dem «internationalen Finanzjudentum» gelingen sollte, die Völker noch einmal in einen Weltkrieg zu stürzen. Jetzt war der Weltkrieg eine Tatsache, und Hitler konnte mit dem beginnen, was er seit langem tun wollte, aber bisher noch nicht angeordnet hatte: mit der systematischen Ausrottung des Judentums in ganz Europa.[10]